Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
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BalmeWolf Gerhard Schmidt. Zwischen Anti moderne und Postmoderne. Das deutsche Drama und Theater der Nachkriegszeit im internationalen Kontext. Stuttgart, Weimar: Verlag J.B. Metzler, 2009, 800 Seiten, 99,95 €
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Michael Bachmann
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Rezensionen 105 eines riesigen Subkontinentes mit unterschiedlichen Theaterkulturen, sondern auch an der Auswahl der Autoren. Dass Venezuela und Kolumbien dreimal, die großen Theaternationen Mexiko und Chile aber gar nicht vertreten sind, spricht nicht für Repräsentativität der Auswahl, die aber in diesem Rahmen wohl auch kaum möglich gewesen wäre und auch nicht intendiert ist. Den Eindruck der Heterogenität verstärkt auch die Tatsache, dass die ausgewählten Autoren ganz unterschiedlichen Generationen angehören und von ganz unterschiedlicher theatergeschichtlicher Bedeutung für Lateinamerika sind. Da stehen neben so bedeutenden und gestandenen Autoren wie dem Kolumbianer Carlos José Reyes und dem in Venezuela lebenden Luis Chesney Lawrence mit Geburtsjahr 1941 bzw. 1944 eher weniger bekannte Dramatiker wie der Deutsch-Ecuadorianer Christoph Baumann (1954) oder die Venezuelaner Elizabeth Yrausquín de Postalian (1957) und Vicente Emilio Lira Morillo (1959). Neben dem 75jährigen Kolumbianer Gilberto Martínez Arango und den für das jüngste Theater ihres Landes wichtigen Dramatikern Víctor Viviescas (Kolumbien, 1958), Peky Andino Moscoso (Ecuador, 1962) und Fernando Bonassi (Brasilien, 1962) findet sich der international renommierte 39jährige Shooting Star Rafael Spregelburd aus Argentinien. Dass Bonassi anstatt die gestellten Fragen zu beantworten, ein äußerst witziges Essay liefert, dem freilich mehr zur persönlichen Befindlichkeit eines brasilianischen Dramatikers als zu seinem Theater zu entnehmen ist, verstärkt den Eindruck der Heterogenität ebenso wie die Tatsache, dass Spregelburd anstelle der üblichen fünf bis sieben ganze vierzig Seiten für sich allein in Anspruch nimmt. Es versteht sich von selbst (und das betonen natürlich auch die Herausgeber), dass unter diesen Umständen weder repräsentative noch einheitliche Tendenzen herauszuarbeiten sind, - es sei denn vielleicht die Einsicht, dass das Leben für die lateinamerikanischen noch mehr als für die spanischen Dramatiker ein individueller wie kollektiver Alptraum ist, den sie in ihrem Theater auf unterschiedlichste Art modellieren. Mit den Spaniern teilen sie auch ihre unbedingte Suche nach neuen Formen und Ausdrucksmöglichkeiten. Die kurzen Interviews, Kritiken und Analysen zu den spanischen Autoren bieten in ihrer Gesamtheit einen durchaus repräsentativen Einblick in die aktuelle Dramenproduktion. Der lateinamerikanische Teil liefert seinerseits vorzügliche Schlaglichter aus dem Theaterleben eines Subkontinentes, das in seiner komplexen Fülle und mit einer gewissen Repräsentativität zu erfassen ein eigener Band erforderlich gewesen wäre. Gießen W ILFRIED F LOECK Anmerkung 1 Chaos und System. Studien zum spanischen Gegenwartstheater, Frankfurt am Main: Vervuert, 2005. Wolf Gerhard Schmidt. Zwischen Anti moderne und Postmoderne. Das deutsche Drama und Theater der Nachkriegszeit im internationalen Kontext. Stuttgart, Weimar: