eJournals Forum Modernes Theater 23/2

Forum Modernes Theater
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0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/1201
2008
232 Balme

Ein Markt nationaler Gefühle?

1201
2008
Henry Ruitenbeek
Rob van der Zalm
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Ein Markt nationaler Gefühle? Das niederländische Theater im 19. Jahrhundert Henny Ruitenbeek und Rob van der Zalm (Amsterdam) Im jüngst erschienenen National Theaters in a changing Europe werden die Niederlande als eines der europäischen Länder genannt, die nie ein Nationaltheater besaßen. 1 Auf den ersten Blick erscheint diese Annahme richtig. Denn weder eine in aristokratischen Kreisen gewachsene und an den Hof gebundene Institution wie die Comédie Française, noch ein bürgerliches Nationaltheater, wie es zum Beispiel im 18. Jahrhundert in Deutschland seinen Anfang nahm, hat es in den Niederlanden je gegeben. Allerdings wurde das Phänomen des Nationaltheaters im 19. Jahrhundert in den Niederlanden ausführlich diskutiert. Die Frage ist jedoch, wie der Begriff des “Nationaltheaters” damals definiert wurde. Die plötzliche Relevanz eines möglichen Nationaltheaters entstand aus einem breiteren geschichtlichen und politischen Interesse an Fragen zur nationalen Identität der Niederlande. Gleichzeitig nahmen Reichweite und Macht des Theaters in den Niederlanden nach 1800 schnell zu, womit es zu einer wichtigen Plattform wurde, die die Möglichkeit bot, sich mit den Fragen zur eigenen Identität auseinander zu setzen. Dass das Theater in dieser Zeit ein wichtiger Bestandteil der Diskussionen um Nationalität und Identität war, ist dadurch nachzuvollziehen. Wie die Teilnehmer dieser Diskussionen den Begriff des Nationaltheaters genau definierten, bleibt dagegen schwierig zu beantworten und bedarf einer differenzierten Untersuchung. Im Folgenden wird ausgehend von dem allgemeinen nationalen Diskurs, der sich seit Ende des 18. Jahrhunderts in den Niederlanden herausgebildet hat, untersucht, wie sich dieser im 19. Jahrhundert im niederländischen Theater niederschlug. Der Artikel wirft dabei einige Fragen auf und bildet somit den Ansatz für weitere Untersuchungen. Nationale Gefühle in der Amsterdamse Schouwburg Im Jahr 1831 wurde in der Stadsschouwburg Amsterdam das “dramatische Gedicht” Hulde aan de nagedachtenis van Hollandsch zeeheld, J.C.J. Van Speyk des Amsterdamer Rechtsanwaltes und Schriftstellers Jacob van Lennep (1802-1868) aufgeführt. Es handelte sich dabei um ein “Gelegenheitsgedicht”, das ein hochaktuelles Ereignis aus dem Belgischen Aufstand wiederaufleben ließ. Der südliche Teil des Vereinigten Königreiches - das seit 1814 aus den Landesteilen bestand, die heute die Niederlande und Belgien bilden, - kämpfte seit 1830 um seine Unabhängigkeit vom Norden. Dieses Ziel wurde 1839 endgültig mit der Unabhängigkeit Belgiens erreicht. Die Hulde bezog sich auf die schockierenden Ereignisse aus diesem Kampf: Ein Kanonenboot der niederländischen Truppen hatte in Schelde bei Antwerpen am nördlichen Kai festgemacht. Eine Windböe löste die Taue und wehte das Schiff zum südlichen Kai, wo es in die Hände der Belgier zu gelangen drohte. Der Kapitän, Jan van Speyk (1802-1831), wusste dies jedoch zu verhindern. Er ließ die Mannschaft von Bord springen und warf eine brennende Zigarre in den Pulvervorrat, woraufhin das Schiff samt Kapitän in die Luft flog. Mit einem Mal wurde dieser ehemalige Amsterdamer Waisenjunge zu einem Nationalhelden. Man verglich ihn mit den See- Forum Modernes Theater, Bd. 23/ 2 (2008), 97-108. Gunter Narr Verlag Tübingen 98 Henny Ruitenbeek und Rob van der Zalm helden des ruhmreichen 17. Jahrhunderts, unter anderem mit Michiel de Ruyter und Maarten Tromp, die bedeutende Rollen in der niederländischen Geschichte gespielt hatten. 2 Auch dem Publikum wurde die Ähnlichkeit mit diesen Helden vor Augen geführt: Die Schauspielerin Mimi Engelman- Bia (1809-1889) trat bei einer Vorstellung der Hulde aan Van Speyk in der Amsterdamse Schouwburg in einem “nationalen Kostüm” auf, das in der damaligen Zeit auch außerhalb des Theaters in Mode war. Mit seinen großen Puffärmeln und dem großen Kragen erinnerte das Kostüm an die Kleidung, die auf den Gemälden Johannes Vermeers zu sehen ist. Der Hut war mit schmalen, herabhängenden Schleiern verziert, die die Wimpel der Schiffe des goldenen 17. Jahrhunderts darstellen sollten. 3 Das “Gelegenheitsstück” war ein großer Erfolg. Das war vor allem seinem nationalen Inhalt zu verdanken. Auch die restliche Zusammenstellung des Repertoires lässt vermuten, dass das niederländische Theater in den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts einen Markt nationaler Gefühle kannte. In der Amsterdamse Schouwburg wurden in dieser Periode gut und gerne 17 “Gelegenheitsstücke” und 33 vaterländische Geschichtsstücke gezeigt. Die Anzahl an Vorstellungen, die diese Stücke zusammen ergaben, bildete rund 80 Prozent des gesamten Repertoires. 