eJournals Forum Modernes Theater 23/2

Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/1201
2008
232 Balme

Metropole als Markt für Mokerie

1201
2008
Nic Leonhardt
fmth2320135
Metropole als Markt für Mokerie. Parodien auf urbane Unterhaltung als Unterhaltung über Urbanisierung im 19. Jahrhundert 1 Nic Leonhardt (Heidelberg) Berlin, so heißt es oft, sei die deutsche “Theater-Metropole” des 19. Jahrhunderts. Begründet wird dies mit der Herausbildung einer vielfältigen Theaterlandschaft, die quantitativ vielfältig ist durch eine enorme Anzahl an Theaterneugründungen nach der Einführung der Gewerbefreiheit 1869, und qualitativ vielfältig ist durch eine Heterogenität an Theaterangeboten infolge gestiegener Konkurrenz unter den Bühnen. Mit dem Gesetz der Gewerbefreiheit 1869 ist bekanntlich jedem Bürger die Möglichkeit gegeben, eine Konzession für den Betrieb eines Theaters zu erlangen. Dies führt in Deutschland, insbesondere jedoch in Berlin, zu einem Gründungsboom privat betriebener Theaterhäuser. Die Folgen dieses Gesetzes, ebenso aber auch die veränderten stadtsoziologischen Bedingungen in der neuen Reichshauptstadt Berlin (nach 1871) und die verbesserte Infrastruktur, die eine höhere Mobilität der Theaterbesucher gewährleistet, resultieren in einer Ausdifferenzierung des Unterhaltungsangebotes in der Stadt. Diese bekannte Tatsache wurde von der Theatergeschichtsforschung lange als Inflation eines qualitativ minderwertigen Theaterangebotes abgewertet. Dabei wurde überwiegend übersehen, dass der Anstieg der Theater- und anderen Unterhaltungseinrichtungen auch eine (durch die Konkurrenz unter den Bühnen zunächst wirtschaftlich notwendige) die deutsche Theaterkultur bereichernde Ausdifferenzierung der Theaterformen, eine Veränderung der Publikumsstruktur mit sich brachte. 2 Theater-Metropole wird Berlin im 19. Jahrhundert nicht, ohne dass Berlin versucht, Metropole zu werden. Oder anders gesagt: Die Etikettierung Berlins als Theater- Metropole ist eng verknüpft an die zeitgenössischen Bestrebungen, aus Berlin eine Metropole zu machen. Und an dieser “Umwandlung” sind auch Theater, Medien und andere urbane Institutionen beteiligt. Wie ist das zu verstehen? Metropolen des 19. Jahrhunderts bedienen und folgen zahlreichen und ambivalenten Erwartungen: Sie sind Sinnbild von Fortschritt, geographische Zentren der Macht, Gegenstand utopischer Entwürfe, sie stehen, in einer urbanitätspessimistischen Haltung, für Chaos, Entfremdung, Bedrohung des Einzelnen und Anonymität der Massen. Metropolen sind ökonomische Knotenpunkte mit überregionaler Wirkung und “glitzernde Schauplätze” 3 der Massenkultur. Ihre Funktion besteht wesentlich darin, wie Peter Alter 1993 formuliert, eine positive oder auch negative Vorreiterrolle in der Gesellschaft zu spielen [...]. Die Metropole ist mithin der Sonderfall der großen Stadt: sie ist die Zusammenballung menschlicher Talente und Fähigkeiten an einem von der Geschichte ausgezeichneten Ort, der nicht zuletzt auf Grund dieser Zusammenballung zum Brennpunkt wie zum Spiegelbild der Gesellschaft und ihrer Entwicklung wird. Die Metropole ist Zentrum, Kaleidoskop des Lebens, Experimentierfeld und Maßstab für Neues, Ort der Extreme. 4 Die politische Bedeutung als neu ernannte Hauptstadt des Deutschen Reiches nach 1871, der wirtschaftliche Aufschwung, die stetig voranschreitende Industrialisierung, Ver- Forum Modernes Theater, Bd. 23/ 2 (2008), 135-151. Gunter Narr Verlag Tübingen 136 Nic Leonhardt besserung und Ausbau der Infrastruktur, der steigende Unterhaltungsbedarf einer rasant anwachsenden Stadtbevölkerung verändern Berlin von einer vormals “provinziellen königlichen Residenzstadt” in die “Hauptstadt eines der mächtigsten Staaten Europas”. 5 Indes: ist Berlin “eine wirkliche Hauptstadt” des Deutschen Reiches? Dies fragt Theodor Fontane am 10. August 1875 seine Frau Emilie in einem Brief und gibt sich selbst eine Antwort: Nein, Berlin sei “weit ab” davon, eine “wirkliche Hauptstadt” zu sein. Es sei zwar “durch politische Verhältnisse über Nacht dazu geworden, aber nicht durch [sich] selbst” und werde es “noch lange nicht werden”. 6 Mit dieser Einschätzung ist Fontane nicht allein. Im zeitgenössischen Diskurs wird wiederholt konstatiert, Berlin komme über den Status einer Provinzstadt nicht hinaus. Differenziert wird diese Ansicht nur versteckt: Politisch sei Berlin “über Nacht” zur Hauptstadt geworden; aber eine Hauptstadt und Metropole sei Berlin damit “noch lange nicht”. Die Umwandlung vollziehe sich zu rasch, zu plagiiert - nämlich durch Orientierung an den “weiter entwickelten” europäischen Metropolen Paris und London und der Adaption deren städtischer Angebote und Unterhaltungseinrichtungen und Theaterformen. Wie David Clay Large in seiner “Biographie” der Stadt Berlin schreibt, werden nach 1871 Anstrengungen unternommen, Berlin zu einer ‘wahren’ Metropole zu machen. Zur Behebung des “Mangels” an ‘metropolitaner Eignung’ übernehme die Stadt “fieberhafte Anstrengungen”, denn sie solle, “was die Qualität ihrer urbanen Lebenskultur anbetraf, nicht hinter Paris oder London zurückstehen”. 7 In diesem Beitrag über die (Theater-)Metropole als Markt für Mokerie möchte ich am Beispiel von Parodien der Zeit zeigen, wie Theater des 19. Jahrhunderts Umschlagplatz für die Unterhaltung über soziale, politische und kulturelle Angelegenheiten der Metropole Berlin wird und - selbst Bestandteil der Urbanisierung Berlins - andere Institutionen und Marker der “urbanen Lebensart” thematisiert. Im Blick stehen hier Parodien, die vielfältige Phänomene und Erfolgsmittel der zeitgenössischen Theaterangebote und die Präsentationsmodi der urbanen Unterhaltungseinrichtungen thematisieren, indem sie die jeweiligen Charakteristika der Vorlage überzeichnen oder verdrehen. Diese Parodien, so eine weitere These, dienen in Zeiten der Umwandlung Berlins zur (Theater-)Metropole als Mittel der Selbst-Reflexion der Großstädter/ des städtischen Publikums über ihre/ seine Unterhaltungskultur. Aus kultur- und theaterhistorischer Perspektive ist die Parodie insofern von besonderem Interesse, als sie Aussagen über ihre und die Rezeption ihrer Vorlage sowie über vorherrschende “Trends” zulässt. Mein Verständnis von Unterhaltung lehnt sich an Werner Faulstichs “pragmatisch deskriptive, integrative Arbeitsdefinition” an: “Unterhaltung ist die anstrengungslose Nutzung geschichtlich unterschiedlich formatierter Erlebnisangebote, um im je zeitspezifischen kulturell-gesellschaftlichen Kontext disponible Zeit genüsslich auszufüllen.” 8 Wie Faulstich wende ich mich gegen eine wertende Lesart von “Unterhaltung” und stehe mit ihm für die unbedingte Berücksichtigung des historischen Gehaltes, der Historizität von Unterhaltung ein: Unterhaltung ist keine ästhetisch negative, keine anthropologisch positive und auch keine rezeptional-funktional neutrale, sondern eine gesellschaftsbezogene Kategorie, die Produkte und ihre Rezeption in Beziehung setzt - und damit natürlich historisch. 