eJournals Forum Modernes Theater 25/1

Forum Modernes Theater
fmth
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2196-3517
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/0601
2010
251 Balme

Welt-Suche: Auf den Spuren von Hans Blumenberg

0601
2010
Peter W. Marx
fmth2510093
Welt-Suche: Auf den Spuren von Hans Blumenberg Peter W. Marx (Bern) Die Welt verliert an Ungeheuern. Hans Blumenberg Der Begriff der Welt, der lange Zeit diskreditiert war, weil er auf sträflich naive Weise ‘Wirklichkeit’ und unhintergehbare ‘Tatsächlichkeit’ zu versprechen schien, erlebt in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Konjunktur. Das wird schon durch einen Blick in die jüngere Gegenwartstliteratur deutlich, wo Werke wie Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt (2005), Ilja Trojanows Der Weltensammler (2006) oder Stephan Puchners Nebelheim (2008) literarisch-poetisch um ein Erfassen von Welt ringen. Dabei ist augenfällig, dass alle Romane durch eine Vielstimmigkeit der Erzählstimmen geprägt sind, so als wollten sie die Vorstellung einer ganzheitlichen Welt als Phantasma anklingen lassen, um deren Unmöglichkeit durch die narrative Konstruktion ästhetisch wirkungsvoll erlebbar zu machen. In diesem Sinne aber sind die Romane auch symptomatisch für den gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Diskurs zur Welt, denn überall, wo der Begriff heute auftaucht, wird er sofort gegen eine schlichte Einvernahme in Schutz genommen. Daher ist es bezeichnend, dass die Erzählungen auch einen wissenschaftsgeschichtlichen Index tragen: Wenn Kehlmann bspw. Alexander von Humboldts Kosmos (1845-1862) anzitiert oder Puchner auf Albertus Magnus’ De animalibus verweist, so treten diese Werke als Versuche einer systematischen, ja auf Vollständigkeit (und damit Beherrschbarkeit) zielenden Welt-Erfassung in Erscheinung, deren Scheitern in Anbetracht der Vielgestaltigkeit von Welt innerlich notwendig ist. Warum aber kehrt der Begriff der Welt denn dann überhaupt zurück? Eine offensichtliche, aber auch zu leichtfertige Antwort würde auf den kulturellen Erfahrungsdruck der Globalisierung verweisen, auf das unausweichliche Erleben des “global village” als Anstoß und Voraussetzung einer versuchten Revision des Begriffs. Tatsächlich aber scheinen mir die Gründe tiefer zu liegen und eher in einem vermittelten Zusammenhang mit der Erfahrung der Globalisierung zu stehen; denn auffällig ist, dass in der Diskussion um ‘Welt’ zwei unterschiedliche Interessensdimensionen zusammenfallen, nämlich die Frage nach dem Status von Geschichte bzw. der Möglichkeit von Geschichtsschreibung und die Frage nach den epistemologischen Konsequenzen der Erfahrung von kulturellen Kontingenzen und interkulturellen Kontakten. (Beides findet sich übrigens ebenfalls paradigmatisch in den oben genannten Erzählwerken, die sich sowohl des Genres des historischen, wie auch des “Entdecker”-Romans bedienen.) Wie aber lässt sich aus kulturwissenschaftlicher Perspektive dieser Frage nachgehen, ohne hinter gewonnene Einsichten zurückzufallen? Wie ist Welt zu denken, ohne in Begrifflichkeit, Methodik und Anspruch in die Falle einer vermeintlich unhintergehbaren Tatsächlichkeit zu tappen? Forum Modernes Theater, Bd. 25/ 1 (2010), 93-102. Gunter Narr Verlag Tübingen Relektüre 94 Relektüre Ich möchte im folgenden versuchen, den Versuch einer solchen Blickweise anhand einer Re-Lektüre von Hans Blumenberg (1920-1996) zu unternehmen. Dabei sei bereits eingangs zugestanden, dass es sich nicht um einen abgerundeten Vorschlag, sondern eher um das bruchstückhafte Protokoll einer Problematisierung handelt. Hans Blumenberg freilich bedarf keiner “Neuentdeckung” oder einer “Renaissance” - als eine der wichtigen Gestalten der bundesdeutschen Nachkriegsphilosophie hat er längst seinen festen Platz im Kanon. Seine Wirkung hält postum an, wie man an der Fülle von Schriften aus dem Nachlass erkennen kann. Und dennoch ist Blumenberg eine breite Wirkung nahezu versagt geblieben; weder kann man von einer ‘Schulbildung’ sprechen, noch von einer intensiveren Rezeption jenseits disziplinärer Grenzen, die sich bemüht hätte, seine Denkfiguren für neue Fragen fruchtbar zu machen. 