Forum Modernes Theater
fmth
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Narr Verlag Tübingen
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2009
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BalmeGuest Editorial
1201
2009
Doris Kolesch
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Guest Editorial Emotionen sind etwas Alltägliches, sie sind omnipräsent und ubiquitär. Sie kommen zu jeder Zeit und in jeder Kultur vor, wenn auch mit erheblichen Differenzen und Akzentuierungen. Wir können Gefühle gestalten und stilisieren, wir können sie unterdrücken oder auch stimulieren und bewusst erzeugen, doch können wir nicht nicht-fühlen. Wir haben Gefühle und sind uns zugleich in ihnen gegeben, wir sind Subjekt und Objekt unserer Emotionen in einem. In Emotionen erfahren wir in komplexer, leiblicher Weise unser Inder-Welt-Sein und unsere soziale Einbindung, unsere Interaktion mit anderen Menschen und unsere Abhängigkeit von ihnen. Insofern sind Emotionen als konstitutive Erfahrung sowohl von Subjektivität als auch von Gesellschaftlichkeit ernst zu nehmen. Doch zu betonen, dass Gefühle fundamental und existentiell für menschliches Leben und soziale Gemeinschaft sind, bedeutet nicht, Gefühle als “natürliche” Gegebenheiten zu verstehen. In Analogie zur Sprachlichkeit des Menschen, die als grundlegendes Vermögen nur wenig über jeweils konkrete Einzelsprachen oder gar über flüchtige und singuläre Redeereignisse zu sagen erlaubt und diese schon gar nicht determiniert, ist auch hinsichtlich der Affektivität des Menschen festzuhalten, dass es offensichtlich zu unserer biologischen und neurobiologischen Ausstattung gehört, fühlen zu können - wenn nicht gar zu müssen. Wie jedoch Gefühle erlernt, geformt, gestaltet und moduliert werden, wie sie codiert, diskursiviert und tradiert werden, welchen Stellenwert sie für eine Kultur insgesamt wie auch für einzelne ihrer Mitglieder und für soziale, geschlechtliche, ethnische, nationale und regionale Distinktionen ebenso wie für kognitive Prozesse und moralische Vorstellungen spielen, all dies kann mit physiologisch-biologischen Modellen allein nicht erklärt werden. Emotionen haben in den letzten Jahren zweifellos Konjunktur: nicht nur die Populärkultur entdeckt die “emotionale Intelligenz”, auch die seriösen Wissenschaften beschäftigen sich disziplinübergreifend, häufig auch in innovativen interdisziplinären Kooperationen mit Fragen der Affektdarstellung wie -wahrnehmung sowie deren Konsequenzen. Und in so unterschiedlichen Bereichen wie dem Privatleben, bei massenmedial inszenierten öffentlichen Events oder auch bei Managemententscheidungen zählt es inzwischen zum guten Ton, das eigene Gefühl, die erlebte Intensität zum Gradmesser der Orientierung und Beurteilung zu nehmen. Das Theater kann auf die gegenwärtige Konjunktur von Emotionen ganz entspannt reagieren. Es muss diese Mode nicht mitmachen, weil es seit seinen Anfängen als Spezialist für Gefühle gelten kann. Zumindest das abendländische Theater kann mit Fug und Recht als Gefühlsmaschinerie bezeichnet werden. Emotionen sind dabei sowohl Gegenstand von Repräsentation und Darstellung als auch intendierte Wirkungsabsicht. In produktionsästhetischer Perspektive geht es um die Frage, welche Gefühle von einem Schauspieler oder einer Schauspielerin auf welche Weise dargestellt werden können bzw. dürfen; problematisiert werden in diesem Zusammenhang spezifische Inhalte aber auch bestimmte Formen der Darstellung. In rezeptionsästhetischer Perspektive wird gefragt, Forum Modernes Theater, Bd. 24/ 2 (2009), 167-168. Gunter Narr Verlag Tübingen 168 Doris Kolesch