eJournals Forum Modernes Theater 25/1

Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
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2010
251 Balme

Susanne Hartwig, Klaus Pörtl (Hg.). La voz de los dramaturgos. El teatro español y latinoamericano actual. Tübingen: Niemeyer, 2008, 137 Seiten (Beihefte zur Iberoromania, 22), 49,95 €

0601
2010
Wilfried Floeck
fmth2510103
Rezensionen Susanne Hartwig, Klaus Pörtl (Hg.). La voz de los dramaturgos. El teatro español y latinoamericano actual. Tübingen: Niemeyer, 2008, 137 Seiten (Beihefte zur Iberoromania, 22), 49,95 Im Jahr 1986 erschien unter der Herausgeberschaft von Klaus Pörtl in der gleichen Reihe unter dem Titel Reflexiones sobre el Nuevo Teatro Español ein Band, in dem ein Dutzend Autoren der so genannten Symbolistischen Generation, die von der Kritik auch als Neues Spanisches Theater bezeichnet wird, über ihr Theater sowie über ihre Befindlichkeit in den ersten Jahren der Demokratie räsonierten. In seiner Einleitung stellte Pörtl fest, dass diese Gruppe, deren produktiver Höhepunkt im letzten Jahrzehnt des Franco-Regimes lag, die aber aufgrund scharfer Zensurbestimmungen nie zu einer nachhaltigen Bühnenpräsenz gelangt war, auch im demokratischen Spanien nach Aufhebung der Zensur erfolglos blieb. Weder Theaterbetrieb noch Publikum hatten in den Jahren der Movida Interesse an einem politischen Theater, dem zudem nach 1975 der politische Gegner abhanden gekommen war. Auch die ästhetischen Neuerungen, die die Autoren des Nuevo Teatro Español im Vergleich zu der vorangegangenen Realistischen Generation (Antonio Buero Vallejo, Alfonso Sastre, u.a.) eingeführt und mit denen sie das spanische Theater an die Standards des europäischen und nordamerikanischen Theaters herangeführt hatten, stießen auf wenig Interesse, zumal das spanische Theaterpublikum und die Kritik auf solche Innovationen nicht vorbereitet waren. Schon damals stellte Pörtl zu Recht fest, dass die genannten Autoren in zunehmende Konkurrenz zu einer neuen Generation von Dramatikern gerieten, für die die Traumata von Bürgerkrieg und Francodiktatur sowie von politischer und sexueller Repression nicht mehr prägend waren. Der vorliegende Band ist in seinem ersten Teil acht Autoren der zweiten Generation des demokratischen Spanien sowie einem Theaterkollektiv gewidmet, die alle in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts geboren sind und die seit der Jahrhundertwende die ästhetisch anspruchsvolle spanische Theaterproduktion prägen. Im zweiten Teil kommen zehn lateinamerikanische Dramatiker unterschiedlicher Herkunft (je drei aus Venezuela und Kolumbien sowie zwei aus Ecuador und je einer aus Brasilien und Argentinien) zu Wort. Mit zwei Spanierinnen und einer Venezuelanerin sind die weiblichen Autoren eher schwach vertreten. Auf die Interviews mit den Autoren folgen kurze bio-bibliographische Angaben sowie Theaterkritiken oder Kurzanalysen eines ausgewählten Stückes. Für die Durchführung und Präsentation der Interviews mit den spanischen Autoren hat Pörtl mit Susanne Hartwig eine junge Kollegin gewonnen, die ihre Kenntnis des zeitgenössischen spanischen Theaters nicht zuletzt in ihrer Habilitationsschrift unter Beweis gestellt hat. 1 Während sich das Neue Spanische Theater 1986 trotz weitgehender Auflösung als relativ geschlossene Gruppe präsentieren ließ, ist dies beim spanischen Gegenwartstheater nicht mehr der Fall, obgleich die Verf. mit Sergi Belbel, Rodrigo García, Angélica Liddell, Juan Mayorga, Itziar Pascual, Juan Carlos Rubio und Pedro Víllora eine altersmäßig homogene und repräsentative Auswahl getroffen hat, aus der höchstens die Compañía Yllana etwas heraus fällt. Nicht nur, dass die Suche nach Geschlossenheit und Einheit im Zeitalter der Postmoderne von vornherein aussichtslos ist, - das spanische Gegenwartstheater hat sich in den drei letzten Jahrzehnten zudem dermaßen radikal aus seiner Jahrzehnte langen Isolierung und Rückständigkeit befreit, dass Vielfalt und Heterogenität in jeder Hinsicht zu seinen prägenden Merkmalen zählen, wie die Verf. gleich zu Beginn ihrer Einführung auch dezidiert betonen (S. 1). Das zeigen in der Tat auch die Antworten auf die sechs Fragen nach Schlüsselbegriffen und Funktion, Verhältnis von Text und Bild sowie Drama und Film bzw. Bildender Kunst, Beziehung zu Fernsehen und Werbung, nach der Art des Schreibvorgangs, dem Verhältnis zum Publikum sowie nach der