1 Der Grund hierfür mag in der besonderen Lektüreerfahrung liegen, die man in der Begegnung mit Blumenberg macht: Da ist zum Einen seine Sprache, die wohlgesetzt, mitunter poetisch ist, die sich aber einer schnellen Lektüre verweigert. Da ist zum Zweiten die bisweilen einschüchternde Belesenheit, mit der Blumenberg seine Thesen und Fragen aus den Tiefenschichten der Geistesgeschichte und aus der Kreuzung unterschiedlichster Disziplinen entfaltet. Und da ist, zum Dritten, eine Argumentationsführung, die nicht auf einfache Leitvokabeln oder Theoreme zuläuft, sondern in einer umkreisenden Suchbewegung den Grund des Denkens umschreibt, ohne ihn voreilig zu identifizieren. Die so entstehenden Panoramen der Geistes- und Kulturgeschichte weisen Blumenberg als Nachfolger jener Traditionslinie der Kulturphilosophie aus, die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert bildet und in Ernst Cassirer und seiner Philosophie der symbolischen Formen (1923-1929) einen Höhepunkt findet. Überhaupt ist die zentrale Bedeutung der Cassirer’schen Philosophie für Blumenberg an vielen Stellen sichtbar, nicht nur in der historischen Argumentationsführung, sondern auch in der Entwicklung und Ausgestaltung des eigenen intellektuellen Projekts. So hat Blumenberg bereits 1974 in der Dankesrede zum Kuno-Fischer-Preis herausgestellt, dass Cassirers Wende von einer “Kritik der Vernunft zu einer Kritik der Kultur” 2 nicht nur eine intellektuelle, sondern auch eine ethische Dimension hat: Was bei Cassirer zu lernen bleibt, steckt gerade in dem, was ihm nicht gelungen ist, was aber in seiner Lebensarbeit und über diese hinaus als drängender Impuls bemerkbar ist: Geschichte der Philosphie, der Wissenschaften, der symbolischen Formsysteme nicht der Selbstbestätigung von Gegenwarten dienstbar zu machen, nicht dem Kriterium des Erfolges - auch nicht dem der Relevanz für Bewußtseinsbildung - zu unterwerfen. […] Es ist das Ethos, das die Mediatisierung der Geschichte destruiert. Zu unserem Glück, denn, daß es kein Ziel der Geschichte gibt, bewahrt uns davor, auf ein solches Ziel hin ‘vorläufig’ zu bleiben, aufgefordert zu werden, ihm als Mittel dienstbar zu sein. (Blumenberg, Cassirer, 168f.) Die “Mediatisierung der Geschichte” sowie die “Dienstbarmachung für die Selbstbestätigung von Gegenwarten” sind Chiffren einer intellektuellen Haltung, die sich selbst als Gipfelpunkt einer zwangsläufigen Entwicklungslinie versteht. An Stelle einer solchen Arroganz will Blumenberg (ganz im Sinne des Cassirer’schen Impulses) eine Anerkenntnis von Differenz und einen wissenschaftlichen Ethos des Respekts entwickelt sehen: Ich habe den Vorwurf des ‘Historismus’ immer als ehrenvoll empfunden. Ich verwahre mich dagegen, daß es unser ‘Interesse’ und nur dieses sei, was uns zu Erkenntnis im Raume und in der Zeit legitimiert und motivieren darf. Die Ureinwohner Patagoniens ebenso wie Relektüre 95 die jüngst zu Akademieehren gekommenen Kwakiutl haben einen Anspruch darauf, nicht nur am Leben gelassen, sondern auch von denen, die Theorie betreiben, theoretisch nicht vergessen zu werden, den Anteil an der Menschheit in ihrer Person gewürdigt und bewahrt zu sehen. (Blumenberg, Cassirer, 171) Hier ist - mit der Referenz auf die “Erkenntnis im Raume und in der Zeit” - ein Begriff von Welt artikuliert, der die Möglichkeit von Historiographie und interkultureller Erfahrung von der Prämisse eines uneingeschränkten Respekts, der im Bewusstsein der Begrenztheit der eigenen Welt-Position wurzelt, abhängig macht. Damit reflektiert Blumenbergs Philosophie jene Schreckenserfahrung des 20. Jahrhunderts, die für ihn teilweise auch eine biographische war und die zur Vertreibung Cassirers und seiner Philosophie aus Deutschland geführt hat. So wird