4 In den patriotischen Geschichtsstücken suchte man ganz bewusst nach Parallelen zur eigenen Zeit. Die Vergangenheit wurde verherrlicht und für eigene Zwecke missbraucht. So wurde zum Beispiel propagiert, dass man die moralische und wirtschaftliche Blüte des 17. Jahrhunderts durch die Wiederherstellung der alten Grenzen wieder hätte aufleben lassen können. Der Historiker Van Sas unterscheidet in seiner Studie De metamorfose van Nederland zwei Arten des niederländischen Nationalismus in der damaligen Zeit: Zum einen nennt er den aktiven, ideologischen, nach außen gerichteten Nationalismus, der sich vor allem in Zeiten politischer Unruhen äußerte. Zum anderen spricht Van Sas von einem latenten nationalistischen Gefühl, das zwar auch in politisch ruhigen Zeiten zu spüren gewesen sei, jedoch sehr viel impliziter war. 5 Der Nationalismus auf der Bühne der 30er Jahre ist dem erstgenannten zuzuordnen. Die eigene Nation wurde verherrlicht und alles Außenstehende und Andersartige verteufelt. Damals richtete sich die Ablehnung gegen die Belgier, doch sie war ebenso kennzeichnend für die nationalen Gefühle der Jahre 1780 (gerichtet gegen Oranje und England), 1813 (als die Franzosen die Niederlande besetzten) und für die Zeit um 1900 (aufgrund der Bauernkriege und des kolonialen Konflikts in Niederländisch-Indien/ Lombok und der Atjeh-Kriege). 6 Ob damals auch auf der Bühne Stellung bezogen wurde, müsste näher untersucht werden, doch es lässt sich vermuten, dass dem so war. Aus der Periode von 1810-1813, als die Niederlande von Frankreich annektiert waren, gibt es Berichte über scharfe anti-französiche Stücke, auch wenn diese nicht alle durch die französische Zensur kamen. In den dazwischenliegenden Perioden des 19. Jahrhunderts war der Vaterlandskult zwar weniger deutlich, unterschwellig war er jedoch durchaus gegenwärtig. Das patriotische Geschichtsdrama war aus diesem Grunde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Garant für gutgefüllte Theatersäle. 7 Stücke niederländischer Autoren waren in dieser Periode ein wahrer Publikumsmagnet, einzig und allein, da sie aus niederländischer Hand geflossen waren. 8 Dass die Machtposition der Niederlande bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts umstritten war, hatte zur Folge, dass man sich der eigenen Identität wieder mehr zuwandte. 9 Dies wurde unter anderem in Äußerungen deutlich, die in einer großen Anzahl spektatorialer Zeitschriften getroffen wurden. Vorreiter dieser Zeitschriften war das durch den Ein Markt nationaler Gefühle? 99 Hauslehrer und Journalisten Justus van Effen (1684-1735) gegründete einflussreiche Blatt De Hollandsche Spektator (1731-1735). Van Effen gab der allgemeinen Idee der Aufklärung, der formbaren Gesellschaft, eine niederländische Note und äußerte seine Besorgnis über die Position des Landes in Europa. Die Söhne der reichen Kaufleute lägen auf der faulen Haut und lebten von dem, was ihre Väter und Großväter im 17. Jahrhundert mit harter Arbeit verdient hätten. Dies war die Botschaft des Herrn Van Effen. Das Faulenzen sei eine verhasste französische Unsitte, die zu den Niederländern nicht passe. Besserung sei nur in Sicht, würde man auf alt-vaterländische Werte wie Aufrichtigkeit, Treue, Einfachheit, Sparsamkeit und Demut zurückgreifen. Auch nachfolgende Spektatoren predigten in einem sehr ähnlichen Stil. 10 Die Position des Theaters Der aufgeklärte Bürger beschäftigte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stets mehr mit dem Theater. Recht schnell erschienen in den Niederlanden die ersten spezialisierten Theaterzeitschriften- und Spektatoren. Die ersten in den Jahren 1762-63: Der Hollandsche Toneel-beschouwer, der Observateur des Spectacles und Schouwburg Nieuws. Darauf folgten bald mehr: Der Ryswykze Vrouwendaagze Courant (1774), der Lachebek (1780-81), der Tooneelspelbeschouwer (1783-84), der Tooneelspelbeöordeelaar (1784), der Tooneelspektator (1792), die De Amsteldamsche Nationaale Schouwburg (1795) und die Tooneelmatige Roskam (1799). Im 19. Jahrhundert sollten noch viele weitere Zeitschriften folgen. 11 Außerdem entstanden damals viele Genossenschaften, in denen über Kunst und Literatur diskutiert werden konnte. Auch dort wurden die Nation und das Vaterland oft zu einem wichtigen Thema. Das Theater war Teil dieses Genossenschaftskultes: In Haarlem wurde 1784 zum Beispiel die Theatergenossenschaft Leerzaam Vermaak gegründet. 12 Zwei Amsterdamer Theater - das Théatre Français an der Innen-Amstel von 1784 und die Hoogduitsche Schouwburg in der Amstelstraat von 1791 - können ebenfalls als Genossenschaftstheater gesehen werden. Dort gab es regelmäßig geschlossene Vorstellungen, die nur für Mitglieder der Genossenschaft zugänglich waren. Mit alledem entstand eine Art “theatrale Kommunikationsgesellschaft”, zu der auch die öffentlichen Theater gezählt werden können. Die theatrale Kommunikationsgesellschaft erlangt nationale Dimensionen Im Laufe des 19. Jahrhunderts erlangte diese “Kommunikationsgesellschaft” nationalen Dimensionen. Zuallererst entstand ein Netzwerk von Theatergebäuden. Diese Entwicklung wurde erstmals im 2007 erschienenen Handbuch Theater in Nederland sinds de zeventiende eeuw aufgezeigt und mit Zahlen unterbaut. 13 Es handelt sich dabei um eine Inventarisierung und Beschreibung aller festen Theatergebäude, die seit 1638 gebaut und/ oder eingerichtet wurden. (1638 wurde in Amsterdam die erste niederländische “Schouwburg” eröffnet.) Auf Basis dieser Inventarisierung konnte festgestellt werden, dass die Anzahl der Theater in den Niederlanden nach 1800 explosiv gestiegen ist. Bis 1800 spielten reisende Gesellschaften in Theaterzelten aus Holz und Segeltuch, die für kurze Perioden in der Stadt aufgestellt wurden. Erst ab 1800 verlagerten sich die Vorstellungen in feste Theatergebäude. Zwischen 1800 und 1875 ist die Anzahl der festen Theatergebäude von 13 auf 54 gestiegen. Am Ende des Jahrhunderts hatte sie sich mit 79 festen Theatern versechsfacht. 