eJournals Forum Modernes Theater 24/2

Forum Modernes Theater
fmth
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2196-3517
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/1201
2009
242 Balme

Heidy Greco-Kaufmann. Zou der Eere Gottes, vfferbuwung dess mentschen vnd der statt Lucern lob. Theater und szenische Vorgänge in der Stadt Luzern im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Theatrum Helveticum 11. Zürich: Chronos, 2 Bd., 672 und 402 Seiten, inkl. CD-ROM.

1201
2009
Matthias Daumer
fmth2420194
194 Rezensionen Urteilen, deren Voraussetzung die leibliche Anwesenheit des Zuschauers sei (S. 15). Im Verlauf des Bandes werden, so lässt sich zusammenfassen, vor allem drei Formen und Diskurse der Bildlichkeit identifiziert: erstens eine philosophische, die den Zusammenhang von Theatralität, Sehen und Erkenntnis beschreibt (Einführung, sowie Kap. 1.4), zweitens die Bildlichkeit als eine phänomenale im Aufführungsgeschehen, die sich symbolisch, semantisch, intermedial oder rhythmisch zeigt. Von diesem Typus handeln die meisten Aufsätze. Günther Heeg beschreibt in Bild/ Bewegung. Das Theater der Visualität beispielsweise den Zusammenhang von Mortifikation und Verlebendigung in einem historischen Bogen, der vom antiken bis zum postdramatischen Theater reicht, namentlich den Arbeiten von Wanda Golonka und der Socìetas Raffaello Sanzio. Meike Wagner und Martin Schulz besprechen Prozesse der Bildwerdung des Körpers als komplexe Gerinnungsbilder eines Ablaufs. Der dritte Typ der Bildlichkeit ist ein wahrnehmungstheoretischer bis kritischer, der das Theater als Ort der Demaskierung skopischer Regime kennzeichnet. Diese Bildlichkeit kann durch die Verschiebung von Bedeutung und das Offenlegen medialer Strategien Wahrnehmungsgewissheiten destabilisieren und Machtverhältnisse enttarnen. Gerade das Theater als audiovisuelles Sammelmedium, als Ort der Mehransichtigkeit und des Blicktauschs, der Betonung des Hier und Jetzt und der Integration vielfältiger Bild-Technologien, könne Prozesse der Sichtbarkeit und Blickordnungen distanzierend erfahrbar machen und kritisieren (vgl. S. 38). Besonders anschaulich wird dies im Artikel Bilder-Schlachten im Bambiland von Röttger, der offen legt, wie die Schlingensief-Inszenierung von Elfriede Jelineks Stück über den Irak-Krieg durch Strategien des Iconoclash ein kollektives Bildgedächtnis destabilisiert und dem Zuschauer wörtlich die Augen für mediale und politische Strategien öffnet. Auch die Artikel von Anja Müller-Wood und Christopher Balme wenden sich bestimmten Bildsprachen zu: der Wortkulisse des englischen, neuzeitlichen Dramas, das mentale Bild- und Machtpraktiken nutzt; Balme dem postmodernen Musiktheater, das auf ganz eigene Weise die Subtilität, den intertextuellen “Anspielungsreichtum und die spielerische Unbestimmtheit” der Bilder jenseits semiotischer Festschreibungen ins Spiel bringt (S. 274ff). Der Band Theater und Bild ist nicht nur anschlussfähig an die Bilddebatten der Kunstgeschichte, Philosophie und anderer Disziplinen, sondern bearbeitet in seinen thematischen Bezugnahmen immer auch theaterwissenschaftliche Kernfragen der Ko-Präsenz der Zuschauer, Performativität und Methoden des Faches selbst. Besonders hervorzuheben ist die gelungene interdisziplinäre Verbindung von theoretischen und historischen Perspektiven, die mit Ulrike Hass’ Beitrag sogar eine