hinter dem scheinbar rein wissenschaftlichen Gestus Blumenbergs auch die politische Dimension seines Welt-Interesses erkennbar. Ausgangspunkt der Blumenberg’schen Überlegungen ist die Erkenntnis, dass der Mensch keinesfalls in einem ‘natürlichen’ Verhältnis zur Welt steht, sondern in einem indirekten, vermittelten. Das ‘In-der-Welt- Sein’ des Menschen ist für Blumenberg ein Zustand, in dem der Mensch nicht instinktiv auf seine Umgebung reagiert, sondern sich diese vermittelt erschließt: Der Mangel des Menschen an spezifischen Dispositionen zu reaktivem Verhalten gegenüber der Wirklichkeit, seine Instinktarmut also, ist der Ausgangspunkt für die anthropologische Zentralfrage, wie dieses Wesen trotz seiner biologischen Indisposition zu existieren vermag. Die Antwort läßt sich auf die Formel bringen: indem es sich nicht unmittelbar mit dieser Wirklichkeit einläßt. Der menschliche Wirklichkeitsbezug ist indirekt, umständlich, verzögert, selektiv und vor allem ‘metaphorisch’. (Blumenberg, Rhetorik, 115) Hierbei rückt die Kultur bzw. die Hervorbringungen innerhalb einer Kultur in den Blick, wie Blumenberg in Arbeit am Mythos (1979) schreibt: Der homo pictor ist nicht nur der Erzeuger von Höhlenbildern für magische Jagdpraktiken, sondern das mit der Projektion von Bildern den Verlässlichkeitsmangel seiner Welt überspielende Wesen. (Blumenberg, Mythos, 14) Es ist kennzeichnend für Blumenbergs Konzept einer Kulturphilosophie, dass sich sein Denken den ‘großen Fragen’ über die Auseinandersetzung mit konkreten Gegenständen zuwendet: Die Erzeugnisse des homo pictor reagieren in fundamentaler Weise auf die Gegebenheit der Welt, auf das ‘In-der-Welt- Sein’ des Menschen. Die dem vorausgehende Mangelerfahrung des Menschen aber wird für Blumenberg von der existenziellen Angst zur Furcht depotenziert, um diese dann kulturell fruchtbar zu machen. 3 Die Lichtseite der Angst aber, so kann man bei Blumenberg nachlesen, ist die Neugierde, die schließlich zum Grundstein des Denkens selbst wird: Wenn der Mensch in einer völlig konstanten Umwelt leben könnte, die ihm weder Überraschungen noch Mangellagen anböte, wäre Neugierde ein ganz unverständliches und lebenswidriges Verhalten. Sie ist angemessene Verhaltensweise in einer Wirklichkeit, in der eine Grenze, ein Horizont auch immer mit Ungewißheit belastet sind und deren gedankliche oder reelle Überschreitung den Sinn haben, die Ungewißheit zu vermindern, die Auslieferung an Überraschung und Gefährdung herabzusetzen, die von dort herüberkommen könnte. (Blumenberg, Lebenswelt, 54) So ist es die immer wiederkehrende Denkfigur vom Verlust der Selbstverständlichkeit, die zum Ausweis des Mensch-Seins bzw. des ‘In-der-Welt-Seins’ wird: “Wir denken nicht, weil wir erstaunen, hoffen oder fürchten; wir 96 Relektüre Abb.1: “Aus der Nacht kann alles an Grauenhaftem und Ungestaltem hervortreten, um die Ränder des Abgrunds zu besetzen, damit der Blick nicht in die Leere geht.” (Blumenberg, Mythos, 143) Im Sinne Blumenbergs lassen sich die auf alten Karten vorfindlichen Ungeheuer am Rande der bekannten Welt als eine Bannung des Schreckens in bildhafter Gestalt verstehen. (Quivirae Regnum, cum aliis versus Boream (1593). Mit freundlicher Genehmigung der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen.) Relektüre 97 denken, weil wir dabei gestört wurden, nicht zu denken.” (Blumenberg, Lebenswelt, 61) Metapher Auf diesem Weg zur Welt-Orientierung ist es für Blumenberg vor allem das Prinzip der Übertragung, das sich beispielhaft in der Metapher findet, um das sein Denken kreist: “Die Technik des mythischen Grenzverkehrs ist die Metaphorik. Das lebensweltlich Bekannte dient dazu, das weltlich Unbekannte zu integrieren.” (Blumenberg, Lebenswelt, 137) Schon in den 1960 erstmals erschienenen Paradigmen zu einer Metaphorologie spannt er jenen Horizont auf, der als Hintergrund auch seine späteren Arbeiten prägen wird. Es ist die zentrale Erkenntnis, dass es gerade jene ‘Bilder’ der Welt sind, die als Gegenstand der Kulturwissenschaft dienen können. 