Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
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2009
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BalmeDie Ethik des Botenberichts (in Antike und Gegenwart)
1201
2009
Katharina Pewny
Der Aufsatz “Die Ethik des Botenberichts (in Antike und Gegenwart)” behandelt die Dramaturgie des Botenberichts in aktuellen Aufführungen der internationalen Theater- und Performancekunst. Den antiken Tragödien gemäß, wird der Botenbericht darin eingesetzt, um Leiden, das auf der Bühne nicht dargestellt wird, ästhetisch zu fassen. Der Bogen der Untersuchung wird vom deutschen Sprachraum über den Libanon und Argentinien gespannt. Als theoretische Folie hierzu dient Emmanuel Lévinas’ Ethik, die die Theatersituation als Begegnung mit dem Anderen fassbar macht. Die Überlegungen führen die rezenten theaterwissenschaftlichen Debatten zur Aufführung als gemeinschaftlicher Situation und zur Wiederkehr des Chores in der zeitgenössischen Theaterkunst weiter. Auch reflektieren sie die Ethik und Ästhetik des Botenberichts als künstlerische Entwicklung, die auf das Theater der Partizipation folgt, und (wieder) professionelle Schauspieler und Schauspielerinnen erfordert.
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Die Ethik des Botenberichts (in Antike und Gegenwart) Katharina Pewny (Gent) Der Aufsatz “Die Ethik des Botenberichts (in Antike und Gegenwart)” behandelt die Dramaturgie des Botenberichts in aktuellen Aufführungen der internationalen Theater- und Performancekunst. Den antiken Tragödien gemäß, wird der Botenbericht darin eingesetzt, um Leiden, das auf der Bühne nicht dargestellt wird, ästhetisch zu fassen. Der Bogen der Untersuchung wird vom deutschen Sprachraum über den Libanon und Argentinien gespannt. Als theoretische Folie hierzu dient Emmanuel Lévinas’ Ethik, die die Theatersituation als Begegnung mit dem Anderen fassbar macht. Die Überlegungen führen die rezenten theaterwissenschaftlichen Debatten zur Aufführung als gemeinschaftlicher Situation und zur Wiederkehr des Chores in der zeitgenössischen Theaterkunst weiter. Auch reflektieren sie die Ethik und Ästhetik des Botenberichts als künstlerische Entwicklung, die auf das Theater der Partizipation folgt, und (wieder) professionelle Schauspieler und Schauspielerinnen erfordert. Der Botenbericht ist ein dramaturgisches Stilmittel des antiken Tragödientheaters. Auf der Szene der Tragödie erzählten Boten von tragischen Ereignissen, die die Handlung vorantrieben. Darin erschien das Berichten bereits stellenweise als Handlung, die angesichts kriegerischer Auseinandersetzungen und gewaltsamer Tode ethische Aspekte aufweist. Expliziter noch wird die Ethik des Botenberichtes im internationalen (postdramatischen) Gegenwartstheater und in der Performancekunst sichtbar, da die Prekarität des Lebens, und das Sterben, hier zur Erscheinung kommen. Botenberichte bieten dem Anderen (im Sinne des Getöteten, Verstorbenen) gleichermaßen eine Bühne, ohne ihn (oder sie) schauspielerisch zu verkörpern. Behauptet wird in den folgenden Ausführungen weniger eine Kontinuität so unterschiedlicher Theaterformen wie der antiken Tragödien und des postdramatischen Gegenwartstheaters, vielmehr dienen die antiken Botenberichte als Folien, auf deren Grundlage sich Spezifika des Zweiteren zeigen. Das ist die ästhetische Gestaltung der Ethik szenischer Erzählungen vom außerszenischen Töten und Sterben. Gestalteten Spielarten des Theaters der Partizipation (wie beispielsweise Christoph Schlingensief und Rimini Protokoll) die Abkehr vom Theater der Repräsentation im Zeitalter der Postdramatik, so ist die Dramaturgie des Botenberichts eine weitere Antwort auf das Unbehagen und die ästhetischen Grenzen der expliziten Darstellung des Mordens und Sterbens. Die Preisverleihung des renommierten Mühlheimer Dramatikerpreises seit 2007 zeigt die Bandbreite dieser künstlerischen Strategien exemplarisch: Gewann im Jahr 2007 Rimini Protokolls: Karl Marx, das Kapital, erster Band, eine Spielart des partizipativen Theaters, so wurden in den Folgejahren 2008 und 2009 mit Dea Lohers Das letzte Feuer und Elfriede Jelineks Rechnitz (Der Würgeengel) zwei Theatertexte ausgezeichnet, die die Dramaturgie des Botenberichts gleichsam rund um gewaltvolle Tode (durch Unfälle, Kriege oder Massaker) winden. Mit dem Botenbericht erhält im Übrigen das dramatische Schreiben einer singulären Autorin (eines Autors), die in Rimini Protokolls kollektiven Textherstellungsverfahren keinen Ort hat, erneut einen Platz in der Forum Modernes Theater, Bd. 24/ 2 (2009), 151-165. Gunter Narr Verlag Tübingen 152 Katharina Pewny Theateröffentlichkeit des deutschen Sprachraums. Narrative Passagen in zeitgenössischen Theatertexten, Inszenierungen und Performances, die an die Botenberichte der antiken Tragödien erinnern, sind jedoch kein ausschließlich deutschsprachiges Phänomen. Über den deutschen Sprachraum hinaus sind sie international und interkontinental in Performances und in Theatertexten präsent, wie die Beispiele aus dem Libanon, aus Kanada und aus Argentinien zeigen, die schlussendlich angeführt werden. Ich erläutere Ethiken des Botenberichts im Folgenden erstens anhand der Botenberichte in Euripides’ Bakchen und in Sophokles’ Antigone. Zweitens bespreche ich die Tanzaufführung Eurydikes Schrei des Studio Oyunkulari (2009) und Elfriede Jelineks Theatertext Rechnitz (Der Würgeengel) (2008). Die theoretische Folie hierfür ist Emmanuel Lévinas’ Philosophie der “Spur des Anderen”, die ich drittens ausführe. Viertens zeige ich die Medialität des Botenberichts als Ethik der Diskursproduktion über Migration und die Grenzen Europas in Margareth Obexers Theatertext Das Geisterschiff (2005), um anschließend das Reale als Spur des Anderen in Rabih Mroués Videoperformance Looking for a missing employee und in Dea Lohers Theatertext Das letzte Feuer (2008) zu reflektieren. Schlußendlich wird der Botenbericht als familiäres Erbe in Wajdi Mouawads Verbrennungen (2007) und in Lola Arias’ Performance Mi vida despues (Mein Leben danach) (2008) gezeigt. Das Gewicht liegt hierbei auf den Analysen von Rechnitz (Der Würgeengel) und Looking for a missing employee, die anderen Texte und Aufführungen ergänzen und kontrastieren diese beiden. Sie alle sind aus der Auseinandersetzung mit schwierigen politischen Gegenwarten entstanden. Diese sollen mit dem vorliegenden Artikel weder gleichgesetzt werden, noch soll dabei dem Holocaust eine Mythisierung im Sinne des “einzigen Undarstellbaren” verliehen werden. 