Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
Narr Verlag Tübingen
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2008
232
BalmeKritik des Spektakels
1201
2008
Kati Röttger
fmth2320083
Kritik des Spektakels Kati Röttger (Amsterdam) Wenn im Folgenden vom Spektakel die Rede ist, dann ist zweierlei damit gemeint: zum einen das Spektakel als Genre in der Erscheinungsform des Spektakelstücks oder Melodramas, zum anderen das Spektakel als epistemologische Größe oder Theorem für eine besondere Form der Kulturanalyse. Einer der ersten Kulturkritiker, der das Spektakel als Konzept für die Beschreibung und Analyse der modernen Gesellschaft einführte, war Guy Debord. In seinem 1967 publizierten Buch Die Gesellschaft des Spektakels diagnostizierte er eine tiefe Krise der Gesellschaft seiner Zeit. Diese Krise, die er gleichzeitig allgemein als Krise der Moderne beschreibt, ist ihm zufolge das Resultat einer dem Spektakel inhärenten Logik. Diese Logik besteht a priori in der Trennung der Menschen voneinander. 1 Sie ist eine Folge der kapitalistischen Produktionsweise und des Konsums, und zwar nicht nur von Waren, sondern auch von Bildern. Der reine Konsum von Waren und Bildern führt zu Passivität und Agonie und somit zur Separation und Isolation des Individuums. Die umfassende Totalität des Spektakels manifestiert sich letztlich in einem vollständigen Verlust des Zeitempfindens, denn Zeit wird nur noch mit einem Gefühl von Ohnmacht erlebt, als eingefrorene Zeit oder als Stillstand. Debords Diagnose der modernen Gesellschaft ist nicht zuletzt auf das damalige Aufkommen des Fernsehens als das erste Massenmedium zurückzuführen, das sein Publikum nahezu jederzeit mit Bildern versorgen konnte. 2 Laut Debord hatte das Fernsehen ebenso wie das Auto einen entscheidenden Anteil an dem technischen Prozess, der zur “zirkulären Produktion der Vereinzelung” 3 beitrug und fungierte damit gleichzeitig als “Waffe, um beständig die Vereinzelungsbedingungen der ‘einsamen Menschen’ zu verstärken”. 4 Da sich im Spektakelbegriff wirtschaftliche Produktionstechniken einerseits und massenmediale Informationstechniken andererseits mit den Technologien des Individuums verbinden, dient der Begriff des Spektakels bis heute als einflussreiches Erklärungsmodell für die ‘Krankheiten’ der Moderne und die Krise des Subjekts im 20. Jahrhundert, die nicht zuletzt durch die dem Spektakel impliziten, umfassenden Theatralisierungstendenzen bestimmt werden. 5 Der vorliegende Artikel konzentriert sich in erster Linie auf den Problemzusammenhang von Wahrnehmungskrise und Theater, der sich aus dem Spektakel als kulturellem Erklärungsmodell ergibt. Wenn man nämlich tatsächlich davon ausgehen darf, dass die spektakuläre Macht, wie Jonathan Crary behauptet, “untrennbar an eine umfassende […] Organisation des Wahrnehmungskonsums geknüpft ist” 6 , welcher zugleich eine ständige Erneuerung und damit auch ständige Krisen von Wahrnehmungskompetenzen auslöst, die das Individuum im Kreislauf des totalen Spektakels gefangen halten, dann stellt sich zunächst die Frage, welche Antwort das Theater heute auf dieses Krisenmoment geben kann. Oder ist das Theater als genuine Form der Simulation von Realität nicht vielmehr ein Komplize, der dem Spektakel schon immer zugespielt hat, 7 und nunmehr seine Daseinsberechtigung verliert? Daraus ergibt sich eine zweite Frage - und hier liegt das Hauptaugenmerk der Forschungsrichtung, die mit vorliegendem Artikel eingeschlagen werden soll -, nämlich die nach der historischen Dimension dieses Problemzusammenhangs. Wenn man das Forum Modernes Theater, Bd. 23/ 2 (2008), 83-96. Gunter Narr Verlag Tübingen 84 Kati Röttger Abb. 1: Szenenfoto aus ‘Platform’ 2005, NTGent, Regie: Johan Simons; Foto: Phile Deprez Aufkommen des Spektakelbegriffs mit seiner semantischen Ladung der Überreizung und Wahrnehmungsüberforderung etymologisch zurückverfolgt, dann erweist sich das Ende des 18. Jahrhunderts als auffällige historische Markierung. 8 Für den gleichen Zeitraum wird allgemein die Entstehung des sogenannten Spektakelstücks oder Melodramas in den westlichen sich industrialisierenden Ländern angesetzt. Welche Rückschlüsse lassen sich aus diesem Zusammentreffen für meine eingangs gestellte Frage nach dem Problemzusammenhang zwischen der modernen Wahrnehmungskrise und der besonderen Funktion des Theaters in dieser Zeit ziehen? Um diese Frage zu beantworten, möchte ich im Folgenden mit Reinhard Koselleck 9 das Begriffspaar Kritik und Krise als historisches Analyseinstrumentarium einführen. Über die Koppelung des Begriffs der Kritik an den Begriff der Krise werde ich nachgehen, inwieweit ‘das Theater’ - und damit meine ich Theater als visuelle Apparatur und visuelle Praxis, die sich historisch gesehen immer wieder im Streit mit Visualität befindet - 10 nicht nur als Produkt oder Synonym visueller Kultur und insbesondere des Spektakels gesehen kann, sondern auch eine kritische Funktion innerhalb der visuellen Kultur und insbesondere des Spektakels einnehmen kann. 11 Dazu werde ich im folgenden zwei Beispiele bemühen: zum einen die Inszenierung Platform von NTGent aus dem Jahr 2005, zum anderen die Aufführung des Melodramas De schipbreuk der Medusa 1840 in der Königlichen Schouwburg von Den Haag. Platform von NT Gent Der Dramaturg Tom Blokdijk und der Regisseur Johan Simons wagten sich mit Platform an die Bühnenbearbeitung des 2001 erschienenen, gleichnamigen Romans von Michel Houellebeq. Die Inszenierung betreibt Zeitgeistanalyse mit dem Effekt einer Zeitbombe. Die Vorstellung beginnt unvermittelt mit einem ohrenbetäubenden Knall: Das gesamte Dekor fällt mit einem Schlag vom Schnürboden auf den Bühnenboden und verursacht eine Art Schockeffekt beim Publikum, das gerade noch in Erwartung des Vorstellungsbeginns in leise Gespräche verwickelt war. Allmählich erheben sich aus