Verlag J.B. Metzler, 2009, 800 Seiten, 99,95 . Allzu lange dienten die fünfziger Jahre und die Situation im geteilten Nachkriegsdeutschland vor allem als Kontrastfolie für das, was nach ihnen kam: die 68er-Bewegung und damit die zunehmende Politisierung künstlerischer Praktiken. Aus dieser Perspektive wurden die Fünfziger eher als unpolitisch abgetan - ein Befund, der zwar im Groben stimmt, in seiner Undifferenziertheit aber nicht von einer Beschäftigung mit dem Nachkriegsjahrzehnt entlasten kann. Trotzdem zeichnet sich erst seit der Jahrtausendwende eine Verschiebung der Forschungsperspektive zugunsten der Fünfziger ab, ausgehend auch von neueren Untersuchungen zu 1968. Aus theaterwissenschaftlicher Sicht eröffnet z.B. Dorothea Kraus’ Theater-Proteste: Zur Politisierung von Straße und Bühne (2007) mit einem lesenswerten Kapitel zum “Feld des Theaters in den fünfziger Jahren”. Zu Recht erscheinen weite Teile des Felds auch hier als Gegenbild zu den Theaterversuchen der Sechziger, doch Kraus betont die Brüche in diesem Bild und zeigt, dass die Frage nach der gesellschaftspoliti- Forum Modernes Theater, Bd. 25/ 1 (2010), 105-107. Gunter Narr Verlag Tübingen 106 Rezensionen schen Funktion und Qualität von Theater zu jener Zeit kontrovers diskutiert wurde. Über das Theater hinausgehend, haben Publikationen wie der von Werner Faulstich edierte Sammelband Kultur der fünfziger Jahre (2002) entscheidend zu einer Neubewertung der Epoche beigetragen. Wolf Gerhard Schmidts Habilitationsschrift, die bei Metzler unter dem Titel Zwischen Antimoderne und Postmoderne erschienen ist, reiht sich bewusst in jene Studien zum Nachkriegsjahrzehnt ein, die eine “Janusköpfigkeit” der Fünfziger profilieren wollen, ohne sie zugleich “aus tiefem Vergessen gleichsam direkt auf den Platz an der Sonne zu heben” (5). Wenn Schmidt gegen die These anschreibt, dass das Nachkriegsjahrzehnt - zumal mit Blick auf Westdeutschland - nur eine Epoche der lähmenden Restauration gewesen sei, ignoriert er deren konservativen Züge also keineswegs. Vielmehr will er das Bewusstsein für die “Präsenz eines inhaltlichen bzw. ästhetischen Pluralismus im deutschen Drama und Theater der Nachkriegszeit” (12) schärfen. Diese Aufgabe unterscheidet sich für die beiden Gegenstandsbereiche, die Schmidt betrachtet. Was Theater betrifft, versucht er die Arbeit von Regisseuren wie Gründgens oder Sellner, die als eher unpolitisch verstanden werden, gegenüber jenen Regiepraktiken aufzuwerten, die in der Theaterlandschaft der Fünfziger als politisch engagiert gelten, also Kortner, Piscator und Brecht. Geht es hier um eine Neubewertung letztlich bekannter Phänomene, muss Schmidt in Bezug auf den zweiten Gegenstandsbereich - das Drama - erst einmal das zu untersuchende Feld reklamieren. Zu übermächtig ist bis heute das Schlagwort vom “Schweigen des deutschen Dramas” der Nachkriegszeit (zu finden etwa in der 2006 überarbeiteten und von Wilfried Barner herausgegebenen Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart), als dass es fundierte Gesamtdarstellungen jenseits der kanonisierten Dramentexte (z.B. Zuckmayer oder Borchert) geben würde. Dies zu ändern, ist das größte Verdienst von Schmidts Studie. Der Literaturwissenschaftler stellt die west- und ostdeutsche Dramenproduktion zwischen 1945 und 1961, dem Jahr des Mauerbaus, umfangreich dar. Aufgrund