interkulturelle Perspektive auf Schrift und Bild im ostasiatischen Raum umfasst. Leider werden in manchen Beiträgen Visualität und Bild nicht trennscharf, sondern fast synonym verwendet, was in einigen Fällen zu einer Verallgemeinerung von Sichtbarkeit führt. Dennoch überwiegt der Eindruck der pointenreich und dicht gewobenen Argumentation der Aufsätze. Fehlte es bisher an einem allgemeinen Verständnis von Bildern als “Akte, als Vollzüge im Raum des Theaters” (Jackob, S. 100), so verdankt sich dem Sammelband eine ertragreiche Neubefragung des Bildbegriffs, da er die Diskussion zum Bild im Theater nicht nur bündelt und somit übersichtlich macht. Dieser Blick zeigt vielmehr, wie viel eine Verknüpfung von Theater und Bild sowohl für das Verstehen von Bildern als auch von Theater erbringen kann. Basel M AREN B UTTE Heidy Greco-Kaufmann. Zou der Eere Gottes, vfferbuwung dess mentschen vnd der statt Lucern lob. Theater und szenische Vorgänge in der Stadt Luzern im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Theatrum Helveticum 11. Zürich: Chronos, 2 Bd., 672 und 402 Seiten, inkl. CD-ROM. Das seit Bestehen der Theaterwissenschaft und spätestens seit den 1980er Jahren wortreich umspielte Gespenst des Transitorischen scheint, wo theoretisch paradoxerweise gefestigt, auf der Ebene Forum Modernes Theater, Bd. 24/ 2 (2009), 194-196. Gunter Narr Verlag Tübingen Rezensionen 195 positivistischer Forschung noch immer angsteinflößend wie eh und je. Umso mehr gilt dies für die theaterhistorische Aufarbeitung von Epochen wie dem Spätmittelalter, dessen Quellenlage ohnehin vieles schemenhaft entschwinden lässt, da sich die Flüchtigkeit des Ereignisses um den Grad seiner Historizität exponiert. Allein schon angesichts dieses Tatbestands gebührt dem Werk Heidy Greco-Kaufmanns Anerkennung, denn die Autorin scheut sich nicht, Theatralität in ihrer Gesamtheit, also im Sinne literaler, fester ebenso wie im Sinne ihrer unsteten Formen, zu begreifen und begegnet der Gefahr des Flüchtigen mit einem enormen Quellenfundus, welchen sie in einem zweiten Band ihrem historischen Abriss anhängt. So ist es möglich, Phänomene der Inszenierung von Herrschaft, Prangerstrafen, Harnisch- und Waffenschauen, Ritterturniere, die Auftritte von Artisten, Narren, Spielleuten und Gauklern, lokale Bräuche wie den Museggumgang, Schützenfeste oder die fastnächtliche Zentralfigur Bruder Fritschi ohne Abstriche in der Dichte der Betrachtung den bekannten Osterspielen und der vielfach behandelten Aufführung von 1583 zur Seite zu stellen. Dass Greco-Kaufmann ihren Abriss dabei lokal eingrenzt, ist angesichts der Bedeutung Luzerns für die spätmittelalterliche Theatralität kein Nachteil: Mit ihren spezifischen Ereignissen taugt die Stadt Luzern nahezu zum Paradigma der allgemeinen Entwicklung szenischer Vorgänge im deutschsprachigen Raum. Zusätzlich dazu hat das Forschungsgebiet Luzern den Vorteil, dass in dieser Stadt ein äußerst traditionsbewusster Stadtschreiber und selbst theaterpraktisch aktiver Spielleiter namens Renward Cysat gegen Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhundert einen einmaligen Fundus von Zeugnissen nicht nur literaler, sondern aller für ihn greifbaren szenischen Vorgänge seiner Stadt zu erstellen versuchte und dies mit einer Methodik, die man schon beinahe als dem New Historicism verpflichtet glauben könnte. Cysat ist durch seine