14 100 Henny Ruitenbeek und Rob van der Zalm Erklärungen zum Wachstum Für dieses explosive Wachstum lassen sich einige Erklärungen finden. 15 Zunächst muss an dieser Stelle der politische Wandel von 1795 genannt werden. Nach einem heftigen, innenpolitischen Streit, der über Jahre andauerte, übernahm eine fortschrittliche Partei von Patrioten, mit Unterstützung der französischen Armee, die Macht im Land. Statthalter Willem V wurde aus seinem Amt vertrieben. An Stelle des alten Regierungssystems mit sieben relativ mächtigen Provinzen, sollte ein neuer Einheitsstaat treten, der, wie in Frankreich, auf den Rechten von Mensch und Bürger, Demokratie und Volkssouveränität basieren sollte. Das Zustandekommen dieser “Batavischen Republik” hatte die Trennung von Kirche und Staat zur Folge. Damit wurde der Einfluss der Kirche auf das Theater geschwächt. Gerade von Seiten der Kirche wurde oft gegen das Theater agiert. Lange hatten die Prediger das Theater als ein Medium verteufelt, das nur die “Verlockung des Fleisches” zur Folge haben konnte. Ein desaströser Brand im Jahr 1772, der die Amsterdamse Schouwburg vollkommen zerstörte und bei dem 19 Menschen ums Leben kamen, wurde von den Predigern nur all zu gerne als Strafe Gottes interpretiert. Diese kritischen Stimmen verstummten zwar nicht, doch sie konnten die Arbeit der Theatervorstände nicht länger beeinflussen. Des Weiteren gab es ab 1850 in den Niederlanden einen wirtschaftlichen Aufschwung, der die Anzahl der Bessergestellten in hohem Tempo ansteigen ließ. Mit der Steigerung des Lebensstandards wuchs auch das Bedürfnis nach Unterhaltung. 16 Dazu kam, dass stets mehr Menschen vom Land in die Städte zogen. Aus den demographischen Zahlen der Jahre 1830-1900 lässt sich schließen, dass ein immer größerer Teil der niederländischen Bevölkerung in Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern lebte. 17 Die Erklärung für diese Entwicklung findet sich in der Industrialisierung. Durch die Mechanisierung im Landbau gab es in den ländlichen Regionen immer weniger Arbeit, wodurch die Menschen gezwungen waren, in die Städte zu ziehen. Dieser Trend wurde allerdings nicht ausschließlich aus ökonomischen Gründen verursacht, sondern auch aus kulturellen. 18 In vielen Städten stieg die Anzahl potentieller Theaterbesucher stark an. Damit wuchs die Möglichkeit, ein eigenes Theater zu betreiben, ohne (all zu große) Verluste zu erleiden. Ein dritter Faktor war die Infrastruktur. Die Niederlande waren im 19. Jahrhundert stets besser zu bereisen. Dadurch nahm die “theatrale Mobilität” stark zu. Rund 1800 begann, erst in Süd- und Nord-Holland, der Ausbau des Schienennetzes. 1850 waren so gut wie alle “Reichswege” verbessert und befestigt, woraufhin mit dem Ausbau der sekundären Wege begonnen wurde. Komfortable Postkutschen und Omnibusse, die nach fester Dienstregelung fuhren, ersetzten die alten Kutschen und Treckschuten. 19 Zwischen 1839 und 1847 wurde die erste Eisenbahnlinie angelegt, die Amsterdam, Haarlem, Leiden, Den Haag, Delft, Schiedam und Rotterdam mit einander verband. 1845 wurde der Rhijnspoorweg fertiggestellt und von nun an konnte auch die Strecke Amsterdam - Utrecht - Arnhem per Zug zurückgelegt werden. Durch die Verabschiedung des Eisenbahngesetzes im Jahr 1860 entstanden in den gesamten Niederlanden Zugverbindungen. 20 Auf diese Weise wurde es für die bessergestellten Theatergesellschaften, die vor allem im Westen des Landes etabliert waren, viel einfacher, in der Provinz aufzutreten. Nicht nur wegen der neuen Beförderungsmöglichkeiten wurde ein Auftritt in ländlichen Regionen einfacher: Vereinbarungen mussten ab 1850 nicht mehr schriftlich getroffen werden. Dies war nun auch per Telegraph, oder später, über das Telefon möglich. Wichtige Rollen könnten auch die wachsenden Auflagen und die weitere Verbreitung der Zeitungen gespielt haben. Nach 1869, als Ein Markt nationaler Gefühle? 101 Zeitungen nicht mehr pro bedruckter Seite versteuert wurden, berichteten diese stets mehr über Ereignisse im kulturellen und literarischen Bereich. 21 Ein letzter Faktor, der den Trend zu festen Theatergebäuden erklären könnte, ist die Stadterklärung. 1874 wurde das “Gesetzt zur Regelung und Vollendung des Festungssystems” verabschiedet. Der Deutsch-Französische Krieg 1870-1871 hatte gezeigt, dass die alten Festungen gegen die modernen Kriegsgeräte keinen ausreichenden Schutz mehr boten. Aus diesem Grund wurde per Gesetz eine neue Art der Verteidigung vorgeschrieben, bei welcher “Überschwemmung” das Zauberwort war. Durch das Fluten von Ländereien rund um die Städte konnte der Vormarsch der feindlichen Truppen gestoppt werden. Diese Gesetzesänderung hatte zur Folge, dass die Festungen, die eine große Anzahl niederländischer Städte umschlossen, abgerissen wurden. Auf diese Weise entstand zum ersten Mal seit Jahrhunderten in den Innenstädten Raum für neue, große Bauprojekte. Nijmegen und Groningen sind zwei Beispiele, bei denen dieser Raum zum Bau von Theatern genutzt wurde. Initiatoren Doch wer war letztendlich verantwortlich für den Ausbau der theatralen Infrastruktur? 