Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
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2010
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BalmeVom Abschweifen und Antizipieren
1201
2010
Benjamin Wihstutz
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Vom Abschweifen und Antizipieren. Die Aufführung als Vorstellung von Zukunft Benjamin Wihstutz (Berlin) Benjamin Wihstutz betrachtet in seinem Essay aus einer phänomenologischen Perspektive das Verhältnis von Antizipation und Imagination des Theaterzuschauers. Es geht um die Frage, inwiefern Aufführungen ästhetische Erfahrungen von Zeitlichkeit und Potentialität ermöglichen, die auf einer Ebene des Imaginativen die Aufführung als schöpferische Vor-stellung von Zukunft erfahren lassen. Mit Bezug auf Jürgen Goschs Inszenierung von Wer hat Angst vor Virginia Woolf..? und insbesondere auf zwei Performances von Forced Entertainment wird untersucht, auf welche Art und Weise Zukünftiges im Zusammenspiel von Inszenierung und Zuschauerimagination entsteht und dem Zulaufen der Aufführung auf ihr unwiderrufliches und gewisses Ende dabei eine entscheidende Rolle zukommt. Unter Heranziehung von Heideggers Begriffen der Sorge und des Vorlaufens in den Tod wird in dieser Hinsicht nicht zuletzt danach gefragt, inwieweit bestimmte Inszenierungsstrategien, welche die Vergänglichkeit der Aufführung selbst ins Rampenlicht rücken, die Endlichkeit des Daseins auf besondere Weise reflektieren lassen. Das Theater lebt nicht allein von der Präsenz und Repräsentation des Dargestellten. Auf einer Zwischenebene des Imaginativen entfaltet die Aufführung zugleich ein Theater der Einbildung: das Abschweifen, Assoziieren, Phantasieren, Erinnern und Antizipieren gehört aus der Sicht des Zuschauers genauso zum Theatererlebnis wie Schauspiel, Bühnenbild oder dramatische Handlung. So wie der Schauspieler die Einbildungskraft bereits im Probenprozess nutzt, um sein Spiel der Vorstellung einer zukünftigen Aufführung anzugleichen und die Antizipation auch während der Aufführung selbst in entscheidendem Maße an seinem Spiel beteiligt ist, impliziert auch die Zuschauerwahrnehmung ein zeitliches Vorgreifen der Einbildungskraft, das als Antizipation oder Erwartung Zukunft imaginativ entstehen lässt. Die folgenden Überlegungen gehen von der Hypothese aus, dass sich die Aufführung aus der Sicht des Zuschauers in zweierlei Hinsicht als Vorstellung von Zukunft begreifen lässt: Zum einen handelt es sich um ein grundlegendes imaginatives Vorgreifen der Wahrnehmung, das sich im Nachhinein entweder als antizipatorisch oder als Erwartung einer imaginären, nicht-eintretenden Zukunft entpuppt. Zum anderen vermag die Aufführung als singuläres und ästhetisch hervorgehobenes Ereignis Zeitlichkeit an sich zu reflektieren und damit in der ästhetischen Erfahrung eine Vorwegnahme zu ermöglichen, die Heidegger in Sein und Zeit in Bezug auf das “ Sein zum Tode ” als “ Sich-vorweg-Sein ” bzw. “ Vorlaufen ” der Sorge bestimmt hat. 1 Mit dem bevorstehenden Ende einer Aufführung lässt sich die Gewissheit eines existenziellen Endes performativ in Szene setzen und für den Zuschauer antizipatorisch erfahren. In beiden Fällen kann die Aufführung als ‘ Vorstellung ’ begriffen werden: einerseits als Vorgreifen der Wahrnehmung, andererseits als ‘ Vorlaufen in den Tod ’ . Herbert Blau bringt die Bedeutung der Imagination im Theater mit der Behauptung auf den Punkt: “ The brain is the best stage of all ” 2 . Für die Wahrnehmung des Zuschauers Forum Modernes Theater, 25/ 2 (2010), 159 - 62. Gunter Narr Verlag Tübingen bedeutet dies jedoch vor allem: The brain is the first stage of all. Imaginativ ist der Zuschauer der Gegenwart der Aufführung immer schon voraus, seine Einbildungskraft sucht stets nach passenden Bildern der Zukunft, die die gegenwärtigen Sinneseindrücke ergänzen und ihnen ihre spezifische Bedeutung verleihen. Das schöpferische Potenzial der Phantasie korrespondiert dabei unmittelbar mit dem Vorausgreifen der Wahrnehmung - die vorgestellte Zukunft entsteht zwischen Phantasie und Erwartung, zwischen dem Abschweifen und dem Antizipieren. Grundsätzlich lassen sich zwei Arten des Vorgreifens differenzieren, die eng aufeinander bezogen sind: Während von ‘ Erwartungen ’ bereits vor dem Eintreten der vorgestellten Zukunft gesprochen werden kann, lässt sich in der Regel immer erst ex-post feststellen, ob es sich um eine ‘ Antizipation ’ handelt. 3 Folglich ist jede Antizipation mit Erwartungen verbunden, keinesfalls aber ist jede Erwartung antizipatorisch. Viele Erwartungen treten nicht ein, viele Vorstellungen der Zukunft bleiben imaginär und werden niemals gegenwärtig. Hingegen betreffen Antizipationen das Vorspüren einer tatsächlich eintretenden Zukunft, sie implizieren ein verkörpertes Wissen des Zukünftigen, das unweigerlich Gegenwart werden wird. In wenigen Ausnahmefällen kann allerdings bereits vom Antizipieren gesprochen werden, wenn die antizipierte Zukunft noch nicht zur Gegenwart geworden ist. Dies betrifft all jene Fälle, bei denen absolute Gewissheit über das Eintreten des Vorausgesehenen herrscht. Das Voraussehen des Zeitpunkts, zu dem die vorgestellte Zukunft gegenwärtig werden wird, ist dabei nicht entscheidend, vielmehr geht es um das Vorspüren einer Gewissheit des Zukünftigen. Der Prototyp einer solchen Antizipation ist die Vorstellung des Todes. Auch wenn über das Wie? und das Wann? keinerlei Gewissheit herrscht, ist das zukünftige Eintreten des Todes gewiss. Die antizipatorische Vorstellung desselben ist daher selbst Teil des Lebens, sie begleitet das Leben. Nur in seltenen Fällen wird ein solches Vorspüren des Todes bewusst wahrgenommen, als unbewusste Vor-stellung prägt sie die Existenz von Beginn an. Mein Essay gliedert sich in zwei Abschnitte: Der erste Abschnitt befasst sich mit den Erwartungen und Antizipationen des Zuschauers, die sich auf die unmittelbare Zukunft der Aufführung beziehen. Der zweite Abschnitt führt anhand der Analyse zweier Aufführungsbeispiele der Gruppe Forced Entertainment vor, auf welche Weise zeitgenössische