Collectanea Chronica und denkwürdige Sachen pro Chronica Lucernensi et Helvetiae zum guten Engel dieser Studie geworden und seine Betrachtungen ermöglichen, neben den vielzähligen weiteren von Greco-Kaufmann erschlossenen und unter Anwendung des größten editorischen Feingefühls publizierten Quellen, der Autorin in ihren Darlegungen einen Grad der historisch verbürgten Plastizität, welchen man für die szenischen Vorgänge in anderen Städten des Spätmittelalters wohl niemals erreichen könnte. Die zeitliche Begrenzung wird vom Beginn der Luzerner Aufzeichnungen im frühen 14. Jahrhundert bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts gesetzt, wobei Greco-Kaufmann aus guten Gründen einzig die Reformation mit den konfessionell geprägten theatralen Bemühungen der Jesuiten als so einschneidendes Ereignis betrachtet, dass sie ihre Untersuchung der historischen Zäsur entsprechend in zwei Teile gliedert. Ein weiteres Gliederungsprinzip ist die Unterteilung in verschiedene Arten von szenischen Vorgängen, die in den methodischen Vorüberlegungen dem Theatralitätskonzept Andreas Kottes folgend, nach ihrem “Grad der Heraushebung aus der Lebenswirklichkeit, Artifizialität, intendierte Öffentlichkeit, Gelenktheit und beabsichtigte Wirkung” (38) konzentrisch um die literarischen Spiele als festeste Theaterform herum angesiedelt werden. Jenseits dieser Kategorisierungen argumentiert Greco- Kaufmann jedoch stets gleichzeitig diachron wie synchron, so dass weder der Blick für die historische Entwicklung einzelner Phänomene noch ihre gegenseitige überzeitliche Bedingtheit aus dem Fokus gerät. Wie nebenbei trifft die Studie dabei Aussagen, deren Erkenntniswert die Sicht der folgenden Forschung nachdrücklich prägen dürften. Eines dieser Ergebnisse soll hier besondere Erwähnung finden: Dem nach seinem ehemaligen Aufbewahrungsort benannten Donaueschinger Passionsspiel liegt ein Bühnenplan bei, der seit jeher ein umstrittenes Objekt der Forschung gewesen ist; meist galt er als Plan eines Villinger Spiels, ansatzweise, jedoch bisher ohne schlüssige Darlegung, wurde er auch als Plan einer Luzerner Aufführung gesehen. Die Verortung auf dem berühmten Weinmarkt vermochte jedoch nicht gelingen. Greco- Kaufmann kann nun durch eine innovative wie logische Argumentation den bis 1481/ 82 noch nicht bebauten Kapellplatz vor der Luzerner Peterskirche als Ort der skizzierten Aufführung bestimmen. Kernpunkt der Argumentation ist dabei, dass die drei eingezeichneten Tore des Plans nicht, wie bisher angenommen, als linear hintereinander stehend begriffen werden, sondern als 196 Rezensionen Dreiteilung des Plans an sich, welche aufgrund des Papierformats vorgenommen wurde - in Anbetracht der Kosten von Schreibmaterialien eine äußerst einleuchtende Begründung. Mit dieser Vorüberlegung funktioniert die Verortung einwandfrei und bildet die Grundlage zu einer Rekonstruktion des Spielablaufs, welche hinsichtlich der spätmittelalterlichen theatralen Praxis und dem Einfluss bürgerlich geprägter Gruppierungen wie der Bruderschaft zur Dornenkrone, genauso wie bezüglich des Zusammenhangs von stadtspezifischer Raumsemantik und Spielablauf ergiebig ist. Passagen wie diese wirken auf den Leser ebenso intellektuell anregend wie plastisch unterhaltsam. Hier wird die Autorin, wie im Großteil ihres Werks nicht zuletzt auch aufgrund der vielen illustrierenden wie interferierenden