Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
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2008
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BalmeLothar Pikulik: Schiller und das Theater. Über die Entwicklung der Schaubühne zur theatralen Kunstform. Reihe Medien und Theater. 9. Hildesheim: Olms, 2007, 159 Seiten.
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2008
Wolf-Dieter Ernst
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Rezensionen Lothar Pikulik: Schiller und das Theater. Über die Entwicklung der Schaubühne zur theatralen Kunstform. Reihe Medien und Theater. 9. Hildesheim: Olms, 2007, 159 Seiten. Schiller gilt als eine der zentralen Figuren, wenn es darum geht, die ästhetischen Debatten nachzuzeichnen, welche die Literarisierung des Sprechtheaters im 18. Jahrhunderts begleiten. Sein Konzept von der Schaubühne als moralischer Anstalt erfreut sich dabei ebenso ungebrochener Popularität wie seine Überlegungen zur Anthropologie des Spiels. Zugleich ist damit aber auch ein Problem einer Schiller-Rezeption bezeichnet, welche den Dichter zur Projektionsfläche der jeweils eigenen Wünsche werden lässt. Man denke nur an die in Dienstnahme der Schillerschen Idee vom “Reich der Schönheit” durch den Neoklassizismus ab 1880 oder die geistesgeschichtliche Forschung der ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts. Über die Theaterkonzeption und Theaterpraxis Schillers und seiner Zeit wissen wir hingegen vergleichsweise wenig. Diesem Umstand trägt der Band von Lothar Pikulik Schiller und das Theater Rechnung, welcher das Theater verstanden als Wechselspiel von Zuschauer, Schauspieler und Inszenierung in den Mittelpunkt einer Schillerlektüre rückt. Dazu stellt der Autor die bekannten Dramen und dramenpoetologischen Äußerungen Schillers in Beziehung zu seinen ästhetischen und historischen Studien einerseits und zu wichtigen Debatten der Entwicklung einer bürgerlichen Schauspielkunst (Lessing, Engel, Goethe, Diderot) andererseits. Derart verdeutlicht er in sehr informativer und gut lesbarer Weise den Wandel des Sprechtheaters von den Konzepten der Rührung über den Sturm und Drang hin zur Ästhetik der Weimarer Klassik. Jedoch erschöpft er sich nicht bei einer Stil- und Epochendarstellung. Von Schillers Ästhetik nämlich übernimmt er die Denkfiguren “Stoff” und “Form” (vgl. 93f., 126f.), mit welchen er den intermedialen Übersetzungsprozess zwischen Drama und Bühne diskutiert. Unter Stoff versteht er dabei dasjenige, welches in einer Form jeweils zur Anschauung gebracht wird. “Die Bühne ist Stoff (Medium) für die Darstellung des Dramas, andererseits das Drama Stoff für seine Inszenierung” (147). Nach Maßgabe der “Stoff-Form-Dualität” (147) rückt er in drei Abschnitten die Transformationsprozesse in den Vordergrund, welche eine Aufführung im Sprechtheater vor allem konstituieren. Im Abschnitt “Zuschauer” entwikkelt er die wirkästhetischen Überlegungen Schillers, welche dieser im Anschluss an sein Konzept der moralischen (d.h. geistigen, vernünftigen, ideellen und eben nicht sittlich-moralischen, vgl. 37) Anstalt und seiner Lektüre des Erhabenen entfaltet. Dabei ist es Pikulik besonders darum zu tun, die Wirkung der Schillerschen Theaterästhetik als ein freies Spiel der Einbildungskräfte zu verstehen, welches gerade nicht eine “sittliche Belehrung” sondern das “Ergötzen” (55) des Publikums zum Ziel habe. Besonders lesenwert sind in diesem Zusammenhang Pikuliks Überlegungen zu Schillers Komödienkonzept, insofern hier die Stellung der rhetorischen Affektenlehre herausgearbeitet wird, welche dem Schillerschen Spielgedanken zu Grunde liegt. In der Komödie, so Pikulik im Rekurs auf Bergson, trete das Lachen an die Stelle der emotionalen Regung, Lachen zeichne sich jedoch durch eine ästhetische Distanz, eine “gewissen Empfindungslosigkeit” (Bergsons nach Pikulik, 46) aus. Diese ästhetische, “[b]efreiende” (47) Distanz nun verfolge Schillers Wirkästhetik, indem sie die Leidenschaften und Affekte als einen Stoff der Darstellung in dessen Form aufgehen lässt. Es wäre von dieser Überlegung ausgehend durchaus interessant, die Rezeption der antiken und klassischen Rhetorik, insbesondere der Affektenlehre bei Schiller und in der Schauspieltheorie des 18. Jahrhunderts überhaupt heraus zu arbeiten. Denn es wird in den vielen Hinweisen auf die “Autonomie” (12) des Theaters, seine “Frechheit” (12), die der Autor mit