1 Daraus ergibt sich die Frage nach der Ethik einer theaterwissenschaftlichen Auseinandersetzung, die sich schon aus fachgeschichtlichen Gründen in Deutschland und in Österreich innerhalb der Genealogie der Väter und Täter befindet, sie wird abschließend formuliert. Intendiert ist - in der Klammer des Botenberichts - eine Diskussion ästhetischer Strategien eines Gegenwartstheaters, dessen Macher (und Macherinnen) sich auf unterschiedliche politische Ereignisse beziehen. Der Botenbericht als unverbrüchliche Realität (bei Euripides und Sophokles) Das dramaturgische Stilmittel des Botenberichts entstammt den antiken Tragödien. Während die Protagonisten und der Chor Dialoge führen oder Monologe halten, ist der Botenbericht eine epische, also eine narrative Form. 2 Er ist entstehungsgeschichtlich mit dem dialogischen Prinzip im Tragödientheater verknüpft, war der zweite Schauspieler doch nicht primär ein Dialogpartner, sondern der Sprecher des Botenberichts. 3 Boten künden in den Tragödien meist von kathastrophischen Ereignissen wie Morden, Selbstmorden oder dem Ausgang von Schlachten. Sie sind einerseits erzählend, andererseits wird die Einführung des Boten als zweitem Schauspieler auch als Schritt in Richtung dialogischer Elemente gedeutet. 4 Einen berühmten Botenbericht hat Euripides, der jüngste der drei überlieferten Tragödiendichter der Antike, in seinen Bakchen verfasst. 5 Der Gott Dionysos, der im Mittelpunkt der Bakchen steht, und die Kulthandlungen zu seinen Ehren sind eng mit der Aufführungspraxis der Tragödien bei den Großen Dionysien verbunden. 6 Sie sind ein Echo der kultisch-rituellen Praxis des Theaters, die wesentlich im Tanz und in der Musik fußt, dies wird in den Bakchen selbst durch Flöten- und Trommelspiel sowie durch tänzerische Passagen des Chores gezeigt. 7 Auch die Stellung des Boten in dieser Tragödie ist eine Die Ethik des Botenberichts 153 metatheatrale Reflexion, denn der Bote ist der einzige, der das Treiben der Mänaden beobachten kann, und somit der einzige Zuschauer des tödlichen Spektakels. Diesen Zuschauerstatus zu erhalten, gelingt König Pentheus nicht, er wird in seinem Versteck in der Baumkrone entdeckt und (rituell) getötet. Der Bote berichtet in den Bakchen, wie König Pentheus erst in einer Baumkrone versteckt die Rituale der Dionysos-Anbeterinnen beobachtet und dann von diesen entdeckt und zerrissen wird. Er ist der einzige, der bei dem Mord zugegen war und davon erzählen kann. Seine Stellung ist nicht nur deshalb herausragend, sondern auch, weil er anscheinend das Treiben der Mänaden unbehelligt beobachten kann. Sein Bericht erfolgt zögerlich, da der Bote befürchtet, den Zorn des alten Herrschers Kadmos auf sich zu ziehen. Eine ähnliche Problematik - das Zögern eines Boten, zu berichten - beschreibt Sophokles in Antigone. Der Handlung dieser Tragödie geht ein Konflikt der Brüder Eteokles und Polyneikes um die Stadt Theben voraus, beide fallen im Krieg gegeneinander, ihr Onkel Kreon erlangt die Herrschaft über Theben. Antigone spielt nach dem tödlichen Bruderzwist. Die Titelheldin, Schwester der beiden Toten, begräbt gegen das Verbot des Königs den Leichnam ihres Bruders Polyneikes. 8 Ihre Tat wird König Kreon von einem Wächter berichtet, dieser wirft ebenso wie der Bote in den Bakchen das Problem auf, durch die Erzählung der Geschehnisse in der Gunst des Herrschers möglicherweise zu sinken. Er debattiert die Frage: Soll ich schweigen oder berichten? Nachdem Antigone wegen der Überschreitung des königlichen Begräbnisverbots zum Tode verurteilt und in eine Felsspalte eingemauert wird, tritt ein weiterer Bote auf. Er erzählt von Antigones Selbstmord in der Felshöhle. Dieser zieht den Selbstmord des Königssohnes Haimon, des Verlobten der Antigone, nach sich, der Bericht seiner Selbsttötung löst den Selbstmord von Haimons Mutter aus, der wiederum via Botenbericht auf die Szene gebracht wird. Zwei Aspekte dieser Botenberichte sind für das Folgende wesentlich: Erstens wird die Realität der Ereignisse, die die Boten behaupten, als solche gesetzt. Sie ist unverbrüchlich, die Erzählung der Boten wird nicht angezweifelt, sondern zieht folgenreiche Konsequenzen nach sich. Drei Tode gewinnen in dem Dialog der Botenberichte in Antigone an Realität. Die Wirklichkeit des Berichteten wird durch die Zeugenschaft des Boten beglaubigt: “Ich, liebe Herrin, war dabei und will es sagen / Und von der Wahrheit auslassen kein Wort! ” 9 Zweitens wird der Botenbericht als ethische Setzung, die den erzählten Inhalt wesentlich konstituiert, problematisiert. Der zweite Aspekt ist in den Botenberichten der Tragödien angelegt und in den Botenberichten des Gegenwartstheaters besonders wesentlich, wie ich im Folgenden zeigen werde. Der Botenbericht als Spur eines Verbrechens (Studio Oyunculari, Elfriede Jelinek) Bei den Wiener Festwochen 2009 zeigt die türkische Kompanie Studio Oyunculari den dritten Teil ihrer Ödipus-Trilogie mit dem Titel Eurydikes Schrei. Darin transformiert die Choreografin Sahika Tekand die sophokleische Antigone in ein Tanzstück. Die Aufführung baut auf dem Wechsel von chorischen Passagen und Protagonistenrede, von Stillstand und tänzerischer Bewegung, und zwischen Licht und Dunkel auf. Sie gewinnt ihre Dynamik aus der synchronen Rhythmik der Bewegungen, des Sprechens und des Lichts, die ihr Tempo zunehmend steigern. Auch in dieser Aufführung zögert der Wächter/ Bote, König Kreon von Antigones Verstoß gegen das Begräbnisverbot zu berichten, um nicht den königlichen Zorn auf sich zu ziehen, um Antigone nicht in Gefahr zu bringen 154 Katharina Pewny und um das Begräbnisritual und damit den inneren Frieden der Stadt nicht zu gefährden. Der Bote debattiert - und dies ist ein Zusatz zu der Textvorlage des Sophokles - mit dem Chor die ethische Frage: Mache ich mich schuldig, wenn ich berichte, wer den Leichnam begrub? Die Frage “Mache ich mich schuldig, wenn ich spreche? ” problematisiert den Botenbericht als Handlung, sie reflektiert seine Performativität als Herstellung der Realität auf der Szene. 