eJournals Forum Modernes Theater 25/2

Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/1201
2010
252 Balme

Wolfgang Sting, Norma Köhler, Klaus Hoffmann, Wolfram Weiße, Dorothea Griebach (Hg.). Irritation und Vermittlung. Theater in einer interkulturellen und multireligiösen Gesellschaft. Scena. Beiträge zu Theater und Religion. Band 4. Münster: Lit Verlag, 2010, 229 Seiten.

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2010
Katharina Pewny
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die Förderung von Einzelaktivitäten. Es geht also auch um die Verankerung theatraler Bildung in der allgemeinbildenden Schule, denn nur diese Institution erreicht tatsächlich alle Kinder und Jugendliche. Logische Konsequenz ist daher die Forderung nach einem Schulfach ‘ Kulturelle Bildung ’ als notwendigem Gegengewicht zu den PISA-Fächern. Als erster Schritt in diese Richtung kann zumindest für das Bundesland Hessen der inzwischen klar erkennbare politische Wille bewertet werden, “ ein Landesprogramm Theater und Schule langfristig zu etablieren ” (37). Dieses Ziel wiederum wirft zwei weitere grundsätzliche Fragen auf, die in vorliegendem Band mehrperspektivisch diskutiert werden. Es zeigt sich in verschiedenen Beiträgen, dass “ die ‘ Systeme ’ Theater und Schule auf ihre Kompatibilität zu überprüfen ” (10) sind. Das betrifft auf der einen Seite die jeweiligen Strukturen, die organisatorisch nicht immer leicht zusammenzubringen sind, es betrifft aber - weit wichtiger - das jeweilige Selbstverständnis als Künstler bzw. als Pädagoge und das zu überprüfende Bild vom jeweils anderen Kooperationspartner. Es ist der alte Konflikt zwischen Kunst und Pädagogik, dem sich nicht nur das Fach Theaterpädagogik fortlaufend zu stellen hat, sondern der auch und gerade im Aufeinandertreffen von Theaterschaffenden und Lehrkräften und ihrer jeweiligen Institutionen bewältigt sein will. Es geht um (teils zu korrigierende) Erwartungen aneinander, um die Forderung nach gegenseitiger Akzeptanz in der Unterschiedlichkeit. Theater und Schule also als ein “ Traumpaar ” (15) oder als eine “ unheilige Allianz ” (41)? Dieses Spannungsfeld wird von zahlreichen Beiträgen aspektreich beleuchtet und für zukünftige Zusammenarbeit produktiv gemacht. Eine zweite grundsätzliche Frage betrifft die Forderung nach einer professionellen Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte. Hier allerdings ist die Situation alles andere als zufriedenstellend: Grundständige Studiengänge gibt es kaum, allenfalls Ergänzungs- oder Erweiterungsstudiengänge an nur wenigen Hochschulen - was insgesamt zu lediglich kompensatorischen Fortbildungsangeboten führt, die langfristig keine Lösung sind. Viele der Beiträge widmen sich diesem Defizit und formulieren damit einen klaren bildungspolitischen Auftrag, der übrigens auch in dem erwähnten Bericht der Enquete-Kommission enthalten ist: Für die Stärkung der künstlerischen Fächer sei sicherzustellen, “‘ dass der vorgesehene Unterricht durch qualifizierte Lehrkräfte tatsächlich erteilt wird ’” (10). Bei einer wie in diesem Band so großen Fülle an Beiträgen stellt sich die Frage nach ihrer Ordnung und Gliederung. Der Herausgeber benennt dazu fünf Großkapitel, für die die Kategorien Politik, Kunst, Pädagogik, Modelle und Perspektiven leitend sind. Die themabedingt sehr disparaten Beiträge werden auf diese Weise gebündelt, gelegentliche Tücken der Kategoriebildung ergeben sich dadurch, dass sie keine eindeutige Zuordnung der Beiträge zulässt. Auch das Schlusskapitel ‘ Perspektiven ’ erscheint von seiner Ausrichtung nicht konsistent genug. Doch schmälert dieses strukturelle Problem den inhaltlichen Ertrag der Publikation nicht. Dem Herausgeber ist es gelungen, den gegenwärtigen und optimistisch stimmenden Stand der Zusammenarbeit zwischen Theater und Schule zu dokumentieren und gleichzeitig aus der theoretischen Reflexion bestehender Konfliktfelder zukünftige Aufgaben interdisziplinärer Zusammenarbeit zu identifizieren. Bayreuth G ABRIELA P AULE Wolfgang Sting, Norma Köhler, Klaus Hoffmann, Wolfram Weiße, Dorothea Griebach (Hg.). Irritation und Vermittlung. Theater in einer interkulturellen und multireligiösen Gesellschaft. Scena. Beiträge zu Theater und Religion. Band 4. Münster: Lit Verlag, 2010, 229 Seiten. Der vorliegende Band ist der vierte in der Reihe “ Scena. Beiträge zu Theater und Religion ” , die Ingrid