4 Diese Hinwendung zur Metapher ist in ihrer ganzen Tragweite nur dann zu verstehen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Blumenberg das traditionelle Interesse an der Metapher ‘vom Kopf auf die Füße’ stellt: Ihn bekümmert nicht die Frage nach dem ‘eigentlich Gemeinten’, nach dem ‘Dahinter’, sondern das Wirken und die Eigendynamik dieser kulturellen Setzungen selbst. Sein Blick zielt nicht auf den verborgenen Inhalt, sondern auf das Bild selbst, dessen kulturelle Gebundenheit und Geschichtlichkeit es gerade für ihn interessant machen. In diesem Sinne ist es nur folgerichtig, wenn Blumenberg schließlich zur Feststellung von Metaphern kommt, die gerade nicht mehr in einer übergeordneten Abstraktion aufgelöst werden können. Diese absoluten Metaphern sind für Blumenberg der Stimulus, um eine grundsätzliche Revision von Denkkategorien anzustoßen: Der Aufweis absoluter Metaphern müßte uns wohl überhaupt veranlassen, das Verhältnis von Phantasie und Logos neu zu überdenken, und zwar in dem Sinne, den Bereich der Phantasie nicht nur als Substrat für Transformationen ins Begriffliche zu nehmen - wobei sozusagen Element für Element aufgearbeitet und umgewandelt werden könnte bis zum Aufbrauch des Bildervorrats -, sondern als eine katalysatorische Sphäre, an der sich zwar ständig die Begriffswelt bereichert, aber ohne diesen fundierenden Bestand dabei umzuwandeln und aufzuzehren. (Blumenberg, Metaphorologie, 11) Gerade diese Vorstellung einer Nicht-Reduzierbarkeit von Bildern bzw. einem Bildervorrat im weitesten Sinne erlaubt es, die Abstraktion der Philosophie in einen Dialog mit anderen Künsten und kulturellen Aktivitäten zu setzen, die solche Bilder hervorbringen, ohne diese unter dem Vorzeichen einer übergeordneten Sinngebung auf ihren vermeintlichen begrifflichen Gehalt zu reduzieren. Blumenbergs These einer “katalysatorischen Sphäre” betont ja in besonderer Weise die Widerständigkeit der als absolute Metapher verstandenen Bilder. Diese Denkfigur erinnert nicht zufällig an Thesen der theaterwissenschaftlichen Diskussion, die das Ende der Dominanz der Repräsentation zugunsten der Präsenz beschreiben. Hier lässt sich der Blumenberg’sche Begriff durchaus in überzeugender Weise anschließen, allerdings in einer bezeichnenden Spreizung, denn er führt nicht zu einem Absolutismus des Gegenwärtigen, sondern sucht vielmehr die konstitutive Spannung von Kontinuität und Wandel zusammenzudenken. So ließe sich bspw. Theater und seine Kunst als Beispiel einer ebensolchen katalysatorischen Sphäre denken, an der sich andere Diskurse bedienen, Konflikte benannt und Spannungen gezeigt und ausagiert werden - das sich aber dennoch nicht in einer einzigen Lesart erschöpfen oder aufbrauchen lässt. Vielmehr scheint - ganz im Sinne Blumenbergs - Theater seine kulturelle Funktion gerade deshalb so gut zu erfüllen, weil es sich 98 Relektüre eben einer eindeutigen Fixierung entziehen kann und somit immer wieder offen für neue Zuschreibungen ist. Die Frage nach Geschichte Der programmatische Titel Arbeit am Mythos, unter dem Blumenberg 1979 einen wichtigen Teilaspekt seiner Kulturtheorie vorlegte, verweist bereits auf die konstitutive Dynamik kultureller Fortschreibung. Seine Hinwendung zum Mythos (und dessen intellektuelle Verteidigung) zielt nicht etwa auf das Freilegen von Tiefenschichten anthropologischer Konstanten, sondern auf die spezifische Leistungsfähigkeit des Mythos. Um diese zu erklären, ruft Blumenberg nochmals eine Urszene kultureller Setzung auf: Aus der Nacht kann alles an Grauenhaftem und Ungestaltem hervortreten, um die Ränder des Abgrunds zu besetzen, damit der Blick nicht in die Leere geht. Wenn alles aus allem hergeleitet werden kann, dann eben wird nicht erklärt und nicht nach Erklärung verlangt. Es wird eben nur erzählt. Ein spätes Vorurteil will, dies leiste nichts Befriedigendes. Geschichten brauchen nicht bis ans Letzte