eJournals Forum Modernes Theater 25/1

Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/0601
2010
251 Balme

Sehnsucht nach Zukunft

0601
2010
Christel Weiler
Ausgangspunkt ist zunächst die Annahme, dass das Theater auf mehreren Ebenen als zukunftgenerierende Institution gesehen werden kann: Der Vorgang des Probens und Inszenierens selbst lässt sich beschreiben als Prozess der Hervorbringung eines künftigen Ereignisses; der Vorgang der Wahrnehmung und der Bedeutungszuschreibung ist charakterisiert durch Vorwegnahmen und Erwartungen; schließlich und endlich wird in zu inszenierenden Texten auf einer inhaltlichen Ebene die Frage verhandelt, wie Zukunft zu gestalten ist und welches Verhältnis wir dazu einnehmen. Insbesondere mit Blick auf ein jugendliches Publikum und ebensolche Akteure scheinen Fragen nach der Zukunft von zusätzlicher Relevanz. An drei konkreten Beispielen: dem dramatischen Text Vaterlos von Claudius Lünstedt, der Inszenierung von Warngedicht durch das Berliner Regieteam Yigit it und Prlic, sowie der filmischen Dokumentation (Rhythm is it) einer choreographischen Probenarbeit zu Sacre du printemps werden deshalb unterschiedliche Konzepte und Haltungen zum Thema “Jugend und Zukunft” vorgestellt und diskutiert.
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Sehnsucht nach Zukunft Christel Weiler (Berlin) Ausgangspunkt ist zunächst die Annahme, dass das Theater auf mehreren Ebenen als zukunftgenerierende Institution gesehen werden kann: Der Vorgang des Probens und Inszenierens selbst lässt sich beschreiben als Prozess der Hervorbringung eines künftigen Ereignisses; der Vorgang der Wahrnehmung und der Bedeutungszuschreibung ist charakterisiert durch Vorwegnahmen und Erwartungen; schließlich und endlich wird in zu inszenierenden Texten auf einer inhaltlichen Ebene die Frage verhandelt, wie Zukunft zu gestalten ist und welches Verhältnis wir dazu einnehmen. Insbesondere mit Blick auf ein jugendliches Publikum und ebensolche Akteure scheinen Fragen nach der Zukunft von zusätzlicher Relevanz. An drei konkreten Beispielen: dem dramatischen Text Vaterlos von Claudius Lünstedt, der Inszenierung von Warngedicht durch das Berliner Regieteam Yig it und Prlic´ , sowie der filmischen Dokumentation (Rhythm is it) einer choreographischen Probenarbeit zu Sacre du printemps werden deshalb unterschiedliche Konzepte und Haltungen zum Thema “Jugend und Zukunft” vorgestellt und diskutiert. Die Ausgangsfrage für die folgenden Reflexionen lautete: wie verhält sich Theater - im weitesten Sinne - zu Zukunft. Nicht zuletzt weil Theater als Kunstform zu den Zeitkünsten gerechnet wird, finden sich darauf eine Menge Antworten, jeweils auch in Abhängigkeit davon, wie Zukunft als Phänomen gefasst wird. Diese Antworten lassen sich im Wesentlichen drei größeren Komplexen zuordnen, die Theater ausmachen: dem Probenprozess, dem Vorgang der Wahrnehmung des Theaterereignisses und selbstverständlich der inhaltlichen Dimension einer Inszenierung bzw. ihrer diskursiven Ebene. 1) Zukünftigkeit in der Zeitlichkeit des Probenprozesses und Ereignischarakter einer Aufführung Der gesamte Probenprozess ist ein Ort der Zukunftsproduktion insofern, als dort mittels der Proben und Inszenierungsvorgänge ein künftiges Ereignis vorbereitet wird. Sehr verkürzt lässt sich mit Blick auf die Hervorbringung dieses künftigen Geschehens sagen: die Theaterleute gehen aus von einem Text, einer Idee, der/ die häufig gemeinsam bearbeitet wird. Sie durchlaufen zusammen und jeder für sich einen Prozess des Ausdenkens, Ausprobierens, Gestaltens, Verhandelns, Entwerfens, Zusammenfügens, um an dessen Ende das, was geschaffen wurde, in einen neuen Zustand zu überführen. Dieser neue Zustand des Geschaffenen wird immer wieder Aufführung genannt. Er zeichnet sich dadurch aus, dass man versucht, etwas, nämlich die nun fertige Inszenierung, d.h. ein Konzept, eine Vorstellung von etwas wiederholt in einer immer wieder ähnlichen oder gleichen Qualität vor einem immer wieder anderen Publikum zur Ansicht zu bringen. Dies macht den Ereignischarakter der Aufführung im Theater aus: sie ist einerseits auf eine ganze Reihe von klaren Vorstellungen bezüglich ihres Ablaufs gegründet, durch den Vorgang der Wiederholung hindurch ist sie jedoch stets auch offen für Unerwartetes. Das Überführen der Inszenierung in ein Ereignis ist nie ganz gesichert. Es ist zwar geplant und geprobt, aber es wird auch stets wieder in neue Zusammenhänge gebracht, die es in Frage Forum Modernes Theater, Bd. 25/ 1 (2010), 17-32. Gunter Narr Verlag Tübingen 18 Christel Weiler stellen bzw. seine Realisierung als Ereignis immer wieder neu konfigurieren. Letzteres gilt in zweierlei Hinsicht: Der rein technische Ablauf einer Aufführung ist immer prekär, d.h. prinzipiell zwischen Gelingen und Scheitern angesiedelt. In der Abhängigkeit von materialen und medialen Gegebenheiten gestaltet sich für jede Aufführung ein potentielles Risiko, das kaum zu umgehen ist. Auf der Ebene des Ästhetischen bzw. als ästhetisches Ereignis wiederum kann die Aufführung in ihrem Gelingen immer nur in Relation zu den anwesenden Zuschauern gedacht werden. Was ihren Wert als ästhetisches Ereignis ausmacht, wird - pointiert formuliert - stets von Zuschauer zu Zuschauer und von Aufführung zu Aufführung neu bestimmt. Jede Aufführung schafft sich so als gelingendes ästhetisches Ereignis im Zusammenspiel von Bühnengeschehen und Zuschauerpräsenz immer wieder aufs Neue. 2) Zukunft als Thema Eine weitere Weise, wie sich Theater zu Künftigem und zu Zukunft verhalten kann, besteht darin, beides zum Gegenstand theatraler Phantasie und Reflexion zu erheben. Auch hier finden wir mehrere Möglichkeiten. Zukunft kann Thema auf der Bühne sein: in Tschechows Dramen zum Beispiel spielt sie in den Reden der Protagonisten häufig eine herausragende Rolle - so in den Drei Schwestern oder auch in Onkel Wanja, um die nicht erfüllte Gegenwart deutlich zu machen. Des Weiteren kann die dramatische oder theatrale Handlung in eine imaginierte Zukunft verlagert sein - denkbar wären Bühnenbearbeitungen des Romans Fahrenheit 471 von Ray Bradbury. Interessanterweise jedoch verbinden sich Theater und science fiction nicht allzu oft. So scheint sich auch das visionäre Verhältnis des Theaters zu Künftigem eher in Manifesten und Entwürfen zu artikulieren, denn in konkreten Ausgestaltungen auf der Bühne. Theaterhistorisch lässt sich das beispielsweise an den Raumphantasien Adolphe Appias ablesen, die zu seinen Lebzeiten keine Realisierung erlebten, aber im Nachhinein als Vorläufer der Visionen von Robert Wilson gewertet werden. 