Performances in der Lage sind, die Antizipation des Zuschauers selbst in Szene zu setzen, sodass die Vergänglichkeit der Aufführung als existienzielle Zeitlichkeit des Daseins reflektiert und ästhetisch erfahren wird. Von dieser Erfahrung ausgehend soll danach gefragt werden, inwieweit die Zeitlichkeit des Theaters dem Zuschauer eine Vorstellung von Zukunft ermöglicht, die sich mit Heidegger als ein “ Vorlaufen in den Tod ” begreifen lässt. I. Die Vor-stellung der Wahrnehmung Es handelt sich um einen der berühmtesten Fehler der Filmgeschichte: In einer voll besetzten Cafeteria am Mount Rushmore in den USA zieht die Geheimagentin Eve Kandell (Eva Maria Saint) einen Revolver aus ihrer Handtasche und schießt auf den Protagonisten Roger O. Thornhill (Cary Grant), der zu Boden sinkt. Das Merkwürdige ereignet sich im Hintergrund an einem der Cafeteria-Tische: Mit dem Rücken zum Geschehen sitzt dort ein kleiner, etwa zwölfjähriger Junge und hält sich in Erwartung der Schüsse die Ohren zu. Die Szene aus Hitchcocks North by Northwest (1959) veranschaulicht auf wunderbar unbeabsichtigte Weise das Antizipie- 160 Benjamin Wihstutz ren als Bestandteil der Zuschauerwahrnehmung. Der Junge ist nur ein Statist, der eigens für diese Szene viele Male hintereinander seinen Platz am Cafeteriatisch des Filmsets einnehmen musste und vermutlich bei jedem Dreh aufs Neue auf die Schüsse wartete, die seinen Auftritt beendeten. Von Regisseur und Kameramann offenbar unbeobachtet, konnte er sich - zumindest dieses eine Mal - aus Furcht vor dem zu erwartenden Knall nicht zurückhalten, seine Ohren zu schützen. Dem Filmzuschauer wird damit ein eigentümlicher Anblick geboten. Achtet man auf die Geste des Jungen, lässt sich der Schuss nicht nur vorausahnen, sondern buchstäblich voraussehen. Die Antizipation des Statisten, der in dieser Szene selbst einen unbeteiligten Zuschauer spielt, wird zur Antizipation des Filmzuschauers - Sekunden bevor die Schüsse fallen, ist ihre Wahrnehmung bereits zu sehen. Während im Kino oder vor dem Fernseher für den Zuschauer durch die Leinwand oder Mattscheibe immer eine unüberwindbare Distanz zum Geschehen bleibt, lässt eine abgefeuerte Waffe im Theater auf ungleich intensivere Weise die Nähe und Gegenwärtigkeit einer Aufführung erfahren. Die Wahrnehmung des lauten Knalls eines im selben Raum und zur selben Zeit abgegebenen Schusses, stellt für das Publikum zunächst einmal die zeitliche Markierung eines ereignishaften Augenblicks dar - es ist die pure Präsenz eines Geräusches, das sich am eigenen Leibe durch ein Aufschrecken und Zusammenzucken erfahren lässt. Zieht ein Schauspieler auf der Bühne eine Waffe, lässt sich dieser Moment des Aufschreckens bereits vorspüren. Hier wird der Zuschauer selbst zum kleinen Jungen, der sich vor Erwartung des Schusses die Ohren zuhält: Gegen Ende des ersten Aktes von Edward Albees Wer hat Angst vor Virginia Woolf? gibt es eine Szene, die eine solche Erwartung des Zuschauers evoziert. Das nächtliche Saufgelage und die latent aggressive Stimmung zwischen den Ehepartnern Martha und George und ihren beiden Gästen Honey [Putzi] und Nick haben sich zu diesem Zeitpunkt bereits gefährlich zugespitzt. Als Martha dem jungen Paar voller Schadenfreude eine peinliche Geschichte über die Jugendjahre ihres Mannes erzählt, tritt George, nach einer kurzen Abwesenheit, von Martha zunächst unbemerkt, wieder auf die Bühne und von hinten an sie heran: George tritt wieder auf. Er versteckt seine Hände hinter dem Rücken. Niemand sieht ihn. [. . .] George zieht ein Gewehr mit kurzem Lauf hinter seinem Rücken hervor und zielt damit ruhig auf Marthas Hinterkopf. Putzi schreit . . .springt auf. Nick springt auf, und gleichzeitig dreht Martha sich um und erblickt George. George drückt ab. 4 Was geschieht in einer Aufführung in einem solchen Moment mit der Wahrnehmung des Zuschauers? Unweigerlich tauchen unzählige Fragen und Bilder auf, die sich innerhalb von Zehntelsekunden vor seinem inneren Auge abspielen: Würde George Martha tatsächlich umbringen? Würde er sie vor den Augen der Gäste erschießen? Was passiert, wenn der Schuss fällt? Bewegt sich Martha noch am Boden oder ist sie sofort tot? Schießt er absichtlich daneben? Hat er nicht “ den Mumm ” , wie Martha ihm gegenüber immer wieder behauptet? Beginnt nun ein Blutbad, bei dem George auch noch die beiden Gäste umbringt? Werden sie Theaterblut benutzen? Wird die ‘ erschossene ’ Schauspielerin laut aufschreien? Lohnt es sich, die Ohren zuzuhalten? Assoziationen, Erwartungen und Imaginationen greifen ineinander, die Einbildungskraft führt Regie. Mit dem Vorausschauen des Zuschauers ist mehr verbunden als ein rein gedankliches Vorgreifen. Die Erwartungen werden imaginiert, mit Bildern und Empfindungen versehen. Die Bilder können vom Wahrscheinlichen ins Imagi- 161 Vom Abschweifen und Antizipieren näre abdriften und ebenso wieder zur Wirklichkeit zurückführen. In Bruchteilen einer Sekunde vermag die Einbildungskraft Zeiten und Räume zu verknüpfen, Szenarien zu entwerfen und Zukünfte zu konzipieren, sie ist, wie Heidegger so treffend formuliert hat, “ heimatlos ” und ständig in Bewegung. 5 Sie bezieht sich auf Fiktion und Realität, auf Repräsentation und Präsenz gleichermaßen. So impliziert der vorgestellte Schuss nicht allein Mord und die Darstellung des Mords auf der Bühne. Zugleich ist mit ihm das Voraushören eines sich im nächsten Moment real ereignenden Schusses verbunden. Mit diesem akustischen Vorhören ist wiederum das Aufschrecken des eigenen wahrnehmenden Körpers assoziiert, zusammen ergeben sie ein synästhetisches Vorspüren, das sich als Vorstellung der Wahrnehmung bezeichnen ließe. Das Beispiel veranschaulicht somit einerseits, auf welche Weise Erwartungen die Wahrnehmung des Zuschauers imaginativ beeinflussen können. Andererseits verweist es zugleich auf ein grundlegendes Prinzip: Jeder Wahrnehmung geht eine vorgestellte Wahrnehmung voraus, die einem nur selten derart bewusst wird wie im hier inszenierten Augenblick eines bevorstehenden Ereignisses. Als einer der ersten hat William James auf die zeitliche Einbettung der gegenwärtigen Wahrnehmung, auf deren komplexes Vor- und Zurückgreifen hingewiesen: Einen Teil der Komplexität bildet das Echo der soeben vergangenen Objekte und, in geringerem Maße, vielleicht der Vorgeschmack jener, die gleich ankommen werden. [. . .] Besteht der gegenwärtige Gedanke aus ABC- DEFG, wird der nächste aus BCDEFGH und der übernächste aus CDEFGHI bestehen - wobei sich die nachklingenden Elemente [lingerings] der Vergangenheit sukzessive entfernen und die herankommenden Elemente [incomings] der Zukunft den Verlust wettmachen. Dieses Nachklingen der alten Objekte und das Heranströmen der neuen sind die Keime von Erinnerung und Erwartung, der retrospektive und der prospektive Zeitsinn [sense of time]. Sie verleihen dem Bewußtsein jene Kontinuität, ohne die es nicht ein Strom genannt werden könnte. 