Hentschel und Klaus Hoffmann im LIT Verlag herausgeben. Er dokumentiert die Tagung “ Dialog Theater und Religion - Theater in einer interkulturellen Gesellschaft ” , die im Dezember 2008 an der Universität Hamburg stattfand. Zusätzlich zu Vorträgen, Projektberichten und Podiumsdiskussionen des Kongresses nahmen die Herausgeber vertiefende theoretische Beiträge und Darstellungen interkultureller Theaterpro- Forum Modernes Theater, 25/ 2 (2010), 216 - 218. Gunter Narr Verlag Tübingen 216 Rezensionen jekte in das Buch auf. In dem äußerst vielschichtigen Band sind formal und inhaltlich heterogene Texte in vier Kapiteln versammelt. Einer Einleitung folgen unter der Rubrik “ Dialoge ” erstens Debatten zur Frage, “ wie Künste der Fremde und Andere in Kultur und Religion [. . .] thematisieren können ” . Zweitens werden “ Grenzen und Tabus der Darstellbarkeit religiöser Inhalte und Fragen ” besprochen, und drittens und viertens werden unter den Titeln “ Vermittlung ” und “ Projekte ” interkulturelle Theaterprojekte und ihre Leitprinzipien dargestellt. Den versammelten Stimmen, gleich ob sie monografisch formulieren oder ob der Ausschnitt aus einer Diskussionsveranstaltung abgedruckt ist, ist die Bereitschaft zum Dialog und zur Relativierung der eigenen Positionen anzumerken. Implizit und explizit sind in dem Buch der Studiengang Performance Studies und das interdisziplinäre Zentrum Weltreligionen, zwei reiche Hamburger Vermittlungstraditionen zwischen Theater und Theorie, sowie zwischen den Religionen, präsent. Die Forschungskontexte des vorliegenden Bandes sind theaterwissenschaftlich, erziehungswissenschaftlich und religionswissenschaftlich. Aus theaterwissenschaftlicher Sicht ist zu konstatieren, daß Fragen nach der Gemeinschaft stiftenden Funktion des geteilten Erlebnisses und Hervorbringens von Aufführungen, die im vergangenen Jahrzehnt viele Forscher/ innen beschäftigte, und die damit einher gehenden Konzentration auf Präsenz (im Unterschied zu Repräsentation), abgelöst werden. Ihnen folgen, wie in “ Irritation und Vermittlung ” sowie anderen Orts zu konstatieren ist, Synthesen der vermeintlichen Gegensätze von Präsenz und Repräsentation, des Ästhetischen und des Politischen. Der vorliegende Band steht nicht nur für diese Entwicklung, sondern er treibt sie maßgeblich voran. Die versammelten Aufsätze und Debatten sind verbunden durch die Reflexion der Bedingungen, die Dialogizität zwischen Personen und Positionen unterschiedlicher Kulturen, Herkünfte und Glaubenssysteme ermöglichen. Das Bestreben nach einer gewaltfreien Begegnung mit dem Anderen betrifft das Zusammentreffen von Schauspielern unterschiedlicher Herkunft, von Schauspielern und ihrem Publikum, von Lehrenden und Lernenden und von Menschen, die unterschiedliche Religionen (inner- und außerhalb von Institutionen) praktizieren. Damit sind sehr unterschiedliche Ebenen angesprochen, einige seien im Folgenden genannt: Die Ebene der Selbstverortung von Schauspielern und Schauspielerinnen, die sich dann aufmacht, wenn sie zum Thema ihrer Herkunft improvisieren. Normierungen und Klischees, die oftmals noch ausschlaggebend dafür sind, welche Rollen ein Schauspieler mit Migrationshintergrund bekommt. So ist wiederholt zu lesen, daß junge “ türkisch wirkende ” Schauspieler angesprochen werden, um Agression zu verkörpern. Eine weitere Ebene ist die der Theatertexte und -Aufführungen und ihrer lokalen so wie internationalen Rezeption. Einige Ausblicke in die Theatergeschichte, beispielsweise in das griechische Tragödientheater und sein Verhältnis zum afrikanischen Theater, sind ebenfalls in den Band inkludiert. Ein weiterer roter Faden ist die rezeptionsästhetische Frage, genauer: Religion spezifische Konnotationen der Theatertradition des Mitleidens, oder der “ Mitleidenschaft ” , die der ehemalige Intendant des Thalia Theaters Ulrich Khoun formuliert. Die Frage nach der Auseinandersetzung mit Transzendenz im Theater zeigen sich als anschlußfühig nicht nur für Aufführungen, die Religion explizit themnatisieren, sondern für eine große Bandbreite an Theateraufführungen, besonders in einer Stadt, in der die gesellschaftlichen und ethischen Aspekte des Theaters so präsent sind wie in den Hamburger Theatern der Jahrtausendwende. Zusätzlich zu der Frage der Interkulturalität und Multireligiosität erweist sich beim Lesen auch die Achse des Lokalen und des Globalen als