eJournals Forum Modernes Theater 23/2

Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
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2008
232 Balme

Stefan Hulfeld: Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis. Wie Wissen über Theater entsteht. Materialien des ITW Bern, Nr. 8. Zürich: Chronos, 2007, 435 Seiten.

1201
2008
Meike Wagner
fmth2320161
Rezensionen Stefan Hulfeld: Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis. Wie Wissen über Theater entsteht. Materialien des ITW Bern, Nr. 8. Zürich: Chronos, 2007, 435 Seiten. Stefan Hulfelds Studie Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis. Wie Wissen über Theater entsteht stellt sich die Aufgabe, als “Buch über Bücher”, einen wesentlichen Beitrag zur Reflexion theatergeschichtlicher Diskurse - und somit auch theaterhistoriographischen Arbeitens - zu leisten. Im Zentrum seines Interesses steht dabei die Entwicklung der wirkmächtigen Diskursformel der ‘Reformtheaterhistoriographie’ im 18. Jahrhundert und eine Analyse ihrer Resistenz sowie ihrer Überwindung in der späteren Theatergeschichtsschreibung. Reformtheaterhistoriographie, so Hulfeld, sei eine historische Darstellung theatraler Praktiken, die stark eingefärbt sei von ihrem eigentlichen Zweck - nämlich der Reform von theatraler Praxis hin zu einem angenommenen Ideal/ Modell von Theater. Die so ideologisierte Perspektive auf Theatergeschichte ziele jedoch am eigentlichen Gegenstand vorbei: Der Glaube an eine Vision als Endpunkt teleologischer Dynamik und die damit gewonnene engagierte Grundhaltung führen dabei zur zielgerichteten Wahrnehmung historischer Phänomene, womit a priori definierte Wertungskriterien am Ausgangspunkt des historischen Diskurses stehen und die Quintessenz desselben bestimmen. Damit werden theatrale Praktiken kaum in ihrer eigenen Widersprüchlichkeit wahrgenommen. (121) In einem ersten Kapitel benennt Hulfeld ausgehend von den Entwicklungsfeldern “Theater/ Reisen”, “Theater/ Diskurs” als Poetik des Dramas und “Theater/ Diskurs” als christliche Normgeschichte die Anfänge eines Geschichtsbewusstseins im Zusammenhang mit Theater und erste Artikulationen eines Verständnisses von Theater als historischem Gegenstand. Diese Präfigurationen finden nun ihre eigentliche Form in den Theatergeschichts-Schreibungen des 18. Jahrhunderts. Hier ist es Luigi Riccoboni, dessen Histoire du Théâtre Italien (1728) und Réflexion historiques et critiques sur les différens théâtres de l’Europe (1738) Standards setzten. Riccoboni erweist sich als Hauptfigur von Hulfelds Argumentation, da er in einer außerordentlich detailreichen und umfassenden Analyse die Entstehung der Hauptwerke Riccobonis und deren Reichweite dokumentiert und kommentiert. Ein großer Verdienst Hulfelds ist es hier, Riccoboni erstmals in diesem Ausmaße im Zusammenhang mit theaterhistoriographischen Fragestellungen zu diskutieren und somit dem bekannten ‘Theaterreformer’ Riccoboni, der im Zusammenhang mit der Entwicklung der Commedia dell’Arte omnipräsent und doch stark beschnitten rezipiert ist, einen ganz anderen, nämlichen den ‘methodischen Historiographen’ Riccoboni gegenüber stellt. Riccobonis versuchte europäische Zusammenschau der nationalen Theaterkulturen setzt Standards in der “Leistungsschau europäischer Zivilisation” (85), die Theatergeschichte vor allen Dingen als Indizien einer Progression kultureller Identität und Kultur darstellt. Die Diskussion um den Ursprung des modernen Theaters und auch die ausdiskutierte Rivalität der Nationen in dieser Frage wird von Hulfeld in der detaillierten Analyse von Werken Riccobonis und seiner Zeitgenossen einleuchtend dargestellt. Hulfeld geht nun so weit, eine “latente Resistenz” (226) dieser Reformtheaterhistoriographie festzustellen, und kann diese Behauptung anhand von zahlreichen Analysen und kommentierten Dokumenten auch überzeugend belegen. Im zweiten Teil der Studie geht er nun dazu über, Reformtheaterhistoriographie als wissenschaftliche Tradition zu problematisieren. Hulfeld belegt anhand von Fallbeispielen den Anspruch einer modernen Theaterhistoriographie, diese Norm zu überwinden. Er beschreibt hier grundsätzlich drei ‘Ausgänge’ (233f.) aus der Tradition: 1.) auf methodischer Ebene, basierend auf einer eingehenden Reflexion des eigenen methodischen Vorgehens und der Differenzierung vom Gegenstand, 2.) in der Überwindung der nationalen Forum Modernes Theater, Bd. 23/ 2 (2008), 161-163. Gunter Narr Verlag Tübingen 162 Rezensionen Ebene durch Fokussierung auf den lokalen und städtischen Bereich, wodurch ökonomische, politische und soziologische Funktionen von theatralen Praxen in den Blick kommen, 3.) durch die Überwindung des bürgerlichen Theaterbegriffs und die Ausweitung der Perspektive auf ‘Theatralität.’ Verbunden mit diesen drei ‘Ausgängen’ diskutiert Hulfeld das Werk von Max Herrmann, Ludovico Zorzi und Rudolf Münz und kann hier überzeugend deren Konzepte als Nachweis einer längst erfolgten theaterhistoriographischen Reflexion der Theaterwissenschaft darstellen. Somit sticht Hulfeld in seiner Detail-Kenntnis und zurückhaltend wertenden Argumentationspraxis heraus aus den generalisierenden Vorwürfen gegen eine wie auch immer unterstellte ‘positivistische historische Grundhaltung’ der Theaterwissenschaft und leistet damit einen verdienstvollen Beitrag zur Fachgeschichte. Während Rudolf Münz in den letzten Jahren eine deutliche Wertschätzung erfährt - kaum eine theatergeschichtliche Studie kommt heute ohne den Verweis auf ihn und das Konzept der ‘Theatralität’ aus - wäre es wünschenswert, dass der historiographische Aspekt in Max Hermanns Werk und auch die in eine soziopolitische Richtung weisenden Ansätze Ludovico Zorzis künftig stärker berücksichtigt würden. Es bleibt zu hoffen, dass Hulfelds Studie hier zum Auslöser wird. Im letzten Kapitel nimmt Stefan Hulfeld zwei wichtige Abgrenzungen vor. Zum einen verweigert er sich der Erwartungshaltung des Lesers, dass in diesem Schlusskapitel “Theatergeschichte der Gegenwart”(334-357) nun eine Abrechnung mit gegenwärtigen Ansätzen erfolgt, die eine eigene vorgestellte Methode umso wertvoller erscheinen ließe. Zum anderen grenzt er sich gegenüber einer medien- und kulturwissenschaftlichen Perspektive ab. Wo genau aber steht der Autor Hulfeld in dieser Studie? Implizit lässt sich Hulfelds methodische Position aus den Zeilen und Argumenten herauslesen. Warum also nicht explizit Stellung beziehen? Gerade im Hinblick auf eine studentische und Orientierung suchende Leserschaft würde eine solche Diskussion und Positionierung Klarheit verschaffen. Im Hinblick auf medien- und kulturwissenschaftliche Perspektiven ist der Untertitel der Studie zunächst irreleitend: “Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis” lässt erst einmal eine kulturwissenschaftliche Analyse erwarten, die ein besonderes Interesse an den performativen Aspekten der Geschichtsvermittlung, an den Performanzen des Archivs bei der Formation von Wissen und auch an Geschichtsschreibung als mediale Praxis hätte. Hulfeld liefert eine umfassende und hochreflektierte Diskursanalyse, die auch die Perspektive des Gegenwärtigen im Blick auf die Vergangenheit immer mit bedenkt. Bedauerlich ist jedoch, dass er Kulturwissenschaft stark mit ihren schlechtesten Praktiken identifiziert. Er unterstellt einer Medien- und Kulturwissenschaft des Theaters einen universalistischen und historisch schwach informierten Grund-Gestus und exemplifiziert dies anhand von Derrick de Kerckhove. Hier wird die methodologische Bandbreite einer Fachdisziplin mit dem Hinweis auf ein ausgewiesen problematisches Beispiel eng geführt. Eine Erweiterung der disziplinären Perspektive dagegen führt zur Wahrnehmung ausgesprochen viel versprechender kulturwissenschaftlicher Debatten, so etwa die seit einigen Jahren virulente und produktive Auseinandersetzung zwischen Historikern und Medientheoretikern, die ergiebige Anstöße zu fruchtbarer Kooperation von Konzepten und Fragestellungen zwischen diesen Disziplinen liefert. So etwa die methodologischen Reflexionen, die der Band Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive (2004), hg. von Fabio Crivellari, Kay Kirchmann, Marcus Sandl und Rudolf Schlögl, vorstellt oder auch die theoretischen Konzepte und Überlegungen, die das Weimarer Projekt der Medialen Historiographie (2001), hg. von Lorenz Engell und Joseph Vogl, leiten. Interessante Impulse für eine pragmatische Integration von kulturwissenschaftlichen Perspektiven in historisch fundiertes Arbeiten könnten darüber hinaus von einer Rezeption der neueren und neuesten US-amerikanischen Theaterhistoriographie ausgehen, die bei Hulfeld einzig durch Darstellung des Sammelbandes Interpreting the Theatrical Past (1989), hg. von Thomas Postlewait und Bruce A. McConachie, vertreten ist. Stefan