3) Zeitlichkeit der Wahrnehmung In einem sehr konkreten Sinne reicht Kommendes jedoch für jeden Zuschauer in den Akt der momentanen Wahrnehmung hinein: wir schauen und hören und eilen in Gedanken voraus angesichts dessen, was gerade vor unseren Augen und Ohren geschieht, um dann durch die Ereignisse auf der Bühne wieder eingeholt zu werden. Wir produzieren Erwartungen und bemerken sie erst dann, wenn sie enttäuscht werden; wir verstehen eine Rede oder Handlung erst dann, wenn sie abgeschlossen ist, also von ihrem Ende her. Das Theater macht uns also häufig klar, dass wir Gegenwärtiges erst in seiner vollen Bedeutung erfassen können, wenn es an (s)ein Ende gekommen ist (teleologische Konzepte). Aber es kann uns auch verdeutlichen, dass Künftiges schon in der Gegenwart angekommen ist und es keinen Sinn macht, von Ersterem etwas anderes zu erwarten als eben das, was bereits vorhanden ist (Konzepte der Immanenz). Im Theater ist der Vorgang der Wahrnehmung als solcher bereits ein Spiel in und mit der Zeit, mit Vergangenem, Präsentem und Künftigem - unabhängig davon, was an Gehalt auf der Bühne vorgestellt und verhandelt wird. Zeitlichkeit der wiederholten Inszenierung Eine weitere Dimension von Künftigem oder Zukunft erschließt sich mit Blick auf die Zeitlichkeit des Theaters selbst. Jede Auf- Sehnsucht nach Zukunft 19 führung hat nur eine begrenzte “Lebenszeit” oder anders ausgedrückt: nur eine knappe Zukunft. Sie reicht von einem einmaligen Ereignis, das keine Wiederholung kennt bis hin zu “Kultveranstaltungen” wie beispielsweise Marthalers Murx, eine Inszenierung, welche zwischen 1993 und 2007 auf den Brettern der Berliner Volksbühne in mehr als 200 Aufführungen zu sehen war (und interessanterweise den “Stillstand” der Zeit zum Thema hatte). An Murx war beispielhaft zu beobachten, wie sich Akteure und Publikum mit der Zeit wandelten und welch immer anderen Stellenwert eine Inszenierung im gemeinsamen Gedächtnis einer Gemeinschaft einnehmen kann: die Inszenierung wurde über einen relativ langen Zeitraum zu einem Teil der schauspielerischen Lebenspraxis, die Schauspieler wurden mit der Inszenierung älter und so veränderten sich Inszenierung und Schauspieler wechselseitig. Was die Seite des Publikums anbelangt, so gewann Murx im Lauf der Jahre immer neue Zuschauer, während sich gleichzeitig eine Art Gemeinde um das Ereignis herum bildete, die ein Vergnügen daran fand, die sattsam bekannten Witze, grotesken Situationen und seltsamen Gesänge immer wieder vorgetragen zu bekommen. Doch selbst diese relativ lang erscheinende Zeit wiederholter Aufführungen einer Inszenierung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Position des Theaters im kollektiven Gedächtnis nur eine vergleichsweise marginale sein kann. Man könnte sogar provozierend sagen: das Theater hat nicht zuletzt deshalb in unsrer Kultur einen hohen Stellenwert, weil wir es immer wieder neu herstellen. Im Feld des kulturellen historischen Bewusstseins besetzt es den Platz des fortwährenden Vergessens, weil es lediglich imstande ist, eine nahe Zukunft oder eine kurze Geschichte zu schaffen. Die Zukünftigkeit des Theaters - so können wir zusammenfassend sagen - zeigt sich also im Prozess seiner Herstellung, als Thema im theatralen Geschehen, in den Erwartungen und Annahmen der Zuschauer und in seinem Verhältnis zum kollektiven Gedächtnis. In meinen folgenden Überlegungen will ich eine weitere Spur verfolgen. Sie bedenkt die oben genannten Voraussetzungen, konkretisiert sie jedoch in einer thematischen, für die Gegenwart aktuellen Dimension. Ich will der Frage nachgehen, wie sich in verschiedenen Bereichen des theatralen Feldes gegenwärtig Jugend und Theater zueinander und beide gemeinsam zum Thema Zukunft verhalten. 1 Dabei habe ich drei Beispiele recht unterschiedlicher Art vor Augen: den Dokumentarfilm Rhythm is it, eine Inszenierung der Berliner Regisseure Tamer Yig it und Branka Prlic´ und einen dramatischen Text des Autors Claudius Lünstedt. Bei dem Film Rhythm is it handelt es sich um die groß angelegte Dokumentation eines “sozial-ästhetischen”, Musik, Theater und Tanz umfassenden pädagogischen Projekts der Berliner Philharmoniker mit Kindern und Jugendlichen aus so genannten Berliner “Problembezirken” 2 ; die Inszenierung Warngedicht, die zuerst am Berliner Theater Hebbel am Ufer 3 zu sehen war, stellt eindrucksvoll vier Jugendliche “mit Migrationshintergrund” in ihr Zentrum 3 ; in Claudius Lünstedts dramatischem Text Vaterlos schließlich gelangt - gebunden an die Beziehungen von drei Jugendlichen - auf sehr komplexe Weise eine Verflechtung von Mythos und Zukunft zur Anschauung. Jugend und Zukunft Die Auswahl dieser drei Beispiele hat ihre eigene Geschichte, die nicht unerwähnt bleiben soll. Von einem Kollegen gefragt, was ich mit der Zukunft des Theaters verbinde - ihm war eigentlich daran gelegen zu erfahren, ob das deutsche Regietheater in seinen letzten Zügen liegt - fielen mir ausschließlich die oben genannten Projekte, bzw. Texte ein. 20 Christel Weiler Hinzu kam noch Tim Etchells Arbeit That Night Follows Day, ein Theaterabend, in dem Kinder und Jugendliche nichts anderes tun, als in Variationen zu artikulieren, worin sie ihren Eltern folgen, bzw. was diese ihnen mit auf den Lebensweg geben. 4 Aus recht unterschiedlichen Gründen hatten alle diese Arbeiten etwas Faszinierendes für mich. Sei es, dass sie das transformierende Potential des Theaters in den Vordergrund rückten, sei es, dass sie berührend poetische Momente erkennen ließen oder gegenwärtige gesellschaftliche Probleme in einen neuen Horizont rückten. Die spontane Aufzählung dieser Arbeiten von und mit Kindern und Jugendlichen - dies wurde mir im Nachhinein deutlich - ist jedoch nicht allein diesen Qualitäten geschuldet. Vielmehr verdankt sie sich der Tatsache, dass sich mit Blick auf Kinder und Jugendliche die Frage nach der Zukunft automatisch stellt: sie sind diejenigen, in deren Händen die künftige Gestaltung von Gesellschaft und Kultur liegen wird, sie werden es schließlich sein, die das künftige Klima einer Gesellschaft bestimmen. Bezogen auf die persönlichen Biographien sehen wir die Jugend als eine Lebensphase des Übergangs. Das Voranschreiten der Jugend bringen wir in Verbindung mit der künftigen Übernahme von Verantwortung und Sorge um sich selbst, mit der in Aussicht stehenden eigenständigen Gestaltung des Lebens, vielleicht mit dem späteren Gründen einer Familie - in jedem Fall also mit dem zeitlichen Weiterführen von Gegebenem und Vorhandenem, aber auch mit der Neuordnung und Umgestaltung von Welt. Nicht zuletzt deshalb gilt uns die Jugendzeit als eine Periode der Gefährdung, welcher mit Blick auf die Zukunft besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden muss. Gerade weil Künftiges in hohem Maße davon abhängt, was im Bereich von Bildung und Erziehung für Jugendliche geleistet wird, wie gut es gelingt, Kinder und Jugendliche in bestehende Strukturen zu integrieren und ihre Bereitschaft und Fähigkeiten zu fördern, dafür Verantwortung zu übernehmen, muss es auch für das Theater von Interesse sein, dazu Stellung zu beziehen, bzw. sich zu diesen Anforderungen zu verhalten. 