der schieren Menge an Material, das seine Studie auftut, können die Dramen meist nur einer kursorischen Lektüre unterzogen werden. Dennoch gelingt es Schmidt, diese schlüssig in verschiedene Narrative und ästhetische Ordnungen aufzuteilen. Dem entspricht die nur auf den ersten Blick verwirrende Struktur seines Buches. Nach einem ersten Teil, der “Soziokulturelle Ordnungen” überschrieben ist und die Theaterszene der Fünfziger untersucht (45-186), folgen die Hauptteile der Studie, die sich fast ausschließlich auf Dramen - nicht auf ihre theatrale Umsetzung - konzentrieren. Neben der übergeordneten Frage nach “Ästhetischen Ordnungen” (441-645), etwa der Gattungstypologie oder unterschiedlichen Dramenbzw. Theaterkonzepten, stehen hier “Semantische Ordnungen” (187-439) im Vordergrund: darunter versteht Schmidt die Narrative, in die er die behandelten Dramen einordnet, etwa Marxismus, Absurdismus oder Transzendenz. Doch Schmidt will mehr als eine philologisch orientierte Aufarbeitung des deutschen Nachkriegstheaters, nämlich den “Versuch seiner Einordnung in die Geschichte der Moderne und demnach die Neubewertung der Epoche” (5). Schmidts Hauptthese deutet sich schon im Titel der Studie an: eine Verortung der Fünfziger zwischen “Antimoderne” und “Postmoderne”, die bei dem Literaturwissenschaftler, ohne dass dies explizit ausgeführt würde, als Unterkategorien der Moderne erscheinen. Viele Strömungen, die aus heutiger Sicht als unpolitisch gewertet werden, weiß der Autor mit einem der postmodernen Befindlichkeit ähnelnden Bewusstsein vom “Ende der Ideologien” (6) zu verbinden, das zugleich “die Moderne nachdrücklich fortschreiben” würde (26). Schmidt fasst diese theatralen und dramatischen Formen unter dem Begriff “Integraltheater” (96-137) zusammen, das er vom engagierten Westtheater à la Kortner und Piscator (137-160) ebenso wie vom “Tangentialtheater” (160-186) der Sowjetischen Besatzungszone bzw. DDR absetzt. In der Mathematik, der Schmidt seine Metaphorik entlehnt, bezeichnet die Tangente die bestmögliche lineare Annäherung an eine Kurve. Mit anderen Worten handelt es sich um eine Funktion, die Komplexität zugunsten einer einfachen Erklärung reduziert. Entsprechend werden im Tangentialtheater, so Schmidt, komplexe geschichtliche Vorgänge “auf die Gegenwart ausgerichtet” und im sozialistischen Sinne “teleologisch interpretiert” (166-67). Das Integral Rezensionen 107 hingegen ist in der Mathematik ein Grenzwert zur Berechnung von Flächen und Volumina, für Schmidt ein “Verfahren, das der funktionalen Komplexität (Bedeutungs- und Stilvielfalt) gerecht wird, zugleich aber durch Summenbildung einen neuen Sinnhorizont schafft” (97). Für Ostdeutschland privilegiert Schmidt in Einklang mit der üblichen Theatergeschichtsschreibung Autoren, die sich der von ihm konstatierten “Tangente” weitgehend entziehen: Brecht, Hacks und Heiner Müller. In Bezug auf die BRD wertet er jene Formen auf, die er als “integral” bezeichnet: im Theater wären dies z.B. die Arbeiten von Gründgens, Sellner oder Fehling. Schmidt sieht in ihren künstlerischen Verfahren den Versuch, “postidealistisch Sinn zu stiften” (127), der zwar einerseits eine konservative Abschottung von jeder Idee gesellschaftlichen Wandels bedeute, zugleich aber eine neue - vermeintlich postideologische - Identitätsbildung als “Summe verschiedener