9 Im folgenden Abschnitt werde ich das Zusammenspiel von Urbanisierung und Unterhaltungsinstitutionen skizzieren, um dann im Hauptteil, Parodie: Unterhaltung über Unterhaltung, ausgewählte Parodien der achtziger und neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts zu besprechen, die die Phänomene Metropole als Markt für Mokerie 137 der Theater-Vielfalt sowie die zeitgenössisch gefragten Unterhaltungsangebote thematisieren. Urbanisierung und Unterhaltungsinstitutionen Die Umwandlung Berlins zur (Theater-)Metropole vollzieht sich sowohl quantitativ wie qualitativ: Nach 1871 und im Verlauf der folgenden Dekaden wird Berlin verstädtert - eine quantitative, messbare Veränderung der Stadt als geographische und demographische Ausdehnung. 10 Daneben wird Berlin auch urbanisiert: Im Gegensatz zum Begriff der Verstädterung wird der Begriff der Urbanisierung als qualitativer Prozeß der Diffusion einer spezifisch urbanen Lebensform begriffen, die sich nicht automatisch aus der Verstädterung ergibt und andere Elemente des Modernisierungsprozesses, [darunter] die Verbreitung von Massenkommunikationsmitteln miteinbezieht. 11 “Urbanisierung” ist folglich ein qualitativer Begriff, mit dem, wie Zimmermann 2000 präzisiert, die “Herausbildung und Verbreitung der ‘urbanen’ Lebensformen” beschrieben wird, wie sie sich “besonders in den großen Städten des 19. Jahrhunderts entwickelten”. 12 Schon im Meyers Konversationslexikon von 1897 ist “Urbanität” als “feine Lebensart, Bildung” definiert. 13 Verstädterung und Urbanisierung gehen Hand in Hand: Durch das wirtschaftliche und Bevölkerungswachstum sowie die infrastrukturellen Veränderungen ändert sich das Stadtbild, werden neue Plätze und neue Institutionen errichtet, die zuvor nicht denkbar gewesen wären, weil sie keine ‘stadtfunktionale Wertigkeit’ gehabt hätten. Damit meine ich, dass sie ihren Zweck (nur) in einem städtischen Kontext erfüllen und ihrerseits ohne diesen nicht denkbar wären. Die institutionellen Neuerungen brauchen das Publikum, 14 das sein Bedürfnis nach Unterhaltung aus dem privaten in den öffentlichen Raum der Stadt verlagert, 15 und schaffen und befriedigen “innovative Verhaltensweisen”, 16 einen urbanen “Lifestyle”. Urbanität, die “feine Lebensart”, herauszubilden und Berlin zur Metropole zu formen, ist eine Funktion von Institutionen und Medien der Zeit. Zu diesen gehören beispielsweise Passagen, Warenhäuser, 17 Museen, Panoptika, Varietés, Zoologische Gärten - und Theater. Diese Stätten konstituieren und prägen die Stadt, indem sie einerseits das topographische Stadtbild mitbestimmen sowie andererseits das Bild von der Stadt (i.S. einer Imagination) mitgestalten, ihr “ein Gesicht geben”. 18 Als Beispiel mag hier die bekannte Passage in der Friedrichstraße genannt werden: Architektonisch den Passagen in anderen Metropolen der Zeit entlehnt, verändert sie das Straßenbild und die Bewegung der Passanten durch die Verknüpfung zweier Straßen und Viertel; gleichzeitig beherbergt sie wesentliche Einrichtungen urbanen Lebens wie exquisite Warenläden, Restaurationsbetriebe, ein Panoptikum und ein Theater. In dieser ‘architektonischen Dramaturgie’ ist sie den Urban Entertainment Centers ähnlich, die heute mittlerweile auch in deutschen Städten das Bild der Innenstädte prägen. 19 [D]ieser Tunnel, dieses enge Straßenband, das auch tagsüber von der Sonne gemieden wird und sich nur in einem grauen, schummerigen Märchenlichte spiegelt, ist ein Zauberland, das die Gäste nicht zwecklos betreten. Keine Straße ist mit Ergötzungen so gepflastert wie diese, an deren beiden Seiten die Lustbarkeiten aufmarschiert sind wie eine Paradefront, zu kleinen Preisen zu genießen und jeden Kunststil umfassend. Man bedient sich selbst: die Honorare für die Beamtenschaft der Kunsthäuser, diese lästigen Nebentribute, sind unnötig. Zehn Pfennige sind und bleiben der Einheitspreis, für den diese Choks zugänglich werden. Sie werden in einer Viertelstunde 138 Nic Leonhardt genossen, in einer zweiten vergessen. Aber gerade darum passen sie in die Großstadt mit ihrem Motto ‘Vorüber, vorüber’, in diese Tunnelgasse, durch deren Spalt die Geißel des Tages immer von neuem die Ruhelosen treibt, die sich Menschen nennen […] 20 Theater und andere Institutionen der Unterhaltung sind gleichermaßen Produkte und wirtschaftlicher Sektor wie auch “Unterstützer” der prozesshaften Metropolisierung Berlins. Sie institutionalisieren den urbanen Lebensstil und tragen zur (insbesondere in der Literatur um die Jahrhundertwende ausgiebig thematisierten) Reizüberflutung der Großstadt bei, indem sie Zerstreuung und Unterhaltung als ästhetisierte Ware anbieten. 21 Die urbanen Unterhaltungsangebote halten für das städtische Publikum Zerstreuungen vom städtischen Alltag bereit und stehen damit “im Wettbewerb mit den Reizen der städtischen Umwelt”, wie Kaspar Maase für die Massenkultur schreibt. 22 Parodie: Unterhaltung über Unterhaltung Im Zuge des Theater-Gründungsbooms in Deutschland zwischen den siebziger und neunziger Jahren spezialisieren sich einzelne Spielhäuser auch auf die Präsentation von Parodien. In Berlin sind das Walhalla- Parodie-Theater, der Wintergarten, das Zentraltheater sowie das American-Theater einschlägige Parodie-Spielstätten. Später werden Kabarett und Varieté (ebenfalls im Zuge der Urbanisierung sich herausbildende und an französischen Vorgängerinstitutionen orientierende Einrichtungen) zu Aufführungsorten der theatralen Parodie. Die Errichtung dieser eigenen Spielstätten für Parodie beziehungsweise die Aufnahme von Parodien in das Repertoire bestehender Bühnen in diesen Jahren ist eine logische Folge des Theater-Über-Angebotes: Die Parodie findet da besonderen Nährboden, wo populäre, i.e. bei weiten Teilen des Publikums bekannte, Angebote vorherrschen. Denn die erfolgreiche Rezeption einer Parodie setzt die Popularität und die Kenntnis der Vorlage voraus. Die Parodierung von bekannten Opern, Theatertexten und -aufführungen macht einen großen Teil der Parodien des 19. Jahrhunderts aus. Die Parodieforschung beschränkt sich jedoch schon lange nicht mehr nur auf Parodien literarischer Vorlagen, sondern hat auch alltagssprachliche Parodien (Werbung, Presse) und andere, nicht textgebundene Parodie (Film, Bildende Kunst, Geschäftswelt, Zeitungen etc.) zum Untersuchungsgegenstand. 23 Ich möchte im Folgenden aus der Vielfalt an Parodien des späten 19. Jahrhunderts einige herausgreifen, die nicht nur eine Aufführung oder einen (Theater-)Text parodieren, 24 sondern die Theater-Vielfalt, ein Phänomen der Unterhaltungskultur jener Jahre oder eine moderne urbane Institution. Parodien auf urbane Institutionen der Unterhaltung erscheinen mir deswegen der Beachtung wert, weil sie auf die Nachfrage nach Unterhaltung in der Stadt antworten - und gleichzeitig diese Nachfrage und das Angebot parodieren. Zeitgenössisch sind sie ‘Nutznießer’ des Unterhaltungsbedarfs und ‘Unterhaltungslieferanten’. Aus der Sicht der Theater- und Kulturgeschichte sind sie in ihrer Komplexität wertvolle Seismografen für die Annäherung an den Erlebnishorizont des damaligen Stadt-Publikums. Zu den wesentlichen Charakteristika der Parodie gehört, dass sie die formalen Elemente der Vorlage beibehält und den Inhalt in dazu passender Weise abändert (imitiert, nachahmt, nachbildet, verändert, adaptiert). Das Parodieren ist ein indirektes, darstellendes Verfahren: Eine Parodie sagt nicht direkt (wie die diskursive Kritik), wie ein Text gemacht oder daß ein Text kritikwürdig ist, sondern sie zeigt es, indem sie seine Eigentümlichkeiten Metropole als Markt für Mokerie 139 oder Unzulänglichkeiten nachbildet und verzerrt und damit vorführt. 