dem Katastrophenszenario, das aus einer chaotischen Ansammlung von Plastikstühlen, Kleidungsstücken, Matratzen und anderen Dingen, die auf der Bühne verstreut liegen, besteht, die Schauspielerkörper, um die Geschichte von Michel und Valerie darzustellen: (Abb. 1) eine Geschichte, welche die Konsequenzen der Globalisierungskultur in ihrer zynischsten Form zeigt. Im Programmheft der Inszenierung findet man dazu folgenden Kommentar: Als wolle er beweisen, dass er letztendlich doch an die Liebe glaubt, entwirft Houellebeq in Platform eine heftige Liebesgeschichte. Damit aber […] zeigt er gleichzeitig die Zuckungen unserer westeuropäischen Konsumkultur […]. Die Illusion, dass Selbstbefriedigung zu Selbstfindung führen könnte, hat dazu geführt, dass sich der westliche Mensch einem System unterworfen hat, welches immer wieder neue Bedürfnisse schafft. Dies sind nicht nur die idealen Bedingungen für eine florierende Konsumkultur, sondern auch für die Industrie des Massentourismus. Kritik des Spektakels 85 Abb. 2: Szenenfoto aus ‘Platform’ 2005, NTGent, Regie: Johan Simons; Foto: Phile Deprez Abb. 4: The Bali-Bombing, siehe: http: / / images. google.de/ images? hl=de&q=Bali-Bombing&btnG= Bilder-Suche&gbv=2 (zuletzt gesichtet am 1.12. 2008) Abb. 3: The Bali-Bombing, siehe: http: / / images. google.de/ images? hl=de&q=Bali-Bombing&btnG= Bilder-Suche&gbv=2 (zuletzt gesichtet am 1.12.2008) Die inhaltlichen Begebenheiten, welche NTGent auf die Bühne bringt, sind schnell erzählt: Michel und Valerie lernen sich auf einer Gruppenreise in Thailand kennen. Michel arbeitet im Kultusministerium und ist für die Bezuschussung von Kunstausstellungen und Theaterproduktionen zuständig. Er ist Mitte vierzig und hat bisher nur käuflichen Sex gehabt. Valerie arbeitet in der Tourismusbranche. Die beiden verlieben sich in einander und hecken einen ‘grandiosen’ Plan aus: Sie wollen mit Sextourismus reich werden, indem sie einsamen Europäern in Thailändischen Clubs mit dem viel versprechenden Namen “Eldorado Aphrodite” das verschaffen, was sie zu Hause nicht bekommen: menschliche Wärme und Sex. Die einheimischen Prostituierten würden auf der anderen Seite ebenfalls das bekommen, was sie bis dahin missen mussten: Arbeit und Geld. Das Konzept erweist sich als Riesenerfolg, die erwarteten moralischen Beschwerden bleiben aus, stattdessen rollt das Geld. Bis zu dem Moment, in dem ein islamischer Attentäter eine Bombe in dem Club zündet, der unter anderem Valerie zum Opfer fällt. Michel bleibt allein in den Ruinen seiner Sexindustrie zurück (Abb. 2). Mehr noch als eine rein inhaltliche Kritik an den Extremformen des Globalkapitalismus leistet NTGent auch eine Kritik an den Katastrophenbildern, die unablässig von den Massenmedien in die Wohnzimmer geschickt werden. Ganz konkret geht es um das so genannte Bali-Bombing, ein Bombenattentat, das am 12. Oktober 2002 in mehreren Clubs auf Bali zum Tod von 202 Menschen, hauptsächlich westlichen Touristen, führte. 12 Die Bilder, die damals von diesem Anschlag in den Medien verbreitet wurden (Abb. 3 und 4), sind für den heutigen Betrachter in ihrer Spezifizität nicht mehr erkennbar und damit auch nicht mehr erinnerbar. Vielmehr ähneln sie jener unendlichen Reihe von Katastrophenbildern, die Schutthaufen, Einschlaglöcher, Leichenteile und Verwüstung zeigen. Während die einzelnen Ereignisse vor allem auch in ihren Folgen für die jeweils 86 Kati Röttger Beteiligten jedes Mal einzigartig sind, ist das Bildrepertoire, mit dem sie dargestellt werden, sehr klein und eingeschränkt. Losgelöst von den jeweiligen Fakten sind Terror, Krieg, Katastrophen und Gewalt Bestandteile eines Visualisierungsexzesses, für den die Medien immer wieder dieselben ästhetischen Gesetze anwenden. Es sind genau jene Gestaltungsmittel, die das Publikum einstmals mit dem Aufkommen von Performance-Kunst, Body- Art und Videoinstallationen noch aufschrecken und provozieren sollten, 13 und die sich heute, wollte man mit Debord argumentieren, die Spektakelkultur einverleibt hat. Die Frage ist daher, welche Art von Kritik (Theater)Kunst heute noch am politischen Sublimen, das mit dem Visualisierungsexzess intendiert wird, leisten kann? NTGent gibt auf diese Frage eine doppelte Antwort. Zum einen nutzt die Gruppe die unheimliche Überschneidung von Realität und Fiktion, die sich daraus ergibt, dass das ‘Bali-Bombing’ genau ein Jahr nach dem Erscheinen von Houllebeqs Roman stattgefunden hat, die Ereignisse also in gewisser Weise vorweggenommen hat. Im Jahr 2005, drei Jahre nach dem Attentat, vier Jahre nach 9/ 11, referiert die Gruppe direkt an das mediale Bildrepertoire, das in solchen Katastrophenfällen in den Massenmedien zirkuliert und Wiedererkennbarkeit erzeugt. Anders als im Roman, dessen Erzählung im Bombenanschlag kulminiert, lässt die Gruppe die Vorstellung mit dem Attentat beginnen. Damit gelingt es ihr nicht nur, die Realität des Anschlags in die Fiktion der Bühnenhandlung genauso zu transportieren wie die Fiktion des Romans die Realität des Bombing vorweggenommen zu haben scheint. Gleichzeitig gibt sie mit diesem Beginn ein deutliches Statement hinsichtlich der ästhetischen Gesetze der Medienbilder ab. Denn indem NTGent das Bühnenbild ihrer vorhergegangenen Inszenierung, Die Asylsucher, mit ‘Knall und Fall’ in Schutt verwandelt, betreibt sie vor den Augen der Zuschauer die direkte Zerstörung der ästhetischen Gesetze ihrer eigenen künstlerischen Arbeit. Mit dieser Destruktion geht die Dekonstruktion der immer gleichen Katastrophenbilder der Massenmedien einher. Und hier nun gerieren sich beide genannten Aspekte zu einem Doppelschlag, denn dadurch versetzen die Theatermacher die eingefrorenen, scheinbar zeitlosen Katastrophenbilder in Bewegung, in einen zeitlichen Ablauf. Sie werden gewissermaßen lebendig in dem Moment, in dem sich die Schauspieler aus dem Schutt