eJournals Forum Modernes Theater 24/1

Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/0601
2009
241 Balme

Zum Verhältnis von Mensch und Ordnung im Rahmen einer affirmativen politischen Theaterästhetik am Beispiel von Schlingensiefs Bitte liebt Österreich – Erste europäische Koalitionswoche (Ausländer raus)

0601
2009
Ann-Christin Focke
fmth2410031
Zum Verhältnis von Mensch und Ordnung im Rahmen einer affirmativen politischen Theaterästhetik am Beispiel von Schlingensiefs Bitte liebt Österreich - Erste europäische Koalitionswoche (Ausländer raus) Ann-Christin Focke (München) Die Geschichte des politischen Theaters ist lang und vielfältig: Von der antiken Tragödie als Forum der polis über die dramatischen Analysen von Macht und Herrschaft bei Shakespeare und Schiller, die multimedialen agitatorischen Massenmobilisierungen eines Erwin Piscator, die Lehrstückform Brechts bis hin zu den provozierenden und skandalisierenden Aktionen Christoph Schlingensiefs - im Laufe der Jahrtausende haben Autoren und Theatermacher die unterschiedlichsten Strategien entwickelt, ‘das Politische’ auf der Bühne wirksam werden zu lassen. Gerade die Entwicklung der letzten Jahre wird vielfach als Paradigmenwechsel beschrieben, für den Jean-François Lyotards Begriff einer ‘affirmativen Ästhetik’ als Gegenbegriff zur traditionellen ‘Ästhetik der Negation’ das entscheidende Stichwort bereitstellt. 1 Gemeint ist damit die Ablösung der Ästhetik der Repräsentation durch eine affirmative Ästhetik der Präsenz und der Energie. Während erstere die Zeichen lediglich in ihrer Dimension als auf etwas Anderes verweisende in Erscheinung treten lässt, während dazu Energien kanalisiert und reguliert werden und im wahrsten Sinne des Wortes ein Sinn festgestellt wird, basiert letztere auf einer “nicht-hierarchisierten […] Energiezirkulation”. 2 Die Zeichen sind hier “Kräfte, Intensitäten, Affekte in ihrer Präsenz”. 3 Das affirmative politische Theater ist somit ein Theater, durch das nicht eine andere, bessere Gesellschaftsordnung dargestellt, repräsentiert wird, sondern das vielmehr die bestehenden Verhältnisse zuspitzt, durch Techniken der Parodie, der Travestie und der Ironie präsent macht und entlarvt, ohne dass daraus Alternativen abgeleitet würden: “An die Stelle des moralischen Ernsts tritt die Parodie der Geschichte”. 4 Den verschiedenen Modellen liegt jedoch trotz allem eine gemeinsame Problemstellung zugrunde. So ist politischen Auseinandersetzungen in der Regel eine gewisse Abstraktheit und Theoriehaftigkeit eigen, die zunächst einmal querliegt zu Grundcharakteristika von Drama und Theater: “Politik […] kann auf der Bühne nur konkret in Erscheinung treten. Sie wird vor einem Publikum gespielt, also muss ihr Gegenstand von diesem erkannt werden”. 5 Kategorien wie Anschaulichkeit und sinnliche Zugänglichkeit spielen auf die ein oder andere Weise in quasi jeder Theatertheorie eine Rolle. Etwas schematisch gesprochen, könnte man die Konkretisierung des abstrakten Politischen durch das Theater also als eine ästhetische beziehungsweise gattungsspezifische Anforderung bezeichnen Diese Konkretisierung vollzieht sich häufig in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Ebene des ‘Menschlichen’. “Es scheint mir eines Versuchs nicht ganz unwert”, schreibt Schiller 1788, Wahrheiten, […] die bis jetzt nur das Eigentum der Wissenschaften waren, in das Gebiet der schönen Künste herüberzuziehen, mit Licht und Wärme zu beseelen und, als lebendig wirkende Motive in das Menschenherz gepflanzt, in einem kraftvollen Kampfe mit der Leidenschaft zu zeigen. 6 Forum Modernes Theater, Bd. 24/ 1 (2009), 31-47. Gunter Narr Verlag Tübingen 32 Ann-Christin Focke Die Dramatisierung abstrakter politischer Inhalte erfolgt demnach durch die Darstellung anhand einer konkreten, lebendigen dramatischen Figur. Über 200 Jahre später schreibt der Pop-Theoretiker Diedrich Diederichsen: Wer sich aber nur für die Kritik der Politik und der Ideologie zuständig fühlt […], gerät oft in eine distanzierte Welt der reinen Abstraktion von einem solchen politisch verursachten Leid. Hier könnte Theater ganz traditionell helfen, das Mitleid freizusetzen oder zu mobilisieren, das jeder Politisierung vorangehen müsste. 7 Etwas grundsätzlicher könnte man auch von einer sinnlich-emotionalen, auf das Zwischenmenschliche bezogenen Vermittlung des Politischen sprechen. Aufgrund der spezifischen Bedingungen des Mediums Theater rückt hier das Partikulare und Konkrete, und das heißt: der einzelne Mensch, ins Zentrum der politischen Auseinandersetzungen. Oder präziser: Aufgrund der ästhetischen Anforderung einer Konkretisierung und Versinnlichung des Abstrakten wird das Verhältnis von Mensch und politischer Ordnung im Medium des Theaters in besonderer Weise virulent. Und auch hier, im Hinblick auf die der politischen Ästhetik zugrundeliegenden Modelle des Verhältnisses von Mensch und politischer Ordnung, hat sich in den letzten Jahren eine grundlegende Veränderung vollzogen, die sich am besten von der politischen Theorie her greifen lässt: Das nach einer Vermittlung von Mensch und Ordnung strebende Modell der traditionellen politischen Anthropologie wurde abgelöst von einer eher Foucaultschen Perspektive, aus der heraus Ordnungsstrukturen grundsätzlich als unterwerfend kritisiert und gerade Diskrepanzen zwischen Mensch und Ordnung zum Ideal erhoben werden. Nach einem kurzen Exkurs in die Geschichte des traditionellen politischen Theaters möchte ich dieses neue Modell anhand von Christoph Schlingensiefs Aktion “Bitte liebt Österreich” - Erste europäische Koalitionswoche systematisch aufzeigen. 8 Zur Abgrenzung: Das Verhältnis von Mensch und Ordnung im traditionellen politischen Theater Otfried Höffe versteht unter politischer Anthropologie “anthropologische Probleme […], auf die die politische Legitimationsdebatte nicht verzichten kann”. 9 Die Leitfrage einer solchen Perspektive klingt hier bereits an: Wird die als legitim und richtig erachtete politische Ordnung dem Menschen, so wie er ist, gerecht und kann umgekehrt der Mensch dieser Ordnung gerecht werden? Unter welchen Bedingungen kann er das und was bedeuten die anthropologischen Befunde für die Konzeption der Ordnung? Abgezielt wird auf eine Integration von anthropologischer und gesellschaftlicher Dimension. Der Ansatz Höffes steht dabei stellvertretend für eine lange Tradition. Es ist kein Zufall, dass er seine “politische Fundamentalphilosophie” ausgehend von den Werken Platons und Aristoteles’ entwickelt, 10 sich auf Hobbes bezieht und auf Kant, dass er auf für die Geschichte des politischen Denkens so zentrale Kategorien wie das Naturrecht oder die Vertragstheorie zurückgreift. Stets kreisten diese Denker und Debatten um das, was Höffe als “praktischen Syllogismus” bezeichnet: 11 Die Vermittlung des normativen Prinzips der politischen Gerechtigkeit - oder, etwas allgemeiner formuliert: der guten, anzustrebenden Ordnung - mit seinen “(deskriptiven) Anwendungsbedingungen”, d.h. der anthropologischen Ebene. 12 Innerhalb der traditionellen Ästhetik der Negation ist es in der Regel die einzelne dramatische Figur, die zum Träger der Kritik und zum Kämpfer für eine andere, bessere Gesellschaftsordnung wird und somit das Zum Verhältnis von Mensch und Ordnung 33 politische Gedankengut sowohl zu (vermeintlichen) anthropologischen Gegebenheiten als auch zur eigenen Individualität in Beziehung setzt. Nicht selten ist diese Beziehung eine konfliktträchtige, stehen politisches Postulat und konkrete Figur in einem unaufgelösten Spannungsverhältnis. Ein prägnantes Beispiel für eine dramatische Figur, die dem eigenen Gesellschaftsentwurf nicht gerecht wird, ist Marquis Posa aus Schillers Don Carlos. Zentrales Merkmal der von ihm angestrebten Ordnung ist das Prinzip der Freiheit und Autonomie des Einzelnen, sowohl der Handlungsautonomie als auch der “Gedankenfreiheit”. 