25 Die Art der Variation ist grundsätzlich abweichend, unpassend, verzerrend; verzerrt wird immer dergestalt, dass eine komische Wirkung entsteht - speziell eine komische Diskrepanz zwischen Original und Parodie, wobei sich die komische Wirkung gegen das Original richtet. Sie spielt mit der Wahrnehmung und Erwartungshaltung der Zuschauer und ist per se intertextuell/ intervisuell und darin höchst zeit- und kulturspezifisch. Gerade die historiographische Beschäftigung mit Parodien birgt auch Schwierigkeiten. Nicht selten mangelt es an überlieferten Manuskripten von Parodien, häufig sind die Autoren der Parodien nicht bekannt. Und selbst vorhandene Manuskripte können nur unzureichend wiedergeben, wie die Aufführung tatsächlich ausgesehen hat - und damit auch, was tatsächlich parodiert wurde. Die enge Bindung der Parodie an die Popularität der Vorlage ermöglicht zwar eine Annäherung an den je historischen Entstehungs- und Erlebnisraum; diese enge Einbindung in den historischen Kontext birgt jedoch auch die Unmöglichkeit des Nachvollzugs aller Anspielungen ex post. Trotz dieser Schwierigkeiten vermögen die nachfolgenden Beispiele für Parodien auf zeitgenössische Theater- “Trends” und urbane Unterhaltungseinrichtungen des 19. Jahrhunderts einen ersten Einblick in ihre Komplexität und ihren Wert als Indikatoren für die ‘Unterhaltung über Unterhaltung’ zu liefern. Parodie des Sündfluth-Panoramas Als erstes Beispiel sei die Parodie des Sündfluth-Panoramas (von Fischer-Cörlin) genannt. Es handelt sich hierbei um eine Parodie auf das bekannte Riesenrundgemälde Sintflut-Panorama von Max Koch, das “Haupt- und Zugstück des Passage-Panoptikums”, 26 auf dem die biblische Sintflut dargestellt ist. Hier ein Ausschnitt aus einer zeitgenössischen Bildbeschreibung: Während fern zur Linken die Arche schwimmt, werden entwurzelte Stämme, an die sich Ertrinkende angstvoll anklammern, und wild durcheinandergeworfenes, in Knäuel zusammengeballtes Gethier jeder Art, Krokodile und Tiger, zottige Stiere, riesige Dickhäuter [...] fortgerissen und von den Wassern verschlungen. [Es wird ferner gezeigt, wie die] Todesangst die Verlorenen mit letzter Kraftanstrengung selbst an den steilen Bergwänden emporklimmen läßt, gegen die das Wasser in tosenden Strudeln emporschäumt [...]. Im nächsten Vordergrund aber blickt [der Beschauer] auf die figurenreichen, plastischen Gruppen derer, die theils besinnungslos fortstürmen und die Ihrigen mit sich reißen, und entgegenwälzt sich dem Beschauer hier endlich das Gewühl der in wildem Entsetzen fliehenden, Busch und Baum niedertretenden und in der Angst sich gegenseitig vernichtenden Thiere, hoch überragt von einem mächtigen Mammuth, das, selbst, von einer Löwin angefallen, den Löwen mit dem Rüsseln in die Luft schleudert, um das Hinderniß seiner Flucht aus dem Wege zu räumen. 27 Wie Stephan Oettermann informiert, habe sich schon die zeitgenössische Kritik “zurückhaltend” geäußert und das Sintflut- Panorama als ein “verunglücktes” “Sammelsurium” aus Ernst und Spaß, Kunst und der Befriedigung der “Schaulust” eher argwöhnisch rezipiert. 28 Von Bedeutung ist hier die Popularität des Panoramas beim Berliner Publikum, die mit einer ästhetischen Wertschätzung nicht vordergründig zu tun hat. Das Sintflut-Panorama ist trotz seiner umstrittenen künstlerischen Qualität - deren Diskussion in der Presse dennoch als Werbung für die Ausstellung funktioniert haben mag - “Haupt- und Zugstück” des Passage- Panoptikums. Die Zeitungen berichten mehrfach darüber, das Panorama ist Stadtgespräch und schon deswegen präferierter Gegenstand der Parodie. 140 Nic Leonhardt Erstaunlicherweise wird sowohl die Vorlage als auch die Parodie im Berliner Passage- Panoptikum gezeigt, letzteres “an den Wandflächen” des “Berliner Saals”. Der Illustrierte Catalog durch das Passage-Panoptikum aus dem Jahr 1888 beschreibt die Parodie: Die Parodie des Sündfluth-Panoramas (von Fischer-Cörlin), [führt] uns, und zwar mit starkem plastischen Vordergrund, die Sündfluth vor Augen [...], bei welcher die Arche Noah in Gestalt eines Schraubendampfers die Wogen durchfurcht, und der Elefant mit seinem Rüssel den ‘Löwen der Saison’ in die Lüfte hebt. 29 Wenn auch aus dieser kurzen Beschreibung nicht konkret deutlich wird, in welcher Form diese gemalte Parodie gestaltet ist, so fallen doch folgende Elemente der Parodie ins Auge: Aus dem eigentlichen Titel Sintflutwird ein Sündfluth-Panorama, ein Spiel mit der Homophonie der beiden Wörter, ein gängiges Mittel, parodistischen, komisierenden Effekt zu erzielen, indem die Form gleich oder ähnlich bleibt, der Inhalt jedoch variiert wird. Die Motivation für eine Parodie auf das Sintflut-Panorama ist, wie weiter oben erwähnt, mit der Popularität der Vorlage zu begründen, aber auch mit der generellen Praktik des Panorama-Fertigens, -Zeigens und -Anschauens im 19. Jahrhundert. Panoramen sind Massenmedien der Zeit und beeinflussen - als für sich bestehende architektonische Rotunden - auch das Stadtbild. Das Sündfluth-Panorama mokiert sich ferner über die scheinbar “manieristische” Darstellung der biblischen Flut in der Vorlage. In dieser heißt es, der Beschauer blicke im Vordergrund auf die figurenreichen, plastischen Gruppen derer, die theils besinnungslos fortstürmen und die Ihrigen mit sich reißen, und entgegenwälzt sich dem Beschauer hier endlich das Gewühl der in wildem Entsetzen fliehenden, Busch und Baum niedertretenden und in der Angst sich gegenseitig vernichtenden Thiere, hoch überragt von einem mächtigen Mammuth, das, selbst, von einer Löwin angefallen, den Löwen mit dem Rüsseln in die Luft schleudert, um das Hinderniß seiner Flucht aus dem Wege zu räumen. Die Parodie macht daraus einen “starken plastischen Vordergrund, die Sündfluth vor Augen [...], bei welcher die Arche Noah in Gestalt eines Schraubendampfers die Wogen durchfurcht, und der Elefant mit seinem Rüssel den ‘Löwen der Saison’ in die Lüfte hebt.” Die Arche Noah wird zum Schraubendampfer, einem Produkt des 19. Jahrhunderts, aus dem Mammuth wird ein Elefant, der nicht einfach nur einen Löwen, sondern den “Löwen der Saison” durch die Luft schwingt. Aus einer medien- und visualitätsgeschichtlichen Perspektive interessant ist, dass der plastische Vordergrund der Vorlage auch in der Parodie aufgegriffen wird: In der Vorlage “wälzt” sich die “figurenreiche plastische Gruppe” im Vordergrund dem Betrachter entgegen. Auch in der Parodie hat der Beschauer durch den “starken plastischen Vordergrund” die Sintflut vor Augen. Einem Panoramagemälde durch gemalte oder tatsächlich plastische Ansammlungen von Figuren oder Gegenständen im Bildvordergrund mehr Wirklichkeitsnähe zu verleihen, ist eine gängige Praxis in der Panoramamalerei des 19. Jahrhunderts. Dieses (übertriebene) Streben nach größtmöglicher Illusion wird in die Parodie übertragen und erhält in dieser eine Verweisfunktion auf ein Charakteristikum beziehungsweise seine übertriebene Ausführung im konkreten Fall des Sintflut- Panoramas. Circus Stiefelmann oder Parodie unter Wasser Bei der Parodie Circus Stiefelmann oder Parodie unter Wasser (1891, Aufführungsort bislang nicht ermittelt) - der Hinweis auf diese Parodie lässt sich Berliner Zeitungen aus dem Metropole als Markt für Mokerie 141 Jahr 1891 entnehmen - handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine Parodie auf die aufwändigen Féerien und Ausstattungsstücke, die in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zum erfolgreichen Repertoire des Circus Schumann (später Deutsches Theater, vorher Zirkus Renz) zählen. In der “Pflege von Pantomime, Ballett und Schaustellung in prunkvoller Ausstattung” befriedigt der Zirkus, wie Bucher et al. 1981 notieren, “auf sozial niedriger Ebene die gleichen Bedürfnisse wie die Oper bei Adel und gehobenem Bürgertum”. 