Rollenentwürfe” (127) ermögliche. Problematisch an Schmidts diskussionswürdigen Thesen wie an der Studie im Allgemeinen sind die methodischen Voraussetzungen. Am geringsten fällt dabei die verkürzende Übernahme theaterwissenschaftlichen Vokabulars ins Gewicht, die z.B. Intermedialität primär als Beziehung zwischen Dramentext und Aufführung begreift (96). Schwerer wiegt, dass sich Schmidt zu sehr auf Selbstaussagen der Künstler verlässt, ohne diese angemessen zu historisieren. Das Konstrukt der Ideologiefreiheit im Spiel verschiedener Rollenentwürfe wird etwa gegen die Ideologie des Nationalsozialismus ausgespielt, aber nicht als mögliche Legitimationsstrategie der jeweiligen Künstler untersucht. Weiterhin erhält das Verhältnis von Theater und Drama nicht genug Aufmerksamkeit: so wird die Ideologiefreiheit des “Integrals” zwar als Effekt dieses Verhältnisses begriffen (insofern jede Aufführung dem dramatischen Text eine Interpretationsebene hinzufüge und damit ins Spiel möglicher Sinnstiftungen eingreife), doch jenseits dieser These geht der Bezug von Theater und Drama verloren. Das ist insofern problematisch, als Schmidt aufweisen will, dass das Drama der fünfziger Jahre Themen behandelt, von denen die bisherige Forschung nicht wisse, z.B. sei während der Nachkriegsepoche “ein politisch-engagierter Diskurs virulent” (205). Hier fehlen klare Angaben darüber, was tatsächlich produziert oder auch nur veröffentlicht wurde, und welche Dramen letztlich in die Schublade wanderten. Ohne diese Transparenz differenzieren Schmidts Erkenntnisse zwar das Bild vom Schweigen des Dramas, aber sie suchen die Gründe für die bisherige Auffassung zu einseitig bei der Forschung statt die tatsächlichen Produktionsverhältnisse der Fünfziger in ihre Überlegungen mit einzubeziehen. Trotz einiger methodologischer Schwächen bietet Schmidts Studie wertvolle Grundlagenforschung zum Drama und Theater der Nachkriegszeit, die nicht nur durch Materialfülle beeindruckt, und die zu einem Standardwerk für die Epoche werden könnte. Mainz M ICHAEL B ACHMANN Erika Fischer-Lichte. Theaterwissenschaft. Eine Einführung in die Grundlagen des Faches. Tübingen/ Basel: Francke Verlag, 2009, 273 Seiten, 19,90 . Theaterwissenschaft wird im deutschsprachigen Raum mit seiner Vielzahl an Stadt-, Staats- und Nationaltheatern in erster Linie als Wissenschaft von Aufführungen studiert und dass dies so ist knüpft sich an die national wie international viel beachtete Forschung Erika Fischer-Lichtes. Mit der nun vorliegenden Einführung in die Grundlagen des Faches dokumentiert die Grande Dame der deutschen Theaterwissenschaft den Werdegang dieser noch immer relativ jungen akademischen Disziplin als die erfolgreiche Emanzipation aus der Literaturwissenschaft. Der Band liest sich somit als Genealogie und Methode des Faches zugleich, was die Lektüre nicht nur für Studienanfänger, sondern auch für fortgeschrittene Semester durchaus interessant macht. Ausgehend vom Begriff des Theaters, das als Ort der Schau immer auch Raum für performatives Entstehen von Wissen konstituiert, expliziert Fischer-Lichte die Bedeutung theaterwissenschaftlicher Analysemethoden für den jüngsten Paradigmenwechsel in der Kulturwissenschaft. Aufführung und Spiel als zentrale Kategorien des Theaterereignisses begründen so Forum Modernes Theater, Bd. 25/ 1 (2010), 107-109. Gunter Narr Verlag Tübingen