erheben und die Figuren zum Leben bringen. Damit insistiert die Inszenierung auf der Eröffnung eines Zwischenraums: zwischen Tod und Leben, zwischen Körper und Bild, zwischen Virtualität und Materialität. Denn das ‘Leben’ wird immer wieder in die Fiktionalität zurückgeführt, indem die Schauspielerkörper regelmäßig in das Katastrophenbild zurückfallen und als ‘tote’ Materie in die Konsumgüterruine eintauchen, aus der das Bühnenbild besteht. Es ist der Raum des Lebens und der globalisierten Cyberwelt, die im Zeichen grenzenloser Ökonomie steht, deren Ware der Mensch selbst ist. Platform, so sagt Johan Simons, will das Publikum mit einem doppelten Bild konfrontieren: nicht nur mit dem der Zerstörungskraft des Menschen, sondern auch mit dem der Energie, aus der Liebe entsteht. Damit bleibt aber immer noch meine eingangs gestellte Frage unbeantwortet: Inwiefern kann die Inszenierung Platform in ihrer Eigenschaft als Theaterereignis als Kritik am Spektakel verstanden werden? Kritik und Theater Um diese Frage zu beantworten, möchte ich kurz zurückgehen in die Zeit, in der die gesellschaftliche Funktion des Theaters als kritische zum ersten Mal programmatisch formuliert wurde. Es war Friedrich Schiller, der sich im Jahr 1784 in seiner bekannten Kritik des Spektakels 87 Rede über die Frage “Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? ” zum ersten Mal ausführlich zur gesellschaftlichen Wirkung des Theater äußerte. Die Antwort auf diese Frage enthielt zwei besonders interessante Aspekte: Zum einen beharrte Schiller auf einer strikten Trennung zwischen den Aufgaben des Theaters und denen der gesellschaftlichen Instanzen wie Politik und Justiz: “Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt da an, wo das Gebiet der weltlichen Gesetze endet.” 14 Zum anderen erklärte er das Theater zu dem Ort, an dem die Werte der Aufklärung zum Ausdruck gebracht werden sollten. Die wichtigste Aufgabe des Theaters bestand ihm zufolge darin, das Menschenbild des Humanismus zu verkörpern. Am deutlichsten wird dies im letzten, immer wieder gerne zitierten, Absatz seiner Rede: Die Schaubühne ist die Stiftung, wo sich Vergnügen mit Unterricht, Ruhe mit Anstrengung, Kurzweil mit Bildung gattet (…) Jeder einzelne genießt die Entzückung aller, die verstärkt und verschönert aus Hundert Augen auf ihn zurückfallen, und seine Brust gibt jetzt nur einer Empfindung Raum - es ist diese: ein Mensch zu sein. 15 In seinem Buch Kritik und Krise bringt Reinhard Koselleck diese Äußerungen Schillers in einen direkten Zusammenhang mit der Kultur der Kritik, die sich im 18. Jahrhundert ausgehend von Popes Essay on Criticism allmählich ausbildete. Er weist nach, dass Schillers Rede auf genau jener Trennung beruhte, die ausschlaggebend für diese Entwicklung war: die Trennung der historischen Wirklichkeit in das Gebiet der Moral und das Gebiet der Politik. Um nun die Bedeutung dieser Trennung für die Antwort auf Schillers Frage nach der Wirkung der Schaubühne zu verstehen, muss zunächst darauf hingewiesen werden, dass die Ausübung von Kritik im 18. Jahrhundert gerade im Akt des Vollziehens von Trennungen bestand. Diese Auslegung ist Koselleck zufolge auch etymologisch verbrieft: Denn das altgriechische Verb ‘krineien’ bedeutet spalten, trennen. Die Fähigkeit zur Unterscheidung (z.B. zwischen richtig und falsch, gut und böse) wurde demgemäß im 18. Jahrhundert gleichgesetzt mit der Fähigkeit zur Kritik. Die Ausübung von Kritik war in diesem Sinne die Voraussetzung und die Methode, um ein angemessenes Urteil zu fällen, für die Urteilskraft. Indem Schiller nun in seiner Rede eine Trennungslinie zwischen Moral und Politik zog, schuf er die Voraussetzung für die kritische Funktion, die er als Ziel einer guten stehenden Schaubühne betrachtete. Denn wenn Politik und Staatsmacht auf der Bühne zu moralischen Instanzen erhoben werden, erfährt das Theater die notwendige Befreiung von den weltlichen Gesetzen, um Kritik an ihnen zu üben. Das heißt: Das moralische Urteil, das durch das Theater ausgesprochen wird, kann nur dann als politische Kritik wirken, solange das Theater keinen Teil der Staatsmacht bildet, also nicht effektiv ist. Denn nur wenn sie nicht herrscht, kann die Gerichtsbarkeit der Bühne Recht haben. So wie die Mängel der politischen Gesetze die Kritik der Schaubühne provozieren, so kann die Schaubühne diese Mängel auch nur im Theater demonstrieren. “Hier allein”, so Schiller, “hier nur hören die Großen der Welt, was sie nie oder selten hören - die Wahrheit; was sie nie oder selten sehen, sehen sie hier - den Menschen.” 16 Bereits zehn Jahre später distanzierte sich Schiller von seinem Plädoyer für die moralische Kraft der Schaubühne. Nach den Folgen der Französischen Revolution begann er an diesen Möglichkeiten der Verwirklichung humanistischer Ideale zu zweifeln. Die moderne Gesellschaft hatte zwar in Bezug auf die zunehmende Verteilung von Arbeit in ihrer Gesamtheit einen Fortschritt zu verzeichnen, ebenso wie auf den Gebieten der Wissenschaft und Technologie, aber dafür musste das Individuum seinen Preis bezahlen und wurde von der Gesamtheit der gesellschaftlichen Entwick- 88 Kati Röttger lungen abgetrennt, isoliert. Die Werte der Aufklärung blieben daher reine Theorie, lediglich die Oberfläche der Gesellschaft, der Mensch als solcher wurde durch sie nicht ergriffen. Anstatt sich für die Trennung von Politik und Moral einzusetzen, um die Freiheit des Theaters zu garantieren, sprach sich Schiller nun, unter Einfluss von Kant, für die Funktion der Kunst als ästhetisches Übungsgebiet für die politische Freiheit des Menschen aus. Sein Heilmittel für die kranke Gesellschaft wurde nun die ästhetische Erziehung des Menschen. Politik und Kunst waren nun nicht mehr so leicht voneinander zu unterscheiden. Mehr noch: In Schillers ästhetischem Staat war die Opposition zwischen Gesellschaft und Kunst aufgehoben, denn er forderte sowohl die Autonomie der Kunst als auch die Identität von Kunst und Leben. 