6 Das Zukünftige ist somit immer schon Teil der gegenwärtigen Wahrnehmung. Würden wir lediglich Augenblick auf Augenblick wahrnehmen, könnten wir uns gar nicht in Raum und Zeit orientieren, wir hätten es vielmehr mit “ kaleidoskopisch wechselnden Erfahrungssplittern ” 7 zu tun. Wie bereits die Sätze William James ’ andeuten, lässt sich dabei eine äußere Wahrnehmung von einem inneren Verarbeiten der Wahrnehmungen, die Perzeption von der Kognition nicht trennen - Erwartung und Erinnerung sind selbst Bestandteil des Wahrgenommen, sie ordnen es ein und verknüpfen es mit Vergangenem und Zukünftigem. Zum einen handelt es sich dabei um unmittelbar vergangene und zukünftige Sinneseindrücke, um die Einbeziehung von Protention und Retention (Husserl) 8 , von Vor- und Nachbildern - zum anderen jedoch auch um ein Erinnern und Erwarten subjektiver Erfahrungen und Vorstellungen, die mittels Assoziationen an die Gegenwart geknüpft werden. So wird ein Zuschauer, der sich an eine ähnliche Mordszene einer vergangenen Theateraufführung erinnert fühlt, die beschriebene Szene von Wer hat Angst vor Virginia Woolf? vollkommen anders wahrnehmen als jemand, der sich zum ersten Mal mit einer gezogenen Waffe auf der Bühne konfrontiert sieht. Gänzlich anders wiederum nimmt ein Zuschauer die Szene wahr, wenn er den Inhalt des Stückes bereits kennt oder dieselbe Inszenierung in einer anderen Aufführung gesehen hat. So wie der kleine Junge in North by Northwest genau wusste, dass die Schüsse fallen würden, würde jener Zuschauer wissen, dass es sich hier kaum lohnen würde, sich die Ohren zuzuhalten. Vielmehr würde er voller Vorfreude jenen 162 Benjamin Wihstutz Moment antizipieren, in dem sich die Erwartung der Zuschauer in die Wahrnehmung einer sich als harmlos herausstellenden Gegenwart auflösen würde: Ein großer, gelb-roter chinesischer Sonnenschirm schießt aus dem Lauf und öffnet sich. Putzi schreit noch einmal, diesmal eher vor Erleichterung und aus Verwirrtheit. [. . .] Putzi ist außer sich. Martha lacht auch . . .sie bricht fast zusammen vor Lachen. 9 In der Aufführung des Stückes am Deutschen Theater in Berlin (Regie: Jürgen Gosch, Premiere 18. 11. 2004) konnte man dieses Auflösen der Erwartungen deutlich im Zuschauersaal spüren. Ein allgemeines Seufzen und erleichtertes Auflachen war zu hören, als sich der Schirm aus dem Lauf des Gewehrs öffnete 10 . Offenbar hatte die Vorstellung der Wahrnehmung vieler Zuschauer einen Streich gespielt, das vermeintliche Antizipieren des Schusses entpuppte sich als Trugbild, als potenzielle imaginäre Zukunft, die niemals zur Gegenwart werden würde. Die Erwartung des Publikums wurde enttäuscht, zugleich entsprach diese Enttäuschung jedoch der Erleichterung, dem Knall und der vorgestellten Zukunft noch einmal entkommen zu sein. “ Alles Mögliche strebt nach Existenz ” 11 , schreibt Leibniz in seinem Text “ Über den Begriff der Möglichkeit ” und bestimmt diese Aussage als eine der “ ersten allgemeinen Wahrheiten ” , aus denen alle Erfahrung a priori bewiesen werden kann. Gewissermaßen ließe sich behaupten, dass sich dieses Streben nach Existenz im Theater mittels der Einbildungskraft erfahren lässt: das Vorausschauen wird mit Bildern versehen, die sich nach der Wirklichkeit sehnen: Der Schrei Marthas, der Schuss aus Georges Gewehr und das Blutbad - all die Vorstellungen und Erwartungen der Zuschauer sind Bilder einer potenziellen Zukunft, die danach streben, aus den Tiefen des Imaginären zum Realen vorzudringen. 12 Die Einbildungskraft greift auf ein Reservoir potenzieller Zukünfte zurück, die als Möglichkeiten der Welt innewohnen. Nelson Goodman hat diesbezüglich darauf hingewiesen, dass diese Möglichkeiten “ die Grenzen der wirklichen Welt nicht zu überschreiten brauchen ” . Vielmehr liegen “ alle möglichen Welten ” selbst “ innerhalb der wirklichen Welt ” 13 . Da die wirkliche Welt stets mehr umfasst als die sich in der Gegenwart realisierende Welt, können auch Prozesse und Produkte der Einbildungskraft nicht allgemein pejorativ als falsch bewertet oder als der Wirklichkeit diametral entgegengesetzt betrachtet werden. Der Begriff der ‘ Einbildung ’ beschreibt hingegen bereits seinem Wortsinn nach einen reziproken Austausch mit der Welt, er lässt sich sowohl als Ein-bildung, als Aufnehmen und Verinnerlichen äußerer Bilder, als auch als Entstehen und Produzieren von inneren Bildern verstehen. Keine Einbildung, keine noch so phantastische Vorstellung der Zukunft kommt aus dem Nichts. Jede nimmt ihren Ausgang in der Erfahrungswelt des jeweiligen Subjekts und ist somit immer schon Teil des realen In-der- Welt-Seins. 14 Mithin lässt sich das Abschweifen in Phantasien vom Antizipieren des Zuschauers nicht eindeutig trennen. Jeder Zugang zu einer Vorstellung der Zukunft wird über die Einbildungskraft ermöglicht, die das äußere (nicht allein visuelle) gegenwärtige Bild mit inneren Bildern des Möglichen unterfüttert und ihm somit Bedeutung verleiht. So wird die beschriebene Szene zwischen Martha und George erst auf der Grundlage der auf die Zukunft zielenden inneren Bilder als ‘ gefährlich ’ oder ‘ spannend ’ wahrgenommen und eingestuft. Erst die Vorstellung des potenziellen Mordes macht das Bild zu einem auf diese Weise wahrgenommenen und empfundenen. Die Einbildungskraft lässt damit etwas erscheinen, dass man mit Maurice Merleau-Ponty die “ Dichte des Fleisches ” nennen könnte. 