22 Wenn es um die Anzahl der festen Theatergebäude geht, waren es die Theaterunternehmer: Unternehmer, wie sie auch schon vor 1795 für das Theaterangebot in den Niederlanden verantwortlich waren. Eine stattliche Anzahl dieser Unternehmer wandte sich vom Theaterzelt ab und engagierte sich in einer großen oder mittelgroßen Stadt. Dort eröffneten sie einen Theatersaal, oft in Kombination mit einem Café oder einer Herberge, die sie so kostengünstig wie möglich zu betreiben versuchten. In einigen Orten war es der Gemeindevorstand selbst, der die Initiative ergriff. So stimmte der Gemeinderat von Nijmegen am 7. März 1838 dem Plan zu, einen Ort zu erschaffen, an dem sich die Bevölkerung “ohne Unterscheidung des Standes” auf angenehme Weise entspannen und bilden lassen konnte. Anderthalb Jahre später öffnete die Nijmeegse Schouwburg ihre Türen. Außerdem gab es private Initiativen zum Bau eines Theaters mit zusätzlichem Konzertsaal. Initiativen, die vor allem vom wohlhabenderen Bürgertum ins Leben gerufen wurden. Als 1848 die Revolution ihre Schatten über Europa warf, fällte der niederländische König Willem I eine überstürzte Entscheidung: Aus Angst vor Unruhen im eigenen Land stimmte er unter Zeitdruck einer Grundgesetzänderung zu, die dem wohlhabenden Bürgertum politische Macht zusprach: Dieses konnte nun seinen eigenen Volksvertreter wählen. Die Bürger erhielten mit einem Mal wichtigen politischen Einfluss und waren entschlossen diesen auch zu nutzen, um ihr Bildungsideal zu realisieren. Auke van der Woud unterscheidet in seinem Buch Een nieuwe wereld. Het ontstaan van het moderne Nederland zwei Arten von Bildung. Zum einen die “äußere Bildung”, mit der er das Streben bezeichnet, die Natur, unter anderem durch das Bauen von Straßen, Schienen, Wasserwegen und Kommunikationsnetzwerken (Post, Telegraph, Telefon) zu beherrschen und zum anderen die “innere Bildung”. 23 Die vom Bürgertum angestrebte “Bildungsoffensive” richtete sich auf die Aspekte der “inneren Bildung”, wie Gesundheit, Hygiene und eine allgemeine Bildung. Das Theater galt dabei als ein wichtiges Instrument. Nach der Trennung von Kirche und Staat 1795 wurde auch in den Niederlanden auf den erzieherischen Charakter des Theater gesetzt. Anders als die orthodoxen Prediger annahmen, würde das Publikum im Theater nicht zum Schlechten verleitet, sondern geradezu durchtränkt vom Begriff des Guten. So wurde unter anderem in der Zeit- 102 Henny Ruitenbeek und Rob van der Zalm schrift Tooneelkijker argumentiert, dass das Theater von allen Medien das meist geeignetste sei, um das Publikum zu erziehen. Anders als beim Lesen von Büchern oder Hören einer Predigt erlebe der Zuschauer im Theater die Helden in Fleisch und Blut. Allein durch diese Tatsache solle er im wirklichen Leben viel eher dazu neigen, das ehrbare Verhalten der Akteure nachzuahmen. 24 Ein Nationaltheater Ein Begriff, der in der Diskussion um die Rolle des Theaters innerhalb der Bildungsoffensive immer wieder auftaucht, ist der des Nationaltheaters. Dieser wurde jedoch im Laufe der Zeit stets neu definiert. Zu Beginn waren damit ganz konkrete Theater gemeint: die Theater in Den Haag, Brüssel oder Amsterdam. 25 Im übertragenden Sinne hatte der Begriff eine nationalistische, “vaterlandsliebende” Bedeutung. Das Theater sollte zu einem Verbundenheitsgefühl mit der Nation erziehen, und dies ließ sich am besten mit ursprünglich niederländischen Stücken, die Themen aus der eigenen Geschichte behandelten, erreichen. Das große Vorbild war die Comédie Française in Paris. Doch auch in Deutschland und an anderen Orten im Europa des 19. Jahrhunderts gab es Initiativen, die als Vorbild genommen wurden. 26 Es ist übrigens nicht bekannt, wann in den Niederlanden die ersten Forderungen nach einem Nationaltheater aufkamen - die müsste durch genauere Untersuchungen geklärt werden. Sicher ist jedoch, dass die Amsterdamse Schouwburg 1795 in Amsterdamsche Nationaale Schouwburg umgetauft wurde. Diese Namensänderung bedeutete, dass der Staat von nun an darauf achtete, dass das Theater “durch das Zeigen von moralischen Theaterstücken [zum] nationalen Geist [...], zu Tugend und Vaterlandsliebe” beitrug. Die Theater mussten ihr Programm darum vorab dem Minister für Nationale Bildung zur Genehmigung vorlegen. 27 Doch der Einfluss des Staates auf das Theater fand ein schnelles Ende. Der Versuch, das Theater zu einer Institution der nationalen Erziehung zu machen, war gescheitert. 1801 wurde das “Ministerium für Nationale Bildung” wieder aufgehoben, was vor allem am Mangel finanzieller und personeller Mittel lag. Die Amsterdamse Schouwburg wurde wieder “Stadsschouwburg” genannt. Die Forderungen nach einem Nationaltheater allerdings blieben. Einige Beispiele: 1818 schrieb Matthijs Siegenbeek, 1797 in Leiden zum Professor für “Vaterländische Sprache und Beredsamkeit” ernannt, einen offenen Brief an die niederländische Regierung, in dem er für die Einführung eines Nationaltheaters plädierte. Drei Jahre später, 1821, veröffentlichte Petrus van Limburg Brouwer (1829-1873) aus Groningen eine Abhandlung mit dem kuriosen Titel: Verhandeling over de vraag: bezitten de Nederlanders een nationaal tooneel met betrekking tot het treurspel? Zoo ja, welk is deszelfs karakter? Zoo neen, welke zijn de beste middelen om het te doen ontstaan? Is het in het laatste geval noodzakelijk eene reeds bestaande school te volgen, en welke redenen zouden eene keus hierin moeten bepalen? 28 1851 gründete König Willem III, auf Betreiben von Jacob van Lennep und anderen Amsterdamer und Haagsen Theaterreformern, eine Kommission “zur Planung und Angabe der Mittel zur Genesung des Nationaltheaters”. 1866 ertönte im De Nederlandsche Spektator vom jungen Utrechtschen Juristen J.N. van Hall (1840-1918) der Aufruf sich “im Kampf für ein Nationaltheater, im Kampf gegen Geschmacklosigkeit, Unwissen und Routine” zu engagieren. Erste Erfolge konnten die Forderungen erst 1870 vermelden, als unter Einfluss von Van Hall und einigen anderen bekannten Niederländern der Nederlands Tooneelverbond gegründet wurde, der das Nationaltheater fördern sollte. Der erste konkrete Erfolg war Ein Markt nationaler Gefühle? 