17 Damit leitete Schiller eine Wende im Denken über die Beziehung zwischen Kunst und Politik ein, die sich vor allem seit Beginn des 20. Jahrhunderts in den avantgardistischen Erneuerungsbestrebungen des Verhältnisses zwischen Kunst und Leben, Ästhetik und Politik bemerkbar machen sollte. Kritik und Krise Wie aber nun ist es um die Kritik bestellt? Koselleck zeigt in seinem bereits genannten Buch einen weiteren Bedeutungshorizont des Begriffs auf, der für die Beantwortung dieser Frage vor allem im Zusammenhang mit der Funktion von Theater entscheidend ist, denn er verweist hier auf den gemeinsamen etymologischen Ursprung der Begriffe Kritik und Krise. 18 Auch Krise leitet sich aus dem Bedeutungszusammenhang von Trennung und Scheidung ab. Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts gehen die beiden Begriffe semantisch getrennte Wege. Während Kritik immer mehr für die Kunst des Urteilsvermögens in Anspruch genommen wird, wird Krise immer mehr in einem medizinischen Zusammenhang benutzt, um den entscheidenden Wendepunkt bei einer Krankheit zu bezeichnen. So wird der Begriff auch in abstrakterem Sinne mehr und mehr benutzt, wenn ein Kehrpunkt, ein Umschwung oder turning point, man kann auch sagen die Peripetie einer Situation gemeint ist. Krise markiert genau den Moment, an dem die Zeit still zu stehen scheint und kein Fortschritt, kein Übergang von einer alten zu einer neuen Ordnung zu beobachten ist. Koselleck zufolge hat die Idee der moralischen Kritik im 18. Jahrhundert den Krisenbegriff eingeschlossen und damit gleichzeitig verborgen. Dies machte sich vor allem in der damaligen Geschichtsschreibung bemerkbar, die den Fortschritt als Prozess moralischer Gesetze ansah. Der erste Aufklärer, der diese Wechselwirkung zwischen Kritik und Krise bemerkt hatte, war Jean Jacques Rousseau. Als Vertreter der Idee des natürlichen Staates, in dem Volk und Staatsmacht eins sind, konnte die Trennung zwischen Moral und Politik nur eine Fiktion sein. Im Gegensatz zum zielgerichteten, progressiven Denken der Geschichtsschreibung plädierte er für ein zirkuläres Modell im Sinne von Peripetie. Aus dieser Perspektive sagte er die französische Revolution, und mit ihr den l’état de crise, welcher die crise de l’État verursachen sollte, voraus: das heißt, die Aufhebung der alten Ordnung und der Zeit der Geschichte. Es wird nun niemanden mehr in Erstaunen versetzen, dass Schillers Idee vom ästhetischen Staat nicht zuletzt auch von Rousseau beeinflusst war. Ja, Koselleck behauptet selbst, dass mit Schillers Mannheimer Rede das Ende der Kritik eingeläutet wurde und die Krise manifest wurde. Krise und Spektakel Vielleicht geht es zu weit, aufgrund des Vorhergesagten zu behaupten, die Krise der modernen Gesellschaft finde seit dem Ende Kritik des Spektakels 89 des 18. Jahrhunderts ihren Ausdruck im Spektakel. Aber es ist nicht zu leugnen, dass in dieser Zeit der Siegeszug des Spektakelstücks oder Melodramas seinen Anfang nahm, 19 parallel zur oben erwähnten Bedeutungsverschiebung des Begriffs. Auch Jonathan Crary setzt in seinem Buch Suspension of Perception. Attention, Spectacle and Modern Culture das Aufkommen des Spektakels am Beginn des 19. Jahrhunderts an. In dieser ausführlichen Studie über die Genealogie der Aufmerksamkeit belegt er den unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Krise der modernen Zeit und der Krise der Wahrnehmung, indem er aufzeigt, dass “[…] die wechselnden Konfigurationen des Kapitalismus, mit ihrer endlosen Abfolge von neuen Produkten, Reizquellen und Informationsströmen, Aufmerksamkeit und Zerstreuung ständig über neue Grenzen und Schwellen zwingen”. 20 Anlass sei “[…] die Emergenz von Modellen des subjektiven Sehens [gewesen], die sich relativ unvorbereitet in der Zeit von 1810 bis 1840 in zahlreichen Disziplinen bemerkbar machte”. 21 Ohne an dieser Stelle die Schlüsse, die Cary in dieser interessanten Studie zieht, angemessen diskutieren zu können, möchte ich es hier bei der Feststellung belassen, dass sich also an der Wende zum 19. Jahrhundert zwei Krisenmomente des menschlichen Subjekts ausmachen lassen: eine politische Krise und eine aisthetische Krise, oder: eine Krise der Identität und eine Krise der Wahrnehmung. Das Melodrama nun, so meine These, ist ein Produkt dieser Krisenkonstellation. Gleichzeitig brachte es die Krise des Individuums sowohl in politischer wie in ästhetischer Hinsicht zum Ausdruck. Das Melodrama gilt allgemein als das Genre (manche sagen sogar das einzige Genre), das die Französische Revolution hervorbrachte. “[It] was the morality of the revolution”, behauptete seiner Zeit gar der französische Autor Charles Nodier. 22 Wenn dies tatsächlich der Fall war, dann konnte das jedoch nicht nur an der Eindeutigkeit der moralischen Aussagen und der Unzweideutigkeit der Zeichen liegen, mit denen sie auf die Bühne gebracht wurden, wie Peter Brooks behauptet. 23 Viel eher ist diese Funktion des Melodramas oder Spektakelstücks meiner Ansicht nach auf die Inkorporation und Veräußerung der Spannung zwischen Kritik und Krise (zwischen Stillstand und Fortschritt von Technik und Geschichte) zurückzuführen, indem es die Versprechen der Aufklärung in Bilder einfror (Moral, Tugend, Freiheit, Kritik), die vom Fortschreiten der visuellen Techniken generiert wurden, denen Crary Krisenhaftigkeit attestiert und die der Moderne den Weg bereiteten. Schon allein die Aufzählung der bezeichnenden Merkmale des Genres lässt in diesem Zusammenhang aufmerken: der Einsatz piktoraler Techniken wie Diorama und Panorama, das Einfrieren der Zeit in Aufsehen erregenden tableaux vivants, der Einsatz neuester Maschinerien zur Erzeugung von Licht- und Illusionierungseffekten, die Gleichzeitigkeit von Gegensätzen in plötzlichen Umschwüngen zwischen Stillstand und Bewegung, Gut und Böse, Natur und Technik, Masse und Vereinzelung usw., und schließlich auch die tautologische Anwendung ästhetischer Mittel wie Musik, Schauspieltechnik und Dekor, um ein und dasselbe Gefühl zum Ausdruck zu bringen: einsam dem Schicksal ausgeliefert zu sein, das nicht selten in Gestalt von (Natur)Katastrophen daher kommt. 