30 Durch die Einbeziehung solcher Pantomimen in das Programm verwischen die bis dato gültigen institutionellen Grenzziehungen zwischen Zirkus und Theater. 31 Kennzeichen der Pantomimen sind die Aneinanderreihung von Schaueffekten, der Bezug auf aktuelle Themen (Politik, Gesellschaft, Industrialisierung) und die aufwändige Szenographie, die die visuellen Effekte in den Vordergrund rückt und bekannte Bildzitate einbaut. Das Repertoire des Zirkus Renz/ Zirkus Schumann passt sich in der Auswahl seiner Pantomimen zeitaktuellen Themen an, etwa in den Pantomimen Episoden aus dem Schleswig-Holsteinischen Krieg und Erstürmung der Düppeler Schanzen (Bezug: Deutsch-Dänischer Krieg um Schleswig- Holstein, die entscheidende Schlacht bei den Düppeler Schanzen entscheidet am 16. April 1864 Preußen für sich), Im dunklen Erdteil (Bezugnahme auf die Kolonialpolitik) 32 oder Harlekin à la Edison, oder: Alles elektrisch (Bezug auf das Novum Elektrizität). Bereits Ende der sechziger Jahre wird die “große phantastische Zauber-Pantomime” Montana gezeigt, zu deren Höhepunkten eine Schluss- Apotheose “mit Anwendung von neuen Lichteffecten” zählt. 33 Im Jahr 1890 erlangt der Zirkus Renz besondere Aufmerksamkeit durch die “große hydrologische Ausstattungs-Pantomime in 2 Abtheilungen” Auf Helgoland oder Ebbe und Flut: In dieser Inszenierung wird Wasser zum Hauptthema und -effekt: “Wassermassen rauschen in die Manege, ein Schiff schaukelt auf den Wellen, eine 25 Meter hohe, farbig angestrahlte Fontäne steigt auf, Menschen und Tiere stürzen sich in die Wogen.” 34 Diese Pantomime verarbeitet szenisch die Abtretung Helgolands an das Deutsche Reich im Jahre 1890, wobei anzunehmen ist, dass in der Aufführung die “hydrologischen Effekte” Vorrang vor dem Inhalt haben. Im Zensurexemplar vom 2. August 1890 wird informiert, dass innerhalb von zwei Minuten “mehr denn 150 Cubikmeter Wasser den Circus [überfluthen], in mächtigen Cascaden und Fällen sich ergießend.” Der überwiegende Teil der Aufführung vollzieht sich im Wasser: “in kunstgerechtem Sprunge” werfen sich “anmuthige [...] Schwimmerinnen [...] in die Wellen, in denen sie darauf ein ebenso graciöses wie kunstvolles Spiel beginnen”. 35 Die Parodie Circus Stiefelmann oder Parodie unter Wasser mokiert sich, dies lässt der Titel vermuten, über diese aufwändige und effektvolle hydrologische Pantomime. Dem Berliner Zuschauer wird aufgrund der Popularität von Seebad Helgoland diese Anspielung schon beim Lesen des Titels deutlich gewesen sein. Auf einer allgemeineren Ebene wird mit dieser Parodie auch die Mode der Ausstattungsstücke, die in anderen Theatern der Zeit, etwa im Victoria-Theater in der Münzstraße, Erfolgsgaranten sind, zum Motiv der parodistischen Behandlung. Die Ausstattungsstücke und Pantomimen geraten schon zeitgenössisch wegen ihrer piktoralen und Effekt- Dramaturgie ins Kreuzfeuer in Kritik. Die Parodie nimmt auf ihre Weise dazu Stellung: sie führt schon im Titel die Eigentümlichkeit der Pantomime vor und verzerrt sie. 36 Die Reise in die Astronomie - Urania-Parodie Bei dem nachfolgenden Beispiel Die Reise in die Astronomie - Urania-Parodie (vgl. Abb. 1) 142 Nic Leonhardt Abb. 1: Reise in die Astronomie (Urania-Parodie). Theaterzettel des American Theater (Landesarchiv Berlin, A Pr.Br. Rep. 030-05 Tit. 74, Th 571). Metropole als Markt für Mokerie 143 handelt es sich um eine komplexe Verflechtung von parodistischen Kommentaren zu unterschiedlichen Phänomenen der urbanen Unterhaltungskultur. Sie schließt, wie ich zeigen möchte, die Parodie auf visuelle Medien und Unterhaltungsformen sowie auf die zeitgenössische Bedeutung der Naturwissenschaften in der Gesellschaft des späten 19. Jahrhunderts ein. Zur Aufführung gelangt die Urania-Parodie 1890/ 1891 im American- Theater in der Dresdener Straße. Eröffnet im Jahre 1873 durch Louis Heinsdorff, ist dieses Theater, das bis 1897 betrieben wird, eine der bedeutendsten Spielstätten für varieté-ähnliche Darbietungen. Unter der Direktion August Reiffs 37 gehören Burlesken, Singspiele, Tanz und “Spezialitäten”, Auftritte von Komikern und Parodien zum Repertoire. Gemäß einem Zeitungsartikel aus der Berliner Illustrierten Zeitung, ist der Innenraum des American-Theaters eher “altmodisch”, nur spärlich ausgestattet, das Trinken von Bier und Spirituosen sowie Rauchen sind erlaubt und gehören mit zur beabsichtigten Atmosphäre: Das Theater wird zum Ort öffentlichen Austauschs, zur Unterhaltung über Ereignisse und Veränderungen in der Stadt. Von der Urania-Parodie liegt mir bislang nur ein Ankündigungszettel vor, der in die Zensurakte des American Theaters eingebunden ist. 38 Dieser Zettel ist per se schon ein parodistischer Kommentar, markiert durch verbale Parodierungen von Aufführungspraxis und medialen Darbietungsformen der Zeit sowie von berlinischen Figuren, Straßen und Namen. Es ist unmöglich, allein auf der Grundlage des Theaterzettels konkrete Aussagen über die tatsächlichen szenischen Versuche, das Original zu parodieren, zu treffen. Dennoch lassen sich einige Facetten dieser komplexen Parodie ausleuchten. Vorangestellt ist der Parodie ein “Motto”, das deutlich macht, dass hier vor allem die Institution Urania Gegenstand der parodistischen Behandlung ist. Das Motto lautet: “Die Wissenschaft muss umkehren - vom Ausstellungspark (Urania) nach der Dresdenerstraße (American)”. Gezeigt werden soll, wie es im Kopf des Zettels heißt, Das unwissenschaftliche des wissenschaftlichen Theaters der Urania. Von der Erde schlankweg über die Wolken verquer durch die Milchstrasse, linkerhand direct nach dem Mond, in III Abteilungen und einem Vortragsmeister. Überschrift und Motto dieser Parodie verweisen auf das “wissenschaftliche Theater” der “Urania”. Ein kurzer Exkurs soll die Bedeutung dieser Berliner Institution und damit auch die “Berechtigung” ihrer Parodie verdeutlichen. Gegründet im Jahre 1888 von Wilhelm Foerster, einem Schüler Alexander von Humboldts, und Max Wilhelm Meyer, dient diese 1889 eröffnete und privat betriebene Institution in der Invalidenstraße als Veranstaltungshaus für die Präsentation neuer (natur-)wissenschaftlicher Erkenntnisse und Erfindungen für ein breites Publikum. Die Berliner Urania ist eng an den Prozess der Urbanisierung, die Herausbildung einer urbanen Lebenskultur, geknüpft. Max Wilhelm Meyer hatte bereits zuvor in Wien eine vergleichbare Institution aufgebaut und unter anderen Vorstellungen auch ein “Naturwissenschaftliches Theaterstück” mit dem Titel Bilder aus der Sternenwelt aufgeführt. 