13 Mit Posa einerseits und Karlos andererseits stellt Schiller diesem theoretisch-abstrakten Entwurf dann jedoch zwei konkrete menschliche Figuren gegenüber, die dieses Prinzip auf je eigene Weise verletzen: Posa durch sein despotisches und manipulatives Verhalten, Karlos durch seine Unselbständigkeit, ja Manipulierbarkeit. Eine detailliertere Analyse kann an dieser Stelle nicht geleistet werden, zu den skizzierten Zusammenhängen liegen jedoch eine Reihe umfassender Studien vor. 14 Ebenso wenig kann ich auf ein breiteres Korpus von als politisch geltenden Dramen eingehen. Ich möchte lediglich einige so heterogene Titel wie Schillers Räuber, Büchners Dantons Tod, Brechts Maßnahme und Heiner Müllers Auftrag nennen, um anzudeuten, dass die Figur des unzulänglichen Revolutionärs fast so etwas wie einen Typus in der Geschichte des politischen Theaters darstellt: Karl Moor, der eine gerechtere Gesellschaft will und sich dabei selbst in Willkür verliert, Danton, der seiner Triebhaftigkeit auf Kosten des Volkes nachgeht und damit die überwunden geglaubte Ungleichheit reproduziert, der junge Genosse, der sich ganz in den Dienst der Sache stellen soll und an seiner Individualität und Emotionalität scheitert, Sasportas, der die Herrschaftsverhältnisse nicht überwinden hilft, sondern sie aufgrund seines eigenen Machtstrebens nur umkehrt. 15 Festzuhalten ist, dass diese Dramen gerade durch die Problematisierung menschlicher Unzulänglichkeit die Versöhnung von Mensch und Ordnung zur Norm erheben. Das den genannten Dramen zugrundeliegende Modell der traditionellen politischen Anthropologie ist inzwischen jedoch in die Krise geraten. Schon durch den Marximus wurde die Vorstellung eines von gesellschaftlichen Strukturen unabhängigen menschlichen Wesens in Frage gestellt. Seit den 60er Jahren haben Theoretiker wie Michel Foucault, Judith Butler, Pierre Bourdieu oder Homi K. Bhabha dann aus unterschiedlichen Perspektiven gezeigt, dass hinter Versuchen der Festschreibung vermeintlich naturgegebener Wesensmerkmale und Identitätskategorien stets Machtinteressen und Diskriminierungsversuche stehen. Aufgrund der damit einhergehenden Ablehnung einer Lehre von ‘dem Menschen’ wird in diesem Zusammenhang häufig auch von ‘Anthropologiekritik’ gesprochen. 16 Und während im Marximus noch davon ausgegangen wurde, dass die Schaffung einer besseren Gesellschaftsordnung einen entsprechenden besseren ‘neuen Menschen’ hervorbringen könne, wird die Möglichkeit einer macht- und diskriminierungsfreien Ordnung von den genannten Theoretikern grundsätzlich zurückgewiesen. Dieser Paradigmenwechsel hat sich inzwischen auch im politischen Theater niedergeschlagen. Beispiele der letzten Jahre zeigen zur Abschiebung freigegebene Asylbewerber (Bitte liebt Österreich), aussteigewillige Neonazis, denen die Rückkehr in die Mitte der Gesellschaft verwehrt ist (Schlingensief, Hamlet/ NAZI~LINE), oder Menschen, die sich zur Ware machen beziehungsweise machen lassen (René Pollesch). Hier wird menschliche Identität als Produkt von Ordnungs- und Diskursstrukturen dargestellt, eine völlige Durchdringung des Menschen durch die Ordnung diagnostiziert - gerade nicht normativ im Sinne einer Vermittlung, 34 Ann-Christin Focke sondern vielmehr kritisch im Sinne einer Unterwerfung, vor deren Hintergrund eine Diskrepanz zwischen Mensch und Ordnung eben nicht als Scheitern, sondern vielmehr als Befreiung erscheint - eine gegenüber dem traditionellen politischen Theater genau umgekehrte Konstellation also, die im Folgenden näher beleuchtet werden soll. Das Verhältnis von Mensch und Ordnung aus Foucaultscher Perspektive In Die Ordnung der Dinge analysiert Foucault, wie sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts ein “erkenntnistheoretisches Bewusstsein vom Menschen als solchem” konstituiert, 17 in Überwachen und Strafen untersucht er die Entwicklung der Justiz von einer Instanz der Bestrafung zu einer “Technik der Verbesserung” des Einzelnen, 18 um aufzuzeigen, dass erst aus der Verknüpfung dieser beiden Prozesse die neuzeitliche Konzeption des Individuums hervorging. So konnte etwa das christliche Zeitalter bis ins 17. Jahrhundert den Menschen lediglich in seiner Beziehung zu Gott und nur in seiner Mangelhaftigkeit gegenüber demselben denken, während im klassischen Zeitalter, dem Zeitalter der Repräsentation, die Souveränität des Zeichenraums die Frage nach dem Menschen in seiner Endlichkeit und mit seiner transzendentalphilosophisch begründbaren Vernunft überflüssig machte. Erst der Zusammenbruch dieses Zeichenraums unter den realen und zugleich fremden Zwängen von Leben, Arbeit und Sprache und die Notwendigkeit, die reine Vernunft zu denken, lassen laut Foucault den Menschen als solchen hervortreten: als Objekt neuer Wissenschaften wie Psychologie und der klinischen Medizin und als transzendentales Subjekt von Erkenntnis. Etwa zur gleichen Zeit verändert sich das Strafwesen dahingehend, dass die auf den körperlichen Schmerz abzielende Sühne abgelöst wird durch eine Strafe, “die in der Tiefe auf das Herz, das Denken, den Willen, die Anlagen wirkt”. 19 Durch die Kontroll- und Zwangsmechanismen des modernen Gefängnisses, flankiert durch die neuartigen Phänomene des Psychologen, des Psychiaters und des Bewährungshelfers, mit Entsprechungen in den disziplinierenden Praktiken der Klöster, Schulen, Armeen und Fabriken, durch “eine minutiöse Beobachtung des Details und gleichzeitig eine politische Erfassung der kleinen Dinge”, 20 wird eine Ansammlung unvorhersehbarer Möglichkeiten und querschlägerischer Bedürfnisse zum greifbaren und steuerbaren Glied des Gesellschaftskörpers vereinheitlicht. Durch diese beiden Entwicklungen, “über die Verzahnung von Machtwirklichkeit und Wissensgegenstand”, hat man laut Foucault “verschiedene Begriffe und Untersuchungsbereiche konstruiert: Psyche, Subjektivität, Persönlichkeit, Bewußtsein, Gewissen usw.”. 21 Daraus “ist der Mensch des modernen Humanismus geboren worden”. 22 Sowohl das Konzept des Individuums als auch die Identität und Individualität eines jeden Einzelnen sind aus Foucaultscher Perspektive Produkt von Ordnungs- und Diskursstrukturen, Ergebnis von Unterscheidungen, Kategorisierungen und Zuschreibungen. Im Vergleich zur klassischen Vertragstheorie, derzufolge sich freie und gleiche Individuen zum allerseitigen Vorteil zu einer gesellschaftlichen Ordnung zusammenschließen, haben wir es hier also mit einem umgekehrten Verhältnis von Mensch und Ordnung zu tun. Und während in der Vertragstheorie die Ordnung als etwas von den Individuen prinzipiell Verschiedenes und deshalb von ihnen Gestaltbares erscheint, ist in den Augen Foucaults der Mensch von der Ordnung vollständig durchdrungen und ihr unterworfen: eine Unterwerfung, die viel tiefer ist als er. Eine ‘Seele’ wohnt in ihm und schafft ihm eine Existenz, die selber ein Stück der Herrschaft Zum Verhältnis von Mensch und Ordnung 35 ist, welche die Macht über den Körper ausübt. Die Seele: Effekt und Instrument einer politischen Anatomie. 23 Eine derart weitverzweigte und subtil operierende Macht lässt sich “weder in bestimmten Institutionen noch im Staatsapparat festmachen”, 24 vielmehr handelt es sich um eine “Technologie”, die “diffus, in zusammenhängenden und systematischen Diskursen kaum formuliert” ist. 25 Die grundsätzlich andere Stoßrichtung dieses neuen Modells zeichnet sich hier bereits ab. Während die traditionelle politische Anthropologie aus normativer Perspektive auf eine Vermittlung von Mensch und Ordnung abzielt, ist die absolute Durchdringung des Menschen durch die Ordnung für Foucault ein Fakt, den es deskriptiv zu analysieren und kritisch zu hinterfragen gilt: “Man muss das Verstehbare auf dem Hintergrund des Leeren erscheinen lassen, Notwendigkeiten verneinen und denken, dass das Vorhandene noch lange nicht alle möglichen Räume ausfüllt”. 