5 In meinen drei Beispielen wird es also darum gehen, darzulegen, wie das Theater als Institution mit dazu beiträgt, einerseits den Diskurs über Jugend und Zukunft herauszubilden, aber andererseits auch darin wirksam sein kann, Künftiges mit Jugendlichen selbst in die Wege zu leiten. Es wird zu zeigen sein, dass Theater in der konkreten Arbeit mit Jugendlichen Spuren legen kann, die ins Neue, noch Ungewisse führen und ein wichtiges Potential für die Zukunft bergen. In diesem Bildungs-Prozess kann dem Theater eine wichtige Rolle und Funktion zukommen. Zwei dieser Arbeiten - der Film und die Inszenierung - sind direkt in Beziehung zu setzen zu dem gegenwärtigen politischen Bemühen bzw. der damit verbundenen Debatte um die Verbesserung der Bildungschancen von Jugendlichen. 6 Sie eröffnen also auch Dimensionen soziologischer Fragestellung. Dem gegenüber bietet der dramatische Text von Claudius Lünstedt zunächst einmal zahlreiche Möglichkeitsräume für künftiges Inszenieren. Doch nicht nur das: in Vaterlos wird die allen dramatischen Texten zugrunde liegende Eigenheit zum Thema gemacht. Es geht um nichts weniger als um verschiedene Möglichkeiten der Zukunftsgestaltung. Deshalb möchte ich die Diskussion damit beginnen. Vaterlos 7 Bereits mit der Angabe der Zeit, in der sich die Leserin das folgende Geschehen vorstellen soll, verweist der Autor kurz und knapp darauf, dass Zukunft im Blick ist. “Die nächsten sieben Tage” heißt es nach der Nennung der Protagonisten (Felix, seine Mutter, Abadi, Lela, Organ, der Förster, der Aufseher) und der Bezeichnung des Ortes (Stadt am Meer Sehnsucht nach Zukunft 21 mit Waldzugang). In diesen nächsten sieben Tagen wird es ebenso signifikante Örtlichkeiten wie auch unterschiedliche Tages- und Nachtzeiten geben, die für den Fortgang des Geschehens relevant sind. 8 Während jedoch die biblischen ersten “sieben Tage”, von denen wir wissen, die Erschaffung der Welt in sich bargen, soll es in Lünstedts “nächsten sieben Tagen” zunächst um Untergang gehen. Felix, der Held des Dramas, ist auf der Suche nach seinem Vater. Da er keinen leibhaftigen Vater kennt, glaubt er, dass sein Vater auf der Sonne lebt. Auch seine Mutter lokalisiert ihn “im Himmel”, sein Freund Abadi bestreitet ihn gänzlich und seine Freundin Lela hält dies alles für Unfug. Felix jedoch macht es sich zur Aufgabe, seinen Vater zu finden. Während gleich zu Beginn des Textes im Spiel artikulierte Zukunfts- und Reisewünsche der beiden anderen jungen Leute darauf zielen, den Nanga Parbat zu besteigen oder Forscherin in Japan zu werden, sagt Felix: “Ich packe meinen Koffer und flieg zur Sonne. Da wohnt mein Vater.” 9 Abadi hält dies für eine Lüge und Lela sieht darin einen Ausdruck von Übertreibung. Felix aber meint es ernst: “Ich packe meinen Koffer und flieg zur Sonne. Da wohnt mein Vater. Hab ich ihn gefunden schicken wir euch die ewige Nacht…. Ich bin Phaeton. Sohn der Sonne.” 10 Hier deutet sich bereits an, dass mit der irdischen Suche nach dem Vater ein mythischer Auftrag verbunden ist, der - darin dem Mythos folgend 11 - schließlich ins Verderben führen wird. Bei Ovid ist der Vater suchende Junge ein Sohn Klymenes, den sie dem Sonnengott geboren hat. Sol leugnet nicht die Vaterschaft, im Gegenteil. Er heißt seinen Sohn willkommen und um jeden Zweifel im Herzen des Sohnes an der legitimen Nachfolge auszuräumen, gesteht er ihm die Erfüllung eines jeden Wunsches zu. Der Sohn fordert nichts weniger, als den Sonnenwagen mit den geflügelten Rossen lenken zu dürfen. Sol versucht mit allen Mitteln, ihm dies auszureden, er weiß um die Gefahren dieses Unternehmens und auch darum, dass sein Sohn diese schwierige Aufgabe nie wird bewältigen können. Als Phaeton jedoch darauf besteht, gibt ihm der Vater gute Ratschläge, wie der Wagen sicher zu lenken sei, was es zu vermeiden und zu beachten gilt. Von da an nimmt das Unglück seinen Lauf. Phaeton stürzt mit seinem Unvermögen nicht nur sich selbst, sondern den gesamten Erdball in ein flammendes Verderben und hinterlässt eine schreckliche Spur der Verwüstung. Was in Lünstedts Text den Jungen treibt, seinen Vater zu suchen, ist ein in seinen Augen unverbrüchliches Recht. Er fordert Aufklärung von der Mutter und konfrontiert sie mit der Aussage: “Ich habe das Recht einen Vater zu haben.” 12 Dieses Recht ist verbunden mit dem Wunsch nach Zugehörigkeit: “Lass mich zum Himmel gehören.” 13 Die wie auch immer motivierte Antwort der Mutter auf die Frage nach dem Vater, er sei im Himmel, wird von Felix wörtlich genommen. In Ermangelung desselben schafft er sich also einen eigenen Vater aus Versatzstücken, einen, der zugleich im Himmel ist und auf der Sonne lebt, in einem Schloss hinter Indien. Entsprechend nennt sich Felix nicht Felix, sondern Phaeton, wie der gleichnamige Sohn der Sonne aus Ovids Metamorphosen. In der Suche nach dem Vater (oder anders gesagt: nach Zugehörigkeit, nach Orientierung, nach einem brauchbaren Gesetz) - hier als Aufgabe für die Zukunft formuliert - verbinden sich also Figuren und Bilder der antiken (Phaeton und Sol) und christlichen Mythologie (der Vater im Himmel als Ziel der Heimkehr Christus) mit Gebilden der Imagination (Schloss hinter Indien). Anders als seine Freunde, vor allem Lela, die darauf besteht, dass “wir realistisch bleiben” 14 , nimmt Felix die Bilder und Redeweisen wörtlich. Er versteht sie nicht in ihrem symbolischen Wert, sondern sie leiten sein Tun und Handeln in einem sehr konkreten Sinn. Das daraus resultierende Verhängnis wird unausweichlich, als die Freunde auf dem Dach der Schule Felix 22 Christel Weiler davon abhalten wollen, zu seinem Vater zu fliegen. Zwischen den beiden Jungen kommt es zu einem Kampf, bei dem Felix Abadi einen Stoß versetzt, so dass dieser vom Dach der Schule stürzt. Felix ruft ihm hinterher: “Flieg Engel flieg. Flieg.” 15 Felix begibt sich in Folge auf die Flucht (oder Wanderschaft? ), wobei ihm unterwegs eine Figur begegnet, die als “Förster ohne Gewehr der aussieht wie ein Reptil” 16 beschrieben wird. Spätestens jetzt sollte deutlich sein, dass Claudius Lünstedts Text auch keine dramatisch psychologische Konzeption zugrunde liegt, sondern dass es sich vielmehr um ein Textgebilde handelt aus mythologischen, christlichen und märchenhaften Motiven sowie Anspielungen zu zentralen Problemen der Gegenwart, die ineinander übergehen bzw. kunstvoll miteinander verflochten sind. Daraus entsteht die Kartographie eines Bewusstseins, das seine Herkunft nicht kennt, sie im Mythos (in der Fiktion) anlagert und deshalb - wie sich zeigen wird, auch nicht im positiven Sinne zukunftsfähig ist. Angesichts des reptilhaften Wächters des Waldes fühlt sich Felix von seinem Vater gerufen und in die Irre geleitet zugleich. Er tötet den Förster und darüber zusammenbrechend adressiert er seinen Vater: Verdammt. Vater. Was soll das. Geh mir gefälligst zur Hand. Sofort. Lässt mich umherirren. Zumindest die Route. Wär das mindeste. Pfade. Schilder. Oder eine simple Leuchte. Wo geht’s lang. Na los. Vater. Sags mir. Verdammt. Soll ich kommen oder nicht. Hast du mich gerufen oder nicht. Was. Wie. Etwas lauter bitte. 