39 Die Berliner Urania existiert bis heute. Wie es im geschichtlichen Überblick über das Haus auf der Homepage heißt, entwickelt der Mitbegründer Wilhelm Foerster, Direktor der damaligen Universitätssternwarte von Berlin, “schon früh ganz im Sinne Alexander von Humboldts den Gedanken in Berlin eine Einrichtung zu schaffen, die nur dem Vermitteln von Fachwissen an ein Laienpublikum dienen sollte”. 40 In Vorträgen, die durch den Einbezug von visuellen Medien wie Dioramen oder opti- 144 Nic Leonhardt schen Apparaturen gleichsam multimediale Präsentationen sind, informieren Naturwissenschaftler selbst oder auch eigens für die Vorträge engagierte Vortragskünstler über jüngste Forschungen. Die Urania kann als eine “Bühne des Wissens” angesehen werden, als Schauraum oder Ort verschiedener Schauräume, “in denen experimentelle Beobachtungs- und Darstellungskünste aufeinandertreffen, um Wissen zu produzieren und zu vermitteln”. 41 Die geschickte, gezielte Verschränkung von Vermittlung naturkundlichen Wissens, Experiment, ästhetischen Elementen und dem theatralen Charakter der Vorführungen ist eine eigene Untersuchung wert, die hier nicht geleistet werden kann. Was am oben zitierten Zeitungsausschnitt deutlich wird und im Kontext urbaner Unterhaltungsinstitutionen von Interesse ist, ist, dass die Urania schon bald nach ihrer Gründung einen festen Platz in der Stadtlandschaft und der Topographie der Unterhaltungsinstitutionen errungen hat. Verkehrstechnisch geschickt in der Nähe des Lehrter Bahnhofs (heutiger Hauptbahnhof) gelegen, entspricht schon ihre Ver-Ortung in der Stadt den Anforderungen an eine urbane Institution. Die neue Berliner ‘Urania’ enthält ein höchst geschmackvoll eingerichtetes Theater, das über 760 Plätze verfügt und mit allem Komfort ausgestattet ist, den der verwöhnte Bewohner der Reichshauptstadt verlangt; Foyer, Wandelgang - alles ist hier vorhanden. Auf der verhältnismäßig sehr geräumigen Bühne werden dem Zuschauer unter Verwendung der vollendetsten Mittel moderner Bühnentechnik die großen sich ewig wiederholenden Schauspiele vorgeführt, welche die Hörer im Weltenraum und auf unserer Erde vollbringen. [...] Bei naturwissenschaftlichen Vorträgen war man bisher gewohnt, den Vortragenden in mehr oder minder lehrhaftem Ton seinen Stoff entwickeln zu hören. In der Urania spricht ein Bühnenkünstler den vom Direktor, oder einem anderen in volkstümlicher Darstellungsweise erfahrenen Schriftsteller verfaßten Text, der sich fast immer in anmutigen, gewandten, ja zuweilen poetischen Formen bewegt. 42 In den “populären Vorführungen”, den mediatisierten und professionell Information mit einer unterhaltsamen Dramaturgie verbindenden Performances, ‘durchwandern’ die Zuschauer zum Beispiel Landschaften aus früheren geologischen Perioden (Geschichte der Urwelt). Im Vortrag Die Kinder der Sonne wird eine “Reise durch den Weltenraum” unternommen: die Zuschauer sehen Vorgänge auf der Erdoberfläche, die Eruption der glühenden Gase, die Protuberanzen und Fackeln, den Mars et cetera. In Die Werke des Wassers werden Nebel, Wolken, Gewitter gezeigt, Nebensonnen, Sonnenauf- und Untergang, Polarlicht und Regenbogen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass hier mit den Lichteffekten eines Dioramas oder der Laterna Magica ähnlichen Projektionsapparaten gearbeitet wird. Das “Ausstattungsstück” der Urania (so nennt es die die Illustrierte Zeitung) ist Von der Erde bis zum Monde (1889). Darin zeigt ein Zyklus von Dioramen die geologische Prähistorie der Erde nach Gemälden des deutschen Bildkünstlers Olof Winkler: Einzelne Dioramabilder werden ineinander übergeblendet, anstatt seriell gezeigt zu werden. Ein Sprecher kommentiert und erklärt die Bilder. Glaubt man den zeitgenössischen Zeitungsberichten, sind die Vorträge Kassenschlager, vergleichbar den laufenden Inszenierungen in den bekannten Theaterhäusern der Zeit. In der Illustrierten Zeitung vom 11. Januar 1890 heißt es: Das Ausstattungsstück des ‘Wissenschaftlichen Theaters’, [...] der astronomische Gedankenausflug ‘Von der Erde bis zum Monde’, hat wohl namentlich wegen der gelungenen Dioramen von Mondlandschaften u.a. so großen Anklang beim Publikum gefunden, daß dieser populäre Vortrag an 120 Abenden wiederholt werden konnte. Metropole als Markt für Mokerie 145 Die Popularität ist zum einen dem Präsentationsmodus dieser “optischen Reise” geschuldet, zum anderen dem wachsenden Interesse eines breiten Publikums an (natur-)wissenschaftlichen Themen. 43 Es ist diese erfolgreiche Vortrags“reise” Von der Erde bis zum Monde, die der Urania- Parodie Reise in die Astronomie Modell steht. Einige parodistische Elemente dieser Parodie möchte ich im Folgenden herausgreifen. Über den Aufbau der Parodie lässt sich sagen, dass er der Dramaturgie eines Ausstattungsstückes ähnelt: Die Reise in die Astronomie ist in drei “Abtheilungen” gegliedert, eine Apotheose, auf die weiter unten noch einzugehen ist, beschließt das Stück. In welchem Aufführungsmodus die Urania-Parodie gestaltet wurde, ließ sich noch nicht ermitteln. Es ist möglich, dass sie - ebenso wie die konkrete Vorlage - als Vortrag gestaltet ist. Hauptfigur, also Vortragskünstler, der Parodie ist Martin Bendix, beim Berliner Publikum für seine schon kabarettistischen Vorträge mit “Lokalkolorit” bekannt. In der Reise in die Astronomie ist ihm die Rolle des Vortragsmeisters zugewiesen, “mit dem Beinahmen [sic] ‘Der Leuchtende’‘ auch ‘Das Sonnenlicht in der Westentasche’ genannt, naher Verwandter eines Forschers der Natur”. Martin Bendix (Spitzname “der Urkomische”) gilt als Zugfigur des American-Theaters, seine Darbietungen prägen lokale Anspielungen und Wortwitze in Berliner Mundart. Dieses “Berliner Lokalkolorit”, das den Zuschauern zur Wiedererkennung und Identifikation diente, begegnet häufig in den Parodien der Zeit. III. Abteilung: Die Milchstrasse, oder der Durchbruch der Zimmerstrasse, Stern- Schnuppen und Katarrhe, nebst anderen Planeten, durchgehend mit erläuternden Erläuterungen und lebendigen Vorbei-, Nebenher- und An-Wandelungen. In der Ankündigung der “III. Abtheilung” wird mit dem Begriff “Milchstraße” gespielt, auf einen “Durchbruch der Zimmerstraße” verwiesen, möglicherweise eine Anspielung auf eine gleichnamige Straße in Berlin oder Umgebung, der Ankündigungstext mokiert sich über die “erläuternden Erläuterungen”, was ein Hinweis entweder auf eine übertriebene Kommentierung (i.S. einer Über- Information) oder auf einen übertriebenen performativen Modus der Kommentierung sein kann. Sodann wird auf “lebendige[...] Vorbei-, Nebenher- und An-Wandelungen” verwiesen: in der Vorlage einer Präsentation in der Urania werden “Verwandlungen” (= dissolving views oder Nebelbilder) benutzt, womit hauptsächlich Überblendungseffekte oder Lichteffekte, die mit einem Projektionsapparat erzeugt und beispielsweise benutzt werden, den Wechsel von Tag und Nacht, Sonnenauf- oder Untergang darzustellen. Diese Verwandlungen sind gängiges szenisches Mittel in