10 Der Charakter des Botenberichts als ethisches Tun mit politischen Konsequenzen, der in den Tragödien bereits angelegt ist, tritt hier deutlich hervor. Der Bote, der bereits in der Analyse der Bakchen als Zuschauer ersichtlich war, ist ein Agent der Handlung, weil er das Gesehene in Erzählung verwandelt. Er kann nicht an der Stelle des getöteten Zeugen im Sinne Primo Levis stehen 11 , ist jedoch Augenzeuge im Sinne dessen, der auf der Handlungsebene bei Verbrechen zugegen war. Der Chor erörtert in Eurydikes Schrei nach dem Zaudern des Boten ausführlich die Frage, welche politischen Konsequenzen der Bericht von Antigones Verstoß für die Bewahrung oder Gefährdung des inneren Friedens der Stadt und ihrer Bürger auslösen kann. Ähnlich und radikaler noch verfährt Elfriede Jelinek in Rechnitz (Der Würgeengel). Im Unterschied zu der eben skizzierten Tanzaufführung, in der der Bote durch Sprechen potenziell schuldig wird, stellt Jelinek die Frage nach der Ethik des Schweigens der Boten, die als Augenzeugen des Massakers auftreten. 12 Rechnitz wird im Oktober 2008 in Jossi Wielers Inszenierung an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt und 2009 mit dem Mühlheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet. Jelinek bezieht sich mit dem Stücktitel Rechnitz (Der Würgeengel) auf die Ermordung von 180 jüdischen Zwangsarbeitern während einer “festlichen” Zusammenkunft von Nationalsozialisten am 24. März 1945 auf dem Schloss der Gräfin Margit Batthyány und auf die seitdem vergebliche Suche nach den Leichnamen in dem burgenländischen Ort Rechnitz. Damit sind Jelineks Text und seine Inszenierungen an der Schnittstelle von “history” und “memory” angesiedelt, denn da die medialen Auseinandersetzungen um das Massaker von Rechnitz in Österreich gegenwärtig geführt werden, trägt er als öffentlicher Diskurs dazu bei, Geschichte in kollektive Erinnerung zu verwandeln. Der gesamte Text ist ein Botenbericht. Zum Beginn stellt die Autorin drei Kategorien von Boten und Botinnen vor. Der “Ausnahmebote” spricht beispielsweise von seinem Text, von dem er sich “nicht ‘alles’ merken kann” (18), und von der Frau, die “mir meinen Text eingesagt hat” (18). Der Bote solle die Geschichte berichten, die er selbst “nur durch Botenberichte kenne” (21), und “Jeder Bote … erzählt etwas andres” (78). Die Jelinek’schen Boten und Botinnen sprechen gleichsam um das Massaker herum, sie erzählen es nicht direkt. Sie ersetzen die Narration der Ereignisse durch den Diskurs über den Botenbericht, der die Theatralität des Theatertextes reflektiert. 13 Das Zögern, Zaudern und Verschweigen der Jelinek’schen Boten steht in deutlichem Gegensatz zu den Worten des Boten in Antigone, die die Ereignisse beglaubigen: “Ich, liebe Herrin, war dabei und will es sagen / Und von der Wahrheit auslassen kein Wort! ” Das Massaker von Rechnitz wird durch keine Zeugen beglaubigt, es erhält einen prekären (ungesicherten) Realitätsstatus. 14 Die Boten der Tragödien sind Augenzeugen dessen, was sie berichten. Deshalb sind die antiken Botenberichte Folien, die Jelineks Anlage der Boten als Verweigernde der Augenzeugenschaft hervorheben. Der Botenbericht ist bei Jelinek weniger eine Erzählung, sondern eher die “Spur eines perfekten Verbrechens”. Mit dem Begriff der “Spur des Verbrechens” komme ich zu Emmanuel Lévinas und skizziere im nächsten Schritt sein ethisches Modell, das ich auf den Botenbericht anwende. Die Ethik des Botenberichts 155 Die “Spur des Anderen” (Lévinas) Emmanuel Lévinas schrieb als jüdischer Philosoph vor dem Hintergrund des Holocaust. Er entwarf die Begegnung des “Einen” mit dem “Anderen” als ethische Grundsituation und als Subjekt konstitutierendes Paradigma. Jedes Subjekt entstehe, so Lévinas, durch die Begegnung mit dem Anderen und dadurch, dass wir uns nolens volens dem “Anspruch des Anderen” gegenüber vorfinden. Bei Lévinas bleibt offen, was der “Andere” ist, er ist eine transzendentale Kategorie und trägt bisweilen gott-ähnliche Züge, Lévinas spricht aber auch über den Anderen im Zuge der politischen Greul des 20. Jahrhunderts: “Faktisch muss man die eigentliche Identität des menschlichen Ich von der Verantwortlichkeit her benennen, das heißt ausgehend von diesem Setzen oder diesem Ab-Setzen, das gerade in der Verantwortung für den Anderen besteht.” 15 Verantwortung für den Anderen zu übernehmen, bedeutet für Emmanuel Lévinas, dessen Präsenz anzuerkennen, ohne sich diesem identifikatorisch gleichmachen zu wollen, zeitgenössisch formuliert, ohne ihn vereinnahmen zu wollen. Anschaulich vergleicht er die Begegnung des Einen mit dem Anderen mit der Situation, zugleich mit einer anderen Person zu einer Tür zu kommen und dem Anderen mit den Worten “Nach Ihnen, mein Herr! ” den Vortritt zu lassen. 16 So tritt der Eine im wörtlichen Sinn hinter den Anderen zurück. Die Ansprüche des Anderen treten in den Vorder-, die des Einen in den Hintergrund. 17 Viele Theateraufführungen sind, so meine These, Begegnungen (des Publikums) mit diesem Anderen, oder mit seiner Auslöschung. Die Theatermacher und Theatermacherinnen, deren Produktionen ich hier bespreche, reagieren alle auf den “Anspruch des Anderen”, indem sie schwierige politische Ereignisse zum Thema machen. Sie konfrontieren ihr Publikum mit den Diskursen darüber, und durch die Botenberichte mit der Problematik ihrer Darstellung. Da sich (bei Lévinas) jedes Subjekt dem Anspruch des Anderen gegenüber konstituiert, ist die Übertragung auf Theateraufführungen, die Inszenierung des Anderen als Geste dem Publikum gegenüber zu sehen, sie befindet sich auf einer phänomenologischen, nicht auf einer rezeptionsanalytischen Ebene. 18 In manchen Aufführungen des (postdramatischen) Gegenwartstheaters, in denen - oftmals aufgrund der Kritik der Theatermacher und Theatermacherinnen am Theater der Repräsentation - der Andere nicht durch Schauspieler verkörpert wird, entstehen aus der Dramaturgie der Botenberichte diese Spuren seiner Auslöschung. 19 Diese kann entweder in der Fiktion oder aber, so wie bei Jelinek, aus einer konkreten historischen Referenz angesiedelt sein. Jelinek beschreibt in Rechnitz (Der Würgeengel) nicht nur Prozesse der Auslöschung der Spur(en) des Anderen, sondern ihr Theatertext ist selbst eine solche Spur. Die Rede der Jelinek’schen Boten, die berichten, dass sie nichts über das Massaker zu berichten haben, das Anspielen des Botenberichts und die Verweigerung der Zeugenschaft durch die Boten sind die Spuren des Verbrechens an dem Anderen, in dem Sinn von Emmanuel Lévinas, der formuliert: “… Die Spur deutet nur noch auf die Spur eines Verschwindens”. 