15 Es ist das Potenzielle 163 Vom Abschweifen und Antizipieren und Latente, das Abwesende und Unsichtbare, das sich unter das Sichtbare mischt. Nichts lässt sich als “ nackte Oberfläche ” wahrnehmen. Jedes Wahrgenommene steht bereits in subjektiven und objektiven Zusammenhängen, welche die Einbildungskraft zeitweise aufzudecken vermag. So ist selbst eine Farbe wie ein bestimmtes Rot, um ein Beispiel Merleau-Pontys aufzugreifen, zugleich “ ein Fossil, hervorgeholt aus dem Untergrund imaginärer Welten ” , das sich als “ Zeichensetzung im Feld der roten Dinge ” positioniert, “ das die Dachziegel, die Fahne der Grenzwärter und der Revolution, gewisse Böden bei Aix oder auf Madagaskar umfasst ” 16 . Das Zukünftige ist stets Teil dieses Unsichtbaren, welches das Sichtbare unterfüttert, in der Erwartung und Antizipation tritt es an die Oberfläche. Was ist nun aber das diesbezüglich Spezifische der Zuschauerwahrnehmung im Theater? Sind nicht an jeder Wahrnehmung imaginative Prozesse beteiligt, die sich auf die Zukunft beziehen? Lässt sich die Erwartung und Antizipation nicht ebenso im Alltag außerhalb des Theaters erfahren? Zweifellos, und doch lässt sich die Aufführung womöglich als besondere, aus dem Alltag herausgehobene Raum-Zeit betrachten, in welcher der Zuschauer das grundlegende Spiel der Einbildung auf ausgezeichnete Weise ästhetisch erfährt. Denn das Theater stellt für den Zuschauer einen liminalen Raum und eine liminale Zeit zur Verfügung, in der er eine Gegenwart wahrnimmt, die sich zwischen Alltag und Rückkehr in den Alltag ereignet, die kollektiv erfahren wird und zugleich höchst subjektive Deutungen und Assoziationen zulässt 17 . Anders als im Alltag braucht der Zuschauer hier keine Angst vor einem Realitätsverlust zu haben, wenn er seinen Vorstellungen und Assoziationen freien Lauf lässt, er muss seine Phantasie nicht an die Wirklichkeit anketten. Im Gegenteil erfordert die zeitgleiche Konfrontation mit realem und fiktivem Raum, mit Präsenz und Repräsentation vom Zuschauer ein ‘ Hin- und Her-Switchen ’ der Wahrnehmung, das stets auch ein Abschweifen in Phantasien und ein Imaginieren von Zukünftigem einbezieht. Auch gegenüber den anderen Künsten zeichnet das Theater eine spezifische Qualität bezüglich der imaginativen Vorstellung von Zukunft aus. Während beim Lesen eines Buches oder dem Betrachten eines Filmes lediglich Zukünfte vorgestellt und antizipiert werden, die per se nicht reale Gegenwart werden können, sondern auf die Seite des Fiktiven gebannt bleiben, zielen die Vorstellungen des Rezipienten im Theater immer auch auf eine sich performativ realisierende Zukunft, die sich hic et nunc vor den Augen des Zuschauers ereignet. Nun findet nicht nur die Aufführung in einer Zeit des Zwischen statt, auch ist die Einbildungskraft selbst eine Kraft des Zwischen. Als heimatloses Vermögen vermittelt sie zwischen den Zeiten, zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren und dem Realen und Fiktiven sowie zwischen Wahrnehmung und Denken, wie zahlreiche Philosophen seit Aristoteles' Einführung des Begriffes der phantasia erkannt haben. 18 Wenn jeder Zugang zur Welt mit Prozessen der Einbildung verbunden ist, so lässt das Theater als Ort des Zwischen diese Prozesse auf besondere Weise erfahren. Die Zukunft, die sich dem Zuschauer im Theater imaginativ erschließt, bleibt jedoch, wie die angeführte Szene aus Wer hat Angst vor Virginia Woolf? zeigt, in der gegenwärtigen Wahrnehmung zunächst immer auch eine Illusion im buchstäblichen Sinne: sie offenbart sich als Spiel der Einbildung, als Spiel der Möglichkeiten. Mit ihrer klaren Unterscheidung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist aber auch die Zeit selbst, wie nicht zuletzt Albert Einstein angemerkt hat, “ eine hartnäckige Illusion ” , die wir allein dem synthetischen Wirken der Einbildungskraft verdanken. Ohne sie wären wir zeitlose Wesen. 19 164 Benjamin Wihstutz II. Die Vorstellung des Todes Wenn die Einbildungskraft dem Erfassen von Zeitlichkeit zugrunde liegt und eine Aufführung sich immer auch als ein Theater der Einbildung begreifen lässt, in dem die Einbildungskraft des Zuschauers ‘ Regie führt ’ , so stellt sich die Frage, inwieweit das Theater als Kunstform vermag, Zeitlichkeit als Grund des menschlichen Daseins widerzuspiegeln, ja ob nicht ein performatives In-Szene-Setzen der Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit einer Aufführung dem Zuschauer auf gewisse Weise die Zeitlichkeit und Vergänglichkeit seiner eigenen Existenz vorspielt. Zweifelsohne ist jeder Aufführungsbesuch mit dem Wissen verbunden, dass es sich dabei um ein vergängliches Ereignis handelt. Theater lässt sich nicht auf ein dramatisches Werk oder das Schauspiel reduzieren, die Aufführung konstituiert sich als raum-zeitlich begrenzte Begegnung zwischen Akteuren und einem Publikum im Hier und Jetzt. Ungeachtet ihrer kontingenten Elemente wird eine einzelne Aufführung vom Zuschauer als in-sich schlüssige Zeit- Form wahrgenommen: als eine Abfolge von Ereignissen zwischen einem in der Regel klar definierten Beginn und einem eindeutigen, unwiderrufbaren Ende. Das Ende ist dabei als Vorstellung ein inhärenter Bestandteil der Aufführung selbst, eine Aufführung ohne die Gewissheit ihres Endes existiert nicht. Jede Wahrnehmung im Theater impliziert die Gewissheit eines zukünftigen Endes, die Antizipation desselben begleitet die Aufführung von Beginn an. In einigen Momenten tritt sie in Form von konkreten Vorstellungen unbeabsichtigt in den Vordergrund, beispielsweise wenn der Zuschauer sich beginnt, zu langweilen: Man schaut auf die Uhr, fragt sich, wie lange es noch dauern wird, überlegt, ob nach dem Theaterbesuch noch Zeit für ein Glas Wein bleibt oder wie stark wohl der Applaus ausfallen wird. In der Regel bleibt die Vorstellung des Endes jedoch eher im Hintergrund, was sie nicht daran hindert, existenzieller Bestandteil der Aufführung zu sein. Der Applaus