26 Wenn eine solche Analyse auch darum weiß, dass sie sich selbst nicht außerhalb des kritisierten Machtfeldes bewegt, 27 so lässt sich doch festhalten, dass innerhalb der Foucaultschen Theorie gerade die Diskrepanz von Mensch und Ordnung das Ideal bildet. Ihm geht es um die “Verteidigung freier und nonkonformer Existenz”, die “von der Übermacht jeder, noch so vernünftig begründbaren Ordnung bedroht ist”. 28 Vor diesem Hintergrund möchte ich nun das Verhältnis von Mensch und Ordnung in Bitte liebt Österreich untersuchen. “Wir spielen das mal durch” - Politische Ordnungsstrukturen in Bitte liebt Österreich Die Thematisierung politischer Ordnungsstrukturen erfolgt bei Schlingensief zunächst einmal durch die Verwendung von Slogans der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ). Wahlplakate und Zitate von FPÖ-Politikern, allen voran des Kärntner Landeshauptmanns und ehemaligen Parteichefs Jörg Haider, sind an den Außenwänden der Container plakatiert: “Wien darf nicht Chicago werden”, 29 “China statt Wiener? ” (00: 12: 57), “Stop der Überfremdung” (00: 35: 44) etc. Ab dem fünften Tag hängt zusätzlich noch ein Banner mit der Aufschrift “Unsere Ehre heißt Treue” (01: 03: 19), ein SS- Spruch, den Ernest Windholz, FPÖ-Landeshauptmann von Niederösterreich, bei einer Parteiveranstaltung verwendet hatte. Ein über allem thronendes “Ausländer raus”- Transparent fasst die anderen Slogans in pointierter Form zusammen. Die zitierten Slogans implizieren den Entwurf einer politischen Ordnung, die durch Mechanismen der Ab- und Ausgrenzung gekennzeichnet ist. Im Rahmen der Schlingensiefschen Aktion wird eine solche Ordnung dann im Kleinen exemplarisch realisiert - freilich in zugespitzter Form: “Es wird endlich mal mit Inhalten gefüllt, was das abstrakte ‘Ausländer raus’ eigentlich bedeutet. […] Wir produzieren Bilder, die Jörg Haider und seine Parolen einfach einmal beim Wort nehmen”, 30 erläutert Schlingensief. 12 Asylbewerber sind in versiegelten Containern untergebracht, die zusätzlich durch einen Bauzaun eingegrenzt sind. Damit bezieht sich Schlingensief nicht nur auf die potentielle Ordnung der FPÖ-Programmatik, sondern auch auf bereits existierende gesellschaftliche Praktiken im Umgang mit Ausländern. Das Geschehen im Inneren der Container wird von sechs bis acht Kameras 24 Stunden am Tag ins Internet übertragen. Jeden Tag werden zwei Asylbewerber von der Bevölkerung per Votingseite im Internet oder über TED-Telefonnummern abgewählt, weggefahren und angeblich umgehend abgeschoben. Auch bei diesem “Eliminationsspiel” (Sloterdijk) handelt es sich sowohl um die anschauliche Darstellung eines worst 36 Ann-Christin Focke case-Szenarios für die Zukunft als auch um die Zuspitzung aktueller Gesellschaftsstrukturen: Es ist kein Zufall, dass es bei Schlingensiefs Aktion um die Nachahmung eines Eliminationsspiels geht. Bezeichnenderweise bekommen wir diese Thematik von drei Seiten gleichzeitig vorgesetzt. Der augenblickliche Kultfilm heißt ‘Gladiator’ und spielt in Freiluft-Containern, in denen Unterhaltungsmassaker zelebriert werden. Zeitgleich wurde in Deutschland die ‘Big Brother’-Hysterie abgewickelt - ein pures Eliminationsspiel. In Holland und Belgien läuft die Fußball-Europameisterschaft - ebenfalls ein Eliminationsspiel. […] Sobald man die Siegerorientierung weglässt und den Eliminationsmechanismus als solchen beleuchtet, kann man beobachten, wie die Gesellschaft sich selbst an der Produktion von Verlieren beteiligt. 31 Eine weitere Charakterisierung beziehungsweise Kommentierung der durch die FPÖ postulierten Ordnung erfolgt durch zahlreiche Anspielungen auf die Zeit und das Gedankengut des Nationalsozialismus, eine Analogie, die in Äußerungen wie “Unsere Ehre heißt Treue” ja von der FPÖ selbst angelegt ist. So erscheint jeden Tag eine von nationalsozialistischer Rhetorik geprägte Lagerzeitung: “Mit deutscher Strenge und Ordnung wird er bis nächsten Samstag das Lager führen. […] Von Aufsehern konnten wir erfragen, dass die Ausländer täglich körperliche und geistige Ertüchtigung erhalten werden”. 32 Ursprünglich wollte Schlingensief dem Projekt sogar den Namen Erste europäische Konzentrationswoche geben, scheiterte damit jedoch am Widerstand von Festwochen-Intendant Luc Bondy. 33 Jenseits dieser anschaulichen Darstellung en miniature zielt die Schlingensiefsche Aktion außerdem auf der Rezeptionsebene darauf ab, die Artikulation latent in der Bevölkerung vorhandener Vorstellungen einer politischen Ordnung zu provozieren und diese dadurch anschaulich zu machen. So erfolgt die Enthüllung des “Ausländer raus”- Schriftzuges am ersten Abend unter dem “Jubel der Zuschauer”. 34 Ein Passant erklärt: “Der Türke und der Jugo, die übervölkern uns. Das ist bei uns ein Problem. […] Da kommen [sic! ] nicht die Intelligenz, der letzte Rest kommt da” (00: 32: 50). Wieder und wieder stellt Schlingensief die Situation außerdem als eine Bewährungsprobe für die Regierungskoalition dar: “Ich finde das sehr interessant. In Berlin wäre dieses Schild nach einer Stunde weg, in Frankreich nach zwei Stunden. Aber hier hängt es nach zweieinhalb Tagen noch immer”. 35 Hier erfolgt also gerade im Ausbleiben einer Reaktion eine Hervorhebung politischer Ordnungsstrukturen beziehungsweise eine Rückversicherung über den Realitätsbezug der Schlingensiefschen Zuspitzungen und Zukunftsszenarien. Doch mit seinem Container-Arrangement bezieht sich Schlingensief natürlich nicht nur auf ausländerpolitische Praktiken, sondern auch auf das zum damaligen Zeitpunkt omnipräsente mediale Phänomen Big Brother. Sowohl die Container selbst als auch die Kameraübertragung als auch die Möglichkeit zur Abwahl der Bewohner durch die Zuschauer sind eindeutige Verweise. Durch diese Doppeldeutigkeit des Containers werden politische und mediale Ordnungsstrukturen aufeinander bezogen - oder anders formuliert: Die Container verweisen auf den untrennbaren Zusammenhang von politischer und medialer Ordnung nicht nur in Österreich. Ähnliches gilt für die Kronen Zeitung. Deren Banner hängt direkt unter dem “Ausländer raus”-Schild und einer FPÖ-Fahne - zumindest solange, bis das Blatt gerichtlich seine Entfernung verfügt. Gegenüber Passanten präsentiert Schlingensief das Projekt als eine Aktion der FPÖ und der Kronen Zeitung - eine weitere Ineinssetzung von politischen und medialen Strukturen, die in diesem speziellen Fall wohl besonders zutreffend ist. Zum Verhältnis von Mensch und Ordnung 37 Mit einer Million Exemplaren bei einer Bevölkerung von 7,4 Millionen hat die Kronen Zeitung das weltweit größte Print-Monopol innerhalb eines Landes inne. “Im Hintergrund aller österreichischen Entwicklungen”, konstatiert der Kulturphilosoph Burghart Schmidt, “steht Dichand [der Herausgeber, A.-C. F.] mit der Krone” (00: 16: 20). Und auch jenseits von Big Brother- und Kronen Zeitungs-Bezügen ist der mediale Diskurs in Bitte liebt Österreich von Anfang an sowohl Thema als auch Material. Zum einen wird als integraler Bestandteil des Projektes ein eigener medialer Diskurs etabliert. So wird die Container-Anlage vor Ort ergänzt durch eine eigene Internetseite (www.auslaenderraus.at). Hier findet eine Live-Übertragung aus dem Inneren des Containers statt und hier kann die Bevölkerung jeden Tag zwei Asylbewerber aus dem Land wählen. Unter einer Rubrik mit dem Titel “Pranger” sind die Protokolle eines eigens eingerichteten “Österreich-Hilfstelefons für Ausländer” nachzulesen, bei dem Ausländer anrufen und “über ihre Misshandlungen eine Minute lang berichten” können. 