17 Auch wenn Lela versucht, ihren Freund zu schützen - für Felix den Mörder gibt es kein Entkommen. Der Aufseher 18 nimmt ihn fest und bringt ihn in Haft. Dort spricht Felix mit seinem imaginierten Vater. In diesem Monolog verdeutlicht der Autor, dass das Wissen um das künftige Scheitern mindestens eine der Triebfedern ist, die das Handeln des Jungen bestimmen. Mit Felix ist eine paradoxe Figur geschaffen, die zwar nicht ihre Herkunft kennt, wohl aber den Mythos und seinen Ausgang reproduziert. Nichts hält den Protagonisten davon ab, seine eigene Zukunft und die der ganzen Welt als Untergang zu begreifen. Im Gegenteil, gerade im Wissen darum, wie der Ausgang sein wird, wird der Mythos noch einmal heraufbeschworen: Weiß Bescheid weiß ich. Dass ich die Rosse nicht führen kann. Weiß ich. Dass mir die Fähigkeit fehlt. Weiß ich. Dass ich in deinen Augen kein Geschenk wünsch sondern Bestrafung verlang. Weiß ich weiß ich weiß dass ichs weiß und wills weil ichs weiß…. Dass die Route auf der mittleren Spur die beste wär. Weiß ich. Dass ich den Himmel verbrenn fahr ich zu hoch die Erde fahr ich zu niedrig weiß ich weiß ich weiß…. Allein verbrenn ich die ganze Welt in ein wüstes Land oh doch sehr wohl. Mit deinem eigenen Wagen. 19 Die vergebliche Suche nach dem Vater ist also für Felix verbunden mit Sehnsucht nach Zukunft, dem Wunsch nach Macht, Zerstörung und Selbstauflösung oder Auslöschung. Aus dem Gefängnis entkommen, wendet er sich noch einmal seinem Vater zu und bittet ihn um den letzten Gefallen: Bitte Vater. Gib mir einen Schlag. Präzis auf den Kopf. Dass mir wie Abadi das Hirn darin verblutet. Dein Schlag der soll mich endgültig aus dem Wagen katapultieren…. Bitte Vater. Jetzt. Will Feuer speien. Vergiften. Mich selbst sehen. Als einen Kometen der geschwärzt Richtung Erde rast. Einschlägt. Zornglut. So wärs mir am liebsten. Am allerliebsten. Vater. 20 Felix wird allerdings nicht durch seinen Vater umkommen und es wird ihm auch nicht gelingen, sich selbst zu zerstören. Nachdem er bei einem weiteren Zusammentreffen mit diesem auch den Aufseher umgebracht und ihm seine Dienstwaffe entwendet hat, setzt er alles in Brand. Am Ende begegnet er Lela, mit der er sich gemeinsam das Leben nehmen will. Sie wird es aber schließlich sein, die ihn Sehnsucht nach Zukunft 23 Abb. 1: FELIX-Phaeton mit dem Feuerschweif. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Erik Bergmann) im Spiel tötet und als einzige Figur übrig bleibt. 21 Aus dem Untergang von Felix mitsamt der Welt, die ihm den Vater verweigert, ihn verfolgt und in Haft nimmt, erwächst ein neuer Aufbruch. In Claudius Lünstedts dramatischem Text ist Lela somit die Figur, die Aussicht auf Zukunft hat bzw. eine weiter tragende zukunftgenerierende Kraft verkörpert. Lünstedt konzipiert sie als eine, deren beide Eltern im Labor arbeiten. Sie sind Forscher, die das Fremde erkunden und ihr Antwort auf Fragen geben können, die sie sich selbst nicht beantworten kann. “Meine Eltern arbeiten im Labor. Frag ich morgen mal nach. Ohne Vater. Ob so was geht.” 22 Von Felix erwartet sie nicht nur, dass er realistisch bleibt, sondern auch, dass er sich zähmt, dass er so ist, wie sie und Abadi. 23 Sie übernimmt die Ansicht ihrer Eltern, dass Felix mit seinem Verhalten einen Mangel kompensiert. 24 Ihr Verhältnis zu ihm ist durchweg ambivalent. Einerseits erhebt sie einen bestimmten Anspruch auf ihn - “du gehörst mir”, sagt sie 25 - andererseits stößt sie ihn von sich, als er sie küssen will. Durch bestimmte Andeutungen im Text entsteht der Eindruck, dass sie ihn unwissentlich verraten haben könnte, so dass der Aufseher auf seine Spur kommt. In der letzten Begegnung mit Felix macht sie ihm klar, dass ein gemeinsames Auslöschen keine Lösung darstellt. Es gelingt ihr, Felix die Dienstwaffe abzunehmen und sie auf ihn zu richten. Analog zu Felix, der im Wissen um den Ausgang des Mythos diesen noch einmal ausagiert, zitiert sie ein Spiel mit tödlichem Ausgang und wiederholt es zugleich: Einstmals hat ein Hausvater ein Schwein geschlachtet. Das haben seine Kinder gesehen. Als sie nun nachmittags miteinander spielen wollten hat das eine Kind zum andern gesagt, du sollst das Schweinchen sein und ich der Metzger … Du Schwein ich Metzger. Ja oder Nein. Wenn ja antwortest du mit nein wenn nein mit ja. 26 Ob das folgende Nein von Felix die Antwort auf diese Frage ist oder anders zu verstehen ist - er sagt zunächst: Nix da. Was willst du. Und sie antwortet mit: Bleibts dabei. 27 - spielt keine Rolle für den Ausgang. Lela erschießt ihren Freund aus der Nähe. Am siebten Tag wird sie das Spiel des Anfangs wieder aufnehmen. Die Reihe ist jetzt definitiv an ihr: “Doch. Bin dran. - Kurze Stille - Ich packe meinen Koffer und werd Forscherin in Japan. Tokio. Zurück komm ich dann nicht mehr.” 28 Ihr Überlebenswille trägt schließlich den Sieg davon. Die Komplexität des Textes ist mit der Betrachtung der beiden Figuren Lela und Felix längst nicht erschöpft. 29 Der Fokus auf die beiden sollte aber ausreichend sein, um deutlich zu machen, dass ein Nachdenken über Jugend und Zukunft Fragen nach biologischer und kultureller Herkunft ebenso einschließt wie eine Reflexion auf die Ursachen und Ausführungen jugendlicher Gewalt, die sich in Lünstedts Text als Ausdruck einer nicht zu bewältigenden Energie darstellt. Schuldzuschreibungen der üblichen Art - wie 24 Christel Weiler Zugehörigkeit zu einem bestimmten Milieu, mangelnde Ausbildung - werden damit zunächst belanglos und irrelevant. Gleichzeitig werden im Text implizit Fragen aufgegriffen, auf die noch keine definitiven Antworten zu geben sind. Auf einer alltagspraktischen Ebene wird künftig die Frage nach dem Vater neuer Antworten bedürfen für all jene Kinder, die auf nicht konventionelle Weise bzw. gentechnologisch gezeugt wurden. Die Bestimmung von Herkunft und Zugehörigkeit wird auch dann für Fragen nach Identität weiterhin im Zentrum stehen. Ihr Gelingen scheint für die Gestaltung von Zukunft unabdingbar. Für das Theater bzw. kommende Transformationen dieses Materials stellt sich mit Vaterlos eine ganze Reihe von Herausforderungen. Ohne Zweifel ist seine literarische Qualität gerade in seiner Komplexität begründet. Eine Reduktion auf die narrative Komponente ohne gleichzeitig den Ebenen Rechnung zu tragen, die ihn mit Symbolik und Zeichenhaftigkeit aufladen können, verfehlt den Text gänzlich. Er breitet weitaus mehr ein diskursives Geflecht aus, innerhalb dessen sich sowohl Fragen als auch Antworten hinsichtlich der Gestaltung von Zukunft auf unterschiedliche Weise hervorbringen lassen, denn lediglich eine unglücklich verlaufende dramatische Handlung, die sich mit einfachen Mitteln auf die Bühne übersetzen ließe. Warngedicht Tamer Yig its gemeinsam mit Branka Prlic´ geschaffene Inszenierung Warngedicht basiert nicht auf einer dramatischen Vorlage, wie sie oben dargestellt wurde. Vielmehr wurde die textliche Komponente der Arbeit - auf die ich mich im Folgenden auch hauptsächlich konzentrieren möchte - im Wechselspiel von Akteuren und dem Regieteam hergestellt und durch Texte von Tamer Yig it selbst komplettiert. Warngedicht ist also weniger als theatraler Metadiskurs über Jugend und Jungsein zu verstehen, sondern selbst zumindest partiell ein von Jugendlichen - drei männlichen Akteuren und einer weiblichen Performerin - hervorgebrachtes Ereignis, in dem diese zum großen Teil “ihre eigene Sprache” sprechen. 