24 Das Melodrama, so könnte man konkludieren, führt die Vereinsamung oder Vereinzelung des Individuums vor Augen, indem es sich gleichzeitig dagegen widersetzt. Es stellt eine paradoxale Spannung zwischen Kritik und Krise her, indem es Kritik s(t)imuliert und Krise konstituiert. Das Floß der Medusa Um diese These zum Schluss zu unterbauen, möchte ich ein Beispiel anführen. Es handelt 90 Kati Röttger Abb. 5: Jean Louis Théodore Géricault: Das Floß der “Méduse”, 1818-19. Öl auf Leinwand, 14x25 cm, Paris Musée du Louvre sich um die Aufführung des niederländischen Melodramas De schipbreuk der Medusa aus dem Jahr 1840, die ein Jahr nach der Aufführung des französischen Originals von Charles Desnoyer, 25 am 12. Mai in Den Haag in Premiere ging. Es war auch ein Jahr nach der Erfindung der Fotografie, ein Jahr nach der Einweihung der ersten Bahnstrecke in den Niederlanden, ein Jahr, nachdem Willem I verpflichtet wurde, Belgien offiziell als Staat anzuerkennen, indem dessen Unabhängigkeit von den Niederlanden mit dem Vertrag von London endgültig besiegelt wurde. Ein Jahr also, das gleichermaßen von einer nationalen Krise und technologischem Fortschritt gekennzeichnet war. Dieser Kontext ist nicht ganz bedeutungslos, will man die Wirkung dieses Stückes verstehen. De schipbreuk der Medusa war einer der größten Publikumserfolge überhaupt und wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts mehrere Male in verschiedenen niederländischen Städten immer wieder aufgenommen, meistens mit ähnlichem Erfolg. Das “geschichtskundige Drama in fünf Akten mit Musik, Chören, Märschen und weiteren bühnenmäßigen Einrichtungen” handelte von einem Ereignis, das vor allem über ein Gemälde in ganz Europa bekannt geworden war: Das Floß der Medusa von Théodore Géricault (Abb. 5). Es wurde zum ersten Mal 1819 im Pariser Salon ausgestellt und bot direkt Anlass für großes Aufhebens, nicht nur weil es das Schicksal ganz gewöhnlicher Menschen zeigte und darum als “revolutionäre Komposition” 26 gepriesen wurde, sondern vor allem auch, weil es Julian Barnes zufolge die zeitgenössische Geschichte in eine zeitlose Metapher transformierte, das Gemälde habe sich vom “Anker der Geschichte” losgerissen, es “bleibt ein Gemälde zurück, das sogar seine eigene Geschichte überlebt”. 27 Die Katastrophe wurde zum Bild, das Bild zum Ereignis. Das tatsächliche Ereignis des Schiffbruchs hatte 1816 stattgefunden. Die Medusa, Flaggschiff eines Flottenverbandes, war mit Soldaten und ganz gewöhnlichen Passagieren auf dem Weg nach Senegal. Anlass war die Wiederherstellung der kolonialen Macht der Franzosen in diesem Land. Der Kapitän war bereits zwanzig Jahre lang nicht mehr auf hoher See gefahren, er verdankte seinen Job seiner früheren Loyalität als Offizier zu Napoleon. Kurz vor der senegalesischen Küste sank das Schiff. 149 Männer und eine Frau wurden mit einem Minimum an Proviant auf einem Floß zurückgelassen, nachdem die Offiziere die Seile gekappt hatten. Zehn Tage lang trieb das Floß auf dem Meer, der Nahrungsmangel führte zu Tod, Messerstechereien und selbst Kannibalismus. Am Ende warfen die 15 Stärksten die Schwachen über Bord. Zehn Menschen überlebten die Katastrophe, davon schrieben zwei - Henry Savigny und Alexandre Correard - einen Bericht, den sie 1817 veröffentlichten. Er verursachte einen nationalen Skandal, denn nicht nur die Restaurationspolitik der Bourbonen, sondern auch die Mängel der neuen Monarchie und die Spannungen zwischen den Royalisten und Liberalen wurden damit aufgedeckt. 28 Die Handlung des Melodramas basierte im Prinzip auf diesen Ereignissen. Allerdings blieben Blutvergießen und Kannibalismus ausgespart. Der Logik des melodramatischen Genres zufolge mag es niemanden erstaunen, dass die Figuren, die zu Beginn eingeführt werden - Pierre der Lotse und das Waisen- Kritik des Spektakels 91 Abb. 6: Baptême sous les tropiques ou Calcina en amour. Théâtre des Variétés, 4e acte du Naufrage de la Méduse. Nantes, Impr. chez Charpentier, 1840. Lithographie (27,8 x 43,3 cm) BNF, Estampes et Photographie, Jz-23-Fol. Abb. 7: Le Naufrage de la Méduse, Illustration in: M. Charles Desnoyer: Le Naufrage de la Méduse, Paris: Libreraire Dramatique, 1839. kind Marie - am Ende zu den Überlebenden gehören. Von allergrößter Bedeutung für den Erfolg des Stückes war jedoch die Dekoration. 29 Ein Zeitgenosse berichtet: “Im vierten Akt fühlt sich der Zuschauer an Bord der Fregatte Medusa versetzt, auf hoher See, unter der Linie, wenn man vom Bugspiegel ausging, getreu des Bildes Le Baptême sous le Tropique; [dazu Abb. 6, K.R.] […] Am Ende des Aktes sehen wir die Fregatte in Not, im Moment ihres Untergangs, alle versuchen sich in die Beiboote zu retten, dann fällt der Vorhang”. 30 Den Höhepunkt der Aufführung bildete der letzte Akt, der dem “Gemälde von Géricault nachgestellt” war, wie ein Anschlagzettel damals vermeldete (Abb. 7). Für die Einrichtung dieses Tableaus wurde ein halbe Stunde Pause eingeräumt. Der Erfolg war überwältigend, dazu noch einmal der Augenzeuge: “Am Ende wurde der verdienstvolle Dekormaler [Jan van Hove, K.R.] mehrere Male vom aufgewühlten Publikum auf die Bühne gerufen und erhielt die Ehre, jeweils mit lauten Bravorufen empfangen zu werden”. 31 Die bildungsbürgerliche Kritik hingegen befand das Spektakelstück als “schlimmsten Schund [und] Perlen aus Morast”. 