der Theaterpraxis der Zeit und, wie weiter oben beschrieben, auch bei den Vorträgen mit performativem Charakter in der Urania üblich. In der Gartenlaube aus dem Jahre 1896 heißt es zu diesen Wandelbildern: Was einst Jules Verne in Form des Romanes gab, giebt die ‘Urania’ in dramatischer Form. Die Phantasie wird also aufs lebhafteste durch die Dekoration, durch Wandelbilder und durch Beleuchtungseffekte unterstützt. Der Zuschauer folgt einer Reise durch den Sternenraum; man zeigt ihm die interessantesten Gegenden unseres vielzerklüfteten Nachbars, des Mondes; oder man läßt vor seinem Auge sich die wechselvollen Vorgänge abrollen, die sich während einer Sonnenfinsternis vollziehen. [...] In der Figurenliste wird ferner mit dem Sternbild des Wassermanns (dargestellt von Fritz Heffer) gespielt, der, wie es in der Beschreibung heißt, “in der neuesten Sternkunde auch unter dem Namen ‘Kneip’ aufgeführt” sei, verbunden mit dem Kommentar “so’n Blödsinn! Wer kneipt überhaupt Wasser? ” 146 Nic Leonhardt Dieses Wortspiel mit den klanglich gleichen Wörtern “Kneipe” und “kneippen” spielt auf die in diesen Jahren aufkommende medizinische Praktik des Wasser-Kneippens an, die Wasserkur mit Wassertreten, das der Priester und Hydrotherapeut Sebastian Kneipp (1821-1897) als gesundheitsfördernd propagiert hatte. Seit 1890 werden zahlreiche Badehäuser errichtet, und erste Kneippvereine gegründet, die Kneippschen Wasserkuren sind rasch europaweit bekannt. Einmal mehr wird hier der parodistische Effekt durch die Kombination aus der Verlagerung des Begriffes (Wassermann, in der Vorlage als Sternzeichen gemeint) in ein neues Wortfeld (Wasser) und Anspielung auf den zeitgenössischen gesellschaftlichen Kontext erzeugt. Die “Schluss-Apotheke: Die Kinder der Sonne” am Ende der Reise in die Astronomie ist eine Anspielung auf die Apotheosen genannten, aufwändig inszenierten Schlussbilder in den Ausstattungsstücken der siebziger bis neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts. In diesen Schlussbildern werden Allegorien und Personifikationen von Errungenschaften der Industrialisierung wie zum Beispiel Licht oder Elektrizität dargestellt, ein beliebtes szenisches Mittel zur Verherrlichung des industriellen Fortschrittes. In oft symmetrischer Anordnung integriert die Apotheose bildkünstlerische Elemente, zeitgenössische Themen und (häufig innovative) szenographische Effekte. Dass in der Urania-Parodie die Apotheose in “Apotheke” umgewandelt wird - eine für Parodien typische inkongruente Zusammenstellung von Text und Wortfeldern -, und damit zum Gegenstand der Parodie wird, kann als Reflex auf den gesteigerten Gebrauch der Apotheose als “Allheilmittel” für einen eindrucksvollen Schluss in den Ausstattungsstücken gedeutet werden. Zusammenfassung: Urbane Unterhaltung als Unterhaltung über Urbanisierung Im Vorangegangenen habe ich mein Augenmerk auf die Unterhaltungsinstitutionen im Urbanisierungsprozess Berlins gegen Ende des 19. Jahrhunderts gelegt. Ich habe versucht zu zeigen, dass und wie Parodien auf urbane Unterhaltung in der Stadt Berlin einerseits zum Produkt der Unterhaltungskultur werden und zur Theatervielfalt beitragen und andererseits schon zeitgenössisch die Urbanisierung Berlins parodisieren. Die sich entwickelnde Stadt, die Phänomene der Verstädterung und Urbanisierung sind bevorzugtes Sujet der Literatur und der bildenden Kunst um die Jahrhundertwende. Auch die besprochenen Parodien machen die Stadt zum Gegenstand. Allerdings, und dies macht ihre Qualität und ihren Wert für die historiographische Arbeit deutlich, weniger in einer abbildenden Form als in einer subtilen Thematisierung der urbanen Unterhaltungsweisen. Die Parodie wird zu einer “anstrengungslosen Nutzung” des Unterhaltungsangebotes der Metropole Berlin und ist in ihrer immer auch kommentierenden Funktion gleichzeitig eine Unterhaltung im Sinne einer Konversation, einer Verhandlung und Kommunikation über urbane Unterhaltung. Parodierungen, Verunglimpfungen, Verzerrungen einer Vorlage orientieren sich an den die Vorlage kennzeichnenden Elementen. Ein historiographischer Blick auf Parodien eröffnet sowohl die Qualität der Vorlage als auch die kultur- und zeitspezifischen Anspielungen ihrer Parodie. In diesen Doppelblick ist die Möglichkeit der Annäherung an den jeweiligen “Erfahrungshorizont” der zeitgenössischen Produzenten und Rezipienten eingeschlossen. Dieser Erfahrungshorizont setzt sich aus einer Phalanx von Fähigkeiten und Kompetenzen und inhaltlichem Wissen zusammen, über die das zeitgenössische Publikum verfügen muss, um die Parodie Metropole als Markt für Mokerie 147 nachzuvollziehen: Erforderlich ist die Kenntnis der Vorlage (inhaltlich und dramaturgisch), der Rezeptionsbedingungen, der genre- und medialen Eigenschaften der Vorlage sowie ihre Bedeutung in der jeweiligen Kultur. In den besprochenen Parodien werden zeitgenössische “Moden”, Neuerungen der Theaterpraxis und Unterhaltungsinstitutionen der Stadt thematisiert. Trotz der lückenhaften Überlieferung der Parodien lässt sich aus dem skizzierten Material erschließen, dass die Rezipienten der Parodien das Unterhaltungsangebot, aber auch ihre Unterhaltungsbedürfnisse reflektieren. Die Metropolisierung nach 1871 zeigt Berlin in einer auch für die Untersuchung der Unterhaltungskultur jener Jahre interessanten Doppelbindung: Quantitativ vollzieht sich eine rasante Verstädterung durch Zuzug, Ausbau der Verkehrswege, wirtschaftliche Bedingungen, ein rasches Ausdifferenzieren des Medienangebotes mit Folgen für die Zugänglichkeit von Informationen aus der Region und der Welt. Qualitativ bewegt sich Berlin im Zuge der Urbanisierung im Spannungsfeld zwischen ‘europäisch metropolitan’ und ‘regional provinziell’. Zum Einen ist die Adaption etwa der Architektur der großen europäischen Städte und ihrer Theater- und Unterhaltungsangebote Folge eines nach außen gerichteten Blickes mit dem Ziel der Modernisierung/ Metropolisierung. Zum Anderen lässt sich eine Gegenbewegung “nach innen” beobachten, eine Besinnung auf der Region/ und der Stadt “Eigenes”, das ebenso gut ein Produkt einer kollektiven Imagination der Metropole Berlin ist. Wie weiter oben erwähnt, ist Parodie nicht nur zeit- und kulturspezifisch, sondern häufig auch lokalspezifisch. Es ist zu vermuten, dass die Anspielungen auf die Stadt, ihre Angebote und Ereignisse auch mit der seit 1871 andauernden quantitativen Expansion der Reichshauptstadt und (versuchter) Metropolisierung zusammenhängen. In einer sich rasch wandelnden Umgebung, die neben einer geographischen Ausdehnung und dem infrastrukturellem Ausbau bei den Stadtbewohnern zu einer Beschleunigung und zeitweisen Desorientierung, und durch den Zuzug von “Fremden” 44 zu einem Gefühl der “Überfremdung” geführt haben mag, können Parodien über die lokalen Unterhaltungsangebote und Ereignisse identitätsstiftend und stabilisierend wirken. In den Worten Marie Lee Townsends: Gemeinsam zu lachen bedeutet, an einer gemeinsamen Kultur teilzuhaben, die sich über eine Frage von allseitigem Interesse austauscht. In dieser Weise trug der Humor dazu bei, eine Öffentlichkeit zu schaffen, ein Gebiet oder eine Arena, innerhalb derer alle Arten von Ideen besprochen und debattiert werden konnten, gleich ob sie politischer, gesellschaftlicher oder moralischer Natur waren. 