30 Gleich zu Beginn der Aufführung wird mit der Projektion eines Textes auf zwei herunter gelassene Jalousien ein möglicher gesellschaftlicher Rahmen aufgezeigt, in dem sich Warngedicht entfaltet. In großen Lettern geschrieben, können die Zuschauer lesen: Ich muss mir die ganze Zeit anhören, wie Scheiße mein Leben ist und was für Arschlochfreunde ich habe. Du hast ja deine Heimat, hast es dir darin gemütlich gemacht. Wir stehen vor dem Wort MIGRATION. Scheiß Leere. Kaputt kaputt. Wie lange noch? Unsere Kunst klebt am Fleisch der Strasse. Ich scheiß auf Idole und die Hunde deiner Art werden dran glauben. Damit wird angezeigt, dass Fragen nach Herkunft und Zughörigkeit für das Folgende eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Es gibt ein Ich und ein entgegen gesetztes Du, ein Wir und ein beschimpftes Gegenüber. Der Adressat dieser Rede ist jedoch unklar: handelt es sich um die Zuschauer, um andere Jugendliche, um die eigenen Eltern? Oder um alle zugleich? Was im Folgenden gezeigt und verhandelt wird, lässt eher letzteres vermuten. In einer lose zusammengefügten Abfolge kleiner szenischer Einheiten sprechen die vier Jugendlichen entweder alleine für sich, miteinander oder mit fiktiven Eltern, Freunden und Lehrern über ihre Sehnsüchte, Sorgen und Nöte, also auch über andere Jugendliche, über die Eltern und Lehrer und deren Schikane bzw. unverständlichen Handlungen, die ihnen das Leben schwer machen. Es geht um den Alltag, der aufgeladen ist mit Problemen in der Schule, mit den Eltern und den Freunden, es geht um Freundschaften und Sexualität, um Fragen nach Herkunft und Zugehörigkeit, um Ansprüche an sich selbst und Sehnsucht nach Zukunft 25 Abb. 2: Das Team von Warngedicht. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Çig dem Bag riaçik) andere. Immer wieder werden die Szenen durch musikalische Einschübe, durch auf die Wände des Theaterraumes projizierte kommentierende Textfragmente oder Videoeinspielungen unterbrochen. In dieser theatralen Montage, als die Warngedicht bezeichnet werden kann, zeigt sich Jungsein als Geste der Auflehnung und des Widerstandes, im Austragen von inneren und äußeren Konflikte, aber auch in Selbstzweifeln und Versagensängsten mit Blick auf die Zukunft. Zugleich präsentieren sich die vier Jugendlichen 31 mit Witz, vielfältigen Talenten zur Selbstdarstellung und einem Sinn für Poesie. Einige Aspekte von Jungsein möchte ich im Folgenden näher betrachten: sie entfalten sich in Szenen, in denen die Jugendlichen selbstreflexiv ihre eigene Zukunft in den Blick nehmen und problematisieren; in solchen, in denen sie verdeutlichen, welche zukunftfördernde oder -verhindernde Rolle Lehrer und Eltern im Alltag spielen und nicht zuletzt in jenen, in denen im Miteinander dieser Jugendlichen selbst ein utopisches Potential aufscheint. In Warngedicht sind es zunächst ganz unterschiedliche Haltungen zu Zukunft, die sich bei den Jugendlichen ausmachen lassen: eine, die davon ausgeht, dass der Blick nach vorne, verbunden mit einem eigenen starken Willen, zu Erfolg führt; eine, die nicht imstande ist, ein Ziel zu formulieren, die sich getrieben weiß; eine, die getragen ist von Angst und das Kommende fürchtet; eine, die sich zumindest klar darüber ist, was sie nicht will; eine, die sich an filmischen Vorbildern orientiert und schließlich eine, die allem und jedem mit aggressiver Selbstbehauptung entgegen tritt. Dabei können durchaus widersprüchliche Haltungen in einer Person aufscheinen. Gleich zu Beginn wird der im Hinblick auf Fragen nach der Zukunft für Jugendliche wohl wichtigste Lebensbereich ins Visier genommen - die Schule. Die Einstellungen dazu sind sehr verschieden. Für einen der drei Jungen - er nennt sich selbst “Tony Monta- 26 Christel Weiler no” - scheint das Pünktlichsein eine unüberwindbare Forderung zu sein. Ihn plagt eine Müdigkeit, die sein Leben bestimmt: Diejenigen, die etwas zu tun haben, sind schon längst weg. Mir bleibt die Müdigkeit. Früher konnte ich sofort aufstehen, nachdem ich wach wurde. Aber jetzt, wenn ich morgens mit meinen müden Augen aufwache, bleibe ich gerne noch eine Stunde im Bett. In die Schule gehen ist ihm jeden Tag gleichbedeutend mit dem Fällen einer neuen Entscheidung. Geh ich, geh ich nicht, ja oder nein? Er hat ein großes Vorbild: Tony Montano, den Helden aus Brian de Palmas Gangsterfilm Scarface. Er möchte werden wie dieser: “Ich möchte auch ein Held werden.” Aber mit Blick auf das Schicksal seines Vorbildes fragt er sich: “Muss ein Held immer früh sterben? ” Alternativ sieht er die Möglichkeit, Trainer eines Sportvereins zu werden, allerdings weiß er, dass man dann immer pünktlich sein muss - und dies scheint, zumindest jetzt, auch in Zukunft unmöglich. Nahezu als seinen Gegenspieler könnte man einen weiteren Jungen begreifen - er wird meines Erachtens nie mit irgendeinem Namen genannt - der von sich behauptet, dass er gerne zur Schule geht und dass ihm das Lernen Spaß macht. Er berichtet davon, dass er nun schon sechs Jahre in Deutschland lebt und nicht verstehen kann, warum seine Altersgenossen nur untätig rumhängen. Hier in diesem Land haben sie so viele Möglichkeiten - und was tun sie? Sie tun gar nichts. Sie müssten sich nur so ein bisschen anstrengen, dann könnten sie so vieles schaffen. Aber sie tun gar nichts. Sie denken, es liegt ihnen alles zu Füßen. Nein, das tut es nicht. Für alles muss man etwas tun. Das kann ich grade zu gut sagen. Seine erste Zeit in Berlin beschreibt er als eine harte Zeit, in der er sich nur ein Ziel gesetzt hatte: “Ich wollte unbedingt aufs Gymnasium gehen und ich habe es auch geschafft.” Es ist eine nahezu erwachsene Rationalität, die sich durch ihn zur Geltung bringt, eine Auffassung, die um Schwierigkeiten weiß, aber davon überzeugt ist, dass man nur wollen muss, um das zu erreichen, was man sich vorstellt und wünscht. Dass dies freilich nicht immer leicht ist, weiß er auch: “Berlin ist eine ziemlich radikale Stadt. Wenn man sich da treiben lässt, kann man leicht untergehen.” Wie abhängig man bezüglich der eigenen Zukunft jedoch von anderen sein kann wird deutlich, wenn “Knut” von seinen Erfahrungen mit der Schule berichtet: In den ersten zwei Jahren war es ganz gut in der Schule. Ich hatte einen richtig guten Lehrer, mit dem habe ich mich auch gut verstanden, der hat sich um mich gekümmert, hat jedem zugehört. Ich hab meine Hausaufgaben gemacht