Zukunft des spanischen Theaters. Forum Modernes Theater, Bd. 25/ 1 (2010), 103-105. Gunter Narr Verlag Tübingen 104 Rezensionen Trotz aller Heterogenität lassen sich doch einige gemeinsame Linien ziehen, die sich freilich mal mehr und mal weniger deutlich konturieren lassen. Dazu gehört die Überzeugung von einer wie auch immer gearteten ethischen oder gesellschaftlichen Funktion des Theaters, die freilich des Öfteren mit einer gewissen Verunsicherung geäußert wird, wie etwa im Fall von Rodrigo García, der bekennt, dass er heute von der unmittelbaren gesellschaftlichen Funktion des Theaters überzeugt ist und am nächsten Tag das Gegenteil glaubt (vgl. S. 12). Einig sind sich die Autoren noch am ehesten darin, dass das Theater keine unmittelbare didaktische Funktion zu erfüllen und keine politischen oder ideologischen Heilslehren mehr zu verkünden und eher Fragen zu stellen als zu beantworten habe. “Y me horroriza pensar”, sagt Sergi Belbel in diesem Zusammenhang, “que mi teatro debe o da respuestas” (S. 7). Am weitesten in der Ablehnung jeglicher inhaltlicher und ästhetischer Kohärenz sowie jeglicher Funktionalisierung des Theaters geht Pedro Víllora, der die Heterogenität seines Theaters zu der Dispersion seiner eigenen Persönlichkeit in eine kausale Beziehung setzt: “Mi propia dispersión como escritor hace que ni mi teatro ni yo tengamos una función -ni una imagen- marcada en la sociedad” (S. 38). Solch postmoderner Radikalismus bildet freilich eher die Ausnahme. Der Ausgang für das Engagement der meisten Autoren sind weniger gesellschaftliche und schon gar nicht politische Konstellationen, sondern eher private, subjektive Befindlichkeiten, die allerdings in der Regel durchaus als Folge gesellschaftlicher Verhältnisse interpretiert werden. Wenn Angélica Liddell ihr Theater als “compromiso con el dolor humano” (S. 17) versteht, begreift sie diese “Schmerzmaschine” (ebda.), die den menschlichen Schmerz in immer neuen Variationen modelliert, zugleich auch als bürgerlichen Ungehorsam und Widerstand (vgl. ebda.). Wenn Itziar Pascual in der Gestaltung der Erinnerung einer schwierigen Vergangenheit die Basis ihres Theaters sieht, so betont sie dabei stets die Verschränkung von individueller und kollektiver Erinnerung, von individueller und kollektiver Vergangenheitsbewältigung (vgl. S. 25). Gemeinsam ist den Autoren auch eine Tendenz zur offenen, fragmentierten Struktur ihrer Texte und zur Offenheit ihrer Aussage. Dies impliziert die Überzeugung von einer eigenen Verantwortung und einer Partizipation des Lesers und Zuschauers an der Sinndeutung ihrer Werke. Diese Überzeugung hat schon José Sanchis Sinisterra, einer der Väter des spanischen Gegenwartstheaters, seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts immer wieder passioniert vertreten. Auch die Verf. betonen diesen Aspekt als eine der wenigen Gemeinsamkeiten der Gegenwartsdramatiker: “Los dramaturgos buscan también el diálogo de igual a igual con el espectador, que debe completar, con su imaginación y sus propias experiencias, lo que ve en el escenario y lo que escucha del texto. El autor-director no quiere compartir certezas sino insatisfacciones y curiosidades con él” (S. 1). Interessant ist auch, dass die Mehrheit der Autoren das Verhältnis von Text und Bild und damit zugleich auch von Drama und Theater weniger als Gegensatz, sondern eher als untrennbare Verbindung begreift, wobei die Bedeutung von Wort und Bild (und anderen theatralen Zeichen) durchaus unterschiedlich fokussiert wird. Erstaunlich ist dabei, dass ein klarer Vertreter des Ideentheaters wie Juan Mayorga betont, dass er stets Bilder (wenn auch vage) im Kopf hat, wenn er schreibt, und dass Vertreter eines plastischen, mit allen theatralen Zeichen arbeitenden Theaters wie Angélica Liddell oder Rodrigo García die Bedeutung des Wortes (Liddell, S. 17) und die notwendige Verbindung beider Aspekte betonen (“Se necesitan las dos cosas, los textos y las imágenes”, García, S. 13). Über die fragmentarische Struktur hinaus weitere ästhetische Gemeinsamkeiten zu finden, ist kaum möglich, wenn auch nicht alle Autoren mit der gleichen Radikalität wie Pedro Víllora die Diversität nicht nur des spanischen Gegenwartstheaters, sondern auch seiner eigenen Produktion betonen: “No tengo un modo de trabajo. De la misma manera que cada una de mis obras es distinta, también lo ha sido su escritura” (S. 39). Der entscheidende