45 Die in diesem Beitrag vorgenommene, zunächst ungewöhnlich erscheinende, Verknüpfung von stadtgeschichtlichen Überlegungen und Untersuchungen von Parodie eines historischen Zeitraums gewinnt ihre Legitimation aus der Inflation der Parodie im 19. Jahrhundert und ihrem Potential als “Seismograph” einer je zeitspezifischen Kultur. Zur Urbanisierung einer Stadt gehört nicht nur die Herausbildung einer “feinen Lebensart”, sondern auch der kritische und parodisierende Umgang mit dieser. Das sich- Mokieren über Veränderungen und Ereignisse in der Stadt ist Produkt und Reflexionsmittel dieses Urbanisierungsprozesses. Anmerkungen 1 Dieser Beitrag ist aus einem Vortrag, den ich im Rahmen der Ringvorlesung Markets of Emotions an der Universität Amsterdam (2008) hielt, und meinen Vorbereitungen für die Konferenz der European Association for Urban History, Comparative History of 148 Nic Leonhardt European Cities, Lyon (27. bis 30. August 2008) entstanden. 2 Vgl. u.a. Ruth Freydank, Theater als Geschäft. Berlin und seine Privattheater um die Jahrhundertwende, Berlin 1995 (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 16. November 1995 bis 15. Mai 1996, Märkisches Museum, Berlin) und Nic Leonhardt, Piktoral-Dramaturgie. Visuelle Kultur und Theater im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2007. In einer negativ-kritischen Wertung äußert sich Karl Strecker 1911 über die neue Zusammensetzung des Publikums in Folge der Ernennung Berlins zur Reichshauptstadt und der damit verbundenen wirtschaftlichen Wandlungen: “Der erfreuliche Wohlstand des Deutschen Reiches ist hauptsächlich dem Handel und der Industrie zugute gekommen, nicht so den Berufsarten mit akademischer Vorbereitung, nicht so den Beamten und dem gebildeten Mittelstande. [...] Wir wollen keinem Stande zu nahe treten - es liegt einfach in den staatlich geforderten Vorbedingungen der einzelnen Berufsarten begründet, daß nicht nur der Lehrer, der Jurist, der Arzt, sondern auch der höhere Post- und Steuerbeamte [...] im allgemeinen eine gediegenere und verinnerlichtere Bildung hat, haben muß, als etwa der geschäftliche Selfmademan oder durchschnittliche Börsenmensch, der doch fast allein bereit und imstande ist, die hohen Eintrittspreise unserer hauptstädtischen Theater zu bezahlen. Es ist also - wer bestritte das noch - die Scheinkultur und Afterbildung der Deutschen, die sich in den Zuschauerräumen unserer großen Bühnen breit macht, den Ton angibt, den Geschmack bestimmt. [...] Für alles, was ‘gefragt’, was ‘aktuell’ ist, zahlen sie die höchsten Preise, und da den Theaterbesitzern fast durchweg die ‘Tageskosten’ wichtiger sind, als Fragen der Ästhetik, wird in den Theatern gespielt, was ein Börsenmann sehen will.” (Karl Strecker, Der Niedergang Berlins als Theaterstadt, Berlin 1911, S. 18-19.) 3 Peter Alter (Hg.), Im Banne der Metropolen. Berlin und London in den zwanziger Jahren, Göttingen, Zürich 1993, S. 10. 4 Alter, Im Banne der Metropolen, S. 10-11. 5 David Clay Large, Berlin. Biographie einer Stadt, München 2002, S. 21. Vgl. zur Entwicklung Berlins als Stadt u.a. Large 2002, Ruth Glatzer, Berlin wird Kaiserstadt. Panorama einer Metropole 1871-1890, Berlin 1993, und Jürgen Reulecke, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankfurt a.M. 1985. 6 “Theodor Fontane an Frau Emilie”, Mailand, 10. August 1875, in: Theodor Fontane, ‘Wie man in Berlin so lebt’. Beobachtungen und Betrachtungen aus der Hauptstadt, Berlin 2000, S. 27. 7 Large, Berlin, S. 35. 8 Werner Faulstich, Karin Knop (Hg.), Unterhaltungskultur, München 2006, S. 14. Werner Faulstich bezieht sich in Unterhaltungskultur explizit auf die wissenschaftliche Diskussion, den “terminologischen Wirrwarr”, wie er es nennt, um den Begriff der Unterhaltung - S. 7: “Der Begriff selbst gilt als vielschichtig, der Untersuchungsgegenstand als multidisziplinär und die enorme Fülle der Sekundärliteratur kann nur entmutigen.” Siehe auch die Diskussion des Begriffs durch Stefan Hulfeld im Eintrag “Unterhaltung”, in: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, S. 375-377. 9 Faulstich, Unterhaltungskultur, S. 12. 10 In Deutschland steigt, wie Friedrich Lenger informiert, “der Anteil der großstädtischen Bevölkerung zwischen 1870 und 1910 von weniger als 5 Prozent auf mehr als 20 Prozent an, die Zahl der Großstädte (mit mehr als 100 000 Einwohnern ) von acht auf 48”. (Friedrich Lenger, “Großstadtmenschen”, in: Ute Frevert, Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Der Mensch des 19. Jahrhunderts, Berlin 1999, S. 261-291; S. 264.) Die Einwohnerzahl Berlins verdoppelt sich zwischen 1850 und 1871 und erreicht bis 1910 über zwei Millionen. 11 Lenger “Großstadtmenschen”, S. 263. 12 Clemens Zimmermann, Die Zeit der Metropolen. Urbanisierung und Großstadtentwicklung, Frankfurt a.M. 2 2000, S. 11-12. 13 Siehe Lenger “Großstadtmenschen”, S. 263. 14 Diese Institutionen entstehen durch Anlehnungen an urbane Institutionen anderer europäischer Metropolen, vor allem Paris. 15 “Mit dem Leben in der von Industrie und Dienstleistungsgewerbe geprägten Großstadt verlagerte sich das Freizeitbedürfnis von der Metropole als Markt für Mokerie 149 Familie in die Öffentlichkeit. Dem suchten die hier entstehenden zahlreichen Erholungs-, Vergnügungs- und Kulturstätten [...] zu entsprechen”. (Martin Howaldt, “Der ‘Berliner Prater’”, in: Berlin in Geschichte und Gegenwart (Jahrbuch des LA Berlin), Berlin 1994, S. 133-151; S. 133.) 16 Zimmermann Die Zeit der Metropolen, S. 37. 17 Siehe hierzu e.g. David Clay Large: “Eine andere Arena, in der Berlin mit Paris wetteiferte, war der Einzelhandel, die große Innovation in diesem Bereich war das Kaufhaus, durch das das Einkaufen erst zu dem typischen Großstadt-Erlebnis wurde, das es bis heute geblieben ist, nämlich zu einem Bombardement der Sinne mit einer verwirrenden Reizvielfalt, die die Menschen in ein Einkaufsfieber versetzt. Die in Berlin erscheinende Zeitschrift Die Zukunft charakterisierte das moderne Kaufhaus als eine Kombination als ‘Wildnis und Weltstadt’”. Large, Berlin, S. 98.) 18 Die Berliner Theater und ihre Erfolgsautoren tragen ihren Teil dazu bei, indem die in den Theatertexten und Aufführungen kreierten Lieder von den Bühnen in die Straßen getragen wurden. “Lieder aus Possen des Theaterautors Kalisch wurden als Gassenhauer von Köchinnen, Dienstboten, Handwerksburschen und Gassenjungen gesungen und gepfiffen.” (Lothar Binger, Berliner Witz: zwischen Größenwahn und Resignation, Berlin 2006, S. 107.) Somit tragen die Theater auch zur Bildung einer imaginierten Stadt Berlin bei. Die Stücke und Lieder, (e.g. der Operetten), die ihrer Stadt ein Denkmal setzen, werden als Kulturprodukte und als zu vermarktende visuelle, auditive, textuelle “Icons” wichtige ‘Exportprodukte’, die das Berliner Lebensgefühl transportieren und zementieren sollen. 19 Nach einer Definition des Urban Land Institute versteht man unter einem Urban Entertainment Center eine innovative Form des Einkaufszentrums, das überwiegend vier Merkmale umfasst: einen “Unterhaltungsanker” (etwa eine Oper, eine Konzerthalle, ein Sportstadium, ein Kino), ein Themenrestaurant, Hotels sowie Einzelhandel. Weitere Bestandteile sind Edutainment-Einrichtungen wie Museen oder Aquarien. 