36 Schließlich gibt das Projektteam eine eigene Neue Lager Zeitung heraus, die in ihrem Stil nationalsozialistische Rhetorik, vor allem aber auch die Boulevardpresse kolportiert. Zum anderen sind die Reaktionen der Presse von Anfang an in das Kalkül der Aktion einbezogen und werden deshalb auch als Teil des theatralen Ereignisses auf einer Pressewand vor den Containern dokumentiert. Weiter oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass Schlingensief in der Bevölkerung virulente Vorstellungen einer politischen Ordnung dadurch deutlich werden lässt, dass er ihre Artikulation durch sein Publikum provoziert. Ähnliches gilt auch für den Bereich der Medien. Indem insbesondere die Kronen Zeitung zu einer Reaktion animiert wird, werden mediale Ordnungsstrukturen vorgeführt. Sowohl die oben angesprochene Dominanz der Kronen Zeitung als auch die Argumentations- und Suggestions-, um nicht zu sagen Agitationsmuster der Boulevard- Presse insgesamt treten deutlich hervor: “Schlingensief stürmte Geschäft. ‘Es war wie ein Terrorüberfall! ’”, 37 wird da getitelt, oder: “245.000 Schilling Wochengage für Schlingensief. Container-Show kostet Millionen”. 38 Hinter medialen Phänomenen wie Big Brother oder der Kronen Zeitung verbirgt sich natürlich letzten Endes eine kapitalistische Wirtschaftsstruktur. Auch als solche fällt die mediale Ordnung in gewisser Weise mit der dargestellten politischen Ordnung zusammen, wird doch Ausländerfeindlichkeit heutzutage häufig als im weiteren Sinne wirtschaftlich bedingt verstanden. Dass die Ausgrenzung oder Offenheit gegenüber Fremden von marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten abhängt, wird innerhalb der Aktion explizit gemacht, wenn Schlingensief inmitten einer Beschreibung ausländerfeindlicher Aktionen plötzlich anmerkt: “Touristen sind okay, die bringen Geld, und sie werden nicht mehr von Homosexuellen, Drogenabhängigen, Schwarzen angefallen, damit ist nun Schluss” (00: 16: 51). Tatsächlich sind die entrüsteten Reaktionen auf Bitte liebt Österreich - sowohl auf Seiten der österreichischen Bevölkerung als auch auf Seiten von FPÖ-Politikern - zu einem Großteil von der Angst vor verschreckten Touristen geprägt. Der Schlingensiefschen Darstellung politischer Ordnungsstrukturen liegt also ein Verständnis politischer Ordnung zugrunde, das sich nicht auf den Bereich der staatlichen Institutionen beschränkt. Ich bin eingangs bereits auf den Machtbegriff Foucaults eingegangen, der Regierungsmacht und Gesetzgebung eher als Endformen der Macht begreift und demgegenüber die “Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren”, betont. 39 Einer solchen komplexen Situation spürt Bitte liebt Österreich auf den unterschiedlichsten Ebenen nach. Nicht die österreichische Regierung oder Staatsform wird von 38 Ann-Christin Focke Schlingensief thematisiert, auch nicht - zumindest nicht in erster Linie - die FPÖ. Stattdessen zeigt er in der Öffentlichkeit präsente Haltungen, den politischen Diskurs prägende Zielvorstellungen, die Medienlandschaft bestimmende Argumentations- und Suggestionsmuster; er unterstreicht den gesellschaftlichen und administrativen Umgang mit Asylbewerbern, aber auch die Regeln der freien Marktwirtschaft insgesamt. “Die Macht kommt von unten”, 40 schreibt Foucault, und: “Die Machtbeziehungen verhalten sich zu anderen Typen von Verhältnissen (ökonomischen Prozessen, Erkenntnisrelationen, sexuellen Beziehungen) nicht als etwas Äußeres, sondern sie sind ihnen immanent”. 41 Schlingensief zeigt Strukturen, die sich vom Unterhaltungsfernsehen über den Wohnungsmarkt und die Tourismusbranche durch die verschiedensten Bereiche des menschlichen Miteinanders ziehen, und die auf der Ebene der Herrschaftsordnung und der Politik im engeren Sinne lediglich eine institutionelle Kristallisation erfahren. Im Folgenden soll untersucht werden, welche Position dem Einzelnen innerhalb dieser vielfältigen und vielschichtigen Ordnungsstrukturen zukommt. “Ich bin endlich Bundeskanzler” - Der Einzelne in seinem Verhältnis zur Ordnung In der Schlingensiefschen Container-Anlage sind 12 Asylbewerber untergebracht. Geht man von der Quantität und Qualität der Präsenz aus, sind sie den oben skizzierten politischen und medialen Strukturen eindeutig untergeordnet. Im Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit steht die Container- Anlage samt Slogans und “Ausländer raus”- Banner, die Asylbewerber sind direkt nur zu sehen, wenn man in die Umzäunung hinein geht und durch einen Bretterzaun blickt, indirekt nur auf einem kleinen Monitor oder im Internet. Entsprechend beziehen sich auch nahezu sämtliche entrüstete Zuschauerreaktionen auf die Anlage und das Banner und nicht auf den Umgang mit den Insassen. Und so konnte es auch passieren, dass Demonstraten der allwöchentlichen Anti-FPÖ-Demonstrationen in einem symbolischen Akt das Banner herunterreißen wollten und erst dann bemerkten, dass in den Containern keine Schauspieler, sondern tatsächliche Asylbewerber saßen, denen sie mit ihrer Aktion Angst machten. Wenn die Container-Insassen zu sehen sind oder explizit auf sie Bezug genommen wird, dann kaum als Individuen, sondern lediglich als Elemente einer Gesamtkonstellation. Beim Einzug und bei der Abschiebung tragen sie größtenteils Perücken oder Kopftücher und Sonnenbrillen und verstecken ihre Gesichter hinter Zeitschriften. Ihre Fotos an den Außenzäunen sind mit schwarzen Balken unkenntlich gemacht. Frühsport und Deutschkurs auf dem Containerdach erfolgen jeweils im Kollektiv, man bewegt sich synchron und spricht im Chor. Häufig tragen alle identische T-Shirts. Selbst der Gewinner bekommt bei der Siegerehrung von Schlingensief einen Platz auf dem Containerdach zugewiesen, wird regelrecht herumgeschoben und kann - hinter Sonnenbrille und Perücke versteckt - nur stumm und verständnislos dastehen und alles über sich ergehen lassen (01: 27: 06). Nur ein einziges Mal kommen die Asylbewerber selbst zu Wort, und zwar im Rahmen einer zusammen mit Elfriede Jelinek erarbeiteten Kasperletheateraufführung, für die jeder die wenigen deutschen Sätze, die er kann, aufschreiben soll. Nur hier können sie ihre Empfindungen und Bedürfnisse artikulieren: “Ich lebe gern alles”, “Ich wollen nicht raus”, “Ich möchte Arbeitsbewilligung”. 42 Und nur hier ist ein Angriff auf die Macht, eine vorübergehende, karnevaleske Umkehrung der Herrschaftsverhältnisse möglich: “Ich bin Frau Magister Heidemarie Unterreiner [Kul- Zum Verhältnis von Mensch und Ordnung 39 tursprecherin der Wiener FPÖ, A.-C. F.]”, “Ich bin endlich Bundeskanzler”. 43 Der Karneval als Sprachrohr der Ungehörten hat eine lange Tradition. 44 Foucault berichtet über Hinrichtungen, bei denen verbale Ausschweifungen des Verurteilten unter dem Beifall des Volkes einem Vorgang, der eigentlich dazu bestimmt war, die Macht des Fürsten zu manifestieren, “etwas Karnevaleskes [gaben], das die Rollen vertauscht, die Gewalten verhöhnt und die Verbrecher heroisiert”. 45 Bezeichnend ist aber vor allem der Auftakt von Bitte liebt Österreich: Die Container- Anlage steht, Schlingensief hat der anwesenden Menschenmenge ihre räumliche Aufteilung und die Spielregeln bereits erläutert, dann erst nehmen die Asylbewerber ihren Platz in ihr ein. Sie werden in einem Bus herangefahren und auf Schlingensiefs Kommando einer nach dem anderen von Security- Kräften entlang durch Absperrungen vorgegebener Wege in den Container gebracht. Auch der Abstand zwischen den einzelnen Auftritten folgt einer klaren Struktur: “In welchem Rhythmus? “ (00: 06: 37), fragt die beteiligte Assistentin Schlingensief. Zusätzlich gibt eine Blaskapelle einen bestimmten Laufrhythmus vor, der tatsächlich sichtbar in die Bewegungen der Containerinsassen übergeht (00: 06: 57). Und auch die bei der Ankunft vorgegebene soziale Situation weist den Asylbewerbern einen eindeutigen Platz zu: Der schlimmste Moment war, glaub’ ich, für die Asylbewerber, als sie aus dem Bus ausgestiegen sind, durch diese johlende Menschenmenge von 500 Leuten gegangen sind, die 10 Kameras und die 30 Fotografen auf sich gerichtet sahen … (00: 05: 43), beschreibt der Produktionsdramaturg Matthias Lilienthal. Dass die Asylbewerber sich hier hilflos ausgeliefert fühlen, wird daran deutlich, dass sie die Köpfe senken und versuchen, ihre Gesichter hinter