Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
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BalmeErika Fischer-Lichte. Theaterwissenschaft. Eine Einführung in die Grundlagen des Faches. Tübingen/Basel: Francke Verlag, 2009, 273 Seiten, 19,90 €
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Sabine Sörgel
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Rezensionen 107 hingegen ist in der Mathematik ein Grenzwert zur Berechnung von Flächen und Volumina, für Schmidt ein “Verfahren, das der funktionalen Komplexität (Bedeutungs- und Stilvielfalt) gerecht wird, zugleich aber durch Summenbildung einen neuen Sinnhorizont schafft” (97). Für Ostdeutschland privilegiert Schmidt in Einklang mit der üblichen Theatergeschichtsschreibung Autoren, die sich der von ihm konstatierten “Tangente” weitgehend entziehen: Brecht, Hacks und Heiner Müller. In Bezug auf die BRD wertet er jene Formen auf, die er als “integral” bezeichnet: im Theater wären dies z.B. die Arbeiten von Gründgens, Sellner oder Fehling. Schmidt sieht in ihren künstlerischen Verfahren den Versuch, “postidealistisch Sinn zu stiften” (127), der zwar einerseits eine konservative Abschottung von jeder Idee gesellschaftlichen Wandels bedeute, zugleich aber eine neue - vermeintlich postideologische - Identitätsbildung als “Summe verschiedener Rollenentwürfe” (127) ermögliche. Problematisch an Schmidts diskussionswürdigen Thesen wie an der Studie im Allgemeinen sind die methodischen Voraussetzungen. Am geringsten fällt dabei die verkürzende Übernahme theaterwissenschaftlichen Vokabulars ins Gewicht, die z.B. Intermedialität primär als Beziehung zwischen Dramentext und Aufführung begreift (96). Schwerer wiegt, dass sich Schmidt zu sehr auf Selbstaussagen der Künstler verlässt, ohne diese angemessen zu historisieren. Das Konstrukt der Ideologiefreiheit im Spiel verschiedener Rollenentwürfe wird etwa gegen die Ideologie des Nationalsozialismus ausgespielt, aber nicht als mögliche Legitimationsstrategie der jeweiligen Künstler untersucht. Weiterhin erhält das Verhältnis von Theater und Drama nicht genug Aufmerksamkeit: so wird die Ideologiefreiheit des “Integrals” zwar als Effekt dieses Verhältnisses begriffen (insofern jede Aufführung dem dramatischen Text eine Interpretationsebene hinzufüge und damit ins Spiel möglicher Sinnstiftungen eingreife), doch jenseits dieser These geht der Bezug von Theater und Drama verloren. Das ist insofern problematisch, als Schmidt aufweisen will, dass das Drama der fünfziger Jahre Themen behandelt, von denen die bisherige Forschung nicht wisse, z.B. sei während der Nachkriegsepoche “ein politisch-engagierter Diskurs virulent” (205). Hier fehlen klare Angaben darüber, was tatsächlich produziert oder auch nur veröffentlicht wurde, und welche Dramen letztlich in die Schublade wanderten. Ohne diese Transparenz differenzieren Schmidts Erkenntnisse zwar das Bild vom Schweigen des Dramas, aber sie suchen die Gründe für die bisherige Auffassung zu einseitig bei der Forschung statt die tatsächlichen Produktionsverhältnisse der Fünfziger in ihre Überlegungen mit einzubeziehen. Trotz einiger methodologischer Schwächen bietet Schmidts Studie wertvolle Grundlagenforschung zum Drama und Theater der Nachkriegszeit, die nicht nur durch Materialfülle beeindruckt, und die zu einem Standardwerk für die Epoche werden könnte. Mainz M ICHAEL B ACHMANN Erika Fischer-Lichte. Theaterwissenschaft. Eine Einführung in die Grundlagen des Faches. Tübingen/ Basel: Francke Verlag, 2009, 273 Seiten, 19,90 . Theaterwissenschaft wird im deutschsprachigen Raum mit seiner Vielzahl an Stadt-, Staats- und Nationaltheatern in erster Linie als Wissenschaft von Aufführungen studiert und dass dies so ist knüpft sich an die national wie international viel beachtete Forschung Erika Fischer-Lichtes. Mit der nun vorliegenden Einführung in die Grundlagen des Faches dokumentiert die Grande Dame der deutschen Theaterwissenschaft den Werdegang dieser noch immer relativ jungen akademischen Disziplin als die erfolgreiche Emanzipation aus der Literaturwissenschaft. Der Band liest sich somit als Genealogie und Methode des Faches zugleich, was die Lektüre nicht nur für Studienanfänger, sondern auch für fortgeschrittene Semester durchaus interessant macht. Ausgehend vom Begriff des Theaters, das als Ort der Schau immer auch Raum für performatives Entstehen von Wissen konstituiert, expliziert Fischer-Lichte die Bedeutung