lässt das Ende gegenwärtig werden. Dabei markiert bereits das (gewöhnlich) dem Applaus vorangehende Erlöschen des Lichts auf der Bühne einen Übergang: die Aufführung ist zu Ende, die Welt ‘ draußen ’ wartet auf die Rückkehr in den Alltag. Mit dem Ende der Aufführung ereignet sich ein liminaler Moment, der zugleich die liminale Raum-Zeit der Aufführung abschließt: das Spektakel ist vorbei und doch ist es noch nicht ganz vergangen: seine Akteure lassen sich noch einmal blicken. Der Applaus lässt die Zuschauer ein letztes Mal als Gemeinschaft aktiv werden, bevor sie individuell den Heimweg antreten. Der Applaus ist der krönende Abschluss einer Aufführung, er ist stets ihr Höhepunkt und zugleich ihr Ende, ihr Tod. Mit dem Verstummen des letzten Klatschens stirbt die Aufführung endgültig. Die britische Performance-Gruppe Forced Entertainment thematisiert in mehreren ihrer Inszenierungen die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit der Aufführung, indem sie dem Anfang oder Ende der Performance ein besonderes Pathos verleiht. Das Ende der Performance Bloody Mess bietet dem Zuschauer ein finales Bild, das sich selbst auslöscht und als eine Art langsames Sterben inszeniert wird. Die letzten Momente der Aufführung werden auf diese Weise bewusst hinausgezögert und lassen ihren ‘ Tod ’ in besonderem Maße antizipieren: Überall auf der Bühne verteilt sind die Spuren der vergangenen zweieinhalb Stunden zu sehen, dazwischen sitzen und stehen die zehn Performer. Es ist ohne Frage eine Bloody Mess, die sich dem Auge des Betrachters hier bietet: Hunderte von knallbunten Bonbons liegen herum, Popcorn ist verstreut, mehrere Lautsprecher stehen kreuz und quer im Raum verteilt, eine Gitarre liegt auf dem Boden, daneben Bierflaschen, Glitzerperücken, große silberne Pappsterne, Kostüme, die herumfliegen und über Kleiderständern 165 Vom Abschweifen und Antizipieren hängen. Komplettiert wird das theatrale Schlachtfeld von den Resten herumwabernder dichter Nebelschwaden, die große Teile des hell erleuchteten Saales ausfüllen. Die Bühne verbreitet Endzeitstimmung: Bruno Rubicek, einer der Performer in Clownsgestalt, ist gerade dabei, seine Geschichte vom Untergang der Welt zu beenden. Während seine Worte zuvor die meiste Zeit von lauter Musik und den Stimmen und Geräuschen anderer Performer übertönt wurden, sind sie nun in einer sich plötzlich ausbreitenden Ruhe deutlich zu hören: “ Dust, just dust. ” schluchzt er ins Mikrophon. Sein Weinen wirkt einerseits maßlos übertrieben, andererseits könnte es das von der Bühne fabrizierte Bild wohl kaum passender ergänzen, welches den Raum mit einer apokalyptischen Atmosphäre auflädt, der sich auch das Publikum kaum noch entziehen kann. Es ist mucksmäuschenstill. “ Dust, just dust ” sagt Bruno noch einmal. Zuletzt schluchzt er nur noch. Robin Arthur, ein anderer Performer, löst die Szene auf recht unspektakuläre Weise auf: “ Let's go ” sagt er zu Bruno, “ Somebody's gotta clean this shit up ” . Beide erheben sich und gehen langsam zum hinteren Teil der Bühne, wo sie sich leise hinsetzen. Zurück bleibt nur das Surren der Lautsprecher und die Erinnerung an einen schrillen lauten Abend, der nun unweigerlich zu seinem Ende zu kommen scheint. Inmitten des Schweigens tritt noch einmal die Performerin Cathy Naden auf und dabei ganz nahe an die erste Reihe des Publikums heran. Was nun folgt ist von Beginn deutlich als finaler Monolog der Aufführung gekennzeichnet: This is the last thing that you see. You see me standing in the light. You're looking at me. You can see my face, you can see my lips, you can see my eyes. You can see that I'm thinking. But my eyes don't give anything away. My face is a complete blank. It says nothing and it says everything. Both at the same time. It's the last thing you see. Während Naden spricht, beginnen nacheinander einzeln die Scheinwerfer auszugehen. Einer nach dem anderen erlischt. Nach und nach verschwindet immer mehr von dem chaotischen Durcheinander auf der Bühne und taucht ab in die Dunkelheit. Der bunte Glitzer und die Bonbons werden grau, die Performer im Hintergrund lassen sich nur noch erahnen. Unaufhaltsam geht die Aufführung ihrem Ende entgegen. Schließlich steht nur noch Cathy im Licht eines einzelnen letzten Scheinwerfers, der auf ihr Gesicht gerichtet ist. Sie spricht ihre letzten Worte: And the lights are going out. And soon, perhaps much sooner than you expect, I vanish, I disappear, I am gone. I am gone forever. And I am never coming back. [Pause] This is the final moment. This is the last light. Das Licht erlischt. Die lang antizipierte Dunkelheit ist da und die Aufführung ist zu Ende. Der Applaus schließt sie ab. Nehmen Forced Entertainment die Zeitlichkeit des Theaters mit dieser übertrieben pathetischen Darstellung lediglich auf die Schippe? Oder spiegelt diese finale Szene ein durchaus ernstzunehmendes, spezifisches Moment von Zeitlichkeit wider, das jedes antizipierbare Ende einer Aufführung begleitet und sich hier für den Zuschauer auf besondere Weise erfahren lässt? Herbert Blau hat die Vergänglichkeit des Theaters bekanntlich einmal mit den Worten beschrieben, dass bei jeder Aufführung jemand vor den Augen des Publikums sterbe. 20 Wäre es vermessen, das Ausstellen der Vergänglichkeit, das die britische Performance-Gruppe um Regisseur Tim Etchells hier betreibt, als In-Szene-setzen des ‘ Sterbens ’ einer Aufführung zu bezeichnen bzw. die Behauptung aufzustellen, die Performance verweise auf eine grundlegende Verbindung zwischen der Zeitkunst Theater und der Zeitlichkeit des 166 Benjamin Wihstutz Daseins? Steckt vielleicht sogar in jedem ‘ Tod ’ einer Aufführung gewissermaßen eine Vor-stellung des Todes? Martin Heidegger hat in Sein und Zeit darauf hingewiesen, dass der Tod als ‘ Ende des In-der-Welt-Seins ’ selbst als der Existenz zugehörig betrachtet werden muss und das menschliche Dasein von Geburt an prägt: Im Dasein steht, solange es ist, je noch etwas aus, was es sein kann und wird. Zu diesem Ausstand aber gehört das ‘ Ende ’ selbst. Das ‘ Ende ’ des In-der-Welt-seins ist der Tod. Dieses Ende, zum Seinkönnen, das heißt zur Existenz gehörig, begrenzt und bestimmt die je mögliche Ganzheit des Daseins. 