20 Diese Spur der Spur des (Verschwindens des) Anderen ist erstens sprachlich verfasst. Sie führt zu Euripides’ Bakchen, deren Botenbericht Jelinek teils wörtlich zitiert. Damit spielt sie auf das Zerreißen eines Menschen durch andere Menschen sowie auf einen fragmentierten Leichnam, der nicht gänzlich begraben werden kann, an. Zweitens sind Ausschnitte aus Carl Maria von Webers Freischütz, die Jossi Wieler in der Inszenierung hinzufügt, Spuren, die gejagte Menschen mit gejagtem Wild gleichsetzen. Zusätzlich zu dem musikalischen Element ruft Jossi Wieler 156 Katharina Pewny den Hörsinn implizit auf, indem er die Boten vor roten Kopfhörern positioniert, die an altmodische Telefonschaltungen ebenso denken lassen wie an die Kopfhörer der Dolmetscher in den Nürnberger Prozessen. Sätze wie “Sie hören unsere tägliche Sendung von der Banalität des Bösen” unterstreichen diesen Eindruck. 21 Sie verweisen auf menschliche Stimmen und damit auf die sinnliche Realisation der abstrakten Ordnung der Sprache. Die “Spur des Anderen”, die Jelinek und Wieler mit Rechnitz (Der Würgeengel) auf die Bühne bringen, erreicht das Publikum durch unterschiedliche Theaterzeichen, die auf seine Abwesenheit hin deuten. Der Andere spricht weder (für sich selbst), noch wird er von einem Schauspieler verkörpert. Die Inszenierung (und Jelineks Text) sind vielmehr als Anordnung zu sehen, die gerade im Erbe des Holocaust betont, wie inadäquat es wäre, ihn szenisch zur Erscheinung zu bringen. Hier ist wiederum mit Primo Levi an die Unmöglichkeit einer Zeugenschaft zu erinnern, wenn die Zeugen die bereits Getöteten sind. Die Ausstreichung des Anderen durch das Massaker von Rechnitz spricht aus noch den kleinsten Winkeln von Jelineks Text, denn die Opfer werden von ihr weder benannt noch als Individuen beschrieben. Konsequenterweise können die Opfer in Rechnitz nicht erscheinen, weil (mit Lévinas gesprochen) ihr Anspruch von der Gesellschaft nicht anerkannt wird: Die Leugnung des Massakers durch die Boten und Botinnen entzieht ihnen jegliche gefüllte Existenz. Unter Zuhilfenahme von T.S. Eliots Gedicht The Hollow Men (1925) legt Jelinek jedoch eine Spur zu den Opfern. Eliot beschreibt in dem Gedicht “hohle Männer”, die “mit Stroh gefüllt” sind, und deren “trockene Stimmen flüstern”. Die Stimmen werden dem Publikum nicht zu Gehör gebracht, sondern es wird nur von ihnen erzählt. Die “hohlen Männer” werden in Rechnitz als “durch Arbeit vernichtet” bezeichnet (39), und sie erscheinen als Opfer des Massakers (15, 29, 76). Das Hohle ist hier eine Spur des Anderen, eine Spur, eine Form, die keine Fülle im Sinne der Materialität besitzt - sie ist hohl. Sie kann die Begegnung mit dem Anderen nicht inszenieren, sie zeugt vielmehr von der Unmöglichkeit der Begegnung mit ihm. Gleichzeitig vereitelt sie das “perfekte Verbrechen”, das sich dadurch auszeichnet, dass es seine Spur restlos zu verwischen vermag, buchstäblich. Dieser Befund kann sich nur auf eine ästhetische Strategie beziehen, die selbstverständlich die historische Realität des Mordens nicht wettmachen kann. Die Medialität der “Spur des Anderen” in der neuen Dramatik und Performancekunst Elfriede Jelineks Theatertext Rechnitz (Der Würgeengel) ist einer von vielen Botenberichten in Aufführungen des Gegenwartstheaters, die sich explizit auf Medienberichte von politischen Ereignissen beziehen, ohne diese in einer ästhetischen Form, die sich der szenischen Abbildung bedient, darzustellen. Die Dramaturgie der Erzählung vom Morden und Sterben, die den antiken Botenberichten ähnelt, ist eine zeitgenössische Spielart des epischen Theaters. Sie folgt theatergeschichtlich auf die Experimente mit dem partizipativen Theater, die beispielsweise Christoph Schlingensief, She She Pop, aber auch Rimini Protokoll in den vergangenen fünfzehn Jahren gestaltet haben. Der Botenbericht ist eine dramaturgische Antwort auf die Frage, die beispielsweise den Theaterautor und Regisseur René Pollesch umtreibt: Wie kann der “Andere” im Theater Raum gewinnen, ohne durch eine identifizierende, jeden Subjektstatus ausstreichende Darstellung oder durch den potenziell voyeuristischen Blick eines mitteleuropäischen, bürgerlichen Publikums in seiner Würde verletzt zu werden? Diese Frage beantwortet auch die Dramatikerin und preisgekrönte Hörspielautorin Die Ethik des Botenberichts 157 Abb. 1: Szenenbild Das Geisterschiff von Margareth Obexer (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Judith Schlosser) Margareth Obexer in Das Geisterschiff (Uraufführung der Hörspielfassung Norddeutscher Rundfunk 2005, Uraufführung auf der Bühne am Theater Basel im März 2010) mit der Dramaturgie des Botenberichts. 22 Das Geisterschiff ist exemplarisch für Theatertexte jüngerer Dramatiker und Dramatikerinnen, die Migrationsbewegungen in globalisierten Ökonomien mit nicht-repräsentativen Theatermitteln thematisieren. Vergleichbar verfährt beispielsweise Johannes Schrettle in Dein Projekt liebt Dich, in dem mitteleuropäische Jugendliche Drogen schmuggeln und aus Europa auswandern, um auf einer Insel ein “Projekt”, ein Netzwerk zur Unterstützung von Migranten und Migrantinnen, zu eröffnen. Schrettle setzt zwar keinen Botenbericht ein, doch seine drei Protagonisten werden aktiv, um der Realität der gefahrvollen Migration und den Grenzen der “Fortress Europe” etwas entgegen zu setzen. 23 Auch die Nachwuchsautorin Tina Müller verfährt in Türkisch Gold ähnlich wie Schrettle, indem sie die türkischstämmige Jugendliche von den Freunden und Freundinnen, die in der jeweiligen Szene über sie sprechen, spielen lässt. Durch diese innerszenische Verschiebung wird die Projektion deutscher (oder schweizerischer) Jugendlicher auf ihre türkische Mitschülerin plakativ deutlich. Margareth Obexer fächert Dynamiken der Diskursproduktion über Europas “Andere” in ihrem Theatertext Das Geisterschiff noch differenzierter auf. Das “Geisterschiff” ist ein Flüchtlingsschiff, das (laut Medienberichten) im Jahr 1996 vor der sizilianischen Küste sank, wobei fast dreihundert afrikanische Flüchtlinge starben. Die Dramatikerin schreibt Das Geisterschiff als Suche nach Zeugen des Ertrinkens, beziehungsweise nach Spuren der Ertrunkenen. Wissenschaftler und Journalistinnen begeben sich in Portoceleste, einem sizilianischen Fischerort, auf die Suche nach den Fischern, die - laut Medienberichten - Leichenteile in ihren Netzen gefunden haben. Die Fischer verweigern - ebenso wie die Boten bei Jelinek - die Zeugenschaft der Spuren der Flüchtlinge. Fischer Volpe spricht nicht mehr öffentlich über die Knochen, die er und andere Fischer in ihren Netzen fanden. Als zwei Radiojournalisten ihn interviewen, sagt er: “Vielleicht dachte ich nur, dass es Knochen waren, im Schock … wenn Sie ständig Knochen im Kopf haben, sehen Sie Knochen, ohne dass es Knochen sind. … Als wir noch unter uns waren, hatte jeder ein paar Knochen gefunden … Erst als es öffentlich wurde, begann man, zu schweigen. Von da an war sich keiner mehr sicher, ob es Knochen waren.” (GS 42f) Der Botenstatus wird von Obexer im Unterschied zu Jelinek, die die Botenposition der Zeugen des Mordens versammelt, durch die Reflexion des europäischen Diskurses über 158 Katharina Pewny das versunkene Schiff vervielfacht. Die Fischer sind darin Boten erster Ordnung, Zeugen noch nicht einmal des Ertrinkens, sondern der Funde von Leichenteilen, die die Augenzeugenschaft zunehmend verweigern. Ihr Schweigen verdeckt die Spur der Auslöschung des Anderen, des Todes der Ertrunkenen, die sie zuvor im Meer fanden. Die Journalisten und Wissenschaftlerinnen, Boten zweiter Ordnung, berichten in ihren Veröffentlichungen, was die Boten erster Ordnung erzählen - und was sie verschweigen, sie zeichnen die Spuren der Auslöschung der Spuren nach. Der Theatertext ist die dritte Ebene der Botenberichte, die Dramatikerin ist eine Botin dritter Ordnung. Diese Verdreifachung der Botenpositionen stellt die wissenschaftliche, die journalistische und damit auch die dramatische Diskursproduktion in den Fokus. Deutlich wird hiermit, dass authentische Geschichten von Migration und Tod im Theater und in anderen Medien im Modus eines Sprechens, das a priori medialisiert ist, erzählt werden können. So bleibt unklar, welchen Grad an Fiktion das historische Ereignis des versunkenen “Geisterschiffs” besitzt. Der Realitätsstatus der Ereignisse ist durch das Erzählen - resp. Verschweigen - im Medium der Sprache in der Schwebe gehalten. Obexer spart den Vorgang des Sinkens des Schiffes und des Ertrinkens aus, so wie Jelinek das Morden in Rechnitz aus der Erzählung des Textes ausspart. Die Medialität von Obexers Text Das Geisterschiff ist durch den Radiojournalismus geprägt. Das Hörspiel-Format, in dem der Text erstmals veröffentlicht wurde, verflicht die außerszenische mit der innerszenischen Realität. Schlussendlich sind die tragischen, beziehungsweise gewaltsamen Geschehnisse - soweit sie sich auf Medienberichte über “Rechnitz” und über die ertrunkenen Flüchtlinge beziehen - Obexers (und Jelineks) Zuschauern, Hörern und Lesern potenziell bereits aus der medialen Berichterstattung bekannt. Das Geisterschiff ähnelt Rechnitz (Der Würgeengel) in der vehementen Verdeutlichung der Ethik jeder Erzählung (auf dem Theater) und damit der Realitätskonstruktion als Handlung. Obexers Ethik des Botenberichts geht über die Jelinek’sche allerdings hinaus, weil sie den Fokus nicht nur auf die persönliche Zeugenschaft, sondern auf die Diskursproduktion über den “Anderen” legt, die Wissenschaft, Medien und Kunst betreiben. Die “Spur des Anderen” zum Realen Eingangs wurde der Botenbericht als internationales Theaterphänomen bezeichnet. In Argentinien, im Libanon und in Europa inszenieren Choreografinnen, Dramatiker und Performer mit den Mitteln des Botenberichts den Tod und das Verschwinden (von Menschen). So wie das Sterben auf der Bühne nicht statthat, so bleiben die Leichname, und damit das Reale (im psychoanalytischen Sinn Jacques Lacans) als letztlich nicht repräsentierbarer, sondern bloß erfahrbarer Bereich des Lebens, darin unzugänglich. Unterschiedliche künstlerische Traditionen prägen die Performances, die ich im Folgenden bespreche. Nicht nur die Botenbereichte der antiken Tragödien, sondern beispielsweise die orale Tradition des Meddah begründet ihre dramaturgische Gestaltung. Die Performance Looking for a missing employee des libanesischen Performers und Videokünstlers Rabih Mroué (2003) interessiert in diesem Kontext, da er sie explizit als “trace” (Spur) eines Verschwundenen versteht. Mroué präsentiert auf einem Bildschirm unzählige Zeitungsausschnitte, die er seit 1996 über vermisste Personen (im Libanon) gesammelt hat. Nach zahllosen Berichten über verschwundene Personen konzentriert sich Rabih Mroué auf die Geschichte des Regierungsbeamten Ra’afat Sleiman, dessen Ehefrau in den Zeitungen al-Nahar und al-Safir am 30.09.1996 sein Verschwin- Die Ethik des Botenberichts 159 Abb. 2: Szenenbild aus Rabih Mroué Looking for a Missing Employee. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Rabih Mroué) den meldet. Dies führt er mittels der Erzählung von Botenberichten zweiter Ordnung, also der medialen Berichterstattung, durch. In den Zeitungsausschnitten berichten und schreiben Sleimans Angehörige und Bekannte über dessen Verschwinden, sie sind Boten erster Ordnung. Auf einem zweiten Bildschirm ist Mroué selbst zu sehen, der von einem Sitz in den Publikumsreihen aus spricht, auf einem dritten Bildschirm notiert ein Performer die inhaltlichen Handlungsstränge der Erzählung. Die Performance setzt die orientalische Tradition des Meddah fort. Meddah ist im arabischen Raum eine Bezeichnung für Sänger, die Episoden aus dem iranischen Epos “Shahnama” oder aus “Tausendundeine Nacht” und ab dem 11. Jahrhundert auch Szenen aus dem Alltagsleben erzählen. 24 Meddah sind wandernde Märchenerzähler, die im türkischen und im arabischen Raum an öffentlichen Orten (in Kaffeehäusern oder auf Plätzen) auftreten und ihr Publikum mit Geschichten unterhalten, die immer neu und anders verwoben werden können. Der Begriff bezeichnet zugleich die Sänger und das Genre. 25 Meddah tragen lokale Traditionen in sich, sie zirkulieren im Zuge von Migrationsbewegungen und verändern sich im Laufe der Entwicklungen von Kommunikationstechnologien und Medien. Ähnlich wie Märchen handeln Meddah nicht nur vom Wandern zwischen zwei Welten, beispielsweise zwischen Armut und Reichtum, sondern sie wandern selbst von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent. 26 Rabih Mroués anfangs nachvollziehbarer Bericht über den “verschwundenen Arbeitnehmer” ist selbst ein Meddah (in der Bedeutung Narration), er entfaltet im Laufe der dreistündigen Performance unzählige Verästelungen und Neben-Geschichten, in denen die Hörer und Hörerinnen zunehmend die Orientierung verlieren. Diese wird zwar zuerst durch die Notation der roten Fäden auf dem dritten Bildschirm gestützt, zunehmend wird sie jedoch auch dort unübersichtlich. 160 Katharina Pewny Abb. 3: Szenenbild aus Rabih Mroué Looking for a Missing Employee. