Forum Modernes Theater
fmth
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Narr Verlag Tübingen
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2008
232
BalmeVorbemerkung
1201
2008
Kati Röttger
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Vorbemerkung Kati Röttger (Amsterdam) Die Theatergeschichtsschreibung zum 19. Jahrhundert hat sich lange Zeit auf einzelne, kanonisierte Ereignisse der Hochkultur wie z.B. ‘Die Meininger’ oder das Musiktheater Richard Wagners beschränkt. Massenkulturelle Theaterphänomene oder spektakuläre Praktiken blieben weitgehend außen vor, obwohl sie in besonderer Weise prägend für die Modernisierungsprozesse waren, die das 19. Jahrhundert in Europa ausmachten. Dank neuerer Ansätze kulturwissenschaftlicher Forschung und im Speziellen auch der Theatralitätsforschung wird die theatrale Populärkultur jedoch immer mehr in den Mittelpunkt gerückt. 1 Zumindest lassen sich jüngere Publikationen wie Leonhardts Piktoral- Dramaturgie. Visuelle Kultur und Theater im 19. Jahrhundert 2 oder auch Ein theatralisches Zeitalter: bürgerliche Selbstinszenierungen um 1900 von Peter Marx 3 als Hinweise darauf verstehen. Dennoch bleibt auffallend, dass diese Studien Perspektiven auf Einzelphänomene eröffnen. Eine umfassendere kulturanalytische Untersuchung nach dem Stellenwert vor allem von spektakulären Praktiken im Zuge der Modernisierung der europäischen Gesellschaften gibt es bisher nicht, obwohl das Münchner Forschungsprojekt “Kulturelle Inszenierungen von Fremdheit im 19. Jahrhundert” als ein Ansatz dazu gewertet werden kann, wie daraus hervorgegangene Publikationen, z.B. Bilder des Fremden: mediale Inszenierungen von Alterität im 19. Jahrhundert zeigen. 4 Nun können die Beiträge im vorliegenden Band sicherlich nicht den Anspruch erfüllen, die immer noch große Lücke zu schließen. Ganz in Gegenteil, sie reißen lediglich Perspektiven auf, die nach den Zusammenhängen zwischen den neuen, theatralen und spektakulären Praktiken und den Mobilisierungen von Aufmerksamkeit, 5 von Bewegung und von Massen durch neue Technologien, Verkehrsmittel und Produktionsweisen fragen. Dabei ist die Grenze zwischen marktwirtschaftlichen Interessen einerseits und politischem Engagement andererseits, zwischen Unterhaltung und Kritik oft gar nicht eindeutig zu ziehen. Massenspektakel, Attraktionen, revolutionäre Ausbrüche, nationales Engagement und internationaler Austausch der neuen ‘Ware’ Theater liegen dicht beieinander, wie gezeigt wird. Schließlich machten auch nicht zuletzt die erhöhten, durch die neuen visuellen Technologien ermöglichten, intermedialen Bild-Produktionen und grenzüberschreitenden Bild-Wanderungen aus dem Theater ein Massenmedium mit internationaler Reichweite. Um diese Interaktionen kulturgeschichtlich einordnen zu können, wird im ersten Beitrag (Röttger) vorgeschlagen, den Begriff des Spektakels, der von Guy Debord 1967 als Konzept für die Beschreibung und Analyse der modernen Gesellschaft eingeführt wurde, für die Untersuchung des Problemzusammenhangs zwischen Wahrnehmungskrise, Moderne und Theater, der sich seit dem frühen 19. Jahrhundert z.B. anlässlich des Melodramas beobachten lässt, fruchtbar zu machen. Aus dieser Perspektive gerät auch das niederländische Theater jener Zeit in den Blick, das bisher von der europäischen Theatergeschichtsschreibung nicht wahrgenommen wurde, 6 wie Henny Ruitenbeek und Rob van der Zalm im vorliegenden Band ausführen. Ähnliches gilt für das flämische Theater, das in hohem Maße von der Kultur des Melodramas geprägt war (Beitrag Frank Peeters). Dass aber durchaus entscheidende Forum Modernes Theater, Bd. 23/ 2 (2008), 81-82. Gunter Narr Verlag Tübingen 82 Kati Röttger (post)revolutionäre Interaktionen zwischen den melodramatisch geprägten Opernbühnen von Paris, Brüssel und Wien stattgefunden haben, die nicht zuletzt auch entscheidend für die Musiktheaterkonzeption Richard Wagners waren, zeigt Meike Wagner in ihrem Aufsatz auf. Nic Leonhardt und Arno Paul schließlich konzentrieren sich auf das Berlin der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Während Leonhardt zeigt, wie Parodien als Umschlagplatz für Unterhaltung über soziale, politische und kulturelle Angelegenheiten des urbanen Lebens in Berlin fungierten und damit selbst die Urbanisierung der Metropole mit in Gang setzen, beschließt Arno Paul den Band mit einem Beitrag zur Freien Volksbühne, die am Ende des Jahrhunderts versucht, dem Spektakel, ‘Tingel-Tangel’ und Virtuosentum eine neue Form der Schauspielkunst für ein neues Publikum entgegenzusetzen. Anmerkungen 1 Christopher Balme, “Modernität und Theatralität: Zur Theaterkultur in München um 1900”, in: Gilbert Merlio, Nicole Pelletier (Edd.), site de la modernité. München 1900 als Ort der Moderne, Bern et al.1998, pp. 99-115. 2 Nic Leonhardt, Piktoral-Dramaturgie. Visuelle Kultur und Theater im 19. Jahrhundert (1869-1900), Bielefeld 2007. 3 Peter Marx, Ein theatralisches Zeitalter: bürgerliche Selbstinszenierungen um 1900, Tübingen, Basel 2008. 4 Hans-Peter Bayerdörfer, Bettina Dietz, Frank Heidemann, Paul Hempel (Edd.), Bilder des Fremden. Mediale Inszenierung von Alterität im 19. Jahrhundert, Berlin 2007. 5 Jonathan Crary, Suspensions of Perception. Attention, Spectacle and Modern Culture, Cambridge, London 1999. 6 Stephen E. Wilmer, National theatres in a changing Europe, Basingstoke 2008. Kati Röttger