103 die Veröffentlichung einer neuen Theaterzeitschrift, die mehr als ein Jahrhundert bestehen sollte. Der zweite war die Eröffnung der ersten regulären Schauspielschule im Jahr 1874. Der dritte die Gründung einer neuen Theatergesellschaft im Jahr 1876, der Vereeniging ‘Het Nederlandsch Tooneel’, die in kürzester Zeit zur wichtigsten Theatergesellschaft der Niederlande heranwachsen sollte und behauptete, die nationale Gesellschaft zu sein, auch wenn sie diesen Titel nie offiziel verliehen bekam. Ein Markt nationaler Gefühle? Die immer wiederkehrenden Forderungen nach einem Nationaltheater lassen die Frage aufkommen, ob es damals so etwas wie einen Markt nationaler Gefühle gegeben hat: Wenn es nötig war, sich immer wieder für ein Nationaltheater einzusetzen, kann es dann wirklich so viel Unterstützung dafür gegeben haben, wie aus den Zahlen der Aufführungen hervorgeht? In den vorhergehenden Abschnitten wurde angegeben, dass in der Periode des politischen Nationalismus (1830- 40) eine große Begeisterung für nationale Stücke, die die Eigenart der Niederländer thematisierten, herrschte. Außerdem waren während der gesamten ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowohl vaterländische Geschichtsstücke, als auch ursprünglich niederländische Stücke erfolgreich. Betrachten wir jedoch das Gesamtbild, sehen wir, dass Stücke dieser Art ein ziemlich seltenes Phänomen waren. Dem Repertoire der Amsterdamse Schouwburg aus den Jahren 1814-1841 ist nämlich zu entnehmen, dass ungefähr 80 Prozent der gesamten Aufführungen aus übersetzten Werken ausländischer Autoren bestand. Schriftsteller, deren Namen regelmäßig die Plakate schmückten, waren zum Beispiel De Belloy, Bouilly, Duval, Iffland, Kotzebue, Mercier, Picard, Pixérécourt, Scribe, Racine und Voltaire, vielseitige Autoren aus ganz Europa also. 29 Über diesen internationalen Charakter des gespielten Repertoires beklagte man sich im 19. Jahrhundert viel und lautstark. Der Amsterdamer Kaufmann und spätere Professor der Ästhetik und Kunstgeschichte, Joseph Albertus Alberdingk Thijm (1820-1889), war einer der notorischsten Kläger. Er betitelte die Amsterdamse Schouwburg 1840 als ein “Sammelsurium der schmutzigsten Bewegungen der nicht-heimischen Literaturen, unerträglich für das Auge und ekelhaft für den, der es wagt sich ihm auch nur in irgendeiner Form zu nähern”. 30 Auch Potgieter (1805-1875), Schriftsteller und Gründer der Zeitschrift De Gids, war ein solcher Kläger. Dies lässt die Frage aufkommen, was denn nun wirklich so schlimm war am internationalen Charakter des niederländischen Theaters. Warum hätte ein Nationaltheater dessen Platz einnehmen sollen? Zum einen wurden dafür Argumente von allgemein erzieherischer Art angeführt. Es sollten niederländische Stücke gezeigt werden, da diese die niederländische Volksart am besten wiedergeben könnten. Einige verbanden diese Frage mit ästhetischen Argumenten: Was aus dem Ausland importiert wurde, waren nicht die vertrauten Trauer- und Lustspiele. Es handelte sich dabei um neue Genres, wie das Vaudeville, das bürgerliche Drama und das Melodrama. Den Genuss, den man seit jeher beim Anhören von Tragödien mit ihren schönen Versen empfand, machte Platz für das Vergnügen, das man bei einem Spektakelstück erlebte. Doch es ging um mehr, wie die Forschung erst seit jüngerer Zeit belegen kann. Es ging den Befürwortern des Nationaltheaters nämlich nicht ausschließlich um die allgemeine Erziehung des Publikums zu braven Bürgern oder um die Ästhetik, wie vorher angenommen wurde. Einer von ihnen, Jacob van Lennep - der 1851 ein Gutachten über den Zustand des Theaters schrieb und welcher Verfasser des Gedichtes über Van Speyk war 104 Henny Ruitenbeek und Rob van der Zalm - produzierte immerhin auch selber Vaudevilles. Er selbst notierte dabei, nota bene, dass die Rolle des Bühnenbildners, des Ballettmeisters und des Komponisten bei dem Erfolg einer Vorstellung nicht unterschätzt werden dürfe. Beschwerden schien er in diesem Punkt nicht zu haben. 31 Nein, das eigentliche Ziel der Vertreter des Nationaltheaters war eine spezielle politische Erziehung des Publikums. Die gewünschte politische Erziehung unterschied sich von Periode zu Periode, wodurch auch der Begriff des Nationaltheaters stets eine andere Bedeutung erhielt. Der beliebige Umgang mit dem Begriff “Nationaltheater” Auf die Namensänderung der Amsterdamsche Nationaale Schouwburg im Jahr 1795 haben wir bereits hingewiesen. Die Änderung des Namens war ein Resultat des Kampfes zwischen den Orangisten, Anhängern des Statthalters Wilhelm V, und den demokratisch orientierten Patrioten. Diesen Kampf konnten die Patrioten 1795 mit Hilfe der französischen Truppen für sich entscheiden. Das Ziel der Patrioten war ein Staat, in dem das Volk souveräner Träger der Staatsgewalt ist. Der Begriff “national” hatte in diesen Jahren somit eine deutliche demokratische Färbung. 