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Houssam Mcheimech) Mroué vermengt die Dramaturgie des Meddah mit der medialen Berichterstattung: Einem Meddah (in der Bedeutung Sänger) und einem TV-Nachrichtensprecher gleich spricht der Performer aus dem Bildschirm heraus. In dieser Performance ist der unklare Realitätsstatus der Geschehnisse (im Unterschied zu Jelinek und Obexer) nicht in der Thematisierung des Erzählens selbst angesiedelt, sondern in der Unklarheit über die Wahrheit der persönlichen und medialen Berichterstattung: Offen bleibt bis zum Ende, auf welcher Realitäts- oder Fiktionsebene die Performance angesiedelt ist. Gegen Ende der dreistündigen Performance schaltet Mroué das Licht und die Bildschirme ab, im Dunkel erklingt 5 Minuten lang ein Ausschnitt von Frederic Chopins Walzer No. 7. Danach nimmt die Geschichte eine tragische Wendung, denn Mroué legt einen Zeitungsartikel über Rafa’at Sleimans Tod vor. Ähnlich wie Jelinek und Obexer nimmt Mroué keine narrative Schließung vor, die Leiche des verschwundenen, getöteten Anderen wird nicht vollständig gefunden oder auf der Bühne (auf dem Bildschirm) gezeigt. Teile seines Leichnams werden gefunden, der Kopf und der Oberkörper bleiben jedoch verschwunden. Das sind die Körperteile, die, so der Meddah, zu einem gültigen Begräbnisritual vonnöten sind. “Ra’afat’s body was cut with an electric disksaw. We were only able to find his thighs and pelvis, his chest and head were missing. When we went to see the body on the carriage at the morgue, it was a horrible sight. It seemed that Ra’afat’s bones were cut, in the same manner that chicken is cut. It was horrible. Even my aunt Zeinab, Ra’afat’s mother, refused to stay still unless she saw his body. They told her to come and see me. I held her, sat her down, and calmed her. She asked me to tell her what I saw. I told her everything, and she said, enough, I believe you.” 27 Rabih Mroué schleicht, während der Musikeinspielung unsichtbar im Dunkel, aus dem Zuschauerraum hinaus. Er performt den Botenbericht von dem unvollständigen Leichnam ausschließlich vom Bildschirm aus. Sein Platz in den Publikumsreihen ist nach der Musikeinspielung leer, alleine sein Kopf und sein Oberkörper bleiben auf dem Bildschirm sichtbar. Das sind just die fehlenden Körperteile, die für ein gültiges Begräbnisritual vonnöten sind. Der Ausschaltung des Sehsinns und der Schärfung der akustischen Wahrnehmung, die in der Musikeinspielung an der dramaturgischen Stelle des Todes des Anderen “sitzen”, fügt Mroué sein eigenes Verschwinden als “bodily act” hinzu. Auch die viel gespielte Dramatikerin Dea Loher setzt den Botenbericht in ihrem Theatertext Das letzte Feuer, mit dem sie den renommierten Mühlheimer Dramatikerpreis 2008 gewann, ein. 28 Das letzte Feuer, von Andreas Kriegenburg 2008 am Thalia Theater inszeniert, dreht sich buchstäblich um den leeren Ort des Unfalltods des Jungen Edgar, denn Anne Ehrlichs Bühne ist eine Drehbühne, deren unsichtbare Achse Edgars Tod ist. Das Bühnenbild sind Wohnräume, die sich um die Achse der Drehbühne und damit um Edgars Tod drehen. Darin sind Verwandte und Nachbarinnen gruppiert, die eine schuldhafte Verstrickung in seinen Unfall empfinden. Sie alle waren jedoch nicht anwesend, als Edgar starb, Dea Loher schreibt dem Kriegs- Die Ethik des Botenberichts 161 flüchtling Rabe die alleinige Augenzeugenschaft seines Todes zu. Rabe schweigt nahezu die gesamte Inszenierung lang über die “Urszene” des kindlichen Sterbens, die die Aufführung begründet. In einer dramatischen Szene kurz vor dem Ende erzählt Rabe, alleine auf der Bühne bis auf die Mutter des Verstorbenen, die allerdings schläft, dem Publikum vom Hergang des Unfalls. In seine Erzählung, die als Erzählung von Edgars Tod beginnt, schiebt sich jedoch ein Erlebnis aus dem Krieg, in dem ein verletztes Kind in seinen Armen stirbt. Loher problematisiert in Das letzte Feuer, das in Rabes Selbstverbrennung am Ende gipfelt, den Botenbericht angesichts gewaltvoller Tode. Doch während Jelinek, Obexer und Mroué die Diskursproduktion über Gewalt im Sinne der verweigerten Augenzeugenschaft und der Medialität des Sprechens “über” den Anderen und seine Auslöschung fokussieren, legt Loher das Augenmerk auf den schmerzlichen Aspekt von Augenzeugenschaft, die mit potenziell eigenen Kriegserlebnissen verknüpft sein kann. Der Zeugen-, der Täter- und der Opferstatus kulminieren in dem Raben, dem Vogel, der vom Unglück kündet. Er wird sich am Ende selbst verbrennen, in dem “letzten Feuer”. Rabes Zugang zur Wirklichkeit und zu anderen Menschen ist schon zuvor, wenn er mit verbundenen Händen die Brustprothesen von Karoline berührt, als verletzter gezeigt. Looking for a missing employee und Das letzte Feuer führen eindringlich vor, dass - und wie - das Erzählen von Toten, aber auch schon die Nähe zwischen Menschen in traumatischen Situationen immer nur vermittelt stattfinden kann. Die abwesenden, fragmentierten und verletzten (toten und lebendigen) Körper sind, ebenso wie die Sprache, bevorzugte Austragungsorte des Ringens um das Erzählen und um die Emotionen, die dieses begleiten. 29 Alle bisher behandelten Beispiele verbindet jedoch, dass die Narration von den Verschwundenen, Getöteten, als Desiderat erscheint. Der Botenbericht als familiäres Erbe Auch der kanadisch-libanesische Autor Wajdi Mouawad legt den Botenbericht seinem Theatertext Verbrennungen als dramaturgisches Stilmittel zugrunde. Sein Botenbericht ähnelt den Botenberichten des antiken Tragödientheaters, er ist performativ in dem Sinn, dass er den Ereignissen, die berichtet werden, Wirklichkeit verleiht. Im Theatertext und in Stefan Bachmanns Regie von Verbrennungen (Burgtheater 2007) rekonstruieren die Kinder einer militanten Freiheitskämpferin im Libanon das Leben ihrer verstorbenen Mutter, indem sie Personen aufsuchen, die die Aktionen und die Gefangenschaft der Mutter bezeugen. Dies unternehmen sie, nachdem die verstorbene Mutter sie in einem Brief nachdrücklich dazu auffordert. Mouawad spielt die Tragödien-Tradition durch das Ödipus-Motiv der Zeugung von Kindern durch Mutter und Sohn an. Die Kinder des Ödipus sind (in der mythischen Tragödientradition) Antigone und Ismene, so wie die bereits erwähnten Brüder Eteokles und Polyneikes, die einen tödlichen Kampf um das königliche Theben ausfechten. Verbrennungen verleiht dem Leben und dem Tod der Verstorbenen Realität, weil sie in dem Gedächtnis der Boten als Zeugen Raum einnehmen. Die Narration über die abwesende Mutter glückt, allerdings um den Preis einer tragischen Enthüllung am Ende der Aufführung: Als die Geschwister das