und alles lief gut. Ich dachte, es könnte ruhig so weitergehen. Die verdammte Zukunft sieht rosig aus. Eines Tages verkündet der Direktor der Schule, dass “euer Lehrer” nicht mehr kommt. Für Knut ist es nicht “euer Lehrer”, sondern “sein Lehrer”, der nicht mehr da sein wird und ohne den künftig die Schule eine andere sein wird. Als er schließlich in einer Klasse mit “sechs Mohammeds” landet, ist für ihn die Schule “gelaufen”. Irgendwann wird er sagen: “Ich schaff es nicht. Ich werde es nicht schaffen…. Ich habe keinen Bock. Ich weiß nicht, woher das Gefühl kommt. Keinen Bock zu haben. Kein Ziel. Keinen Wunsch.” Für die Gestaltung von Zukunft - so ist zu vermuten - sind dies nicht gerade die besten Grundlagen. Auch “Tony Montano” zeigt eindrücklich, welche Macht Lehrer haben, wenn es um die Zukunftsaussichten von Jugendlichen geht. Der Junge spielt einen imaginierten Dialog mit einem seiner Lehrer, in dem er ihn bittet, ihm doch eine gute Note zu geben. Gib mir doch einfach eine Eins, Mann, ich lass dich auch in Ruhe. Mein Bruder tötet mich, wenn er die Sechs sieht. Gib mir doch einfach Sehnsucht nach Zukunft 27 eine Eins. Mann. Hilf mir doch einmal in deinem ganzen Leben. Die angekündigte Morddrohung durch den Bruder mag übertrieben scheinen, sie verdeutlicht jedoch eindrücklich die existenzielle Dimension, in der sich diese Bitte mitsamt der anhängenden Problematik artikuliert. Interessanterweise ist es auch in dieser Arbeit die weibliche Protagonistin, die mit aggressiver Selbstbehauptung auf die Bühne tritt. Sie spricht von sich als einem Ghetto- Mädchen, äußert sich fortwährend beschimpfend und despektierlich über unterschiedliche Lehrer und Lehrerinnen und erweckt den Eindruck, von ungebändigter Vitalität und Durchsetzungskraft geprägt zu sein. Ihre Auflehnung richtet sich vor allem gegen die Willkür, der sie sich ausgesetzt fühlt: “Die Lehrer kommen wie aus dem Nichts und sagen: Hey, deine Versetzung ist gefährdet.” Angemessen wäre es ihrer Meinung nach, die Schüler mehr zu fördern, ihnen Unterstützung und Gehör zu geben, bzw. ihre anderen Talente auch in Augenschein zu nehmen, wenn es darum geht, sie zu beurteilen. Die Aufführungen von Warngedicht selbst beispielsweise könnten hierzu viele Gelegenheiten bieten. Darüber hinaus zeigt die junge Frau aber auch, dass die nach außen demonstrierte Aggressivität ihr Ziel durchaus auch im eigenen Körper finden kann. In weiteren Szenen sehen wir sie am Boden liegend, offensichtlich mit zu viel Alkohol im Blut - von Totsaufen ist die Rede - und einen Abschiedsmonolog an ihre Mutter formulierend. Vor allem hier wird mehr als deutlich, dass die Widersprüche im Verhalten der Jugendlichen, ihr aggressives Gebaren und ihre provokanten Handlungen auch als Ausdruck einer Suche nach Anerkennung und Respekt durch die Erwachsenen zu werten sind. Ansonsten werden gerade die speziellen Zukunftschancen von Mädchen auch noch einmal in einem anderen Licht dargestellt: am Ende einer kleinen Liebesszene - einer der Jungen und das Mädchen umkreisen sich und singen dabei auf Türkisch ein Liebeslied - trägt der Junge das Mädchen auf seinen Armen davon. “Knut” schaut zu und kommentiert: “Das war’s für sie. Sie wird eh keinen richtigen Job finden. Sie wird heiraten und eine Familie gründen. Das war’s für sie. Und war es das auch für mich? ” Warngedicht breitet also auf theatrale Art eine differenzierte Palette jugendlicher Ausdrucks-, Seinsmöglichkeiten und Perspektiven auf Künftiges aus. Doch auch wenn vier konkrete Protagonisten auf der Bühne ihre “eigene Sprache” sprechen, handelt es sich doch nicht um ein psychologisches Kammerspiel, in dem vier unterschiedliche Einzelbiographien aufgefächert werden. Vielmehr wird gezeigt, in welch brisantem Spektrum Jugendlichkeit sich heute generell abspielen kann, welche Verantwortung den Erwachsenen im Prozess der Identitätsfindung der Jugendlichen zukommt und wie wichtig es ist, ihrerseits diese Zeit des Übergangs mit Verständnis und Zugewandtheit zu begleiten. Die Tatsache, dass die vier Jugendlichen aus türkischen Familien stammen ist nur partiell von Belang. Vieles, was hier zur Sprache kommt, kann auch Gültigkeit in deutschen Familien beanspruchen, bzw. ist für Jugendliche in Großstädten signifikant. Die Verlorenheit und Orientierungslosigkeit, welche die jugendlichen Existenzen markiert, ist nicht der Tatsache geschuldet, dass sie “vor dem Wort Migration” stehen. Sie ist einerseits generationsspezifisch und noch einmal mehr gesellschaftlich bedingt. Der Arbeit von Tamer Yig it und Branka Prlic´ kommt das Verdienst zu, vier Jugendliche aus erkennbar unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen zusammen geführt zu haben, die sich ohne diese Arbeit im Theater wohl kaum jemals begegnet wären. Das Theater wird somit durch Warngedicht zu einem Ort der Darstellung und des Austragens von Widersprüchen, die den gegenwärtigen gesell- 28 Christel Weiler schaftlichen Umgang miteinander prägen, allerdings eher in verdeckter Form. Die in den Aufführungen angedeuteten bzw. partiell offen ausgetragenen Konflikte zwischen den Jugendlichen, die sich auch aus den unterschiedlichen Herkunftsfamilien ergeben, zeigen sehr deutlich, dass es zum einen Fragen der Bildungsvoraussetzungen sind, die über die Gestaltung der Zukunft entscheiden, und dass es zum anderen des Dialogs bedarf, dass es die Bemühung braucht, die Sprache des Anderen zu akzeptieren und verstehen zu wollen, wenn das Zusammenleben in Zukunft von gegenseitigem Respekt geprägt sein soll. Für die vier Jugendlichen selbst ist mit der gemeinsamen Theaterarbeit der erste Schritt in diese Richtung getan. In einer berührenden Szene zu Beginn der Aufführung stehen sie sehr nah beieinander; es ist nicht auszumachen, ob ihre Zugewandtheit gewaltsam sein wird, oder ob es sich um offene Blicke und nahezu zärtliches gegenseitiges Berühren handelt. Alles ist möglich. Rhythm is it Aus dieser filmischen Dokumentation eines groß angelegten pädagogischen Projektes der Berliner Philharmoniker mit 250 Kindern und Jugendlichen zwischen 8 und 20 Jahren aus so genannten “Problembezirken” möchte ich nur eine Episode herausgreifen, die meines Erachtens eindrucksvoll verdeutlicht, welch transformierendes Potential der Theaterarbeit zukommen kann, bzw. welch wichtigen Einfluss auf die Gestaltungsfähigkeit von Zukunft diese Arbeit haben kann. 32 Ich folge zum einen dabei der dramaturgischen Strukturierung des Films in 20 Kapitel, innerhalb derer mehrere Male ein Junge namens Martin auftaucht und seine Beteiligung an diesem Projekt reflektiert. Seine Geschichte kann gesehen werden als einer von mehreren “roten Fäden”, welche die transformierende Wirkung des Vorhabens betonen. Zum anderen möchte ich dieses exemplarische biographische Detail in Beziehung setzen zu den ebenfalls im Film immer wiederkehrenden Reflexionen des Choreographen Royston Maldoom, der mit der pädagogisch-künstlerischen Leitung