Zeitschriften zu verbergen. Vor allem aber werden sowohl die Asylbewerber als auch alle anderen an der Aktion Beteiligten immer wieder in ein Raster starrer Unterscheidungen und Kategorisierungen gepresst. Auch diese Kategorien sind bereits vor dem ersten Auftritt der Containerinsassen klar etabliert: “Heute Abend, in wenigen Minuten, werden hier Asylbewerber einziehen” (00: 04: 26), verkündet Schlingensief. Die Gegenkategorie des österreichischen Bürgers wird durch mehrfache Wiederholung bekräftigt: “Jeden Abend können Sie in Österreich, liebe Österreicher - ich spreche jetzt zu Ihnen …” (00: 04: 43). Kurz darauf wird die Staatsangehörigkeit als Identitätskategorie noch einmal betont: “liebe Japaner, liebe Franzosen, liebe Belgier, liebe Amerikaner, machen Sie Fotos” (00: 08: 18). Außerdem formuliert Schlingensief eine klare Dichotomie von Vertrautem und Fremdem, von Drinnen und Draußen, wenn er den Asylbewerbern “im Namen Europas” (00: 08: 06) alles Gute wünscht und dann das “Ausländer raus”-Banner enthüllen lässt. Schließlich verkündet er bei einer der Abschiebungen: “Wole aus Nigeria. Wieder ein Schwarzer, Österreich hat wieder einen Schwarzen raus gewählt, gestern auch einer, heute wieder ein Schwarzer, das ist doch ziemlich konsequent” (00: 45: 05). Und auch die Reaktionen der Passanten offenbaren immer wieder ein Denken in starren Kategorien von Nationalität und ethnischer Zugehörigkeit und in starren Dichotomien von Eigenem und Fremdem, von Österreichischem und Nicht-Österreichischem. Dies gilt für ausländerfeindliche und ausländerfreundliche Aussagen gleichermaßen. So hält ein Mann einem schwarzen Passanten vor: “So gut wie hier geht's keinem Afrikaner. […] Wenn ich nach Afrika gehen würde, wenn ich den Mund aufmachen würde, würde ich umgebracht” (01: 09: 59). Ein anderer Zuschauer ruft aufgebracht: “Welche Schweine haben das genehmigt? Ich bin Österreicher, aber ich bin für die Aus- 40 Ann-Christin Focke länder! Meine Frau ist eine Halb-Ausländerin! ” (00: 35: 08). Interessanterweise führt gerade der Versuch, den Vorwurf der Ausländerfeindlichkeit abzuwehren, zu einer besonderen Betonung der Identität als Österreicher. Jemand hält ein großes Schild hoch, auf dem steht: “Ich bin Österreicher und schäme mich für diese Aktion” (01: 16: 46), jemand anderes brüllt Schlingensief an: “In jedem anderen Land hätte man Sie verhaftet oder gleich hingerichtet. Da sehen Sie mal, was für ein Land Österreich wirklich ist” (01: 22: 54). Vor allem wird Schlingensief immer wieder vorgehalten, dass er sich als Deutscher nicht in österreichische Belange einmischen solle: Frau: Das, das ist Kunst? Das ist eine Verarschung von Österreich! Schlingensief: Hier sitzen doch die Faschisten. Hier wohnen doch die Nazis. Frau: Und in Deutschland nicht? Wer sitzt denn in Deutschland. Schlingensief: Ein Volk von Nazis. Älterer Herr: Wir haben noch keine Asylantenheime angezündet. […] Frau: Das sind unsere Probleme und nicht eure Probleme. Und da braucht ihr in Österreich das nicht daherstellen! (00: 37: 32) Ich habe bereits erwähnt, dass die ‘Figuren’ in Bitte liebt Österreich gegenüber der Ordnungsstruktur der Containeranlage wenig präsent sind und kaum individuell in Erscheinung treten. In den wenigen Momenten, in denen sie in ihrer Individualität jenseits der kollektiven Kategorie des Asylbewerbers zur Geltung kommen, erfolgt dies in Form einer Identitätszuschreibung durch die Ordnung. Dabei spielt zum einen die biographische Erfassung der Container-Insassen eine entscheidende Rolle. Die Biographien werden beim Einzug verlesen und sind zusätzlich an die Zäune plakatiert. Inwiefern Individualisierung gerade eine Form der umso intensiveren Normierung durch bestehende Ordnungsstrukturen sein kann, hat Foucault ausführlich herausgearbeitet - gerade auch anhand historischer Praktiken der Biographieschreibung. Er grenzt dabei zwei Modelle voneinander ab: Die Chronik eines Menschen, die Erzählung seines Lebens […] gehörten zu den Ritualen seiner Macht. Die Disziplinarprozeduren nun kehren dieses Verhältnis um […] und machen aus der Beschreibung ein Mittel der Kontrolle und eine Methode der Beherrschung. 46 Im Fall der Asylbewerber haben wir es eindeutig mit letzterem Modell zu tun. Ihre Erzählung liegt nicht in ihrer Hand, sondern wird durch die Ordnung vermittelt, um nicht zu sagen zugeschrieben, wobei das individuelle Moment der unterschiedlichen Lebensgeschichten in einen einheitlichen Rahmen gepresst ist. Schließlich macht vor allem die Tatsache, dass die Biographien offensichtlich nicht ganz mit den Insassen übereinstimmen, 47 die Zuschreibung deutlich. Als zweites Moment des individuellen Hervortretens spielt außerdem die allabendliche Abwahl und Abschiebung eines der Container-Insassen eine Rolle. Auch eine solche Anordnung nach Rängen oder Stufen wird von Foucault als Wechselspiel von Individualisierung und Normierung beschrieben. 48 Auch hierbei handelt es sich um eine von außen an den Einzelnen herangetragene Kategorisierung durch die Ordnungsstrukturen, in diesem Fall das TED-Telefonsystem. Die individuelle Hervorhebung besteht darin, dass ein von außen zugewiesener Prozentwert zum identitätsbestimmenden Merkmal erhoben wird. Die Hierarchisierung der individuellen Werte gibt dabei den Abstand eines jeden Einzelnen zum Ideal, zur Norm an - in diesem Fall zur Norm, bei der Gesamtheit der österreichischen Bevölkerung Gefallen zu finden. Dies gilt natürlich insbesondere für den Verlierer, bei dem der Prozentwert einer Klassifizierung als nicht Zum Verhältnis von Mensch und Ordnung 41 wert, in Österreich zu bleiben, als Grundlage dient. Doch auch der letztendliche Sieger ist Teil dieses selben Systems der Identitätszuweisung. Und auch ohne die Identitätszuschreibung per TED-Wahl haben wir es mit der Gefängnis-, vor allem aber mit der Big Brother- Situation der Schlingensiefschen Container- Anlage mit einer Individuen verfertigenden Ordnungsstruktur zu tun. Neben der biographischen Erfassung wird auch die hierarchische Überwachung von Foucault als ein Instrument dieser Verfertigung identifiziert. Er spricht von der “Einrichtung des zwingenden Blicks: eine Anlage, in der die Techniken des Sehens Machteffekte herbeiführen und in der umgekehrt die Zwangsmittel die Gezwungenen deutlich sichtbar machen”. 49 An anderer Stelle wird ergänzt, dass diese Überwachung imstande sein muss, “alles sichtbar zu machen, sich selber aber unsichtbar”. 50 Während Foucault innerhalb seines historischen Ansatzes vor allem architektonisch denkt, hat die Frage der absoluten Überwachung inzwischen durch mediale Phänomene wie Big Brother eine ganz neue Dimension erhalten. Nicht die Kontrolle, sondern vielmehr der voyeuristische Einblick ist hier das entscheidende Ziel. Der Effekt ist jedoch der gleiche: auch der voyeuristische Blick der Öffentlichkeit, selbst ohne direkte und explizite Sanktion in Form einer Abwahl, verändert den Beobachteten. Die ganzen Bemühungen der Big Brother-Maschinerie gelten der Produktion von Authentizität im Sinne einer absoluten Unberührtheit von der Präsenz des Beobachters: Das war einfach faszinierend. Man hat in sein normales Leben gucken können. […] die Bewohner im Haus waren schon sich [sic] selbst, sie waren zwar in einer inszenierten Welt, aber innerhalb dieser inszenierten Welt waren sie authentisch (00: 25: 10), schwärmt Rainer Laux, der Produzent der deutschen Big Brother-Sendung. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Selbst Stanislawski, der heute gerne als Kronzeuge für wahrhaftige Gefühle herhalten muss, räumt ein, dass “die Bedingungen des öffentlichen Schaffens” stets “eine Lüge enthalten”. Jedes Lächeln hat seine Unschuld verloren, wenn es für einen Beobachter geschieht. 