32 Ein solches Urteil war jedoch weniger auf die künstlerische Qualität der Aufführung zurückzuführen als auf die ideologische Ladung des Stücks, wie Jan Hein Furnée in seiner Dissertation Vrijetijdscultuur en sociale verhoudingen in Den Haag, 1850-1890 belegt. Er weist hier nach, dass die immer wieder laut gewordene Forderung nach “guten Stücken” seitens der höheren, anti-revolutionären Stände letztlich den Zweck hatte, “die Emanzipation der Arbeiter und der Mittelklasse zu verhindern und die bestehende gesellschaftliche Ordnung sowohl politisch als sozial (im Sinne von Klasse und Geschlecht) zu schützen”. 33 Was sich in der scheinbaren Kritik am ästhetischen Gehalt des Melodramas abzeichnet, ist also auch als Widerstand gegen die Krisenstimmung zu sehen, die das Katastrophenszenario aufruft. Dies lässt sich umso mehr annehmen, als das Gemälde von Géricault, das im Melodrama mit so großem Erfolg nachgebildet wurde, die Krise auf ihrem Höhepunkt zeigt. Es ist jener Moment, in dem die Hoffnung auf ein gutes Ende gerade vereitelt wird. Die englische Kunsthistorikerin Christine Riding drückt dies mit folgenden Worten aus: “[Das Gemälde] repräsentiert nicht den Augenblick der Verzögerung, der der Rettung vorangeht, sondern den Moment des absoluten Leids, der ultimativen Prüfung der Schiffbrüchigen, für 92 Kati Röttger die Ewigkeit im Bild eingefroren”. 34 Es ist der zeitlose Moment der Peripetie. Géricault hat für sein Gemälde genau den Augenblick gewählt, an dem die letzte Hoffnung verloren scheint, das rettende Schiff am Horizont verschwindet. Es ist die tiefste Krise vor der Wende, die dann doch noch die Rettung bringt, wie man aus dem Bericht der beiden Überlebenden weiß. Neben diesem dramaturgisch geschickt gewählten Augenblick entlieh Géricault eine weitere Technik dem Theater: Er ließ die Szene naturgetreu von den Überlebenden und einigen ‘Komparsen’ nachspielen, um sie zu malen. Zunächst bat er den ebenfalls überlebt habenden Zimmermann der Medusa, das Floß in wahrer Größe in seinem Atelier nachzubauen, bis er schließlich die Akteure darauf posieren ließ. Diese Theatralisierung der Wirklichkeit, die den spektakulären und zeitlosen Effekt des Bildes entscheidend mit bestimmte, findet in der Inszenierung des Melodramas also ihre intermediale und ihre politische Rückwirkung, bzw. Rückkoppelung. Intermedial wie politisch kann hier von einer zirkulären Bewegung des piktoralen Katastrophenszenarios gesprochen werden. Seit dessen Veröffentlichung im bereits genannten Bericht im Jahr 1817 wanderte es durch verschiedene Medien. Bereits 1820 z.B. wurde es in England gleich in dreifacher Weise ausgestellt: einmal in Form des Géricaultschen Gemäldes von 1819, das im darauf folgenden Jahr in der Egyptian Hall, Picadilly in London gezeigt wurde, dann als “nautical melodrama” von William Thomas Moncrieff im Royal Coburg Theatre aufgeführt wurde und schließlich auch als Panorama im selben Jahr zu betrachten war - genau gesagt im Grand Marine Peristrephic Panorama of the Shipwreck of Medusa French Frigate with the Fatal Raft von Messr Marshall, ausgestellt im Pavillon in der Prince’s Street in Edinburgh. Christine Riding zufolge wurde der Erfolg des Gemäldes damals bei weitem von dem Panorama in den Schatten gestellt, das wesentlich mehr Publikum anzog. Hans Belting beschreibt den intermedialen Konkurrenzkampf mit Julian Barnes folgendermaßen: In Dublin, wo das Gemälde noch einmal zu sehen war, verlor es die Partie an das moderne Medium des ‘Panoramas’, in dem man das Ereignis wie später im Kino nicht nur als Sensation, sondern auch in einer sensationellen Form aufführen konnte. Schildern wir die Dinge mit Julian Barnes: Während das Gemälde nur seine ‘stationären Pigmente zur Schau stellte’, wurden dem Publikum am Ort des Panoramas “an die 10 000 Quadratfuß mobiler Leinwand geboten. Eine Episode folgte der anderen, wobei bunte Lichter auf der rollenden Leinwand spielten und ein Orchester die Dramatik der Ereignisse unterstrich. Das ist der Weg des Fortschritts, bemerkte der Colonel enthusiastisch, als sie den Pavillon verließen. Diese Maler werden zusehen müssen wo sie bleiben mit ihren Pinseln. 35 Nichtsdestotrotz blieb das Bild, das Géricault mit seinem Gemälde in das europäische kollektive Gedächtnis eingebrannt zu haben schien, auch in seinen medialen Transformationen wiedererkennbar, ja, wie Christine Riding behauptet, letztlich auch untrennbar vom Medium der Malerei. Unter Verweis auf die melodramatischen Versionen von Montcrieff und Desnoyer sowie auf eine Musical- Oper von Auguste Pilati aus dem Jahr 1839 schreibt sie: While all these spectacles were faithful, to varying degrees, to the events of the original shipwreck - with the authors of the theatrical versions largely confining themselves to the fact of the Medusa being shipwrecked, after which a raft was built - they were all connected by the painting through plagiarisms or the performance of tableaux, and thereby engaged, consciously or not, with Géricault’s singular interpretation and artistic vision/ intentionality. 36 Was jedoch nicht unterschätzt werden darf, ist die Attraktion des politischen Skandals, die das Katastrophenszenario ausstrahlte. Zwei- Kritik des Spektakels 93 felsohne fühlten sich die 40 000 Besucher des Panoramas in Edinburgh nicht zuletzt deshalb von diesem Ereignis angezogen, weil sie den Franzosen diesen Skandal gönnten. Und zwanzig Jahre später, als das Melodrama in den Niederlanden auf die Bühne kam, war sicherlich nicht die Tatsache zu unterschätzen, dass das Verhältnis zu Frankreich durch die gerade erst offiziell gewordene Unabhängigkeit Belgiens eher getrübt war. Gleichzeitig aber fanden sich in diesen Genres die Bürger wieder, die sich zwar als Teil einer nationalen Gemeinschaft imaginierten, die aber nun gerade die massenmedialen Produktionsweisen dieser Imagination als krisenhaft erfuhren, weil diese sie wiederum als Individuen von der Gemeinschaft abtrennten, wie