vorzustoßen. Sie stehen nur unter einer Anforderung: sie dürfen nicht ausgehen. (Blumenberg, Mythos, 143) Der Mythos ist für Blumenberg eine kulturelle Erzählung, deren Struktur sich weniger einem systematischen Interesse verdankt, sondern der unmittelbaren Ausrichtung auf den Erzähler bzw. Hörer. Er schafft “eine Welt von Geschichten, die den Standpunkt des Hörers in der Zeit derart lokalisiert, daß auf ihn zu der Fundus des Ungeheuerlichen und Unerträglichen abnimmt.” (Blumenberg, Mythos, 131) In der Ausrichtung auf das Moment des Erzählens gewinnt der Mythos eine situative Einbindung, die seine Geschichtlichkeit wie seine Wandelbarkeit nicht als Mangel an Substanz oder Konstanz, sondern als Ausweis seiner kulturellen Bedeutung versteht. [D]er kraft seiner Rezeptionen variierte und transformierte Mythos in seinen geschichtlich bezogenen und bezugskräftigen Gestaltungen [ist] schon deshalb der Thematisierung würdig, weil diese die geschichtlichen Lagen und Bedürfnisse mit hereinzieht, die vom Mythos affiziert und an ihm zu ‘arbeiten’ disponiert waren. (Blumenberg, Mythos, 192) “Arbeit am Mythos” als kulturelles Prinzip bezeichnet damit jenen Prozess der kulturellen Fortschreibung, in dem die jeweils spezifischen Ängste und Hoffnungen (als Gegenbild der Ängste) einer “geschichtlichen Lage” in das Erzählen eines Mythos eingebunden werden. Als Theaterwissenschaftler kann man kaum umhin, bei dieser Beschreibung an das Erzählen im Theater zu denken, das geradezu idealtypisch diese Arbeit am Mythos zu leisten vermag: die Akzentuierung des Momentums des Erzählens, markiert durch die Kopräsenz von Akteur und Publikum, entspricht jener Fähigkeit des ständig fortgeschriebenen Mythos, das Grauenhafte und Ungeheuerliche, das das Publikum heimsucht, durch Erzählung zu bannen. Ja, das Theater erscheint in einer solchen Perspektive innerhalb des westlichen Katalogs der Künste gerade jene Form zu sein, der die zeitliche Indizierung und Anbindung an den spezifischen Augenblick des Erzählens besonders eingeschrieben ist. Es ist vielleicht gerade jene Kunstform, die besonders privilegiert für die Arbeit am Mythos steht. In Beschreibung des Menschen (2006) wird ein möglicher Bezug zum Theater unter der Frage des Trostes als anthropologisches Merkmal des Menschen erkennbar, wenn Blumenberg von der “Delegation des Leidens” spricht und ausführt: “Der Trost beruht auf der allgemeinen Fähigkeit des Menschen zu delegieren, nicht selbst und allein alles tun und tragen zu müssen, was ihm obliegt und zufällt.” (Blumenberg, Mensch, 625) Man kann dies leicht als eine Paraphrase des Tragischen lesen, als Möglichkeit jenes Relektüre 99 Trostes, den die Tragödie anbietet. Der Ort des Tragischen (auch als Momentum des Erzählens) gründet, so kann man ergänzen, sich unmittelbar auf die Beschaffenheit des Menschen selbst: “Seine Fähigkeit zu trösten und getröstet zu werden, hat positiv mit dem zu tun, was ihm negativ als eine Unfähigkeit des Wirklichkeitsbezugs vorgeworfen wird: auf Distanz zur Wirklichkeit zu gehen.” (Blumenberg, Mensch, 628) Folgt man dieser Spur weiter, so lässt sich noch eine weitere der Blumenberg’schen Urszenen als Chiffre von Theater lesen: Nach Blumenberg verändert sich das ‘In-der-Welt- Sein’ des Menschen durch die “Selbstaufrichtung in die Vertikalität” (Blumenberg, Lebenswelt, 143), durch die der Horizont überhaupt erst in den Blick gerät. Gefolgt wird dies vom Verlassen der natürlichen Umgebung: Wir müssen daran erinnern, daß nach dem Verlassen des Waldes die Lebensteilung in Höhle und freie Wildbahn eintritt. Der geschlossene Raum erlaubt, was der offene verwehrt: die Herrschaft eines Wunsches, der Magie, der Illusion, die Vorbereitung der Wirkung durch den Gedanken. (Blumenberg, Mythos, 14) Ungeachtet seiner historischen Prägung und architektonischen Form erscheint Theater in diesem Kontext als Prototyp eines solchen geschlossenen Raumes, in dem der “Absolutismus der Bilder und Wünsche” herrscht. 