21 Die Möglichkeit des Sterbens gehört folglich immer schon zum Leben dazu: sobald ein Mensch auf die Welt kommt, ist er bereits alt genug zu sterben. Das zukünftige Eintreten dieser Möglichkeit ist gewiss, auch wenn es in der Vorstellung seltsam unbestimmt bleibt - der Tod lässt sich nicht wirklich vorstellen und doch weiß man, dass er einen einholen wird. Heidegger bezeichnet ihn dementsprechend als “ eigenste, unbezügliche, gewisse und als solche unbestimmte, unüberholbare Möglichkeit des Daseins ” 22 . Ist es legitim, das Ende einer Aufführung mit dem Ende des Lebens zu vergleichen? Keineswegs soll und kann es darum gehen, Heideggers Thesen ihrem Kontext zu entreißen und sie eins zu eins auf das Theater zu übertragen. Vielmehr möchte ich die Überlegung anstellen, inwieweit der zeitlich verfassten und auf spezifische Weise in Szene gesetzten Ereignishaftigkeit des Theaters die Möglichkeit einer Reflexion der von Heidegger als Sinn des Seins bestimmten “ Zeitlichkeit des Daseins ” innewohnt. In Anbetracht der zitierten Passagen fällt zumindest ins Auge, dass ein Großteil der Aussagen aus Sein und Zeit über den Tod auch auf das Ende einer Aufführung zutrifft. Wie oben gezeigt, gehören zur Zuschauerwahrnehmung nicht allein begleitende Vorstellungen der zukünftig möglichen Ereignisse, sondern ebenso die Vorstellung seines ‘ gewissen ’ und ‘ unüberholbaren ’ Endes der Aufführung. Ähnlich wie der Tod das Leben unwiderruflich begrenzt und bestimmt, definiert auch das Ende einer Aufführung ihre ‘ je mögliche Ganzheit ’ , die als einmaliges Ereignis nach dem Verstummen des Applauses unwiderruflich vergangen ist und sich nicht mehr wiederbeleben lässt. Wenn die Aufführung dazu imstande wäre, die unüberholbare und gewisse Möglichkeit des ‘ Endes ’ in der Wahrnehmung des Zuschauers auf besondere Weise antizipier- und reflektierbar zu machen und damit Zeitlichkeit selbst ausrespektive vor-zustellen - und fraglos geben Forced Entertainment Anlass, diese Möglichkeit anzunehmen - gäbe es wohl kaum eine Kunst, die dem Rezipienten geeigneter das von Heidegger postulierte “ Vorlaufen in den Tod ” ermöglichte als das Theater. Mit dem ‘ Vorlaufen in den Tod ’ bezeichnet Heidegger weder suizidale Gedanken noch ein Nachdenken oder Grübeln über den Tod. Vielmehr ist damit gemeint, den Tod als Möglichkeit des Seins, als dem Leben zugehörig anzuerkennen, und sich dadurch seiner eigenen Existenz mit seinen Möglichkeiten bewusst zu werden, die ‘ Unentschlossenheit des Man ’ zu verlassen. Wenn Cathy Naden in Bloody Mess ihre letzten Worte spricht und die Scheinwerfer einzeln erlöschen, wird wohl kaum ein Zuschauer anfangen, über den eigenen Tod nachzudenken. Doch wird mit dem Aufzeigen und Zur- Schau-stellen dieser letzten Momente etwas offenbart, das jeder Aufführung inhärent ist und zugleich unmittelbar mit der eigenen Existenz verbunden ist: die Zeitlichkeit des Seins. Um nichts anderes geht es in der beschriebenen Szene der Performance. Hier tritt die zeitliche Verfasstheit der Aufführung selbst ins Rampenlicht - Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden zu den Protagonisten der finalen Szene: Ein 167 Vom Abschweifen und Antizipieren verlassenes Schlachtfeld der Bühne, das die Ereignisse der verstrichenen Zeit der Aufführung nachhallen lässt, das einzelne Ausknipsen der Scheinwerfer, dass die Gegenwärtigkeit des Zu-Ende-Gehens unübersehbar macht und schließlich das Thematisieren und unweigerliche Antizipieren dieses bevorstehenden Endes: “ This is the last thing that you see. ” / “ This is the final moment. ” Wie könnte das Verstreichen von Zeit, die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit einer Aufführung deutlicher in Szene gesetzt werden? Lässt sich hier nicht in der Tat von einem ‘ Vorlaufen in den Tod der Aufführung ’ sprechen? Die letzten Augenblicke von Bloody Mess lassen die Zeitlichkeit des Seins weder durch das Thematisieren von Vergänglichkeit mittels einer dramatischen Handlung, noch durch eine andere Form der Repräsentation von Zeit auf der Bühne reflektieren. Hingegen ist es die Reduzierung der Zuschauerwahrnehmung auf das schlichte Verstreichen von Zeit selbst, das die Zeitlichkeit des Seins widerspiegelt und diese dem Publikum vor-spielt. Lyotard hat in einem ähnlichen Zusammenhang bekanntlich von einer Ästhetik des Erhabenen gesprochen. Das Sujet des Erhabenen in der Avantgarde, wie es sich etwa bei den Bildern Barnett Newmans zeigt, sei das Augenblickliche. “ Es geschieht jetzt und hier. Das, was geschieht (quid), kommt danach. ” 23 Der Schock des Erhabenen, das Überraschende der Nacktheit des Ereignisses, vermag dabei zugleich die Vorstellung zu evozieren, “ daß nichts geschieht, daß es nicht weitergeht, daß die Wörter, die Farben oder die Töne fehlen, daß der Satz der letzte sein wird. ” 24 Zweifellos ließe sich die Inszenierung des Endes bei Forced Entertainment in der Tradition einer solchen Ästhetik des Erhabenen betrachten. Und doch drängt sich der Verdacht auf, dass es um mehr gehen könnte als um einen erhabenen Moment des Ereignisses. Denn die von Lyotard gestellten Fragen Geschieht es? Ist es, ist das möglich? spielen bei Forced Entertainment insofern keine Rolle, als die Antizipation des Zuschauers ihre Antworten längst vorweggenommen hat. Die Performance präsentiert dem Publikum somit weniger ein überraschendes Ereignis der Wahrnehmung, sie konfrontiert es vielmehr mit einer Reflexion von Zeitlichkeit an sich und zwar in Anbetracht einer zeitlich verfassten, auf ein unwiderrufliches Ende zulaufenden, Aufführung. Mit dem inszenatorisch hervorgehobenen Verstreichen der Zeit wird zugleich die Gewissheit in den Fokus gerückt, dass nach der Aufführung nichts mehr bleibt, kein Werk, keine erleuchtete Bühne, keine weitere Möglichkeit szenischer Darstellung. Anders als bei einem abstrakten Gemälde, gehört die zeitliche Verfasstheit der Aufführung nicht allein zu ihrer Wahrnehmung, sie gehört selbst zum Theater; ohne