51 Bedingt durch den Wunsch nach sozialer Anerkennung, sind die der Beobachtung Ausgesetzten in ihren Verhaltensweisen von dieser Beobachtung und damit von der gesellschaftlichen Ordnung insgesamt durchdrungen. Ihre Identität wird durch die Situation des Beobachtet-Werdens entscheidend mitkonstituiert. Laut Foucaults Analysen in Überwachen und Strafen wurde durch den Übergang vom reinen Verbot und von der rein körperlichen Strafe zur Arbeit an der Seele des Delinquenten durch Umerziehung und psychologisch-psychiatrische Behandlung die Kontrolle des Individuums subtiler und damit intensiver und umfassender. In ähnlicher Weise ist auch die vom Wunsch nach Anerkennung in einer Berühmtheit und Glamour verheißenden Mediengesellschaft gekennzeichnete Beobachtungssituation des Big Brother-Containers unter Umständen sogar stärker identitätskonstituierend als die eher mit einer gewissen inneren Abwehr des Betroffenen verbundene Überwachung im Gefängnis. Schließlich betrifft die Diagnose einer Vorgängigkeit der Ordnungs- und Diskursstrukturen gegenüber dem Individuum in Bitte liebt Österreich nicht nur die Asylbewerber. Ich habe bereits erwähnt, dass Schlingensief im Rahmen seiner Aktion einen eigenen medialen Diskurs schafft - er selbst spricht von einer “Medieninstallation” (00: 18: 37). FAZ-Kulturkorrespondent Mark Siemons bezeichnet in einem Beitrag über Bitte liebt Österreich mediale Strukturen als Drehbuch, das den Akteuren der Öffentlichkeit ihre Rollen zuweist und sie zugleich von der Einsicht fernhält, dass sie alle nur in einem Film mitspielen. 52 42 Ann-Christin Focke Jeder, der sich in irgendeiner Form zu der Containeranlage verhalten möchte, wird von der Aktion absorbiert und den Regeln ihres Diskurses unterworfen, bekommt von Schlingensief einen Platz in diesem Diskurs zugewiesen. Reaktionen von Passanten werden in die eigenen Aussagen integriert, etwa wenn ein offensichtlich geistig verwirrter alter Mann sagt, “Die werden alle hingerichtet”, und Schlingensief daraufhin per Megaphon verkündet: “Ja. Offizielle, öffentliche Hinrichtungen. Hier auf dem Platz, jeden Tag. Bis zu 20, 30 Ausländer hinrichten. Hier auf dem Platz. Platz der himmlischen Hinrichtung. Genau” (00: 17: 09). Auch emotionale Ausbrüche der Zuschauer wiederholt Schlingensief und ironisiert sie dabei durch einen übertrieben ernsthaft zustimmenden Gestus: Ältere Dame (sehr aufgebracht): Auf der ganzen Welt wird Krieg geführt und niemand macht was dagegen, und da regen sie sich wegen sowas auf. Bin ich denn verrückt? Schlingensief (mit Megaphon): Die Dame sagt, auf der ganzen Welt werden Kriege geführt, und da regt man sich hierdrüber auf, dass Ausländer abgeschoben werden. Das ist völlig richtig, ja, es gibt überall Kriege, und da nimmt man - lässt man hier einfach jemand abschieben, das ist wirklich in gar keiner Relation, ja, völlig richtig, absolut richtig … (00: 32: 16). Hinzu kommt hier sogar eine gewisse Sinnentstellung: Die Frau beklagt, dass man sich unverhältnismäßig über die Installation Schlingensiefs aufrege, während Schlingensief ihr unterstellt, eine unverhältnismäßige Aufregung über Abschiebungen zu kritisieren. Auch durch die Verweigerung einer Reaktion kann man sich solchen Fremddeutungen und Indienstnahmen nicht entziehen. So wird die Untätigkeit der FPÖ von Schlingensief wie bereits erwähnt als Nichtbestehen eines Tests gedeutet. Ganz abgesehen davon, dass Schlingensief im Rahmen seiner Aktion sowieso eine Situation erzeugt hat, in der man keine Stellung beziehen kann, ohne dabei die eigene Position zu demontieren: “Wer gegen die Entfernung des ‘Ausländer raus’ war, sprach sich scheinbar für dessen Inhalt aus; wer es entfernen wollte, gegen die Freiheit der Kunst”. 53 In diesem double bind sieht sich die FPÖ gefangen, aber auch jeder einzelne entsetzte oder begeisterte Zuschauer - und vor allem die Anti-FPÖ-Demonstranten, die am fünften Tag das Banner herunterreißen und die Asylbewerber befreien. In der Presse ernten sie dafür entweder ein müdes Lächeln oder harsche Kritik: “Es geht hier viel grundsätzlicher um Widerstand, als sich die gutwilligen Widerständler der Donnerstags-Demos träumen lassen”, 54 urteilt Mark Siemons. “Sie wollten an einem besseren Österreichbild mitwirken und haben sich dadurch in einer gewissen Weise auf das Niveau der Kronen Zeitung begeben, der es ja auch um nichts anderes gegangen ist” (AR 00: 56: 04), konstatiert Armin Thurnher. Ähnlich Uwe Mattheiss in der Süddeutschen Zeitung: “Die österreichische Opposition muss nun endlich klären, ob es ihr um die Demokratie geht oder um die Wiederherstellung der Identifikation mit dem nationalen Kollektiv”. 55 Die Möglichkeit eines Ausstiegs aus dem ‘Drehbuch der Öffentlichkeit’ ist also nirgends zu erkennen. Dabei klingt die Drehbuchbeziehungsweise Filmmetapher Siemons auch im Rahmen der Aktion selbst wiederholt an, etwa wenn Schlingensief in sein Megaphon ruft: “Das ist hier die Nazifilmfabrik, die hier eröffnet wurde. Hier werden die Bilder produziert, die Europa gerne hat” (00: 15: 16). Wir können also zunächst festhalten, dass wir es in Bitte liebt Österreich nicht mit Individuen zu tun haben, die - sei es kritisch oder postulierend - von einer Gesellschaftsordnung sprechen und diese damit als grundsätzlich von ihnen gestaltbare präsentieren, sondern dass hier vielmehr eine Ordnung dargestellt wird, die im Foucaultschen Sinne dem Zugriff und vielleicht sogar dem Bewusstsein Zum Verhältnis von Mensch und Ordnung 43 des Einzelnen entzogen beziehungsweise vorgelagert ist und diesem eine Identität kategorisch zuweist. Im Rahmen eines solchen Denkens muss die Frage, welche politische Ordnung ‘dem Menschen’ gerecht wird (beziehungsweise: eher gerecht werden könnte), entfallen. Stattdessen wird das Verhältnis von Mensch und ihm vorgängiger (politischer) Ordnung von Foucault grundsätzlich als das einer Unterwerfung bewertet. Dabei bedient er sich des Gefängnisses als historischem Analyseobjekt. Es handelt sich dabei jedoch nur um die extremste Manifestation der für die modernen Gesellschaften als ganze grundlegenden Strukturen. Auch Christoph Schlingensief wählt das Bild des Gefängnisses beziehungsweise Lagers, um das von ihm dargestellte Verhältnis von Mensch und Ordnung prägnant als das einer Unterwerfung zu charakterisieren. In geradezu frappierender Weise spielen dabei ähnliche Merkmale und Mechanismen eine Rolle wie in den historischen Analysen Foucaults. Dies werde ich im Folgenden herausarbeiten. Dabei darf jedoch auch hier nicht übersehen werden, dass das Gefängnis beziehungsweise Lager bei Schlingensief als Bild für eine grundsätzlichere gesellschaftliche Disposition zu verstehen ist. Indem verschiedene gesellschaftliche Bereiche explizit mit dem Bild des Gefängnisses beziehungsweise Lagers in Verbindung gebracht werden, kommentiert Schlingensief deren Unterwerfungscharakter. Doch zunächst zum Bild des Gefängnisses und den darin enthaltenen Unterwerfungsmechanismen selbst. Die “Methoden, welche die peinliche Kontrolle der Körpertätigkeiten und die dauerhafte Unterwerfung ihrer Kräfte ermöglichen”, nennt Foucault “Disziplinen”. 56 Dabei ist die erste große Operation der Disziplin die Errichtung von “lebenden Tableaus”, 57 die Verteilung der Individuen im Raum. Sie vollzieht sich unter anderem durch die “Klausur, die bauliche Abschließung eines Ortes von allen anderen Orten”. 58 Dass dies auch ein Prinzip von Bitte liebt Österreich ist, ist wohl unmittelbar einleuchtend. Die Asylbewerber werden durch Zäune und patrouillierende Security-Kräfte vom Rest der Bevölkerung separiert. Bei Schlingensief erfolgt dies an exponierter Stelle, direkt vor der Wiener Oper, er bezieht sich dabei jedoch auf eine gesellschaftliche beziehungsweise administrative Praktik, die üblicherweise vor allem mit einer geographischen Abschließung verbunden ist. Asylbewerber- und Asylantenheime werden an die Ränder der Städte oder in bestimmte Viertel verbannt. In der Kontrolle der Tätigkeit durch Zeitplanung sieht Foucault eine weitere disziplinierende Operation. Auch der Tagesablauf der Container-Insassen ist streng reglementiert, das Programm wird jeweils per Plakat vor den Containern, per Lagerzeitung und im Internet bekanntgegeben. Dabei ist insbesondere der Frühsport eine Tätigkeit, die in sich noch einmal “zeitlich durchgearbeitet” ist. 59 Die Teilnehmer absolvieren ein vorgegebenes Programm, bewegen sich in einem vorgegebenen Rhythmus: “Die Zeit durchdringt den Körper und mit der Zeit durchsetzen ihn alle minutiösen Kontrollen der Macht”. 