5 Allerdings nicht als Divertissement oder rituelle Selbstbestätigung, sondern als notwendiger Akt der Distanznahme, durch die überhaupt erst jene Mittelbarkeit hergestellt werden kann, in der eine lebbare Welt für den Menschen entsteht. Wenn Blumenberg in diesem Zusammenhang ausdrücklich betont, dass dies nur als Prozedur gedacht werden kann, so wird eine deutliche Schnittstelle zu den gegenwärtigen Diskussionen um den Begriff der Performativität erkennbar. Der Rückzug des Menschen in den “geschlossenen Raum” verschafft dem Menschen ersten jenen Spielraum, den er benötigt, um durch seine Imagination in der Welt heimisch zu werden. Diese “Höhle” ist aber kein statisches Refugium, so wenig wie nach Blumenberg der Mythos als unveränderlich zu begreifen ist; vielmehr wird dieser von der Welt entrückte Ort benötigt, um die im steten Wiedererzählen zu schaffende Welt-Orientierung zu entfalten. So stehen Höhle und Mythos auch als Chiffren für eine performative Praxis, wenn man dies im Kontext gegenwärtiger Theoriediskussionen formulieren möchte. Das Verortetsein des Mythos im Moment des Erzählens versteht Blumenberg aber auch als eine Neupositionierung von Geschichte im wissenschaftlichen Diskurs: Sie fungiert nicht länger als Teil- oder Sonderbereich, als Vor- Geschichte der eigenen Gegenwart - dies hatte Blumenberg ja als “Mediatisierung der Geschichte” verworfen -, sondern als Form, über die eigene Gegenwart nachzudenken. So ist es eine der Stärken des Blumenberg’schen Entwurfs, das Nachdenken über Geschichte im Horizont eines als plural und mobil verstandenen Kulturbegriffs zu verankern. Blumenbergs Ansatz geht von einem produktiven “von sich absehen” aus und fordert das Nachdenken über Differenzen heraus - seien sie zeitlich oder kulturell begründet. Und noch ein weiteres Merkmal der Blumenberg’schen Historiographie ist hervorzuheben: Die Hinwendung zum Erzählen als konstitutivem Akt bedeutet auch eine Abwendung von der Suche nach dem grand récit, der verbindlichen großen Erzählung von Geschichte und Welt-Entwicklung. Dies ist bei Blumenberg nicht nur ein methodisch-theoretisches Lippenbekenntnis, um dann in der Praxis anders zu verfahren. Nein, geradezu symptomatisch verlegt sich Blumenberg immer wieder auf Anekdoten und kleine Geschichten, deren Erzählt-Werden und ihr immer wieder anders Erzählt-Werden ihm zu einem Paradigma von Kulturgeschichte werden. 6 100 Relektüre Die Blumenberg’schen Analysen, die oftmals in konzentrischen Kreisen um ihren Gegenstand zirkeln, fallen nicht in klar definierbaren Begriffen oder Themen zusammen: So sehr sie auf die Welt (als historischen Ort) bezogen sind und sich - allein schon in der Fülle ihres Materials, das bewegt wird - mit Welt auseinandersetzen, so wenig ist es ein Denken, das sich explizit und unmittelbar (im Sinne einer ausdrücklichen Parteinahme) einmischt. Am deutlichsten wird dies vielleicht im Bild des Zuschauers, zu dem er immer wieder zurückkehrt, dem er sogar mit Schiffbruch mit Zuschauer (1979) eine eigene Abhandlung gewidmet hat. Sofern er sich am Theater orientiert, wählt Blumenberg einen sehr ‘klassischen’ Begriff des Zuschauers, wie man an dem kleinen Essay “Wie man Zuschauer wird” ablesen kann: Der Zuschauer ist definiert durch die Kunst, sich herauszuhalten. Deshalb genießt er die Anstrengung der dramatisch-szenischen Akteure, ihn hereinzuziehen: als vergebliche. Gerade wenn ihm am meisten zugemutet wird, befreit er sich durch den ‘rettenden’ Gedanken: Es ist nur Theater. (Blumenberg, Zuschauer werden, 93) Die Unbeteiligtheit des Zuschauers wird von Blumenberg durchaus kritisch reflektiert, die ethische Problematik einer solchen Haltung gerade im Angesicht des Leidens Dritter wird von ihm von der Antike bis in die Gegenwart durchgespielt, aber dennoch findet Blumenberg keinen Ansatzpunkt einer eingreifenden Kritik. Was sich auf den ersten Blick wie das Abwenden von der Welt darstellen könnte, entdeckt sich im größeren Kontext als subtile Form des