1813 kehrte der Sohn des zuvor verstoßenen Statthalters als König Willem I in die Niederlande zurück. Damals galt es den Parteistreit der Vergangenheit so schnell wie möglich zu vergessen: “Einig unter Oranje” lautete die Parole. Auch in dieser Zeit wurden erneut Forderungen nach einem Nationaltheater laut. Oft waren diese mit Klagen über den internationalen Charakter des Repertoires verbunden. Die Kritik richtete sich vor allem gegen den aus Frankreich und Deutschland importierten “Schund” des Melodramas. Das Gift der Kritik war politischer Art: Das Melodrama wäre zu demokratisch und würde die gesellschaftliche Ordnung angreifen, da die niederen bürgerlichen Stände sich darin nicht standesgemäß verhalten würden und die höheren Stände bespotteten. Es wurde befürchtet, dass dies in der Gesellschaft zu Nachahmungen und zu einer erneuten Revolution führen könnte. Diese Bedenken wurden vor allem von den Kreisen um den Schriftsteller Willem Bilderdijk (1756-1831) und der Theaterzeitschrift De Tooneelkijker (1816-1819) geäußert. Sie richteten sich vorwiegend an die höheren Stände, die mit ihrem “französierten” Geschmack und ihrer Vorliebe für das Melodrama ihre gesellschaftliche Verantwortung nicht wahrnehmen würden. National hatte also auch in dieser Zeit eine politische Bedeutung, jedoch war diese der früheren, demokratisch-patriotischen gegenübergestellt. 32 Durch ein Nationaltheater sollte die herrschende, anti-demokratische Politik aufrechterhalten werden. Im Weiteren sollte es zur Verbreitung der niederländischen Werte und Normen dienen. Aus der Theaterkritik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geht allerdings hervor, dass Theaterliebhaber mit einem liberalen Charakter in dieser Periode die Meinung vertraten, dass ein Nationaltheater aus dem Ausland importierte Melodramen zeigen sollte, und dies gerne mit einer demokratischen Botschaft. Ein Nationaltheater musste schließlich durch die Mehrheit der Nation getragen werden, und diese Mehrheit, das wird durch die Besucherzahlen der Theater verdeutlicht, befürwortete ein internationales und demokratisches Repertoire. 33 Die Sorge, die durch die Kreise um Bilderdijk geäußert wurde, wurde 1851 in einem Bericht der Kommission von Van Lennep erneut formuliert. Da die Theater in Frankreich und Deutschland seit der Revolutionen von 1848 und der Abnahme der Kontrolle des Staates über die Theater “Feuerstellen von Revolten und Bürgerkrieg geworden” wären, gerieten auch die Theater in den Niederlanden in gefährliche Fahrwasser: Das “aufrührerische”, ausländische Repertoire wäre dort Ein Markt nationaler Gefühle? 105 schließlich auch zu sehen. In den Stücken würde “alles, was reich [und] ansehnlich ist bespottet” und alles, was auf der Leiter der Gesellschaft auf den “unteren” Sprossen stehe, bejubelt. Außerdem würden die Themen aus den “trübsten Quellen der niedersten Leidenschaften” geschöpft. 34 Das niederländische Theater wäre damit eine Schule der schlechten Sitten geworden, die die gesellschaftliche Ordnung zu zerstören drohe. Leider nennen Jacob van Lennep und seine Mitstreiter keine Beispiele von Stücken und Szenen, die die gesellschaftliche Ordnung bedrohen würden. Aber es scheint, dass sie, selbst Vertreter der höheren sozialen Schichten der niederländischen Gesellschaft, verhindern wollten, dass die unteren Klassen sich mit Hilfe des Theaters emanzipierten. 35 Publikum Dies bringt uns zur Frage nach dem Publikum. Gerade wegen der Tiraden von Alberdingk Thijm und der Kommission Van Lenneps wurde in der niederländischen Theatergeschichtsschreibung lange angenommen, dass das Publikum in den Theatern aus den untersten Schichten der niederländischen Bevölkerung bestand. Die Theater wären in den Niederlanden finanziell nicht unterstützt worden und für ihr Fortbestehen ausschließlich auf den Kartenverkauf angewiesen gewesen. Das Angebot wäre darum auf das abgestimmt, was das “Volk” sehen wolle. Der Begriff “Volk” wurde lange als die “Arbeiterklasse” interpretiert. Jüngste Untersuchungen ergaben jedoch, dass die Theater im 19. Jahrhundert nicht immer marktorientiert waren, sondern auch ideologische Ambitionen hatten, für welche sie starke Unterstützung vom Staat erhielten. 36 Mit dem zeitgenössischen Begriff “Volk” konnte außerdem keine soziale Gruppe gemeint sein. Henny Ruitenbeek schlussfolgerte in ihrer Studie zur Amsterdamse Schouwburg in der Periode von 1814-1841, dass selbst auf den Balkonen kaum Arbeiter gesessen haben können: Weder der geringe Lohn, der ihnen gezahlt wurde, noch die Länge ihrer Arbeitstage ermöglichten es ihnen, das Theater zu besuchen. Auch Angehörigen des Kleinbürgertums, wie Lehrern oder kleinen Beamten, war ein Theaterbesuch nur sporadisch möglich. 37 Zu einer vergleichbaren Schlussfolgerung kam Jan Hein Furnée in seiner Studie zur Freizeitkultur und den sozialen Verhältnissen in der Zeit von 1850-1900 in Den Haag. 38 In dem Kapitel, das er der Haagse Schouwburg widmet, kommt ein Subventionsantrag, gerichtet an den Haager Gemeinderat, zur Sprache, der 1863 von 360 Besuchern der Hollandsche toneelgezelschap des Theaters unterzeichnet wurde. Die Besucher schienen allesamt zum breiten Mittelstand zu gehören: Beamte, Ladenbesitzer und Handwerksleute. Der Haager Metallfabrikant Karel Enthoven plädierte vier Jahre lang für die Einführung günstiger Sonntagsvorstellungen, da Haager Arbeiter und Kleinbürger unter den herrschenden Umständen nicht im Stande wären, das Theater zu besuchen. 39 Angaben zum sozialen Hintergrund der Theaterbesucher sind von Henk Gras ausführlich analysiert und zusammengestellt worden. Auch er kommt zu der Schlussfolgerung, dass das Theaterpublikum des 19. Jahrhunderts aus dem gewachsenen Bürgertum kam, gut ausgebildet und mittleren Alters war. Soziale Klassen, auf die diese Beschreibungen nicht zuträfen, wären nur spärlich in den Theatern zu finden gewesen, und die Arbeiterklasse fehle nahezu komplett. 