Leben der Mutter vollständig rekonstruiert haben, erkennen sie, dass ihr Bruder auch ihr Vater ist. Hier greift Mouawad offensichtlich auf den Ödipus-Mythos zurück - im Unterschied zur Geschichte des Ödipus ist der Vater und Bruder allerdings der ehemalige Gefängniswärter und Vergewaltiger der Mutter/ Freiheitskämpferin. Mit diesem - im Sinne der unauflöslichen Verstrickung - tragischen Ende führt der Autor (auf der Handlungsebene) eine im Sinne der Lévinas’schen Ethik gelungene Antwort des Einen auf den Anspruch des Anderen vor: Die 162 Katharina Pewny Kinder erfüllen den Anspruch der Mutter, indem sie ihre Geschichte rekonstruieren, die dadurch sowohl auf der Ebene des szenischen Geschehens als auch den Zuschauern gegenüber als Realität anerkannt wird. Das Publikum wird zu Augen- und Ohrenzeugen der Geschehnisse, die die Mutter selbst nicht von der Erfahrung in eine Narration transformieren konnte. Die Dramaturgie der geglückten Augenzeugenschaft im Angesicht des Traumatischen macht die Texttheatralität fruchtbar, weil sie die innerszenische und die außerszenische Achse vereint. Die Zuschauer und Zuschauerinnen geraten in die Position der Augenzeugen der künstlerischen Diskurse über die gewaltvollen Geschehnisse. Diese konstituiert sich, indem sie sich dem “Anspruch des Anderen” gegenüber vorfinden, den die Theatermacher und Theatermacherinnen gestalten. Das familiäre Erbe, rekonstruiert durch Botenberichte, führt die Regisseurin Lola Arias live vor. In ihrer Produktion Mi vida despues (Mein Leben danach) treten Kinder von Eltern auf, die während der argentinischen Militärjunta der 1980er lebten und darin aktiv oder davon betroffen waren. 30 Die teils verschwundenen, teils verstorbenen Eltern werden mit eingeblendeten Fotos, durch Kleidungsstücke, die wie leere Hüllen über einer Reihe an Stühlen hängen, und durch die Inszenierung von Ähnlichkeit mit ihren Kindern verlebendigt. Arias’ Dramaturgie der verfremdeten Erzählung von Betroffenen erinnert nicht von ungefähr an Rimini Protokolls Theater mit “Experten in eigener Sache”, hat die Regisseurin doch zuvor mit Stefan Kaegi (von Rimini Protokoll) gemeinsam Airport Kids inszeniert. Fällt bei Rimini Protokoll die Differenz von Boten und Protagonisten aus, da die “Experten der Wirklichkeit” fast ausschließlich als sie “selbst” auftreten, so ist die Ähnlichkeit der Boten und der (verschwundenen) Protagonisten - die im Schauspieltheater nicht gegeben sein muss - in Mi vida despues angespielt, aber nicht ausgespielt, denn Kinder berichten von ihren Eltern. So markiert die Inszenierung eine Schnittstelle der scheinbaren Authentizität und des Botenberichts. Bemerkenswert ist auch, daß in den beiden Aufführungen, die Familien als dramaturgische rote Fäden einsetzen - also Verbrennungen und Mi vida despues - die Narration glückt. In den Tragödien erscheinen Familienbande oftmals als Ursprung von Konflikten. In der gewandelten Form der zeitgenössischen Botenberichte sind diese zwar noch immer Orte der Gewalt, dennoch glückt in ihnen auch die Transformation von Verletzungen. Zusammenfassend ist zu konstatieren: Botenberichte des Gegenwartstheaters führen die Frage nach der Ethik des Erzählens vom Morden und Sterben, die in antiken Tragödien bereits angelegt ist, explizit fort. Dadurch wird, so es um die “alten” Theaterthemen Mord und Tod geht, die politische Dimension der Augenzeugenschaft von Unrecht auf der Ebene der Theaterform/ Dramaturgie reflektiert. Die Meta-Ebene der Theaterform, oder der dramatischen Konvention, entspricht der Meta-Ebene der Diskurse über politisch motivierte Greultaten und Unrechtsverhältnisse. Theateraufführungen sind Begegnungen mit dem (verschwundenen, getöteten) Anderen, indem sie - via Botenbericht - die medialisierte Spur seines Verschwindens, oder sein Sterbens, legen. Zur Spur, die die Boten/ Zeugen schon oder nicht beglaubigen, tritt die Spur der Auslöschung der Spur hinzu. Die Position der Zuschauer und Zuschauerinnen konstituiert sich auf einer phänomenologischen Ebene in den genannten Aufführungen vis á vis mit dem Anspruch des Anderen. In nahezu allen angeführten Beispielen sind die nicht gänzlich gefundenen Leichname (Jelinek, Mroué, Obexer), ist das Sterben (Loher) bzw. die Behandlung des Leichnams (Sophokles’ Antigone), die Grenzen des Fiktiven, bzw. der Ausgangspunkt der Konflikte oder der Erzählungen. Dadurch entgehen sie der Falle der Repräsentation des Die Ethik des Botenberichts 163 Anderen, die ihm potenziell nicht Genüge tut. Die Aufführungen, die ich besprochen habe, werfen bei allen den Differenzen ihrer ästhetischen Verfahren und der historischen Ereignisse, aus denen sie erwachsen sind, die Frage der Verantwortung dem Anderen gegenüber auf, die ich von Lévinas’ Ethik übernehme. Sie werben jedoch nicht für spezifische moralische Modelle im Sinne von Handlungsanweisungen. Insofern legen sie in ihren episch-narrativen Elementen nicht nur “Spuren des Anderen”, sondern sind selbst solche Spuren. Ob auch eine theaterwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Theatertexten und Aufführungen, die vom Holocaust ausgehen, die Qualität einer solchen Spur erlangen kann, ist in diesem Rahmen nicht zu beurteilen. Die Frage nach der Ethik der wissenschaftlichen Tätigkeit schwingt jedoch implizit mit, auch, weil die Involvierung des Fachs in den Nationalsozialismus bereits notwendige Auseinandersetzungen hervorrief, die jedoch keinesfalls als abgeschlossen betrachtet werden können, sondern sich nicht zuletzt aus dem künstlerischen Material heraus immer wieder stellen. 31 Anmerkungen 1 Sie alle beziehen sich im weitesten Sinn auf Traumata im Sinne der Historie, deren Darstellung als unmöglich erscheint. Keineswegs soll jedoch der Holocaust, auf den sich Jelineks Text bezieht, anderen Verletzungen von Humanität gleichgesetzt werden. Zu der Schwierigkeit der Universalisierung oder Relativierung eines diesbezüglichen Traumabegriffs im Lichte der kulturwissenschaftlichen Diskurse im deutschsprachigen Raum vgl. Birgit R. Erdle, “Die Verführung der Parallelen. Zu Übertragungsverhältnissen zwischen Ereignis, Ort und Zitat”, in: Elisabeth Bronfen [et al.] (Hg.): Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster, Köln, Weimar, Wien 1999, S. 27-51. 2 Vgl. Siegfried Melchinger, Das Theater der Tragödie. Aischylos, Sophokles, Euripides auf der Bühne ihrer Zeit, München 1974, S. 61. 