Respekts eines Denkens, das sich nicht die eigenen Wege durch voreilige Urteile verstellen will. So mag man in der Zurückhaltung auch eine Folge des oben beschriebenen tiefen Missbehagens gegen alle Formen totalisierenden Denkens sehen. So findet der Leser hier keine wohlfeilen Antworten in Schlagworten, aber genug Spannungs- und Argumentationsraum, den eigenen Standpunkt zu bilden. Seit Blumenbergs Tod 1996 sind eine Reihe von Schriften aus dem Nachlass erschienen, die den Blick auf sein Denken in zweifacher Weise zu verändern geeignet sind: Zum einen entdecken sich eine Reihe von thematischen Weiterungen gegenüber dem veröffentlichten Œuvre, wie man in dem kleinen Band Geistesgeschichte der Technik (2009) sehen kann. Hier findet sich etwa der 1966 als Radiovortrag entstandene Text “Einige Schwierigkeiten, eine Geistesgeschichte der Technik zu schreiben”, in dem Blumenberg den Fokus seiner Kulturreflexion nachdrücklich erweitert: Geschichte der Technik wird auch und vor allem Geschichte des Heraustretens der Technik aus der Geschichte sein müssen. Ob und wie aus einem bestimmten neuen Verhältnis der Wirklichkeit und der Stellung des Menschen innerhalb dieser Wirklichkeit technischer Wille entsteht, wird Thema einer Geistesgeschichte der Technik sein müssen, die nicht nur Selbstdeutungen der technischen Tätigkeit, sondern die Motivation eines auf Technik zielenden und von Technik getragenen Lebensstils faßbar werden läßt. (Blumenberg, Technik, 13) Es ist ein Leichtes, gegen Blumenbergs Überlegungen einzuwenden, dass sein Verständnis (und vor allem seine Lebenserfahrung) von Technik in der Distanz zum 21. Jahrhundert anachronistisch wirken muss, aber der hier formulierte Anspruch, Kultur- und Technikgeschichte zusammenzudenken, um nicht in naiver Euphorie die technischen Bedingungen schon für kulturelle Wirklichkeit zu nehmen, hat als Vademecum immer noch seine Berechtigung. In jedem Fall eignen sich die hier versammelten Texte allemal, um an ihnen das eigene Denken kritisch zu reflektieren. Ein weiterer thematischer Strang, der aus den nachgelassenen Schriften sehr deutlich Relektüre 101 heraustritt, ist das Projekt einer philosophischen Anthropologie. Hier hat der Herausgeber Manfred Sommer mit den beiden Bänden Beschreibung des Menschen (2006) und Theorie der Lebenswelt (2010) ein Textcorpus vorgelegt, das es erlaubt, die unterschiedlichen Facetten dieses für Blumenberg so zentralen Themas zusammenzulesen. Im Vergleich mit den veröffentlichten Schriften gibt es hier manche Überschneidung, aber diese Redundanzen zeugen nur davon, dass die Frage nach dem Menschen letztlich als Leitmotiv das umfassende Werk verbindet. Das zweite Moment der Neubegegnung durch die nachgelassenen Schriften wurzelt in der Sprache und Struktur dieser Texte selbst: Sie erlauben einen intensiven Blick auf die Blumenberg’sche Argumentationsentfaltung, gerade weil sie weniger abgerundet und wohl komponiert sind als man dies von einem Stilistiker wie Blumenberg erwartet. So mag mancher Gedanke, manche historische Referenz eher in der Andeutung stecken bleiben, aber es ist gerade das Offene, mitunter Unabgeschlossene der Texte, das für den Leser Möglichkeiten zum Neu- und Weiterdenken eröffnet. Deutlicher noch als in anderen Texten sind hier auch der “Sitz im Leben” und die “Gebrauchsspuren” der Texte und Argumente erkennbar, etwa, wenn Blumenberg in seinen Ausführungen zum Begriff der Lebenswelt die “akademische Sonderwelt [in ihrer theoretischen Grundeinstellung] […] [als] eine auf Negation von Selbstverständlichkeiten angelegte Eigensphäre” (Blumenberg, Lebenswelt, 56) definiert. Dass Blumenberg hier - nicht ohne leise Selbstironie - auch das Eingeständnis einer gewissen Welt-Untüchtigkeit der Bewohner dieser Sphäre macht, hindert ihn im Folgenden nicht, sehr überzeugend und kraftvolle die kulturelle Notwendigkeit solcher “Sonderwelten” zu verteidigen. Folgt man der eingangs aufgestellten These von einer Rückkehr des