40 Gras geht noch einen Schritt weiter. In einem Artikel von 2002 stellt er fest, dass die Rotterdamer Theater zwar offiziell dem “Heil des Volkes” dienen sollten, dass die Verwaltung der Anteilseigner jedoch darauf abzielte, lieber “unter sich” bleiben zu können. “Die Elite, die das Theater als öffentliches Institut gründete und diesem Institut seine Normen von Preis und Spielzeit auf- 106 Henny Ruitenbeek und Rob van der Zalm erlegte, wollte dieses Angebot also eigentlich in größtmöglicher Geschlossenheit genießen”. 41 Schlusswort und weitere Forschung Es wurde erörtert, dass das Theater seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auch in den Niederlanden mehr und mehr als einflussreiches Medium gesehen wurde. Es spielte, laut Zeitgenossen, eine wichtige Rolle bei der allgemeinen Erziehung und Bildung und konnte zur Bildung der Nation und einem Gemeinschaftsgefühl der Niederländer beitragen. Es wurde deutlich, dass das Theater vor allem in politisch-nationalistischen Perioden als ein Markt nationaler Gefühle fungierte: Stücke mit einem patriotischen Inhalt hatten großen Erfolg. Gleichzeitig wurde das Theater, wegen seines bildenden Einflusses, von den höheren Ständen gefürchtet: Es hatte die nötige Macht, die gesellschaftliche Ordnung umzuwälzen. Die Angst wurde von der Tatsache genährt, dass das Theater seinen Einfluss im 19. Jahrhundert schnell vergrößerte. Was dabei als Katalysator gewirkt haben könnte, ist der Umsturz 1795, durch welchen die Kirche ihren Einfluss auf das Theater verlor. Aber auch der infrastrukturelle Wandel, der die Niederlande ab 1800 Schritt für Schritt zu einem modernen Land machte, wird eine Rolle gespielt haben. Die im 18. Jahrhundert entstandene theatrale Kommunikationsgesellschaft erhielt dadurch - wörtlich gesprochen - eine nationale Dimension. Nicht nur die theatrale Mobilität und die Diskussionsplattformen (Zeitschriften) wurden überregional. Es gab in den Niederlanden auch ein explosives Wachstum hinsichtlich der Anzahl der Theatergebäude. Die nationale theatrale Infrastruktur bildete die materielle Voraussetzung für das Zustandekommen eines Nationaltheaters, dessen Einführung während des gesamten 19. Jahrhunderts gefordert wurde. Dass es nötig blieb, fortwährend für ein Nationaltheater zu plädieren, ließ die Frage aufkommen, ob das Theaterpublikum in den Niederlanden auch außerhalb der politisch-nationalistischen Perioden das Bedürfnis nach einem Markt nationaler Gefühle hatte. Das durchgehend internationale Angebot von Vorstellungen - vor allem in Perioden des nicht politischen Nationalismus - weist auf das Fehlen eines solchen Bedürfnisses hin. Damit ist das letzte Wort jedoch noch nicht gesprochen. Im Gegensatz zu dem, was in der Theatergeschichtsschreibung oft angenommen wurde, scheint der Begriff “Nationaltheater” in den Niederlanden kein eindeutiger Terminus gewesen zu sein. Das Theater war so “national”, wie es den Benutzern dieses Begriffes in ihre politische und soziale Tagesordnung passte: demokratisch, liberal, konservativ. Die Bedeutung unterschied sich nicht nur von Periode zu Periode, sondern auch von Person zu Person. Einige demokratisch gesinnte Meinungsmacher fanden, dass ein Nationaltheater die Stücke zeigen müsse, die das Publikum gerne sehen würde, auch, wenn dies ausländisches Repertoire wäre. Der Markt nationaler Gefühle muss also viel differenzierter gewesen sein, als immer angenommen wurde. Im vorangegangen Text sind einige Erläuterungen zu den Bedeutungen des Begriffes “Nationaltheater” angeführt worden. Welche Definition des Begriffes im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts jedoch genau zutraf, müsste näher untersucht werden. Eine Erklärung für die stets wechselnde Bedeutung des Begriffes sollte in den politisch-gesellschaftlichen Ansichten derjenigen gesucht werden, die auf dem Theatermarkt operierten. Die theatrale Infrastruktur und deren nationale Ausweitung muss ebenfalls näher untersucht werden. Die Anzahl der Theater weitete sich stark aus, aber was war wirklich der Grund für die Entstehung eines nationalen Netzwerkes? Wer genau waren die Bürger, die überall im Land die Initiative ergriffen, Ein Markt nationaler Gefühle? 107 Theatervereinigungen zu gründen oder ihre Stadt mit einem Theater zu versehen? Durch welche Motive ließen sie sich leiten? Hatte die größere Mobilität eine Bedeutung für das Zustandekommen eines Nationaltheaters, oder hatte die Zunahme (internationaler) Kontakte gerade eine Erhöhung der Anzahl ausländischer Vorstellungen zur Folge? Das Repertoire der Amsterdamse, Rotterdamse und Leidse Schouwburg ist aus einigen Perioden bekannt. Die Programmplanung und die Amtsführung der Theaterleiter und Obrigkeiten aus anderen Perioden und aus anderen Teilen der Niederlanden jedoch noch nicht. War das Repertoire im Allgemeinen vor allem ausländischen Ursprungs? Was waren die Motive derjenigen, die das Repertoire zusammenstellten; gründeten sie ihre Wahl auf die Nachfrage oder handelten sie aus ideologischen Überzeugungen? Wurden die ausländischen Stücke ständig oder mit Unterbrechungen gespielt? Wurden möglicherweise Szenen zugefügt und wenn ja, mit welcher Absicht geschah dies? Gab es bei alledem einen Unterschied zwischen den großen Städten im Westen und der Provinz? Und gab es Unterschiede zwischen den verschiedenen großen Städten? In welchem Umfang funktionierte die Theaterkritik: landesweit oder lokal? Auch diese Aspekte müssten in ihrem politisch-gesellschaftlichen Kontext untersucht werden. Durch eine integrierte und differenzierte Untersuchung der hier genannten Aspekte müsste deutlich gemacht werden können, wie das Theater des 19. Jahrhunderts funktionierte und mit welchen (nationalen) Gefühlen auf dem theatralen Markt in den verschiedenen Perioden gearbeitet wurde. Anmerkungen 1 Stephen E. Wilmer, National theaters in a changing Europe, Basingstoke 2008, S. 10. 