ihren zeitlich markierten Anfang und ihr Ende existierte das Theater nicht. Als Vorstellung von Zukunft ist sich die Aufführung durch die Einbildungskraft des Zuschauers “ je-vorweg ” , ihre mögliche Zukunft ist immer schon Teil ihrer Gegenwart. Zu diesen Möglichkeiten der Zukunft gehört unweigerlich das Ende der Aufführung - die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit eines theatralen Ereignisses entsteht erst auf der Grundlage ihres Endes und dessen Vorstellung. Wenn in der beschriebenen Szene von Bloody Mess das theatrale Schlachtfeld der Bühne durch die einzeln ausgehenden Scheinwerfer nach und nach in der Dunkelheit verschwindet, rückt diese Vorstellung immer stärker in den Vordergrund und überschattet buchstäblich die Vergangenheit und Gegenwart der Aufführung. Was für den Zuschauer am Ende bleibt, ist das zukünftige Ende, das schließlich zum gegenwärtigen und vergangenen wird. Heidegger bestimmt die zeitliche Verfasstheit des Daseins über die ‘ Sorge ’ . Mit der Sorge bezeichnet er jene komplexe Struktur des Seins, die sich in der Zeitlichkeit immer zwischen Vergangenheit (genauer: ‘ Gewesen- 168 Benjamin Wihstutz heit ’ ), Gegenwart und Zukunft, zwischen ‘ Sein ’ und ‘ Seinkönnen ’ konstituiert: Auf der einen Seite ist der Mensch immer schon in-einer-Welt, in die er ‘ geworfen ’ ist, auf der anderen Seite ist er selbst für den ‘ Entwurf ’ seines Lebens verantwortlich, er hat die Freiheit der Wahl, er bedient sich der Möglichkeiten seines Seinkönnens. Aus ‘ Angst ’ vor diesem Seinkönnen, vor den Möglichkeiten einer ungewissen Zukunft, wovon der Tod eine ‘ augezeichnete ’ darstellt, flüchtet sich der Mensch in die Gewohnheiten des Alltags (Gegenwart), er ist ihnen ‘ verfallen ’ , und übersieht somit die meiste Zeit die Freiheit seiner Möglichkeiten. Die Sorge umfasst somit einerseits eine existenzielle Angst vor dem Ungewissen und andererseits ein Sich-sorgen um die Banalitäten des Alltags auf der Grundlage des In-der-Welt-seins. Es ließe sich behaupten, dass die Vorstellung von Zeitlichkeit im Theater, das ‘ Vorlaufen in den Tod der Aufführung ’ , wie es in Bloody Mess von Forced Entertainment in Szene gesetzt wird, den Zuschauer etwas über das zeitlich bestimmte Dasein als ‘ Sorge ’ erfahren lässt. Die übertrieben inszenierte apokalyptische Stimmung am Ende der Performance offenbart sich als Zur- Schau-Stellung eines genuin theatralen Moments: des Spürens von Vergänglichkeit, das mit jedem Ende einer Aufführung verbunden ist und das zu einem gewissen Grad immer auch die zeitliche Verfasstheit des Daseins und seine Endlichkeit widerspiegelt. Das Wissen des Zuschauers, das er im nächsten Moment die Welt des Theaters verlassen wird, lässt ihn die Gewissheit erfahren, dass auch die ‘ Welt des Alltags ’ und sein In-der-Welt-Sein einmal zu Ende gehen wird. Das Ende der Aufführung ermöglicht ihm im Spüren dieser Gewissheit ein ‘ Vorlaufen in den Tod ’ und damit die Möglichkeit, im Hier und Jetzt eine spürbare ‘ Eigentlichkeit ’ zu gewinnen. Liegt nicht genau darin jene grundlegende Faszination der letzten Augenblicke einer Aufführung, die sich spätestens in dem Moment einstellt, wenn das Licht endgültig erlischt und der Applaus einsetzt? Blickt nicht gewissermaßen mit jedem ausgehenden letzten Scheinwerfer im Theater die Sorge des Daseins dem Zuschauer ins Gesicht? Offenbart sich in ästhetischen Reflexionen wie dieser nicht womöglich sogar der zeitlich bestimmte Sinn des Seins als ‘ Möglichkeit ’ zwischen “ Geworfenheit ” und “ Entwurf ” des eigenen Seinkönnens? In der Performance The World in Pictures nehmen Forced Entertainment das Moment des endgültigen unwiderruflichen Endes der Aufführung wieder auf und inszenieren es auf neue Weise. Diesmal ist es der Performer Jerry Killick, der, alleine auf der Bühne, die Zuschauer adressiert. Es lohnt sich zum Abschluss meiner Überlegungen diesen Monolog ausführlich zu zitieren: I'd like you to think back just one hour before the show started this evening. That's seven o'clock this evening. [. . .] I'd like you to think about your journey here. Some of you would have come by Bus or Underground, I guess. Can you remember anybody who was on that U-Bahn-train with you? [Pause] Can you remember any faces? [Pause] [. . .] And then you came in here and you sat and the lights in the auditorium went down. And pretty soon the show is going to finish and the lights are going to come back up again. [. . .] Now think about the end of the show and your way home. [. . .] Or think about tomorrow morning - you may have to get up to go to work or to study. Or maybe you got children. [. . .] But tomorrow evening it's pretty unlikely that any of you will be here. And by that time maybe you will have forgotten some of what you saw here this evening. [Pause] And in a month's time, maybe you'll have forgotten everything that you saw here tonight. Or maybe you remember a bit. [Pause] And in a year's time, maybe you will be no longer talking to the people you came here 169 Vom Abschweifen und Antizipieren with tonight. And maybe by then you will be living in a new place or maybe you started a new job. Or maybe you have lost someone close to you. [Pause] And in a five years time maybe one or some of the people in this room will have died. It's possible. [Pause] And in a fifty years time, I should think quite a lot of the people that are now in this room will have died. [Pause] And in a hundred years time, it's pretty safe to say that everybody here in this room will have died. [Pause] And in two hundred years time, not only will we all be dead but those of us who have children, they will have died. Everybody who can remember us will have died. [. . .] And in a thousand years time, it's pretty unlikely that this building will still be standing. [. . .] And in a ten thousand years time, this whole city probably won't be here. It will be a desert. [Pause] Or a body of water. Or maybe not even that, maybe just space. A vacuum. Es bedarf wohl kaum weiterer Erklärungen, um auf den durch die Inszenierung hergestellten Zusammenhang zwischen