Begriffs Welt als Zeichen eines doppelten Suchens nach einer Sprache über Geschichte/ Geschichtlichkeit und einer Sprache über kulturelle Differenz, dann mag ein erneutes Aufsuchen der Blumenberg’schen Philosophie viel versprechend sein. Sicherlich nicht, wenn man auf der Suche nach schnell verwertbaren Schlagwörtern für einen überhitzten Diskursbeschleuniger sucht, aber wenn man bereit ist, sehr grundsätzlich nochmals die Grundlagen und Perspektiven des eigenen Denkens zu befragen. In Arbeit am Mythos kristallisiert sich ein solches Befragen in den Begriffen von Welt und Horizont: Welt zu haben, ist immer das Resultat einer Kunst, auch wenn sie in keinem Sinne ein ‘Gesamtkunstwerk’ sein kann. Davon ist eben unter dem Titel ‘Arbeit am Mythos’ etwas zu beschreiben. ‘Horizont’ ist nicht der Inbegriff der Richtungen, aus denen Unbestimmtes zu gewärtigen ist. Es ist auch der Inbegriff der Richtungen, in denen Vorgriffe und Ausgriffe auf Möglichkeiten orientiert sind. (Blumenberg, Mythos, 13) Anmerkungen 1 In jüngster Zeit sind allerdings immer wieder Bemühungen erkennbar, Blumenbergs Denken durch eine Kontextualisierung fruchtbar zu machen. Vgl. hierzu etwa Elizabeth Brient. “Hans Blumenberg and Hannah Arendt on the ‘Unworldly Worldliness’ of the Modern Age.” Journal of the History of Ideas 61. 3 (2000): 513-30; Vida Pavesich. “Hans Blumenberg's Philosophical Anthropology: After Heidegger and Cassirer.” Journal of the History of Philosophy 46. 3 (2008): 421-48 sowie mit Blick auf das Theater Katrin Trüstedt. “Schiffbruch mit Zuschauer: Schmitt, Blumenberg und das Theater der Moderne.” Jahrbuch der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft 146 (2010): 97-112. 2 Siehe Ernst Cassirer. Philosophie der symbolischen Formen. Bd. 1: Die Sprache. 1923. Darmstadt, 1994. 11. 3 Vgl. hierzu bes. Blumenberg, Lebenswelt, 136f. 102 Relektüre 4 Auch hierin folgt er Ernst Cassirer, der Philosophie und Empirie in ihrer Perspektive auf den Menschen in einer ähnlichen Situation sieht: “Denn beide können das ‘An-Sich’ des Menschen nicht anders bestimmen, als daß sie es in den Erscheinungen aufweisen. Sie können die Erkenntnis vom ‘Wesen’ des Menschen nur dadurch gewinnen, daß sie den Menschen in der Kultur und im Spiegel seiner Kultur erblicken; aber sie können diesen Spiegel nicht umwenden, um zu sehen, was hinter ihm liegt.”; Ernst Cassirer. Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien. 1942. Darmstadt, 6 1994, S. 102. 5 Auf diese Lesart hat jüngst auch Martin Puchner in seinem Vortrag “Die Benennung der Welt” im Rahmen des Bayreuther Symposions “Wann geht der nächste Schwan? ” Wunder zwischen Strategie und Emergenz (Bayreuth, 4./ 5. August 2010) hingewiesen. 6 In diesem Zusammenhang sei nur beispielhaft auf seine Studie Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie (1987) verwiesen, die beispielhaft eine solche mäandernde Geschichte schreibt. Angeführte Werke Blumenbergs Blumenberg, Hans. “Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik.” Wirklichkeiten, in denen wir leben. 1971. Stuttgart: Reclam, 1981. 104-36. - Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 1979. - “Ernst Cassirers gedenkend. Bei der Entgegennahme des Kuno-Fischer-Preises der Universität Heidelberg 1974.” Wirklichkeiten, in denen wir leben. Stuttgart: Reclam, 1981. 163-72. - Arbeit am Mythos. 1979. Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 1996. - Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie. Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 1987. - “Wie man Zuschauer wird.” Ein mögliches Selbstverständnis. Aus dem Nachlaß. Stuttgart: Reclam, 1997. 93-107. - Paradigmen zu einer Metaphorologie. 1960. Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 1998. - Beschreibung des Menschen. Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 2006. - Geistesgeschichte der Technik. Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 2009. - Theorie der Lebenswelt. Berlin: Suhrkamp, 2010.