2 Sandra de Vries, De lucht in gevlogen, de hemel in geprezen. Eerbewijzen voor Van Speyk, Haarlem 1988, S. 18-19. 3 Henny Ruitenbeek, “Vaderlands verleden in de Amsterdamse stadsschouwburg 1830-1840”, in: De Negentiende Eeuw 17 (1993), no. 4, S. 177-191, S. 183. 4 Ibidem, S. 180-181. 5 Niek van Sas, De metamorfose van Nederland. Van oude orde naar moderniteit 1750-1900, Amsterdam 2005, S. 69-86, S. 551-567. 6 Ibidem, S. 76, S. 95, S. 554. 7 Lotte Jensen, “In verzet tegen ‘Duitschlands klatergoud’. Pleidooien voor een nationaal toneel, 1800-1840”, in: Tijdschrift voor Nederlandse taalen letterkunde (2006), S. 289-302; Idem, “Helden en anti-helden. Vaderlandse geschiedenis op het Nederlandse toneel, 1800-1848”, in: Nederlandse Letterkunde (Juli/ Aug 2006), S. 101-135; Ruitenbeek, “Vaderlands verleden”, in: Idem, Kijkcijfers. De Amsterdamse schouwburg 1814-1841 (diss. UvA), Hilversum 2002, S. 242-245. 8 Ruitenbeek, Kijkcijfers, Grafik 4.35, S. 456. 9 Van Sas, De metamorfose, S. 71-73. 10 Wijnand Mijnhardt, “De Nederlandse Verlichting”, in: Frans Grijzenhout e.a. (Hg.), Voor vaderland en vrijheid. De revolutie van de Patriotten, Amsterdam 1987, S. 60-63; Joost Kloek en Wijnand Mijnhardt, 1800. Blauwdrukken voor een samenleving, Den Haag 2001, S. 77-78. 11 André Hanou, “Juli 1762. Publikatie van Schouwburg Nieuws, het eerste Nederlandstalige toneeltijdschrift. Begin van de toneelkritiek”, in: Erenstein, S. 326-331; Hans de Groot, “Bibliografie van in Nederland verschenen 18deen 19de-eeuwse toneeltijdschriften (1762-1850) en toneelalmanakken (1770-1843)”, in: Scenarium 4 (Zutphen 1980), S. 118-146. 12 Kloek en Mijnhardt, 1800, S. 515-517. 13 Bob Logger e.a. (Hg.), Theaters in Nederland sinds de negentiende eeuw, Amsterdam 2007. 14 Logger, Theaters in Nederland, S. 41-44. 15 Die Informationen in diesem Paragraphen sind zum größten Teil dem Beitrag von Rob van der Zalm in Logger, Theaters in Nederland, S. 45-46, entnommen. 108 Henny Ruitenbeek und Rob van der Zalm 16 Auke van der Woud, Een nieuwe wereld. Het ontstaan van het moderne Nederland, Amsterdam 2006, S. 185. 17 Ibidem, S. 186. 18 “Naast deze economische motieven […] staat als de voorname oorzaak der bevolkingsconcentratie de zucht om het leven intensiever en veelzijdiger te genieten wat […] inzonderheid in de steden te bereiken valt”, C.A. Verrijn Stuart, zitiert nach Van der Woud, Een nieuwe wereld, S. 186. 19 Van der Woud, Een nieuwe wereld, S. 367-369. 20 Ibidem, S. 292-294, S. 312-320. 21 Ibidem, S. 342, S. 354; Rob van der Zalm, “Kritieken zijn geen meneer”, in: Documenta 16 (1998), no. 4, S. 275-284, S. 275-276. 22 Die Information ist dem Beitrag Van der Zalms in Logger, Theaters in Nederland, S. 47-54, entnommen. 23 Van der Woud, Een nieuwe wereld, S. 166.; Siehe auch: Marita Mathijsen, De gemaskerde eeuw, Amsterdam 2002, S. 193, S. 199. 24 De Tooneelkijker, zitiert nach Ruitenbeek, Kijkcijfers, S. 313. 25 Matthijs Siegenbeek, “Over de middelen ter vorming van een nationaal Nederlandsch tooneel”, Haarlem 1828, S. 77-100. 26 Wilmer, National theaters, S. 11-19. 27 “Nationale geest […] tot Deugd en Vaderlandsliefde […] door het doen vertoonen van zedelijke Toneelstukken”, zitiert nach Roelof Pots, Cultuur, koningen en democraten. Overheid en cultuur in Nederland, Nijmegen 2000, S. 36-37. 28 Zu deutsch: Abhandlung über die Frage: Besitzen die Niederländer ein Nationaltheater mit Bezug zum Trauerspiel? Wenn ja, welchen Charakters ist dies? Wenn nein, mit welchen Mitteln könnte ein solches ins Leben gerufen werden? Wäre es im letzteren Fall von Nöten einem schon bestehenden Strom zu folgen? Und welche Gründe könnten eine solche Wahl beeinflussen? 29 Ruitenbeek, Kijkcijfers, Grafik 4.34, S. 456. 30 “vergaarbak van het vuilste draf der uitheemsche literaturen, afzichtelijk voor het oog en walgelijk ten eenenmale voor wie het waagt hem eenigszins nabij te komen”, zitiert nach Worp-Sterck, Geschiedenis van den Amsterdamschen Schouwburg, Amsterdam 1920, S. 267. 31 Cor Geljon, “Jacob van Lennep en het toneel”, in: Scenarium 1 (1977), S. 33-48, S. 40, S. 43-44. 32 Ruitenbeek, Kijkcijfers, S. 291, S. 307-309, Anhang S. 456. 33 Ibidem, S. 325-327. 34 “stookplaatsen geworden van oproervuur en burgerkrijg”; “al wat rijk, wat aanzienlijk […] is, […] bespottelijk gemaakt”; “de troebelste bronnen der laagste hartstochten”, zitiert nach Jan Hein Furnée, Vrijetijdscultuur en sociale verhoudingen in Den Haag, 1850-1900, Amsterdam 2007, S. 318-319. 35 Furnée, Vrijetijdscultuur, S. 317-319. 36 Ruitenbeek, Kijkcijfers, S. 50, S. 47. 37 Ibidem, S. 139-141, S. 504. 38 Siehe Endnote 35. 39 Furnée, S. 329-333, S. 339, S. 403. 40 Henk K. Gras e.a., Theatre as a Prison of Longue Durée (zu erscheinen). Siehe auch: Henk Gras, “Paradise lost nor regained”, in: Journal of Social History 38 (2004), no. 2, S. 471-512, indem er zur selben Schlussfolgerung kommt. In diesem Beitrag handelt es sich allerdings um Abonnenten. 41 Henk Gras, “Souperminnende NRC-heren en andere bemoeials. De rol van de ‘markt’ in het negentiende-eeuwse theaterbestel”, in: Boekman Cahier 14 (2002), no. 54, S. 45-61, 51.