theaterwissenschaftlicher Analysemethoden für den jüngsten Paradigmenwechsel in der Kulturwissenschaft. Aufführung und Spiel als zentrale Kategorien des Theaterereignisses begründen so Forum Modernes Theater, Bd. 25/ 1 (2010), 107-109. Gunter Narr Verlag Tübingen 108 Rezensionen die Plattform einer weitgreifenden Identitätsanalyse, die über das Kunsttheater hinaus in nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche von Politik bis Soziologie, Philosophie und Medienanalyse hineingreift. Im Mittelpunkt steht dabei das Moment der Flüchtigkeit körperlich vermittelter Prozesse wie sie die Schauspielerin in der jeweiligen Interpretation der gegebenen Rolle traditionell verkörpert. Dabei geht es der Theaterwissenschaft eben nicht in erster Linie um die Analyse textueller Verfahren, sondern um das sinnliche Wahrnehmen körperlicher Kopräsenz von Zuschauern und Darstellern. Diese grundlegende Definition des Theaterereignisses gehört inzwischen zu den Grundfesten theaterwissenschaftlicher Forschungsarbeit und in der Vehemenz, mit der Fischer-Lichte die Aufführungsanalyse als Kernkompetenz der Theaterwissenschaft verteidigt, besteht die eigentliche Radikalität ihres Arguments. Denn indem sie den Theaterbesuch als notwendige Bedingung der Aufführungsanalyse voraussetzt, ordnet sie jegliche Forschung, die sich nicht auf die eigene körperliche Erfahrung des Theaterereignisses als Forschungsgegenstand beruft, kategorial der Historiographie zu. Sie schreibt: Von Aufführungsanalyse ist daher im Folgenden nur die Rede, wenn vorausgesetzt werden kann, dass die/ der Analysierende an der betreffenden Aufführung selbst teilgenommen hat und so Teil des autopoietischen Prozesses gewesen ist, in dem die Aufführung entstand. In allen anderen Fällen handelt es sich um die Analyse von Quellen und Dokumenten zu einer Aufführung oder auch von Spuren, die sie hinterlassen hat. Ein solches Verfahren wird als theaterhistoriografisch bezeichnet (S. 70). Eine solche phänomenologische Perspektive schlägt sich vollends auf die Seite der Rezipienten, die das Ereignis originär wahrnehmen und als solches vermittels der eigenen Interpretation des Bühnengeschehens erst begründen. Körper, Energie, Präsenz, Atmosphäre und Rhythmus sind entscheidende Analyseparameter, die hier Eingang finden und Fischer-Lichtes frühere Forschung zur Semiotik um die entscheidenden phänomenologischen Kategorien ergänzen, die das performative Erleben von Theater als transformatives Schwellenereignis kennzeichnen. Studierenden in den ersten Semestern wird hier das wesentliche Analyseinstrumentarium auf klar strukturierte Weise an die Hand gegeben mit dem sie lernen wie Bedeutung auf dem Theater entsteht und dass sie wesentlicher Bestandteil dieser Bedeutungskonstitution sind. Aufführungsanalyse ist notwendigerweise subjektiv und zuweilen verbleibt das erlebte Erspüren der besonderen Atmosphäre schwitzender Körper vage formuliert, doch wer das Geschehen methodisch strukturiert zu analysieren gelernt hat, vermeidet den Vorwurf der Beliebigkeit wie dies der zweite Teil des Buches anhand der Arbeitsfelder, Theorien und Methoden im Einzelnen näher vorstellt. Fischer-Lichtes Fokussierung auf die Aufführungsanalyse markiert somit die Stärke dieser Einführung für das Fach insbesondere im deutschsprachigen Raum. Denn ihr Ansatz verdeutlicht wie sehr sich das Entstehen der deutschen Theaterwissenschaft an die Vielfalt und Besonderheit der deutschen Theaterlandschaft knüpft, die nicht zuletzt mit Berlin als Theaterhauptstadt einen singulären Status erhält, der ein solches Primat der Aufführungserforschung für Studierende attraktiv und praktikabel macht. Was jenseits der Aufführung von der Theaterwissenschaft erforscht wird und die verbleibenden Kapitel des Bandes bestimmt, sind desweiteren Theatergeschichte, Theorie und Ästhetik. Im Vergleich zu den Ausführungen zu Aufführungsbegriff und -analyse werden diese Kapitel weniger ausführlich behandelt, was jedoch im Rahmen einer Einführung durchaus gerechtfertigt erscheint. Theaterwissenschaft stellt auch in diesen Feldern ihre originären Fragen an den Forschungsgegenstand, allerdings steht sie hier im interdisziplinären Dialog mit den jeweilig angrenzenden Disziplinen der anderen Geisteswissenschaften. Der zugrunde gelegte Theaterbegriff dient auch an dieser Stelle zur Orientierung mit Hilfe derer das historische Quellenmaterial dezidiert theaterwissenschaftlich zu befragen ist. Jüngste