3 Vgl. Hans-Thies Lehmann, Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart 1991, S. 44f. 4 Hierzu vgl. ausführlich: James Barrett, Staged Narrative. Poetics and the Messenger in Greek Tragedy, Berkeley [etc.] 2002, pp. 102-131. 5 Euripides, Die Bakchen. Übers. v. Oskar Werner, Stuttgart 1974. 6 Zur Metatheatralität der Bakchen vgl. Helen P. Foley, Poetry and Sacrifice in Euripides, Ithaka/ NY. 1985. 7 Darüber hinaus sind die Bakchen ein Beispiel für einen tragischen Diskurs, der die Wiederkehr verdrängter Triebe, beispielsweise des Erotischen, betreibt. Vgl. Hans-Thies Lehmann, Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart 1991, S. 184f. 8 Georg Wilhelm Friedrich Hegel versteht Antigone als Beispiel für einen Konflikt zwischen Familie und Staat. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Zweiter Theil, Stuttgart 1928, S 133-134. Die Religion der geistigen Individualität. S. 133f. Judith Butler kritisiert dieses Konzept, weil sie Familie als durchdrungen vom Politischen und nicht trennbar von diesem sieht. Vgl. Judith Butler, Antigones Verlangen, Frankfurt a.M. 2001, S. 14. 9 Sophokles: “Antigone”, in: Ders.: Dramen, hg. u. übers. v. Wilhelm Willige. München, Zürich 1985. S. 194-275. Antigone. S. 213. 10 An dieser Stelle ist John Langshaw Austins sprachphilosophischer Performativitätsbegriff bedeutsam. Dieser besagt, dass mittels des Sprechakts (“speech act”) gehandelt werden kann. Zur genauen Erläuterung desselben und seiner Bedeutung für die Kunst und Kultur(wissenschaft) vgl.: Uwe Wirth (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt a.M. 2002. 11 Der Begriff des Augenzeugen, den ich hier bemühe, unterscheidet sich von Zeugenschaft und ihrem Paradox, den beispielsweise Primo Levi in seinen autobiografischen Erzählungen des Holocaust entwickelt hat. Levi schreibt 164 Katharina Pewny und spricht über das “Paradox der Zeugenschaft” das darin besteht, dass die eigentlichen Zeugen diejenigen sind, die ermordet wurden. Primo Levi, If This Is A Man. The Truce. Transl. by Stuart Wolff, London 1959, pp. 461ff. 12 Elfriede Jelinek, Rechnitz (Der Würgeengel), Reinbek b. Hamburg 2008. Die folgenden Stückzitate bezeichnen die Seitenzahlen aus diesem Manuskript des Rowohlt Theaterverlags. 13 Den Begriff “Texttheatralität”, der die implizite Performativität von Theatertexten bezeichnet, hat Gerda Poschmann ausgeführt. Vgl. Gerda Poschmann, Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse, Tübingen 1997. S. 41-43. 14 Zu der Verwandlung von “history” in “memory” durch öffentliche Diskurse vgl. Alessandro Cavalli, “Memory and Identity: How Memory Is Reconstructed After Catastrophic Events”, in: Jörn Rüsen (Edd.): Meaning & Representation in History, New York/ Oxford 2008, pp. 169-183. 15 Emmanuel Lévinas, Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo, Wien 1982, S. 78. 16 Vgl. ebd., S. 68. 17 In diesem Zusammenhang entwickelt Lévinas auch die Unterscheidung von Begierden (die befriedigt werden können) und Begehren als nicht stillbarem Sehnen, das ins Unendliche geht. Vgl. Emmanuel Lévinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/ München 1987, S. 201f. 18 Damit ist keine Aussage über die wahrscheinlich unterschiedliche Bedeutung einer Theateraufführung wie Rechnitz (Der Würgeengel) für Überlebende und ihre Nachkommen und für die Nachkommen von Tätern getroffen. 19 Dies untersuche ich ausführlich in meiner Habilitationsschrift Das Theater des Prekären. Ethik und Ästhetik des Theaters, des Tanzes und der Performancekunst, Graz 2009, Publikation in Vorbereitung. 20 Emmanuel Lévinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg 1987, S. 48. Vgl. auch: Birgit R. Erdle, Antlitz - Mord - Gesetz. Figuren des Andern bei Gertrud Kolmar und Emmanuel Lévinas, Wien 1994. 21 Jelinek spielt mit der Wendung “Banalität des Bösen” auf Hannah Arendts gleichnamiges Buch an; vgl. Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, Leipzig 1990. 22 Obexer, Margareth, Das Geisterschiff. Theaterstück. Stuttgart 2005. 23 Andere Autorinnen, wie etwa Anne Habermehl in Letztes Territorium (Thalia Theater 2008), wählen dagegen den Weg der schauspielerischen Verkörperung von Migranten. In Corinna Sommerhäusers Inszenierung steht die migrierte Person, die als dunkelhäutig dargestellt wird, einem ansonsten weiß besetzten Ensemble und großteils ebensolchem Publikum gegenüber. Dadurch entsteht der Eindruck eines individuellen Schicksals, und die politischen Strukturen von Migration und Asylrecht geraten in den Hintergrund. 24 Vgl.: “Meddah”, in: C. E. Bosworth at al (Hg.), The Enzyklopedia of Islam, Vol V., Leiden 1986, S. 951ff, S. 951. 25 Ebd., S. 952. 26 Vgl. Linda Dégh, Narrative in Society: A Performer-Centered Study of Narration, Helsinki 1995, S. 103. 27 Rabih Mroué, Looking for a missing employee. Unveröff. Manuskript, o.O., o. J., S. 27. 28 Dea Loher, Das letzte Feuer, in: Theater heute 3/ 2008, S. 2-16. 29 Zur Narration des Traumatischen vgl. Cathy Caruth, Trauma, Narrative, and History, Baltimore 1996. Die Autorin betont, auf Sigmund Freud rekurrierend, dass Affekte, die durch ein Trauma ausgelöst werden können, nicht direkt produziert werden können. Daher liegt eine Schwierigkeit der künstlerischen Darstellung in der Darstellung seiner Effekte, nicht primär in der Darstellung des Ereignisses selbst. 30 Seit 2008 tourt die Produktion in Groningen, Graz, Hamburg, München und Berlin. Mehr zu Lola Arias’ Projekten ist auf ihrer mehrsprachigen Homepage zu finden: http: / / www. lolaarias.com.ar/ . 31 Ab den 1930er Jahren findet eine inhaltliche Zäsur der in ihrer Entstehung begriffenen Die Ethik des Botenberichts 165 deutschsprachigen Theaterwissenschaft statt, die nun - vornehmlich auf Täterseite - massiv in den Nationalsozialismus verstrickt ist. Vgl. Erika Fischer-Lichte, “Theatergeschichte und Wissenschaftsgeschichte. Eine bedenkenswerte Konstellation. Rede zur Eröffnung des Erstens Kongresses der Gesellschaft für Theaterwissenschaft e. V. in Leipzig”, in: Erika Fischer-Lichte [et al.] (Hg.): Arbeitsfelder der Theaterwissenschaft, Tübingen 1994. S. 13ff. Eine weitere Ebene ist die intergenerationelle Auseinandersetzung mit familiären Biografien, die mittlerweile auf autiobiografischer Ebene von der Generation der Enkel nationalsozialistischer Täter und Täterinnen geführt wird. Zu einhergehenden Problematiken zwischen (Ver)Schweigen der Verbrechen und unangemessener Aneignung von Opferperspektiven vgl. exemplarisch: Claudia Brunner, Uwe von Seltmann, Schweigen die Täter, reden die Enkel, Frankfurt a.M. 2006.