Abbildungen, ihrem postulierten Anspruch gerecht, den Spagat zwischen Fach- und Laienpublikum zu meistern. Insgesamt handelt es sich bei Greco-Kaufmanns Untersuchung um ein gelungenes, unterhaltsames und wissenschaftlich ergiebiges Werk, welches sich weder scheuen muss noch scheut, die verwendeten Archivbestände in Buchform wie auch anhand einer beigefügten CD-ROM dem Leser offen vor Augen zu legen, so dass man nicht nur mit Genuss liest, sondern ebenso anhand der Quellen den historischen Abriss nachvollziehen und hinsichtlich der eigenen Interessen weiterdenken kann. Gießen M ATTHIAS D ÄUMER Christina Thurner, Beredte Körper - bewegte Seelen. Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten. Bielefeld: Transcript, 2009, 229 Seiten. Der Aufschwung der Tanzwissensschaft, der sich seit einigen Jahren abzeichnet, hat das Konzept der Bewegung erneut in den Blickpunkt gerückt, und die Dimension semiotischer Bewegungsanalyse um wichtige Fragen nach der körperlich-motorischen und sensorischen Dimension von Bewegung bereichert. Fasste der Begriff der Bewegung im theater- und tanzwissenschaftlichem Verständnis immer schon das Wechselspiel äußerer Bewegung und inneren Bewegt-Seins, wie es aus der rhetorischen Lehre überliefert ist und die Darstellungstheorie des 18. Jahrhunderts prägt, so zeichnet sich in jüngeren Publikationen eine wissens- und diskursgeschichtliche Dimension des Bewegungsbegriffs ab, die geeignet ist, am Problem der Darstellung von Bewegung zugleich ganz verschiedene Wissenskulturen in den Blick zu nehmen. So kann etwa die Qualität der Bewegung als Gestik und Mimik im Sinne der Anthropologie (des Darstellers) der raum-zeitliche Bestimmung von Bewegung, wie sie die newtonsche Physik formuliert, zur Seite gestellt werden. Das rhetorische Konzept der Bewegung, das movere, wird wiederum in seiner Ausdifferenzierung in die Psychologie (der Emotionen) und die Körpertechnik (etwa als Bewegungsgesetze in der Tanz- und Schauspielkunst) erkenntlich. Gemeinsam ist diesen Wissenskulturen das Problem der Beobachtung von Bewegung, genauer die Relativität der Beobachterposition. Just diese Unschärfe des Wissens über Bewegung steht im Kern der historischen Semantik und der Wissensgeschichte, die sich unter dem Konzept der Bewegung abzeichnet. In doppelter Hinsicht - als Phänomen der Bewegungskunst ‘Tanz’ und als Diskurs über die Wirkung und Rezeption von Kunst überhaupt stellt Christina Thurner das Konzept der “doppelten Bewegung” in den Mittelpunkt ihrer Studie Beredte Körper - bewegte Seelen. Mit dem Konzept der doppelten Bewegung differenziert sie das Wechselverhältnis von körperlicher und innerer (seelischer) Bewegung aus, welches als commercium mentis et corporis die ästhetischen Debatten um die Darstellung von Emotionen zur Zeit der Ballettreform und der Formulierung von Schauspieltheorien im 18. Jahrhundert prägt. Damit nimmt sie erneut die Debatte um den ‘heißen’ und ‘kalten’ Schauspieler und die Suche nach einer ‘natürlichen Gestalt’ und Ausdruckssprache auf, wie sie bereits etwa in Günter Heegs Studie über das Phantasma der natürlichen Gestalt zum Thema wird. In diesem Sinne liegt ein Teil ihrer Arbeit darin, den Unmittelbarkeits- und Naturdiskurs, wie ihn Heeg für den Charakterdarsteller ausmacht, im Feld des Tanzes aufzuzeigen. Forum Modernes Theater, Bd. 24/ 2 (2009), 196-198. Gunter Narr Verlag Tübingen