des Unternehmens betraut war. 33 Das transformierende Potential der künstlerischen Arbeit im Theater - dies wird im Lauf des Films immer wieder betont - ist nichts Selbstverständliches. Vielmehr kann es nur dann wirksam werden, wenn von den Beteiligten bestimmten Anforderungen Genüge getan wird. Diese Anforderungen - man mag sie auch “künstlerisches Ethos” nennen - bestehen in einem ersten Schritt darin, sich zu fokussieren, sich einzulassen, still zu werden und auf den Körper zu hören, also die Sinne wach werden zu lassen. Ohne diese sich selbst disziplinierenden Schritte ist keine künstlerische Arbeit und - so zeigt es der Film - auch keine persönliche Veränderung möglich. Tatsächlich veranschaulicht das Dokument, wie die Arbeit eine neue energetische Qualität stets in jenen Momenten gewinnt, in denen gewohntes Verhalten in den Hintergrund tritt: wenn das Gespräch mit den Freunden verstummt, die Aufmerksamkeit auf das zu Lernende gerichtet ist, die zu erfüllende Aufgabe mit physischer und gedanklicher Beteiligung zugleich in Angriff genommen wird. Die ebenfalls an dem Vorhaben beteiligte Tänzerin Susannah Broughton formuliert es so: “Wenn alle ganz still sind, dann beginnt etwas Neues, dann beginnt Veränderung.” Für den damals 19jährigen Martin bestand die Herausforderung weniger darin, still zu werden und sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Es war die durch den Tanz geforderte Nähe zu Anderen, konkret: die Anweisung, auf die Schultern eines anderen Tänzers zu steigen, sich heben und damit berühren zu lassen, die ihn an eine persönliche Grenze brachte und die er im Lauf der mehrwöchigen Arbeit erfolgreich überwand. Seine anfänglich artikulierte und Sehnsucht nach Zukunft 29 wahrnehmbare Scheu vor Berührung wich einem selbstbewussten Umgang mit der eigenen und der Physis der Anderen. Diese persönliche Veränderung wäre freilich nicht möglich gewesen ohne den bewussten Vorsatz des jungen Mannes, etwas lernen, etwas für sich selbst erreichen zu wollen. Äußerst selbstkritisch bezeichnet er sich anfänglich als einen Einzelgänger, dem es schwer fällt, auf Andere zuzugehen. Er mag nicht einmal anderen die Hand zur Begrüßung reichen, weil ihm dies eine allzu intime Geste ist. Die durch die Theaterarbeit sichtbar werdende Angst vor Berührung ist eine Blockade, die überwunden werden muss, will er dieses Projekt für sich gewinnbringend weiterführen. Damit wird deutlich, dass Transformation nur dann stattfinden kann, wenn man bereit ist, ein Risiko einzugehen, etwas zu wagen, was jenseits einer persönlichen Grenze angesiedelt ist. Anders gesagt: Transformation verlangt einen Selbstentwurf ins Offene hinein und die Zustimmung dazu, dass nicht gleich der erste Versuch von Erfolg gekrönt sein wird, sondern dass das Probieren, das sich Erproben Zeit braucht, um an ein Ziel zu gelangen. Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst kann in diesem Sinne als beispielhaft dafür angesehen werden. Er oder sie ist sich immer selbst Gegenstand und Ziel von Veränderung, auch wenn es um das Gestalten einer Rolle geht. Analog dazu kann für die Kinder und Jugendlichen in diesem Unternehmen tatsächlich der Ausspruch Gültigkeit gewinnen, dass sich ihr Leben verändern kann durch die Teilnahme an einer Tanzklasse. 34 Tanzen oder Schauspielen - beide sind körperliche Vorgänge die begleitet werden von gedanklicher Arbeit, sie sind Ausdruck eines embodied mind 35 . “The physical body expresses where you’re at.” So Susannah Broughton. Veränderung findet also nur statt, wenn beide Bereiche bezogen aufeinander wirken. Royston Maldoom’s pädagogisches Konzept setzt auf Überforderung und Strenge. An den teilnehmenden Kindern und Jugendlichen beobachtet er, dass der Gedanke, dass man hart arbeiten muss, um etwas zu erreichen […] nicht Teil ihrer Erfahrung oder Erwartung [ist]. Nichts ist schlimmer als etwas auszuprobieren, ein Risiko einzugehen und dann zu scheitern. Da sagt man besser: Ich bin ein Versager, ich lass es, ich versuch es erst gar nicht. Sieht man allerdings, wie sich zum Ende der Probenzeit von fünf Wochen das Verhalten der Kinder und Jugendlichen verändert hat, dann muss man annehmen, dass sie alle einen entscheidenden Schritt nach vorne getan haben. Dies verdankt sich nicht zuletzt der Tatsache, dass die jungen Tänzer sich einerseits gefordert, andererseits aber auch in ihren Möglichkeiten gestärkt und akzeptiert fühlten. Das Beispiel mag banal erscheinen, aber es sind diese alltäglichen Erfahrungen des Gelingens, des persönlichen Erfolges, die jugendliches Selbstvertrauen stärken und es möglich machen, dem Künftigen, Unbekannten offen und furchtlos entgegen zu treten. Zum eigenen Wunsch nach Veränderung, zur Sehnsucht nach Zukunft also, braucht es einen Raum, in dem Entwürfe möglich sind, in dem die Suche nach sich selbst sich entfalten kann. Es bedarf allerdings auch der Unterstützung durch Erwachsene im beschriebenen Sinn, es braucht ihre Forderung ebenso wie ihr Vertrauen. Wenn wir unter diesen Voraussetzungen noch einmal einen Blick auf unsere eingangs formulierte Frage werfen - in welchem Maße sich Theater und Zukunft bezogen auf Jugendliche zueinander verhalten - dann rückt mit dem letzten Beispiel tatsächlich die verändernde Kraft des Theaters ins Zentrum. Theater, bzw. die Arbeit in demselben definiert sich darin als Ort der Begegnung mit anderen, als Ort der Auseinandersetzung im Spiel, als Ort der möglichen persönlichen Veränderung, als fortwährende Einübung in Zukunftsfähigkeit in dem Sinne, 30 Christel Weiler wie dies Royston Maldoom als Wunsch artikuliert: Ich möchte junge Leute mit der Idee vertraut machen, dass das Leben eine immer währende Herausforderung ist. Steht nicht still, nehmt nichts hin, geht weiter. Sucht nach der nächsten Sache, dem nächsten Moment. Ihr müsst es nicht planen, aber seid bereit, seid offen dafür. Vaterlos, Warngedicht und Rhythm is it stellen sich abschließend dar als drei verschiedene Möglichkeiten, das Verhältnis von Jugend und Zukunft in den Blick zu nehmen. Man müsste noch einmal von vorne beginnen, um Überschneidungen und Gemeinsamkeiten heraus zu arbeiten, um vollends zu erhellen, wie vielstimmig dieser Diskurs sich gestaltet. So berühren sich Vaterlos und Rhythm is it in ihrem Bezug zum Mythos 36 , Warngedicht und der Film im Bestreben, Jugendlichen aus Familien von Migranten eine Stimme zu geben, beide darin, die Verantwortlichkeit von Pädagogen und Eltern in den Blick zu nehmen, allen gemeinsam ist eine positive Haltung zur jugendlichen Suche nach Zugehörigkeit und Orientierung. Schließlich und endlich aber überzeugen sie darin, dem Theater bei der Ausbildung von Zukunftsfähigkeit einen zentralen Stellenwert einzuräumen. Das Theater macht es immer wieder möglich, dass wir uns selbst sehen und in einen unbekannten Raum hinein entwerfen. Anmerkungen 1 Natürlich ist dies kein neues Thema für das Theater; weder aus dramengeschichtlicher Perspektive - man denke an Wedekinds Frühlings Erwachen, Horvaths Jugend ohne Gott, Dramen der Expressionisten wie Hasenclevers Der Sohn - noch mit Blick auf Texte neueren Datums wie Feuergesicht von Marius von Mayenburg - noch bezogen auf die Institution selbst, die mittlerweile in Einrichtungen des Kinder- und Jugendtheaters eine ganz eigene Publikumsschicht herangebildet und dieser entsprechende Probleme behandelt, bzw. Darstellungsformen entwickelt hat. Zu letzterem siehe z.B. das Theater an der Parkaue in Berlin, bzw. die folgende Webseite http: / / www.goethe.de/ ges/ soz/ dos/ jug/ sjk/ de 1551893.htm 2 Der Film, auf den sich meine Ausführungen beziehen, stammt aus dem Jahr 2005 und ist auf DVD über den Handel zu beziehen. 