Schiller bereits festgestellt hatte. Conclusio Was können wir aus diesen Beobachtungen schließen? Das Spektakel ist ein Manifest der Krise: die Krise der Moderne, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit politischen und aisthetischen Brüchen im Selbstverständnis des westlichen Individuums einsetzte. Die Manifestation des Spektakels bündelt sich im Melodrama als Genre der intermedialen Überkreuzung von textuellen und piktoralen Techniken, die dem Fortschritt und der Massenkultur entlehnt sind. Im Falle des Schipbreuk der Medusa steht ein Katastrophenbild im Zentrum des Geschehens. Es gilt als Phänomen einer Revolution, die im 19. Jahrhundert in der Malerei stattfand, indem mit ihm Bilder zum ersten Mal geschaffen wurden, die keine Helden oder Heiligen in den Mittelpunkt stellten, sondern die Katastrophen einer Gruppe von gewöhnlichen Individuen. Genau diese Konstellation wird vom Melodrama reproduziert, dabei kommt das dialektische Verhältnis von Kritik und Krise, das Koselleck für das 18. Jahrhunderts konstatiert, zum Stillstand. Kritik und Krise fallen in eins, dies ist die Nomenklatur des Spektakels, wie es noch im 21. Jahrhundert Gültigkeit hat. Mehr noch, ich würde sogar behaupten, dass das 19. und das 21. Jahrhundert im Begriff des Spektakels näher zusammenrücken, weil der visuelle Exzess, der mit den neuen Medien im 19. Jahrhundert einsetzte, sich in den digitalen Medien wiederholt. Einhalt geboten wurde diesem Exzess zwischendurch durch die Gültigkeit der Gesetzte der Psychoanalyse seit Beginn des 20. Jahrhunderts, aber das ist ein anderes Thema. Wie steht es nun mit der Kritik des Theaters am Spektakel? Ich würde bei der ursprünglichen Bedeutung des Wortes bleiben wollen, nämlich Trennung und Spaltung. Nur dass es heute nicht mehr um die Trennung der Bereiche der Politik und Moral gehen kann. Was anliegt, und was das Theater - wie ich mit Platform gezeigt habe - leisten kann, ist die Trennung zwischen den Medien und ihren Bildern, um einen Zwischenraum zu schaffen, in dem neue Perspektiven eröffnet werden, Perspektiven, die sich nicht zuletzt auch aus der Zerstörung der eigenen ästhetischen Mittel ergeben. Anmerkungen 1 Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin 1996, S. 23: “Die Trennung ist das Alpha und Omega des Spektakels”; S. 25: “Der Ursprung des Spektakels ist der Verlust der Einheit der Welt, und die gigantische Ausbreitung des modernen Spektakels drückt die Vollständigkeit dieses Verlustes aus […]”. 2 Jonathan Crary, “Fernsehen im Zeitalter des Spektakels”, in: Wulf Herzogenrath, Thomas W. Gaehtgens, Sven Thomas, Peter Hoenisch (Hg.), TVkultur. Fernsehen in der Bildenden Kunst, Amsterdam, Dresden 1997, S. 66-75. 3 Debord, Spektakel, S. 25. 4 Debord, ebd., S. 25. 5 Vgl. z.B. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M. 1999, S. 466-467: “Theatralisierung durchdringt das ganze 94 Kati Röttger gesellschaftliche Leben, angefangen bei individuellen Versuchen durch Mode ein öffentliches Ich zu erzeugen/ fingieren […] Nimmt man die Werbung, die Selbstinszenierung der Welt des Business und die Theatralik der medialen Selbstdarstellungen der Politik hinzu, so scheint das, was Guy Debord als ‘Gesellschaft des Spektakels’ heraufziehen sah, sich zu vollenden”. 6 Crary, “Fernsehen”, S. 69. 7 Vgl. dazu u.a. Derrik de Kerckhove, “Eine Mediengeschichte des Theaters. Vom Schrifttheater zum globalen Theater”, in: Martina Leeker (Hg.), Maschinen, Medien, Performances. Theater an der Schnittstelle zu digitalen Welten, Berlin 2001, S. 501-525. De Kerckhove führt hier die Entstehung des klassischen griechischen Theaters auf die Methode der Spektakularisierung zurück, die in der Ablösung des Betrachters von der Erfahrung des Sehens und der Transformation in den reinen Beobachter besteht, welche de Kerckhove als Akt der Entfremdung beschreibt. 8 Vgl. Duden, Das Herkunftswörterbuch, Mannheim, Wien, Zürich 1963, S. 656. Laut der Eintragung im Duden erhält der Begriff Spektakel an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert einen neuen Geltungsbereich, indem er Aktionen und Repräsentationen umfasst, welche die Aufmerksamkeit ungebührlich fesseln, den Blick fangen oder das Ohr beleidigen. Diese bis heute geltende Prägung des Begriffs rührt aus dem Zuviel an Veräußerung, der Überreizung sinnlicher Eindrücke, das die Autonomie des Beobachtersubjekts unterläuft und deshalb zu Passivität bis hin zu völliger Vereinnahmung führt. 9 Reinhard Koselleck, Kritik und Krise, Frankfurt a.M. 1973. 10 Ich erinnere nur an die verschiedenen Versuche, das Theater von dieser ‘Apparatur’ zu befreien, indem es in Rituale oder festliche Akte eingebunden wurde, um intensive körperliche Erfahrungen zu ermöglichen, wie bei Rousseau, Artaud etc. An dieser Stelle möchte ich betonen, dass Theater selbstverständlich nicht ausschließlich als Medium des Sehens fungiert, sondern alle anderen Formen der Wahrnehmung einschließt. Wenn hier von Visualität die Rede ist, dann sind damit also immer Formen des Sehens in Beziehung zu anderen Formen der Wahrnehmung gemeint. Ausgangspunkt für diesen Ansatz ist die Auffassung, dass Visualität als kulturelle Praxis zu verstehen ist, die selbst wiederum bestimmten Diskursen, Institutionen, Gewohnheiten und Sichtweisen unterliegt. 