der Zeitlichkeit der Aufführung und der Zeitlichkeit des Daseins hinzuweisen. Das Ende der Aufführung wird unmittelbar mit dem zukünftigen Tod der Zuschauer, sogar mit dem Ende der Zivilisation, in Verbindung gebracht. Dabei ist es nicht ohne Grund die Einbildungskraft der Zuschauer, an die sich der Performer Jerry Killick wendet. Er fordert das Publikum auf, sich eine Vorstellung von Zukunft zu machen, die nicht nur das Ende der Aufführung antizipiert, sondern weit über dieses Ende, ja selbst über das Ende der eigenen Existenz hinausgeht. Die Zuschauer sind gezwungen, in eine ferne Zukunft abzuschweifen, sie mit ihren Bildern der Phantasie auszumalen und sich zugleich bewusst zu werden, dass nun das Ende der Aufführung unmittelbar bevorsteht. Abschweifen und Antizipieren ergänzen sich zu einer Vor-stellung von Zukunft, die stets ungewiss ist, aber deren Grundlage mit absoluter Gewissheit eines Tages wie diese Aufführung zu Ende gehen wird. Die Einbildungskraft des Zuschauers vermag in seinem ‘ Vorlaufen ’ diese existenzielle Konstitution des Daseins zu erfassen und neue Möglichkeiten, neue mögliche Zukünfte hervorzubringen. Als Vor-stellung von Zukunft lässt somit die Aufführung die “ je-mögliche Ganzheit des Daseins ” erahnen. Das ‘ Theater der Einbildung ’ von Forced Entertainment kann dabei behilflich sein. Anmerkungen 1 Heidegger, Martin. Sein und Zeit. Tübingen 1986, § 41 und § 52. 2 Blau, Herbert. “ The Nothing That Is: Aesthetics of Anti-Theatre ” . Forum Modernes Theater. 1 (2009): 49 - 59, hier 52. 3 Vgl. dazu Peres, Constanze. “ Antizipation - Spektrum und Struktur ” . Antizipation in Kunst und Wissenschaft. Ein interdisziplinäres Erkenntnisproblem und seine Begründung bei Leibniz. Ed. Friedrich Gaede und Constanze Peres. Tübingen/ Basel, 1997, 19 - 34. 4 Albee, Edward. Wer hat Angst vor Virginia Woolf . . .? Frankfurt/ Main, 1963, 38. 5 Heidegger, Martin. Kant und das Problem der Metaphysik. Frankfurt am Main 1998, 136. 6 James, William. “ Die Wahrnehmung der Zeit ” . Klassiker der modern Zeitphilosophie. Ed. Walther Ch. Zimmerei und Mike Sandbote. Darmstadt, 1993, 31 - 66, 32. 7 Waldenfels, Bernhard. Phänomenologie der Aufmerksamkeit. Frankfurt am Main, 2004, 211. 8 Vgl. Husserl, Edmund. Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins. Hamburg, 1985, insbesondere 33 - 35 und 161 - 163. 9 Albee 1963, 38. 10 Diese Beobachtung bezieht sich auf meine Aufführungsbesuche am 29.01., 05.03. und 01. 05. 2006. 11 Leibniz, Gottfried Wilhelm. “ Über den Begriff der Möglichkeit ” Kleine Schriften 170 Benjamin Wihstutz zur Metaphysik. Frankfurt am Main, 1986, 177. 12 Um Missverständnisse zu vermeiden, sei an dieser Stelle betont, dass ich die Begriffe Imaginäres und Reales nicht im Sinne Lacans verwende, sondern als Gegensatz von phantasmatisch-bildhaften und Wirklichkeit, wobei die Ebene des Imaginativen, deren Vermögen die Einbildungskraft in all ihren Facetten ist, zwischen diesen beiden vermittelt. 13 Goodman, Nelson. Tatsache, Fiktion, Voraussage. Frankfurt am Main, 1975, 78. 14 Ich habe dies an anderer Stelle ausführlich dargelegt. Siehe: Wihstutz, Benjamin. Theater der Einbildung. Zur Wahrnehmung und Imagination des Zuschauers. Berlin, 2007. 15 Merleau-Ponty, Maurice. Das Sichtbare und das Unsichtbare. München, 1994, 178. 16 Merleau-Ponty, 1994, 174 f. 17 Selbstverständlich verstehe ich Alltag und Theater nicht als schlichten Gegensatz, ein Aufführungsbesuch kann als Teil des Alltags gesehen und auch so wahrgenommen werden. Dennoch zeichnet den (Zeit-)Raum des Theaters aufgrund seiner (inszenatorischen) Rahmung als Kunst-Raum eine ästhetische Differenz zu sonstigen Alltagsräumen und - zeiten aus, ohne die bestimmte Formen ästhetischer Erfahrung nicht möglich wären. Nichts anderem als der Hervorhebung dieser Differenz dienen die zahlreichen, in der Tradition des abendländischen Theaters konventionalisierten räumlichen und zeitlichen Schwellen (wie das Kartenabreißen, das Abdunkeln des Zuschauerraumes, das Öffnen des Vorhangs etc.). Hans-Thies Lehmann spricht daher auch von einer “ Zeit der Initiation ” , die der “ Wahrung eines ausgegrenzten autonomen Zeitraums der Erfahrung ” dient. (Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main [1999] 2005, 319). Da die Aufführung jedoch zugleich ein soziales Ereignis bleibt, kann die ästhetische Differenz zum Alltag von einem Re-Entry des Sozialen (oder in der Sprache Lehmanns ein “ Einbruch des Realen ” ) jederzeit gekreuzt werden. Dieses paradoxe Verhältnis von Aufführung als Kunst und als sozialer Realität näher zu erläutern, würde in diesem Kontext jedoch zu weit führen. 18 In der Tat gibt es kaum einen berühmten Denker in der Geschichte der abendländischen Philosophie, der sich nicht mit der Einbildungskraft als synthetisches Vermögen befasst hat. Von Augustinus über Paracelsus, Hume, Kant, Rousseau und Hegel bis hin zu Heidegger und Sartre nimmt die Einbildungskraft immer wieder einen prominenten Platz zwischen Kognition und Perzeption ein, teilweise wird ihr dabei ein grundlegendes welt- und erkenntniskonstituierendes Vermögen bescheinigt, teilweise wird sie aber auch lediglich als empirisches und reproduzierendes Vermögen beschrieben. Vgl. Kamper, Dietmar. Zur Geschichte der Einbildungskraft, München, 1981. 19 Einsteins Diktum wird unterschiedlich zitiert, mal ist auch von der Realität als Illusion die Rede. Meist heißt es: “ People like us, who believe in physics, know that the distinction between past, present and future is only a stubbornly persistent illusion. ” Vgl. Hawkings, Steven, ed. A Stubbornly Persistent Illusion. The essential Works by Albert Einstein. Philadelphia, 2009. 20 Vgl. Blau, Herbert. “ Universals of Performance; or, Amortizing Play ” . SubStance. 37/ 38 (1983): 140 - 161, 155. 21 Heidegger, Martin. Sein und Zeit. Tübingen, 1986, 233 f. 22 Heidegger 1986, 259. 23 Lyotard, Jean-François. “ Der Augenblick, Newman ” . Das Inhumane. 1988 Wien, 2006, 95 - 101, 99. 24 Ders., “ Das Erhabene und die Avantgarde ” . Lyotard 2006, 107 - 125, 109. 171 Vom Abschweifen und Antizipieren