Hulfeld hat mit seiner Studie ein höchst materialreiches, fundiertes und reflektiertes fachhistorisches Werk vorgelegt, das sich zur Pflichtlektüre eines jeden Theaterhistorikers empfiehlt. Rezensionen 163 Hulfeld eröffnet die wichtige Möglichkeit einer tiefgehenden Diskussion der historiographischen Fachtradition und hat damit einen Meilenstein für weitere theaterhistoriographische Forschung gesetzt; insbesondere im Hinblick auf Methoden und die Reflexion der eigenen Arbeitswerkzeuge. München M EIKE W AGNER Peter W. Marx: Ein theatralisches Zeitalter. Bürgerliche Selbstinszenierung um 1900. Tübingen/ Basel: Francke Verlag, 2008, 420 Seiten. Die Zeit um 1900 ist von Historikern und Soziologen oft als eine krisenhafte Epoche gewaltiger sozialer und kultureller Umwälzungen beschrieben worden, in der das lange 19. Jahrhundert ziemlich abrupt in die Moderne katapultiert wurde. Der Zuwachs an sozialer und tatsächlich erfahrbarer Mobilität, die damit verbundenen Anforderungen im Berufswie im Privatleben sowie die vielfältigen verlockenden Angebote der Konsumgesellschaft schufen eine Alltagswirklichkeit, in der die bürgerlichen Lebens- und Subjektentwürfe alles andere als stabil bleiben konnten. Der Bürger nahm daher dankbar Rollenmodelle an, die über ein hohes Identifikationspotential verfügten. Am Beispiel des als “falscher Prinz” Berühmtheit erlangten Harry Domela, der gekonnt und gewitzt die Autoritätsgläubigkeit deutscher Bürger für seine Selbstinszenierung ausnutzte, zeigt Peter W. Marx den Zusammenhang zwischen Autoritätsverlust und der kompensatorischen Funktion inszenierter Autorität. Die “kollektive Sehnsucht nach einem aristokratischen Herrscher” (11) offenbarte demnach ein Trauma im kollektiven Unbewussten der Deutschen, die nach der in ihrem Verständnis katastrophalen Niederlage des Ersten Weltkriegs einstiger wilhelminischer Größe nach trauerten. Marx attestiert dieser Zeit ein Höchstmaß an verdrängendem Inszenierungswillen und zugleich “die soziale Relevanz und Notwendigkeit symbolischen Rollenspiels” (16). Deshalb spricht er dezidiert - trotz Vorbehalten gegen den im alltäglichen Sprachgebrauch unpräzise verwendeten Begriff - von einem “theatralischem Zeitalter”. Zu diesem Befund passt die Tatsache, dass Domelas Geschichte 1927 verfilmt wurde und er darin höchst selbst die Rolle seines Lebens als “falscher Prinz” übernahm: Der Hochstapler, der mit großem Erfolg Aristokraten mimte, führt sein Rollenspiel nun im neuen Unterhaltungsmedium Film auf und vor. Das in der Figur Domelas fassbare Ausmaß theatraler Selbstinszenierung, die gleichwohl von der zeitgenössischen Medizin als Unvermögen pathologisiert wurde, zwischen Realität und Rolle unterscheiden zu können, sieht Marx als Blaupause für das Verhältnis zwischen Theater und Gesellschaft um 1900 an. Diesem prekären Verhältnis wendet er sich in einer Reihe von Einzeluntersuchungen zu. Zunächst jedoch schlüsselt Marx seine methodischen Überlegungen zu den Bedingungen bürgerlicher Selbstdarstellung auf und bezieht damit zugleich seine informierte Arbeit auf aktuelle kulturwissenschaftliche Diskussionen. Er entwirft ein anspruchsvolles Modell, in dem performative Praktiken, das kollektive Imaginäre und die Zirkulation kultureller Werte miteinander verwoben sind. Ziel dieses Modells ist es darzulegen, dass das Theater “innerhalb gesellschaftlicher Verhandlungen [...] eine zentrale Rolle ein[nimmt], weil hier Rollenmuster gezeigt und ‘durchgespielt’ werden” (28). Den Theaterbesuch sieht Marx zudem als eine kulturelle Praxis der Selbstinszenierung des Publikums. Gleichzeitig bestimmt er die Inszenierung als ein “Schnittstelle zwischen der Sphäre der Öffentlichkeit und dem Markt” (38), an der komplexe Austauschprozesse zwischen den performativen Praktiken, dem kollektiven Imaginären und der Wertezirkulation stattfinden. Das “theatralische Zeitalter” um 1900 gewinnt so für Marx gerade durch die neuen Formen einer Öffentlichkeit an Konturen, die sich dezidiert am Konsum orientiert. Sein Analyseinstrumentarium erprobt Marx zunächst an drei kanonischen Theaterstücken, in denen das komplexe Zusammenspiel von nationaler und Identitätspolitik auf und hinter der Bühne verhandelt wurde. Am Beispiel der Bühnenfiguren Tell, Nathan und Shylock, der Aufführungspraxis dieser Stücke und zahlreicher Forum Modernes Theater, Bd. 23/ 2 (2008), 163-164. Gunter Narr Verlag Tübingen