11 Damit einher geht die Auffassung, dass sich das Theater einerseits im Zuge geschichtlicher Transformationsprozessen von Auffassungen über das Sehen verändert hat, andererseits aber auch das Theater selbst wiederum kulturelle Vorstellungen über Wahrnehmung und Sehen beeinflusst hat. 12 Wikipedia vermeldet folgende Details zu diesem Attentat: “Der Anschlag von Bali im Jahr 2002 ereignete sich am 12. Oktober in der Stadt Kuta auf der indonesischen Insel Bali und tötete 202 Menschen und verletzte über 209 zum Teil schwer. Der Bombenanschlag war der bisher folgenschwerste Akt von Terrorismus in der indonesischen Geschichte. Die Opfer waren mehrheitlich ausländische Touristen, hauptsächlich Australier. Sechs Deutsche und drei Schweizer Staatsangehörige, aber auch viele Einheimische, haben bei dem Attentat ihr Leben verloren. Der Anschlag rief weltweit Bestürzung und Empörung hervor und hatte erhebliche Folgen für den Tourismus auf der beliebten Ferieninsel. Einige Indonesier wurden später für ihre Beteiligung an der Tat zum Tode verurteilt. Im Oktober 2002 stand Abu Bakar Bashir, vermutlich Gründer und spiritueller Führer der Terrororganisation Jemaah Islamiyah, vor Gericht, wurde aber erst im März 2005 für schuldig befunden, an dem Anschlag beteiligt gewesen zu sein. Als Ziel des Anschlages wurden australische Touristen vermutet, die von muslimischen Extremisten stellvertretend für ihr Herkunftsland als Statthalter der USA angesehen wurden. Australien beteiligte sich am Krieg gegen den Terrorismus. Am Samstag dem 12. Oktober, etwa 23: 05 Uhr Ortzeit (15: 05 UTC), explodierte in Paddy’s Bar eine elektronisch gezündete Bombe, vermutlich in einem Rucksack versteckt. Die Bombe war klein und wirkungsvoll, tötete den Rucksackträger, wahrscheinlich ein Selbstmordattentäter. Die Verletzten flohen sofort aus dem Kritik des Spektakels 95 Lokal auf die Straße. Etwa zehn bis fünfzehn Sekunden später erschütterte vor dem Sari Club eine zweite Explosion das Geschehen, ausgelöst durch eine fast 1 t schwere in einem weißen Mitsubishi Van versteckte und mit einer Fernbedienung gezündete Autobombe. Fast gleichzeitig explodierte eine Bombe vor dem Konsulat der USA in der Inselhauptstadt Denpasar, die aber nur Sachschaden anrichtete. In Kuta bot sich ein Bild der Zerstörung, Verletzte und Tote lagen auf der Straße, Menschen liefen in Panik und Verzweiflung umher. Die Bombe zerstörte Fenster in der ganzen Stadt und hinterließ einen fast anderthalb Meter tiefen Krater im Boden. Das örtliche Krankenhaus war nicht in der Lage, die vielen Verletzten, die meisten mit Brandwunden, zu behandeln. Viele Schwerverletzte flog die australische Luftwaffe nach Darwin und in andere australische Städte aus. Die endgültige Anzahl der Opfer lag bei 202, mehrheitlich Besucher der beiden Bars. Mehrere hundert Menschen litten an Verbrennungen und anderen Verletzungen. Die größte Gruppe der Opfer mit 88 Personen waren australische Urlauber. Außerdem starben 38 indonesische, 26 britische, 7 amerikanische, 6 deutsche, 5 schwedische, 4 holländische, 4 französische, 3 schweizerische, 3 dänische und Staatsangehörige anderer westlicher Nationen. Drei Leichen blieben unidentifiziert und wurden im September eingeäschert. Das ‘Bali bombing’ wird manchmal als ‘Australiens 11. September’ gesehen, wegen der hohen Anzahl australischer Todesopfer und Verletzter.” Vgl. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Anschlag_ von_Bali_2002, zuletzt gesichtet am 6.11.2008. Drei der Attentäter sind am 8.11.2008 mit der Todesstrafe belangt worden. 13 Vgl. dazu Boris Groys, “The Fate of Art in the Age of Terror”, in: Bruno Latour and Peter Weibel (Hg.), Making Things Public. Atmospheres of Democracy, London, Cambridge Massachusetts 2005, S. 970-977. 14 Friedrich Schiller, “Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? (Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet)”, in: Friedrich Schiller, Theoretische Schriften, Köln 1999, S. 9-21; S. 13. 15 Schiller, “Was kann eine Schaubühne”, S. 21-22. 16 Schiller, ebd., S. 18. 17 Vgl. Jacques Rancière, The Politics of Aesthetics. The Distribution of the Sensible, London, New York 2004, S. 23. 18 Koselleck, Kritik und Krise, S. 196-199; Fußnote 155. 19 Es ist wahrscheinlich müßig, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass Rousseau als Erfinder dieses Genres gilt, auch wenn er sicherlich nicht dessen Spektakelgehalt im Sinn hatte. 20 Jonathan Crary, Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt a.M. 2002, S. 23. 21 Crary, ebd., S. 21. 22 Vgl. Daniel Gerould, “Melodrama and Revolution”, in: J. Bratton, J. Cook, C. Gledhill (Hg.), Melodrama. Stage, picture, screen, London 1994, S. 185-198; S. 185. 23 Peter Brooks, “Melodrama, Body, Revolution”, in: Melodrama, S. 11-24; S. 16. 24 Vgl. dazu u.a. Günther Heeg, Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M., Basel 2000. 25 Vgl. Charles Desnoyer, Le Naufrage dela Méduse. Drame au cinq actes. In der ersten Ausgabe wird folgendes angegeben: “Représenté pour la première fois, à Paris, sur le théâtre de l’Ambigue Comique, le 27 avril 1839”. Die niederländische Übersetzung ist mit folgenden Angaben versehen “De Schipbreuk der Medusa. Toneelspel in vijf bedrijven / naar het Fransch van Ch. Desnoyer; Rotterdam: H. Nigh 1840”. 26 Alexander Rauch, “Klassizismus und Romantik. Europas Malerei zwischen zwei Revolutionen”, in: R. Toman (Hg.), Klassizismus und Romantik. Architektur, Skulptur, Malerei, Zeichnung 1750-1848, Köln 2000, S. 318-479; S. 410. 27 Julian Barnes, Eine Geschichte der Welt in 10 ½ Kapiteln, München 1994, S. 135. 28 Vgl. dazu auch Christine Riding, “The Fatal Raft”, in: History Today, 53, 2 (2003). 29 Tom van Kalmthout, “De Hollandsche Schouwburg 1804-1876”, in: P. Korenhof (Hg.), De Koninklijke Schouwburg [1804- 2004], Zutphen 2004, S. 48-79; S. 71. 96 Kati Röttger 30 Anonym, in: De Beeldende Kunsten, Rubriek “Mengelwerk” (1840), S. 288-291; S. 290. [Übersetzung aus dem Niederländischen K.R.] 31 Ebd., S. 290. 32 Kneppelhout in: Jan Hein Furnée, Vrijetijdscultuur en sociale verhoudingen in Den Haag, 1850-1890, Dissertation Rijksuniversiteit Groningen 2007, S. 316. 33 Ebd., S. 319. 34 Christine Riding, “Staging The Raft of the Medusa”, in: Visual Culture in Britain 5, 2 (2004), S. 1-26; S. 9. 35 Hans Belting, Das unsichtbare Meisterwerk. Die modernen Mythen der Kunst, München 1998, S. 121. 36 Riding, “Staging The Raft”, S. 2.