Eindruck, den die acht Interviews hinterlassen, ist der, dass das spanische Gegenwartstheater - wie das gesamte Land - endgültig in der globalisierten Welt angekommen ist. Noch heterogener als der spanische präsentiert sich der Teil zum lateinamerikanischen Theater. Das liegt nicht nur an der naturgemäßen Diversität Rezensionen 105 eines riesigen Subkontinentes mit unterschiedlichen Theaterkulturen, sondern auch an der Auswahl der Autoren. Dass Venezuela und Kolumbien dreimal, die großen Theaternationen Mexiko und Chile aber gar nicht vertreten sind, spricht nicht für Repräsentativität der Auswahl, die aber in diesem Rahmen wohl auch kaum möglich gewesen wäre und auch nicht intendiert ist. Den Eindruck der Heterogenität verstärkt auch die Tatsache, dass die ausgewählten Autoren ganz unterschiedlichen Generationen angehören und von ganz unterschiedlicher theatergeschichtlicher Bedeutung für Lateinamerika sind. Da stehen neben so bedeutenden und gestandenen Autoren wie dem Kolumbianer Carlos José Reyes und dem in Venezuela lebenden Luis Chesney Lawrence mit Geburtsjahr 1941 bzw. 1944 eher weniger bekannte Dramatiker wie der Deutsch-Ecuadorianer Christoph Baumann (1954) oder die Venezuelaner Elizabeth Yrausquín de Postalian (1957) und Vicente Emilio Lira Morillo (1959). Neben dem 75jährigen Kolumbianer Gilberto Martínez Arango und den für das jüngste Theater ihres Landes wichtigen Dramatikern Víctor Viviescas (Kolumbien, 1958), Peky Andino Moscoso (Ecuador, 1962) und Fernando Bonassi (Brasilien, 1962) findet sich der international renommierte 39jährige Shooting Star Rafael Spregelburd aus Argentinien. Dass Bonassi anstatt die gestellten Fragen zu beantworten, ein äußerst witziges Essay liefert, dem freilich mehr zur persönlichen Befindlichkeit eines brasilianischen Dramatikers als zu seinem Theater zu entnehmen ist, verstärkt den Eindruck der Heterogenität ebenso wie die Tatsache, dass Spregelburd anstelle der üblichen fünf bis sieben ganze vierzig Seiten für sich allein in Anspruch nimmt. Es versteht sich von selbst (und das betonen natürlich auch die Herausgeber), dass unter diesen Umständen weder repräsentative noch einheitliche Tendenzen herauszuarbeiten sind, - es sei denn vielleicht die Einsicht, dass das Leben für die lateinamerikanischen noch mehr als für die spanischen Dramatiker ein individueller wie kollektiver Alptraum ist, den sie in ihrem Theater auf unterschiedlichste Art modellieren. Mit den Spaniern teilen sie auch ihre unbedingte Suche nach neuen Formen und Ausdrucksmöglichkeiten. Die kurzen Interviews, Kritiken und Analysen zu den spanischen Autoren bieten in ihrer Gesamtheit einen durchaus repräsentativen Einblick in die aktuelle Dramenproduktion. Der lateinamerikanische Teil liefert seinerseits vorzügliche Schlaglichter aus dem Theaterleben eines Subkontinentes, das in seiner komplexen Fülle und mit einer gewissen Repräsentativität zu erfassen ein eigener Band erforderlich gewesen wäre. Gießen W ILFRIED F LOECK Anmerkung 1 Chaos und System. Studien zum spanischen Gegenwartstheater, Frankfurt am Main: Vervuert, 2005. Wolf Gerhard Schmidt. Zwischen Anti moderne und Postmoderne. Das deutsche Drama und Theater der Nachkriegszeit im internationalen Kontext. Stuttgart, Weimar: Verlag J.B. Metzler, 2009, 800 Seiten, 99,95 . Allzu lange dienten die fünfziger Jahre und die Situation im geteilten Nachkriegsdeutschland vor allem als Kontrastfolie für das, was nach ihnen kam: die 68er-Bewegung und damit die zunehmende Politisierung künstlerischer Praktiken. Aus dieser Perspektive wurden die Fünfziger eher als unpolitisch abgetan - ein Befund, der zwar im Groben stimmt, in seiner Undifferenziertheit aber nicht von einer Beschäftigung mit dem Nachkriegsjahrzehnt entlasten kann. Trotzdem zeichnet sich erst seit der Jahrtausendwende eine Verschiebung der Forschungsperspektive zugunsten der Fünfziger ab, ausgehend auch von neueren Untersuchungen zu 1968. Aus theaterwissenschaftlicher Sicht eröffnet z.B. Dorothea Kraus’ Theater-Proteste: Zur Politisierung von Straße und Bühne (2007) mit einem lesenswerten Kapitel zum “Feld des Theaters in den fünfziger Jahren”. Zu Recht erscheinen weite Teile des Felds auch hier als Gegenbild zu den Theaterversuchen der Sechziger, doch Kraus betont die Brüche in diesem Bild und zeigt, dass die Frage nach der gesellschaftspoliti- Forum Modernes Theater, Bd. 25/ 1 (2010), 105-107. Gunter Narr Verlag Tübingen