Goethe ins Spiel bringt, ja nahe gelegt, dass dieses Theater durchaus über ein Forum Modernes Theater, Bd. 23/ 1 (2008), 71-72. Gunter Narr Verlag Tübingen 72 Rezensionen affektives Kalkül verfügte, welches der Ästhetik des Idealismus und den Regeln von Sublimation und Mäßigung zu wider läuft. Das zweite Kapitel über den Schauspieler behandelt ebenfalls das Affekte-Thema. Dabei setzt Pikulik mit dem Dualismus von Seele und Körper, von Innen und Außen im Rekurs auf die bekannten Überlegungen von Lessing (zu Sainte Albine, 70ff), Engels Ideen zu einer Mimik (72ff) und Goethes Regeln für Schauspieler (76ff) ein. Die sich anbietende Differenzierung von Schauspieler, Rolle (Form), Körper und Verkörperung im Anschluss an seine Diderot-Lektüre (88ff) fällt jedoch bei Pikulik in statische Konzepte der Figur und des Schauspielers zurück. Zwar verweist er mit Recht auf die konstitutive Funktion der Erinnerung für die schauspielerische Darstellung, welche Schiller erkannt habe (92), jedoch arbeitet er die paradoxale Problematik der Schauspielkunst im Sinne Diderots an Schillers Schriften nicht heraus, wenn er konstatiert “Nicht der Affekt soll über den Schauspieler verfügen, sondern der Schauspieler über den Affekt” (92). Wenn Diderot allerdings von der “Komödie des Lebens” spricht, also alltägliches Rollenverhalten einbezieht und schließlich sich selbst als Dialogpartner und zugleich allwissender Autor und als bekennender Sentimentalist in das Paradoxon einbezieht, wie dies etwas Lacoue-Labarthe (2003) und Heeg (2000) hervorgehoben haben, dann kann von einer Verfügungsgewalt (des Schauspielers über den Affekt) nicht die Rede sein. Das letzte Kapitel “Inszenierung” ist dem Produktionsapparat ‘Theater’ gewidmet, welcher uns heute in Form der Regie und Dramaturgie als den maßgeblichen Selektions- und Übersetzungsinstanzen geläufig ist und der den Medienwechsel vom dramatischen Text hin zum Aufführungstext bestimmt. Pikuliks Lektüre des Stoff- und Formbegriffs kann hier überzeugen, wenn er die Bühne als Medium für die Dramatik bestimmt und damit den Vorrang des Dramas vor der Aufführung hinterfragt. Wie er zeigt, stellt sich das Theater nicht nur in den Dienst der Dichtung, sondern fordere umgekehrt “die Anpassung an die Bedingungen der Bühne” (146). Diese Bedingungen verdeutlicht er am Begriff der “Autonomie” und konkret sprachlich an Hand von Schillers historischen Dramen und der Rückkehr zum Versmaß. Pikuliks Begrifflichkeit von Stoff und Form ist gut gewählt, insofern sie Schillers Überlegungen auf dem Stand aktueller Kunst- und Medientheorie zugänglich macht. Der Band bietet daher einen guten und konzisen Einstieg zu Theater- und Kunstkonzeption Schillers. In welcher Weise man die Autonomieästhetik Schillers, seine Anthropologie des Spiels und seine Theaterpraxis weiter erforschen könnte - dies wäre ein weiteres Projekt, dem Pikuliks Studie freilich als willkommenes Arbeitsbuch dienen kann. München W OLF -D IETER E RNST Alexander Nebrig: Rhetorizität des hohen Stils. Der deutsche Racine in französischer Tradition und romantischer Modernisierung. Münchner Universitätsschriften. Münchner Komparatistische Arbeiten. Herausgegeben von Hendrik Birus und Erika Greber. Band 10. Göttingen: Wallstein 2007, 448 Seiten. Nebrig begibt sich in seiner komparatistischen Dissertation zu exemplarischen, zwischen Ende des 17. und zu Beginn des 19. Jh.s. verfassten deutschen Übersetzungen der Dramen Jean Racines auf das von der Theaterwie auch der Literaturwissenschaft bislang weitgehend unerschlossene Gebiet der Dramenübersetzung. Dieses wurde bislang fast nur vom Göttinger SFB Literarische Übersetzung sowie in einer Reihe von Einzelstudien wissenschaftlich bearbeitet. Innerhalb der Übersetzungstheorie kommt Theatertexten bekanntlich eine Sonderstellung zu, stehen sie doch aus heutiger Sicht im Spannungsfeld zwischen den Anforderungen an die Lesbarkeit der gedruckten Ausgabe einerseits und der Spielbzw. Sprechbarkeit auf der Bühne andererseits. Eben diese medial unterschiedliche Wirkungsintention von der “Deklamation zur Lektüre” umreißt der Autor mit dem Terminus der “Rhetorizität” (11), womit nicht allein das Dargestellte sondern gleichzeitig auch die Darstellungsweise deskriptiv erfasst werden soll. Zwar rekurriert Nebrigs Untersuchung überwiegend auf die traditionelle Termino- Forum Modernes Theater, Bd. 23/ 1 (2008), 72-74. Gunter Narr Verlag Tübingen