60 In engem Zusammenhang mit der baulichen Abschließung steht bei Foucault schließlich auch das Instrument der hierarchischen Überwachung. Auch diese ist in der Container-Anlage gegeben. Ritzen in einer Bretterwand, durch die die Passanten in den Wohnraum hinein blicken können, ohne selbst gesehen zu werden, gewährleisten eine Unterwerfung durch Ausstellung, durch die Einseitigkeit der Blickrichtung wird ein Machtgefälle hergestellt. Selbst in Situationen, in denen die Asylbewerber die Zuschauer sehen können - etwa beim Deutschunterricht oder Frühsport auf dem Containerdach oder beim Einzug in den Container -, bleibt durch die Unterzahl der Container-Insassen und die Lenkung des Blickes der Menschenmenge diese Konstellation erhalten. 44 Ann-Christin Focke Gleichzeitig ist damit die Kommentierung anderer gesellschaftlicher Bereiche, allen voran der medialen Ordnung, durch das Bild des Gefängnisses bereits angeklungen. Denn die hierarchische Überwachung im Gefängnis beziehungsweise Lager wird in Bitte liebt Österreich bildhaft verknüpft mit der Überwachung im Rahmen der Big Brother-Situation. So überlagern die beiden Situationen sich nicht nur räumlich. Vor allem fällt der Mechanismus der Abwahl der Containerinsassen mit dem Mechanismus der Abschiebung von Asylbewerbern in eins. Die Big Brother-Situation in ihrer Darstellung durch Schlingensief erinnert damit stark an Foucaults Beobachtung, dass der Mensch an seiner eigenen Unterwerfung mitarbeitet und diese Unterwerfung besonders dort zu beobachten ist, wo es um die vermeintliche Selbstentfaltung des Menschen geht. 61 Im Rahmen meiner Ausführungen zum Begriff der Authentizität ist dies bereits angeklungen. Vermeintliches Ziel von Big Brother-Produzenten und -Zuschauern ist es, den ‘wahren’ Menschen in seiner unverfälschten Individualität zu erleben - “Zeig mir dein Gesicht, dein wahres Gesicht”, heißt es im Titelsong der zweiten Staffel. Aber auch die Container-Insassen selbst hoffen, durch ihre umfassende Präsenz und deren millionenfache Rezeption ihrer Identität und Individualität besondere Geltung verschaffen zu können. So heißt es in einer auf Interviews mit den ehemaligen Big Brother-Teilnehmern basierenden Studie: Für eine Vielzahl der Befragten stellte allein die Möglichkeit, durch “Big Brother” Fernsehpräsenz zu erlangen, eine starke Motivation dar. Diese Teilnehmer beschreiben einen “Prestigegewinn”, der allein aus ihrer medialen Anwesenheit resultiert. 62 Sie wollen als ‘Stars’ wahrgenommen werden - als Menschen, bei denen häufig implizit davon ausgegangen wird, dass sie über besondere Autorität und Autonomie, über einen in irgendeiner Weise über gesellschaftliche Strukturen erhabenen Status verfügen und deshalb zu einer weiter reichenden Selbstentfaltung in der Lage sind als der Durchschnittsbürger. Indem Schlingensief die vermeintlichen Stars jedoch mit den in Lager gepferchten Asylbewerbern in eins setzt, kehrt er deren Abhängigkeit von - um nicht zu sagen Gefangenschaft in - den Strukturen der Medien und der Öffentlichkeit hervor. Und so wie das Bild des Asylbewerberlagers die Situation der Big Brother-Teilnehmer kommentiert, so erhellt umgekehrt der Mechanismus der Ab- und Auswahl die Strukturen von Asylpolitik. An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf Sloterdijks Begriff des Eliminationsspiels zurück kommen: Jenseits des verliererorientierten Zugangs liegt die Radikalität der Aktion Schlingensiefs vor allem auch darin - und Sloterdijk deutet es mit der Wahl seiner Beispiele (Gladiator- Film, Big Brother und Fußball-EM) implizit bereits an -, dass die Kategorien des Siegers und des Verlierers aus der Sphäre der Unterhaltung in die der Asylpolitik übertragen werden. Während der konstitutive Zusammenhang von Sieg und Niederlage in spielerischen Zusammenhängen weitestgehend anerkannt wird, ist der politische Diskurs der westlichen Demokratien auf den ersten Blick von der Annahme der Gleichheit und Würde aller Menschen getragen. Giorgio Agamben hat jedoch darauf hingewiesen, dass diese vermeintliche Gleichheit und die damit verbundene Ausstattung mit Grundrechten tatsächlich auf über das Prinzip der Nation vermittelten Ein- und Ausschlussmechanismen beruht: Schon die Erklärung der Menschenrechte von 1789 präsentiert zwar das reine Faktum der Geburt, das natürliche nackte Leben, als Quelle und Träger des Rechts, jedoch nur, um es sogleich in der Figur des Bürgers verschwinden zu lassen, in der sich die Rechte des Menschen ‘bewahrt’ finden sollen: “le but de toute association politique est la conservation des droits Zum Verhältnis von Mensch und Ordnung 45 naturels et imprescriptibles de l’homme”. 63 Gleichzeitig entstehen jedoch bereits während der Revolution normative Anordnungen, die präzisieren sollen, “welcher Mensch nun Bürger sei und welcher nicht”. 64 Die Ausweisung von Asylbewerbern per TED-Telefonabstimmung spitzt diese Zusammenhänge prägnant zu. Sie macht deutlich, dass die Zugehörigkeit einer Person zu einer Nation auf dem Ausschluss einer großen Zahl anderer Personen beruht. Und sie entlarvt damit die Ausstattung vermeintlich gleicher Menschen mit Grundrechten als Ergebnis politischer Entscheidungs- und Unterscheidungsprozesse. Kurz: Sie zeigt die existentielle Unterwerfung des Menschen unter politische Ordnungsstrukturen und entlarvt die umgekehrte Vorstellung einer Ordnung ausgehend von naturgegebenen menschlichen Grundrechten als Illusion. Ausblick An den Befund eines gegenüber dem traditionellen politischen Theater veränderten Verhältnisses von Mensch und Ordnung in Bitte liebt Österreich schließen sich zwei Fragen an. Zum einen wäre zu untersuchen, inwieweit jenseits der kritischen Darstellung von unterwerfenden Strukturen auch von einer emanzipatorischen Stoßrichtung der Aktion Schlingensiefs gesprochen werden kann. Oder grundsätzlicher formuliert: Wie könnte die emanzipatorische Dimension des politischen Theaters im Rahmen des herausgearbeiteten neuen Paradigmas aussehen? So unterstreicht Schlingensief beispielsweise einerseits die Dominanz und Alternativlosigkeit bestehender Diskurse dadurch, dass er auch Widerstand sehr explizit als Ergebnis einer Zuschreibung darstellt, wenn er Passanten mit den Worten anspricht: “Sie sind ab sofort Widerstandskämpferin! Wir haben jetzt 18.32 Uhr. Ich ernenne Sie hiermit offiziell zur Widerstandskämpferin” (00: 18: 56). Gleichzeitig wird jedoch die theatrale Ordnung der Repräsentation - ebenfalls eine Art ‘Drehbuch der Öffentlichkeit’, durch das eine ganz bestimmte Wirklichkeit erst konstituiert wird - aufgelöst, indem immer wieder verunklart wird, ob man es gerade mit Theater zu tun hat oder nicht. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Asylbewerber: “Es sind in diesem Moment natürlich Schauspieler, und natürlich ist alles wahr”, 65 stiftet Schlingensief beim Einzug in den Container bewusst Verwirrung. Ausgehend von der spezifischen Konzeption von Widerstand im Rahmen des Foucaultschen Denkens und ausgehend vom emanzipatorischen Potential des Lyotardschen Konzepts einer affirmativen Ästhetik, gälte es, derartige Ansätze systematisch zu erhellen. Zum anderen habe ich bereits mehrfach erwähnt, dass im traditionellen politischen Theater abstrakte Entwürfe und Ideen in der Regel dadurch konkretisiert und sinnlichästhetisch erfahrbar gemacht werden, dass sie durch einzelne Figuren postuliert werden und dann mit deren Identität und Individualität in Konflikt geraten. Dem liegt ein Verständnis des Menschen als Subjekt der Ordnung zugrunde, als solches kann er von der Ordnung sprechen, mehr oder weniger erfolgreich an ihr arbeiten und dabei im Konkreten auf das große Ganze verweisen. In Bitte liebt Österreich hingegen haben wir es mit Ordnungsstrukturen zu tun, die dem Zugriff und vielleicht sogar dem Bewusstsein des Einzelnen entzogen beziehungsweise vorgelagert sind, ihn unterwerfen und absorbieren. Dementsprechend kommt die Ordnung selbst zur Darstellung, ihre Strukturen sind unmittelbar auf der ‘Bühne’ präsent und nicht durch die Bühnenpräsenz beziehungsweise durch das Bewusstsein einer Figur vermittelt. In Schillers Don Carlos spricht Marquis Posa von verbrannten menschlichen Gebeinen in Flandern und Brabant und von einer Gesellschaft, in der Gedankenfreiheit herrscht, hier steht der 46 Ann-Christin Focke Großinquisitor für eine repressive Ordnung, deren Strukturen ansonsten nicht unmittelbar zu erfassen sind. In Bitte liebt Österreich hingegen sieht der Zuschauer die Mechanismen der Ausgrenzung und der Überwachung selbst am Werk - zwar im Kleinen, aber doch als in sich geschlossenes System. Dabei ist die Zuspitzung natürlich ein entscheidendes Mittel der Konkretisierung - hier möchte ich noch einmal auf den eingangs erläuterten Begriff der affirmativen Ästhetik verweisen. Dort, wo Ordnungsstrukturen jenseits ihrer unmittelbaren Präsenz zur Geltung kommen, geschieht dies häufig ebenfalls quasi an den ‘Figuren’ vorbei. Hier ist das ästhetische Mittel des Zitats einzuordnen, sei es das wörtliche (FPÖ-Slogans) oder das bildhafte (Container). Es verweist unmittelbar auf eine gesellschaftliche Realität und es tut dies allein durch seine Zeichenhaftigkeit. Nicht ein Subjekt spricht und bedient sich dabei eines Zeichens, vielmehr spricht das Zeichen selbst durch seinen Bezug zu anderen Zeichen. Entscheidend ist dabei außerdem, dass die dargestellten Ordnungsstrukturen in eine Interaktion mit realen Ordnungsstrukturen treten. Dies betrifft insbesondere die mediale Dimension von Bitte liebt Österreich. Ich kann hierauf an dieser Stelle nicht mehr ausführlicher eingehen, möchte abschließend jedoch zumindest erwähnen, dass die Frage nach den neuen Strategien der ästhetischen Vermittlung abstrakter Ordnungsstrukturen weiterer Beachtung bedürfte. Denn an dieser Stelle zeigt sich ganz deutlich, in welchem Ausmaß Fragen des Verhältnisses von Mensch und Ordnung im politischen Theater auch ästhetische Fragen sind und umgekehrt. Anmerkungen 1 Zum Prinzip der Negation im traditionellen politischen Theater vgl. Achim Geisenhanslüke, “Schreie und Flüstern: René Pollesch und das politische Theater in der Postmoderne”, in: Ingrid Gilcher-Holtey/ Dorothea Kraus/ Franziska Schössler (Hg.), Politisches Theater nach 1968. Regie, Dramatik und Organisation, Frankfurt/ M./ New York 2006, S. 254-255. 2 Jean-François Lyotard, Essays zu einer affirmativen Ästhetik, Berlin 1982, S. 20-21. 3 Lyotard, Essays, S. 21. 4 Geisenhanslüke, “Pollesch”, S. 255. 5 Siegfried Melchinger, Geschichte des politischen Theaters, Velbert 1971, S. 414. 6 Friedrich Schiller, “Briefe über Don Karlos”, in: Herbert Meyer (Hg.), Schillers Werke. Nationalausgabe. Zweiundzwanzigster Band. Vermischte Schriften, Weimar 1958, S. 168. 7 Diedrich Diederichsen, “Das Gespenst der Freiheit”, in: Matthias Lilienthal/ Claus Philipp (Hg.), Schlingensiefs Ausländer raus. Bitte liebt Österreich, Frankfurt/ M. 2000, S. 185. 8 Es ist dies der ursprüngliche Titel der Aktion. Die zugehörige Web-Adresse lautete “www.auslaender-raus.at”, außerdem nahm ein Banner mit der Aufschrift “Ausländer raus” eine zentrale Stellung ein. In der Folge war von dem Projekt häufig unter diesem Titel die Rede. Ich werde bei meinen Ausführungen jedoch den Kurztitel Bitte liebt Österreich verwenden. 9 Otfried Höffe, Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat, Frankfurt/ M. 1989, S. 219. 10 Höffe, Gerechtigkeit, S. 28. 11 Höffe, Gerechtigkeit, S. 381. 12 Höffe, Gerechtigkeit, S. 381. 13 Friedrich Schiller, Dom Karlos. Infant von Spanien. Leipzig 1787, hg. v. Joseph Kiermeier- Debre, München 1998, S. 229. 14 U.a.: Wolfgang Wittkowski, “Höfische Intrige für die gute Sache. Marquis Posa und Octavio Piccolomini”, in: Achim Aurnhammer u.a. (Hg.), Schiller und die höfische Welt, Tübingen 1990, S. 378-397; Stephanie Editha Kufner, Nur einen Menschen braucht dies Amt. Zum politischen Helden in Schillers Don Karlos, Albany 1992. 15 Auch diese Dramen sind unter dem skizzierten Aspekt gut erforscht, z.B. Michael Hofmann, “Das Drama des Verrats: Geschichtlicher Auftrag und Eigensinn des Einzelnen bei Zum Verhältnis von Mensch und Ordnung 47 Heiner Müller und Georg Büchner”, in: Weimarer Beiträge: Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften 46: 1 (2000), S. 89-104. 16 Vgl. etwa Dirk Jörke, Politische Anthropologie. Eine Einführung, Wiesbaden 2005. 17 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/ M. 1978, S. 373. 18 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/ M. 1977, S. 17. 19 Foucault, Überwachen, S. 25. 20 Foucault, Überwachen, S. 181. 21 Foucault, Überwachen, S. 42. 22 Foucault, Überwachen, S. 181. 23 Foucault, Überwachen, S. 42. 24 Foucault, Überwachen, S. 37-38. 25 Foucault, Überwachen, S. 37. 26 Von der Freundschaft als Lebensweise. Michel Foucault im Gespräch, übers. von M. Karbe und W. Seitter, Berlin 1984, S. 92-93. 27 Foucault, Überwachen, 39. 28 Georg Kohler, “Ordnung und Lebendigkeit. Michel Foucaults kritische Theorie des ‘zoon politikon’”, in: Otfried Höffe (Hg.), Der Mensch - ein politisches Tier? Essays zur politischen Anthropologie, Stuttgart 1992, S. 180. 29 Paul Poet, Ausländer raus. Schlingensiefs Container, Bonus Film, BRD 2002. DVD: Monitorpop Entertainment 2005, 90 min. 00: 13: 00. Im Folgenden werde ich die Minutenangaben in Klammern dem Zitat hintanstellen. 30 Lilienthal, Ausländer, S. 99. 31 “Bürgerkrieg im Organismus. Peter Sloterdijk im Gespräch mit Christoph Schlingensief”, in: Lilienthal, S. 230. 32 Lilienthal, Ausländer, S. 65. 33 Lilienthal, Ausländer, S. 12. 34 Lilienthal, Ausländer, S. 114-115. 35 Lilienthal, Ausländer, S. 106. 36 Lilienthal, Ausländer, S. 27. 37 Lilienthal, Ausländer, S. 6-7. 38 Lilienthal, Ausländer, S. 133. 39 Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/ M. 1983, S. 93. 40 Foucault, Wille, S. 95. 41 Foucault, Wille, S. 94. 42 Lilienthal, Ausländer, S. 152. 43 Lilienthal, Ausländer, S. 151. 44 Vgl. Michail M. Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, München 1969. 45 Foucault, Überwachen, S. 79. 46 Foucault, Überwachen, S. 246-247. 47 Lilienthal, Ausländer, S. 131-132. 48 Foucault, Überwachen, S. 234-238. 49 Foucault, Überwachen, S. 221. 50 Foucault, Überwachen, S. 275. 51 Jens Roselt, “Big Brother: Zur Theatralität eines Fernsehereignisses”, in: Lilienthal, Ausländer, S. 76. 52 Mark Siemons, “Der Augenblick, in dem sich das Reale zeigt. Über Selbstprovokation und die Leere”, in: Lilienthal, Ausländer, S. 127. 53 Armin Thurnher, “Das Bild Österreichs muss wieder sauber werden”, in: Lilienthal, Ausländer, S. 57. 54 Siemons, “Selbstprovokation”, S. 127. 55 Zit. in: Thurnher, “Österreich”, S. 58. 56 Foucault, Überwachen, S. 175. 57 Foucault, Überwachen, S. 190. 58 Foucault, Überwachen, S. 181. 59 Foucault, Überwachen, S. 194. 60 Foucault, Überwachen, S. 195. 61 Foucault, Wille, S. 153. 62 Alexandra Dolff/ Susanne Keuneke, “Das subjektive Erleben der ‘Big Brother’-Kandidaten. Die Herausforderung ist die Zeit danach”, in: Karin Böhme-Dürr/ Thomas Sudholt (Hg.): Hundert Tage Aufmerksamkeit. Das Zusammenspiel von Medien, Menschen und Märkten bei “Big Brother”, Konstanz 2001, S. 190. 63 Zit. in: Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/ M. 2002, S. 136. 64 Agamben, Homo Sacer, S. 139. 65 Lilienthal, Ausländer, S. 112-113.