20 W. Turzinsky, Berlin: drüber weg und unten durch, Berlin 1999, S. 41, S. 43. 21 “In einer Zeit enormen gesellschaftlichen Wandels, in der eine traditionelle, auf Landbesitz gegründete Gesellschaft den Weg zu einer verwirrenden neuen Welt frei machte, die von Industrialisierung, Verstädterung und sozialer Mobilität gekennzeichnet war, kam volkstümlicher Humor einer Vielfalt von Bedürfnissen entgegen. [...] Die Macht des Humors wurde im Deutschland des 19. Jahrhunderts zunehmend deutlich, als er sich von einem traditionellen Zeitvertreib explosionsartig in ein kommerzielles Produkt des Massenmarktes wandelte.” Mary Lee Townsend, “Humor und Öffentlichkeit im Deutschland des 19. Jahrhunderts”, in: Jan Bremmer, Herman Roodenburg (Hg.), Kulturgeschichte des Humors. Von der Antike bis heute, Darmstadt 1999, S. 149-166; S. 149. 22 Kaspar Maase, Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970, Frankfurt a.M. 1997, S. 31. 23 Siehe Beate Müller, Komische Intertextualität. Die literarische Parodie, Trier 1994, und Parody: Dimensions and Perspectives, Amsterdam, Atlanta 1997. Ich verstehe meinen Aufsatz über die urbane Unterhaltung als Unterhaltung über Urbanisierung nicht als einen Beitrag zur Parodieforschung. Hier ist grundlegende, wenngleich ganz sicher nicht erschöpfende Arbeit geleistet worden. Siehe u.a. auch: Margaret A. Rose, Parodie, Intertextualität, Interbildlichkeit, Bielefeld 2006; Nikola Rossbach (Hg.), Ibsen- Parodien in der frühen Moderne, München 2005, und Theater über Theater: Parodie und Moderne 1870-1914, Bielefeld 2006; sowie Frank Wünsch, Die Parodie. Zur Definition und Typologie, Hamburg 1999. 24 Um einige Titel von Parodien auf bekannte Theatertexte zu nennen: Faust, Parodie in 1 Act (1891); Lohengrün (Opern-Parodie in 1 Akt; 1892); Die Gaubenlerche, Parodie in 1 Akt (1890); Die Afrikanerin in Kalau, parodistische Posse mit Gesang in 1 Akt (1892); oder eine der zahlreichen Parodien auf die Arbeiten Gerhart Hauptmanns, “Nach Sonnenaufgang von Erhart Glaubtmann”. Hierzu heißt es in den Zensurakten des Walhalla-Parodie-Thea- 150 Nic Leonhardt ters, das Stück könne zur Aufführung nicht genehmigt werden, weil es “den guten Sitten widerspreche” und einen “unfläthigen und ekelerregenden Gehalt [...]” aufweise. (Acta des Polizei-Präsidii zu Berlin, betreffend die im Walhalla Parodie-Theater zur Aufführung kommenden Theaterstücke. 1889-1900 (Zensurexemplar, Landesarchiv Berlin, LA B, A Pr. Br. Rep. 03-05 Nr. 725) 25 Wünsch, Die Parodie, S. 224. 26 Stephan Oettermann, “Alles-Schau: Wachsfigurenkabinette und Panoptikum”, in: Lisa Kosok, Mathilde Jamin (Hg.), Viel Vergnügen. Öffentliche Lustbarkeiten im Ruhrgebiet der Jahrhundertwende. Ausst. Kat. Ruhrlandmuseum Essen (25. Oktober 1992-12. April 1993), Essen 1992, S. 36-56, hier S. 46. 27 Führer durch das Passage-Panoptikum. Berlin, Unter den Linden. Zitiert nach Oettermann “Alles-Schau”. Oettermann gibt “um 1900” als Erscheinungszeitraum für diesen Führer an. 28 Oettermann “Alles-Schau”, S. 46. 29 Illustrierter Catalog durch das Passage- Panoptikum (1888). 30 Max Bucher, Werner Hahl, Georg Jäger, Reinhard Wittmann (Hg.), Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848-1880, Bd. 1, Stuttgart 1981, S. 147. 31 Vgl. Leonhardt Piktoral-Dramaturgie. 32 Vgl. Leonhardt Piktoral-Dramaturgie. 33 Ankündigung der Vorstellung in der dritten Beilage zur Vossischen Zeitung, Nr. 78, 4. April 1869, S. 2. 34 Wolfgang Carlé, Heinrich Martens, Kinder, wie die Zeit vergeht. Eine Historie des Friedrichstadt-Palastes Berlin, Berlin 1987, S. 26. 35 Seebad Helgoland im Circus Renz. Große hydrologische Ausstattungs-Pantomime in 2 Abtheilungen (Zensurexemplar vom 2. August 1890. Landesarchiv Berlin, A Pr. R. Rep. 030 Tit. 74, Nr. Th 1535). 36 Vgl. Wünsch Die Parodie, S. 224. 37 Von 1878-1897 war August Reiff gleichzeitig Leiter des Puhlmanns Theater. 38 Überliefert ist dieser Zettel in den Zensurakten des American Theaters im Landesarchiv Berlin, Akten des Königlichen Polizei-Präsidii zu Berlin, betreffend das Amerikan. Theater (Zensurexemplar, Landesarchiv Berlin, A Pr. Br. Rep. 030-05 Tit. 74, Nr. Th 571). 39 Siehe www.urania.de/ die-urania/ geschichte/ (Zugriff am 1. August 2008). 40 www.urania.de/ die-urania/ geschichte. In der Illustrierten Zeitung vom 11. Januar 1890 heißt es: “Vor einigen Jahren ist in Berlin ein wirklich gemeinnütziges Unternehmen in’s Leben getreten, eine Anstalt, welche dem Zwecke dient, das Verständniß für die Erscheinungen im Thier- und Pflanzenleben, die Wunder des Sternenhimmels, die geheimnißvollen Kräfte der Natur durch Anschauung zu vermitteln. Zur Ausführung derselben wurde von einer Anzahl begüterter Naturfreunde eine Aktiengesellschaft gegründet, und die ‘Urania’, welche Anfang Juli 1889 im königlichen Ausstellungsgebäude am Lehrter Bahnhof eröffnet wurde, ist in kurzer Zeit Sammelplatz eines wißbegierigen, Aufklärung suchenden Publikums geworden. Auf ebenso interessante wie leicht verständliche Weise werden hier die sämmtlichen Zweige der Naturwissenschaften vorgeführt. Populär und interessant im vollesten Sinne des Wortes sind zunächst die Vorträge im ‘Wissenschaftlichen Theater’. In diesem Raume der Urania werden täglich größere oder kleinere Vorträge gehalten und durch die verschiedenartigsten Anschauungsmittel erläutert. Diese Vorträge sind für die weitesten Kreise bestimmt, und vermögen auch dem mit nur geringen Vorkenntnissen Ausgerüsteten, besonders der heranwachsenden Jugend, ein klares Bild von dem betreffenden Gebiete vorzuführen. Alle Künste der Theatertechnik werden zur Ausstattung der populär-wissenschaftlichen Vorträge verwendet. Alle die Naturereignisse, Himmelserscheinungen, Landschaften u.s.w., von denen gerade die Rede ist, werden dem Zuhörer so klar vor Augen geführt, als Malerei und Theatertechnik es nur immer vermögen.” (Illustrierte Zeitung, Nr. 2428, 11. Januar 1890). 41 Helmar Schramm et al. (Hg.), Bühnen des Wissens. Interferenzen zwischen Wissenschaft und Kunst, Berlin 2007, S. 15. 42 Die Gartenlaube, Nr. 38, 1896, S. 632-37; S. 634. Metropole als Markt für Mokerie 151 43 Seit der ersten Weltausstellung im Jahre 1851, besonders aber im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, werden in den europäischen Städten zahlreiche wissenschaftliche Einrichtungen gegründet, wissenschaftliche und ethnographische Museen errichtet. Horaz’ Dictum des “delectare et educare” wird für ein heterogenes Publikum institutionalisiert in unterschiedlichen Medien wie Zeitungen, Bildern, Ausstellungen, Völkerschauen, Literatur und Theater. 44 Gemeint sind nicht die aus der Provinz Zugezogenen. Zu diesen meint Binger: “Die aus der Provinz kamen, wehrten sich am heftigsten gegen alles Provinzielle. Sie nahmen in ihrem Verhalten das Berlinertum an - wenn auch nicht dessen Sprache. Sie brachten aus ihrer persönlichen Geschichte das Element mit, das so wichtig für das Berlinertum ist - erfahrene Unterdrückung.” (Binger 2006, S. 12). 45 Townsend “Humor und Öffentlichkeit”, S. 151.