Forschung zur Theatergeschichtsschreibung erweist sich dergestalt als performativer Lektüreprozess und bezeugt den weitreichenden Einfluss der performativen Wende in den Geisteswissenschaften. Fischer-Lichte erläutert in diesem Zusammenhang: Rezensionen 109 Wie sich vor allem an diesen Beispielen gezeigt hat, sollte Theatergeschichtsschreibung immer theoriegeleitet vorgehen. Es sind theoretische Vorannahmen, die zu bestimmten methodischen und konzeptuellen Entscheidungen führen und entsprechend zu erläutern sind. Die Anlage einer historiographischen Untersuchung ist daher ohne den Rekurs auf bestimmte Theorien gar nicht möglich (S. 134). Mit dieser Überleitung zur Theorie als nächstem Forschungsfeld wird erneut kenntlich, wie zentral der von Fischer-Lichte maßgeblich in den Vordergrund internationaler Theaterwissenschaftsforschung gerückte Aufführungsbegriff geworden ist und unter anderem eben auch einen neuen Blick auf die zeitgenössischen Methoden der Geschichtsschreibung eröffnet. Auf die notwendige Erweiterung theaterwissenschaftlicher Theoriebildung bezieht Fischer- Lichte sich abschließend im dritten Teil des Bandes, der sich an Studierende in den aufbauenden Masterstudiengängen des Faches richtet. Fischer- Lichtes originelle Wende besteht in diesem Teil vor allem darin, den von ihr jüngst neu postulierten Begriff der “Verflechtung” als Alternative zur umstrittenen Interkulturalitäts- und Hybriditätsforschung der 1990er Jahre vorzustellen. Erstmalig verwirft Fischer-Lichte auf diese Weise herkömmliche Analysemodelle, die den Modernisierungsgedanken als einseitige Verwestlichung internationaler Theaterformen betrachten und weist im Gegenzug darauf hin, dass Modernisierung in jedweder Form und jeder Kultur gleichwertig auftreten kann (S. 174f.). Diese These ist durchaus so provokant, wie man das von ihrer langjährigen Forschung gewohnt ist, doch liefert sie auch hier wieder den entscheidenden Impuls zu bislang ausstehender Forschung auf diesem Gebiet. Erika Fischer-Lichte beweist damit einmal mehr wie sehr ihre singuläre Forscherpersönlichkeit maßgebliche Grundsteine legt, die dem Fach inzwischen zu unentbehrlichen Eckpfeilern geworden sind. Nachkommenden Generationen junger Studierender ist die kritische Lektüre dieser Einführung daher besonders zu empfehlen, da sie im Vergleich zu den bereits existierenden Einführungen die Genealogie der deutschsprachigen Theaterwissenschaft aufzeigt und damit das vorgestellte Primat der Aufführungsanalyse als Kernkompetenz im Kontext deutscher Theatergeschichte überzeugend darlegt. Aberystwyth S ABINE S ÖRGEL Dennis Kennedy. The Spectator and the Spectacle. Audiences in Modernity and Postmodernity. Cambridge: Cambridge University Press, 2009, 249 Seiten, ca. 60 Der Zuschauer gehört zu jenen Konstanten des theaterwissenschaftlichen Diskurses, dessen Anwesenheit (oder Abwesenheit) als factum brutum angenommen wird. Bei näherer Betrachtung aber verkompliziert sich der Sachverhalt sofort: In einem Dickicht von Spekulationen und Verallgemeinerungen, Stereotypen und Mutmaßungen windet sich die Rede vom Zuschauer um die Erkenntnis herum, dass wir eigentlich keine verlässlichen Aussagen über diesen so wichtigen Teil des theatralen Prozesses machen können. Und mit dieser Erkenntnis beginnt Dennis Kennedy seine Überlegungen zu diesem Thema: “A spectator is a corporeal presence but a slippery concept.” (S. 3) Ausgehend von diesem Eingeständnis der Komplexität und Schwierigkeit des Themas unternimmt Kennedy dann eine umfassende tour d’horizon, die das Thema aus den unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet. Das Panorama der Reflexion beginnt im Paris des 19. Jahrhunderts: Es ist die Figur des Regisseurs - als Korrelat zum Autor -, die für Kennedy zum Ausgangspunkt einer Revision des grand récit der Moderne wird: So diskutiert er ausführlich die Nähe der Avantgarde zum kommerziellen, urbanen Unterhaltungstheater, gerade auch dort, wo die Selbstbeschreibung der Künstler in eine andere Richtung deutet. In einer originellen Überblendung parallelisiert Kennedy Gustave Eiffel und seinen Turm mit den Reformprojekten von André Antoine. Doch diese historischen Skizzen bilden keinen Selbstzweck, sondern formen den Ausgangspunkt einer Weiterführung zu einer Theorie und Historiographie der Regie, die nicht in hagiographischer Bewunderung erstarrt, sondern die Forum Modernes Theater, Bd. 25/ 1 (2010), 109-111. Gunter Narr Verlag Tübingen