welche Gefühle in welcher Form beim Zuschauer einer theatralen Aufführung erzeugt werden können und dürfen. Von der Katharsis-Theorie und der antiken Rhetorik, die den Redner in kritische Analogie zum Schauspieler setzt und zur affektiven Überwältigung des Publikums empfiehlt, die zu erzeugenden Emotionen zunächst im Rhetor oder im Schauspieler selbst zu erregen, über die 1727 veröffentlichte Schrift Dissertatio de Actione Scenica des Jesuitenpaters Franciscus Lang, welche die Schauspielkunst bestimmt als “schickliche Biegsamkeit des ganzen Körpers und der Stimme, die geeignet ist, Affekte zu erregen”, 1 über die Debatten im 18. und 19. Jahrhundert über den kalten Schauspieler oder das natürliche Gefühl bis hin zur gegenwärtig entgrenzten post-postdramatischen Theaterszene sind Theater und Emotion auf engste miteinander verknüpft. Die in diesem Heft beginnende Artikelserie “Theater und Emotion” möchte das vielfältige Wechsel- und Spannungsverhältnis von Theater und Emotion aus gegenwärtiger Perspektive befragen und beleuchten. Wie verhält sich das Theater zu den allgegenwärtigen emotionalen Inszenierungs- und Vermarktungsstrategien der Massenmedien und der Populärkultur? Welche Chancen bietet die Künstlichkeit von im Theater gezeigten Emotionen für die Reflexion der Künstlichkeit vermeintlich authentischer, “echter” Emotionen? Welche affektiven Erlebnisse und Erfahrungen verspricht sich das Publikum vom Besuch einer Theateraufführung? Unterscheidet sich die Emotionsdarstellung wie -wahrnehmung im Film von der im Theater und wenn ja, wodurch und inwiefern? Solche und andere Fragen können in dieser Artikelserie gestellt werden. Den Beginn macht der Beitrag von Jenny Schrödl, die jüngst eine Dissertationsschrift zu Situationen vokaler Intensität im Gegenwartstheater vorgelegt hat. Ihr Artikel “Stimme und Emotion” sucht dabei den grundlegenden Zusammenhang von Stimmlichkeit und Emotionalität im Theater zu ergründen und wesentliche Aspekte der emotionalen Wirksamkeit von Theaterstimmen darzulegen. Als weitere Etappen der Artikelserie sind die Überlegungen eines Grenzgängers zwischen Theaterpraxis und Theatertheorie - Julian Klein - vorgesehen, der sich im Rahmen seiner künstlerischen Tätigkeit der Erforschung von Emotionen widmet, sowie der Beitrag von Chris Salter, eines ebenfalls als Doppelbegabung von Künstler und Wissenschaftler agierenden Kollegen, der das Spannungsverhältnis von Technologie und Emotionalität im Gegenwartstheater thematisiert. Doch möchten die Herausgeber und Herausgeberinnen von Forum Modernes Theater ausdrücklich darauf hinweisen, dass die Artikelserie “Theater und Emotion” nicht als fest gefügte, abgeschlossene Reihe konzipiert ist, sondern dass interessierte Leserinnen und Leser nachdrücklich eingeladen sind, sich an einer hoffentlich vielstimmige Debatte über Theater und Emotion zu beteiligen. Herzlich willkommen und neugierig erwartet werden entsprechend Beiträge, die als Repliken, Weiterführungen oder Kommentare zu den von den Herausgebern angefragten Beiträgen entstanden sind oder die das Thema der Artikelserie zum Anlass nehmen, die diesbezüglichen eigenen Überlegungen zu Papier zu bringen. In diesem Sinne würden wir uns über eine hitzige, heftige, von Begeisterung, Leidenschaft und Engagement geprägte Debatte freuen. Berlin, im Juni 2010 Doris Kolesch Anmerkung 1 Franciscus Lang, Dissertatio de Actione Scenica cum Figuris eandem explicantibus, et Obervationibus quibusdam de arte comica / Abhandlung über die Schauspielkunst, übers. und hrsg. von Alexander Rudin, Nachdruck der Ausgabe Ingolstadt 1727, Bern [etc.] 1975, S. 163.