3 Die Premiere fand im Oktober 2008 im Hau3, Berlin, statt. 4 Diese Produktion hatte ihre Premiere im Mai 2007 in Brüssel und Birmingham. 5 Siehe zu dieser Thematik die beeindruckende Studie von Bernard Stiegler. Die Logik der Sorge. Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien. Frankfurt, 2008. 6 Siehe hierzu beispielsweise unter http: / / www. goethe.de/ ges/ soz/ thm/ de91442.htm ein Interview mit Klaus Hurrelmann, dem Leiter der Shell-Studie zur Situation von Jugendlichen. 7 Der Text erschien 2004 im Verlag der Autoren, gemeinsam mit zwei weiteren Stücken des Autors. Im Klappentext wird er kurz auf folgende Weise zusammengefasst: “In VATER- LOS ist der junge Felix auf der Flucht. Er begehrt gegen seine Umwelt auf, glaubt, der Sohn des Sonnengottes zu sein. Felix macht sich auf die Suche nach seinem Vater, findet aber nur Überreste einer patriarchalischen Gesellschaft. Gräulich-absurde Vater-Figuren stellen sich ihm in den Weg und müssen dafür mit dem Leben bezahlen.” Weitere Stücke von Claudius Lünstedt: Krieger im Gelee, Teheran 1386; der Autor wurde 1973 geboren und lebt in Berlin. 8 Die Handlung des Textes erstreckt sich über sieben Tage, die in insgesamt sechzehn kurzen Episoden verlaufen und zu unterschiedlichen Zeiten der jeweiligen Tage spielen. Begonnen wird beispielsweise am ersten Tag nachmittags bei Fernsicht, der vierte Tag spielt in der Nacht, der letzte Tag endet vor Sonnenuntergang. 9 Claudius Lünstedt. Vaterlos. Frankfurt a.M., 2004, S. 93. 10 Lünstedt 2004, S. 95. Sehnsucht nach Zukunft 31 11 Ovid. Metamorphosen. Frankfurt a.M., 1990. Für den Text vorliegend in der Übertragung von Heinrich Voß; daraus: Zweites Buch Phaeton, S. 37-51 12 Lünstedt 2004, S. 97. 13 Lünstedt 2004, S. 98. 14 Lünstedt 2004, S. 93. 15 Lünstedt 2004, S. 100. 16 Lünstedt 2004, S. 101. 17 Lünstedt 2004, S. 103. 18 Die Figur des Aufsehers weist beispielsweise gleichzeitig realistische und mythologische Aspekte auf. Zum einen erfüllt sie die Funktion des Aufsehers: sie soll Felix bewachen, ihn nicht aus den Augen lassen. Zum anderen ist der Aufseher auch ein “Seher” wie Teiresias, der das kommende Feuer des Untergangs am Horizont erblickt. Gleichzeitig sagt er von sich selbst, dass er ungesehen bleiben will. Ähnlich sind die anderen Figuren als in sich widersprüchliche Gebilde konzipiert, wie auch der Titel zweideutig ist. Vaterlos kann “ohne Vater” meinen, und ebenso das Los, ein Vater zu sein, bezeichnen; zusätzlich ließe sich der Titel noch in Beziehung setzen zu Alexander Mitscherlichs These von der “vaterlosen Gesellschaft”. Siehe hierzu Alexander Mitscherlich. Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Frankfurt a.M., 1963 [2003]. 19 Lünstedt 2004, S. 112. 20 Lünstedt 2004, S. 113f. 21 Organ, der Vater von Felix’ Freund Abadi - und als solcher auch Vertreter eines überkommenen patriarchalischen Gesetzes - tötet zuerst Felix’ Mutter und dann auch noch sich selbst. 22 Lünstedt 2004, S. 95. 23 Lünstedt 2004, S. 100. 24 Lünstedt 2004, S. 109. 25 Lünstedt 2004, S. 110. 26 Mit diesem tödlichen Spiel wird auch verwiesen auf Michael Hanekes Film Bennys Video aus dem Jahr 1992, in dem zwei Kinder - ein Junge und ein Mädchen - ein Video mit tödlichem Ausgang nachspielen. Auf dem Video wird die Tötung eines Schweins gezeigt. 27 Lünstedt 2004, S. 129. 28 Lünstedt 2004, S. 130. Das definitive Ende des Textes auf S. 130 besteht allerdings in der Zeile: “Endlich Regen. Starkregen der kein Ende nimmt.” Und in dem Wort “Dunkel”. Damit wird - angeregt durch die vorausgegangenen Anspielungen auf mythische und biblische Zusammenhänge - freilich auch ein Bild von Sintflut assoziierbar. 29 So wäre es weiterhin interessant, Abadi in Relation zu seinem Vater Organ näher zu beleuchten, als auch Organ selbst sowie dessen Verhältnis zum Aufseher oder zur Mutter. Auch die Frage nach der Funktion von Gewalt bei der Konzeption von Zukunft könnte weiter untersucht werden oder etwa die symbolische Dimension der Namen, deren Bedeutungen im Gegensatz zur Konzeption der Figuren stehen: Abadi - äthiopisch: der Tröster, Lela - auf Swahili: die Nacht und Felix - der Glückliche. (Mit Dank an Claudius Lünstedt für den Hinweis.) Wenn man den gesamten Text auf seine semantische Dimension und die damit verbundenen Zeitschichten hin untersucht, erweist er sich als ein feines Gespinst von vielfältigen Verweisen und widersprüchlichen Bedeutungspotentialen. 30 Die Premiere fand am 2. Oktober 2008 im Theater Hebbel am Ufer (Hau3) in Berlin statt. Die Darsteller sind: Almila Bagriaçik, Ömer Tarakcý, Talu Emre Tüntaþ, Haydar Yýlmaz, Stefan Andres. Dank an Tamer Yig it und Branka Prlic´ , die mir freundlicherweise für das Verfassen dieses Textes eine Videoaufzeichnung als Erinnerungsstütze zur Verfügung gestellt haben. Alle Redezitate stammen daher. 31 Tatsächlich gibt es einen fünften - aus Lichtenberg kommenden - Jugendlichen, der aber nur über Videoeinspielungen erscheint. Er nimmt m. E. die Funktion eines romantisierenden Gegenparts ein, idem er “das Ghetto”, als das sich Kreuzberg für ihn darstellt, idealisiert. 32 Es handelt sich hierbei um das erste Education-Projekt der Berliner Philharmoniker. Es fand 2003 in der Arena in Berlin-Treptow statt. Gemeinsam mit 250 Kindern aus 25 Nationen führten die Philharmoniker dort Le Sacre du Printemps auf. Die vorausgegangene choreographische Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen wurde von Royston Maldoom verantwortet. Dieses Projekt hatte über Berlin hinaus vorbildhaften Charakter für zahlreiche 32 Christel Weiler nachfolgende künstlerische Bemühungen im pädagogischen Bereich. 33 Alle Zitate stammen aus der DVD Rhythm is it! Ein Film von Thomas Grube und Enrique Sancez Lansch, Boomtown Media 2005 34 Der Untertitel des Films verkündet dies programmatisch: “You can change your life in a dance class.” 35 Zum Konzept des embodied mind siehe Thomas Csordas. Embodiment and Experience. Cambridge, 1994. 36 Die choreographische Arbeit mündet in eine Aufführung von “Le sacre du printemps” durch die Berliner Philharmoniker. Sowohl von Simon Rattle als auch Roston Maldoom wird sie in Bezug gesetzt zu archaischen Kräften der Erneuerung und dem Darbringen von Opfern.