bedeutunsgebend. Aufgrund der Verankerung in Hamburg ist der lokale Aspekt stark präsent. Die globale Perspektive ist vor allem in den transkontinental ausgerichteten Beiträgen angesprochen. Der Untertitel des Bandes, nämlich “ Theater in einer interkulturellen und multireligiösen Gesellschaft ” hinterläßt [allerdings? W. D. E.] die offene Frage, ob die diskutierten Ansätze und Theaterprojekte nun spezifisch für die deutsche Gesellschaft sind, oder ob sie für andere west- und mitteleuropäischen Kontexte verallgemeinbar wären. Der vorliegende Band ist eine Einführung in Aspekte von Theater und Interreligiosität und eine Übersicht über die Hamburger großen Sprechbühnen und über die freie-Szene des vergangenen Jahrzehnts. Er eröffnet zweifellos neue 217 Rezensionen Fragestellungen, die die Theaterwissenschaft in Zukunft beschäftigen wird. Die polyphone und dialogische Form der inkludierten Artikel entspricht dem Inhalt, nämlich der Suche nach Vermittlung über Differenzen hinweg, dies eröffnet auch Zugänge für Leser und Leserinnen unterschiedlicher Provenienz. Gent K ATHARINA P EWNY Hellmut Flashar. Inszenierung der Antike. Das griechische Drama auf der Bühne. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage. München: C. H. Beck, 2009, 428 Seiten. Als Hellmut Flashars Buch zur Inszenierung der Antike auf der Bühne der Neuzeit 1991 erschien, war es das erste seiner Art im deutschsprachigen Raum: Erstmals stand die Bühnenpräsenz des griechischen Dramas im Zentrum einer Monografie. Der Titel des Bandes deutet an, dass in der Inszenierung antiker Dramen immer auch das Antike- und das Selbstverständnis der Inszenierenden eine Rolle spielt: Antiken im Plural sind das Thema, eine Relation zweier Epochen, nicht kontextisolierte Dramentexte. Das lässt auf eine kultur- und theaterhistorische Einbettung hoffen; auf eine Darstellung, die sich nicht mit Detailanalysen begnügt. Und dieses Versprechen löst die Studie in weiten Teilen ein. So überrascht es nicht, dass etliche Rezensenten dem Band trotz Kritik im Detail einmütig den Charakter eines zukünftigen Standardwerks bescheinigten. Die neuere Forschung gibt den Prognosen Recht: Bis heute kommt eine Auseinandersetzung mit der Gegenwart des antiken Theaters an Flashar nicht vorbei. So ist es mehr als erfreulich, dass das Werk 2009 in einer erweiterten Neuauflage erscheint. Allerdings lässt schon die Einleitung ahnen, was der Band dann bestätigt: Die zweite Auflage ist nahezu textidentisch mit der ersten; es kommt lediglich ein Kapitel zur jüngsten Vergangenheit hinzu. Das im Anmerkungsapparat ergänzte Einführungskapitel (I) gibt einen Überblick über die antiken Aufführungsbedingungen; es bietet nach wie vor eine solide Grundlage für die folgenden historisch-kommentierenden Ausführungen. Flashar lässt die Inszenierungsgeschichte des Attischen Dramas auf der Bühne der Neuzeit erst mit den Experimenten des Weimarer Hoftheaters wirklich beginnen; zwischen der Inszenierung des Ödius (Edipo re) auf der Bühne des Teatro Olimpico in Vicenza 1585 (dazu Kap. II) und dem ausgehenden 18. Jh. sei griechische Tragödie und Komödie “ nur mittelbar präsent, in Bearbeitungen, Umdichtungen und mit fremden Zutaten ” (S. 32). Dieser mittelbaren Präsenz ist nichtsdestotrotz ein eigenes Kapitel gewidmet (Kap. III), in dem Flashar einen Überblick v. a. über die Situation in der Romania liefert. Die folgenden Kapitel zeichnen die Entwicklung nach von der Antike-Rezeption in Weimar (Kap. IV) über politische Funktionalisierungen in Preußen (Kap. V) bis hin zur Vereinnahmung durch das Bildungsbürgertum in der 2. Hälfte des 19. Jh. (Kap. VI), um an der Wende zum 20. Jh. im Kontext der Theaterreform neue Formen der Präsentation des antiken Dramas zu diagnostizieren (Kap. VII). Neben den ‘ üblichen Verdächtigen ’ wie etwa Max Reinhardt thematisiert Flashar auch Randfiguren der Theatergeschichte wie Max Oberländer. Ähnliches gilt für die Ausführungen zum Theater der Weimarer Republik (Kap. VIII) und des Nationalsozialismus (Kap. IX). Diese Kapitel wurden, wie auch die zur Nachkriegsgeschichte und zu den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik (Kap. X, XI), bis auf einige Straffungen unverändert übernommen. Angesichts der facettenreichen Diskussion der ersten Auflage konzentriert sich die Besprechung hier auf neu Hinzugekommenes und größere Abweichungen. Leider hat Flashar Anmerkungen der theaterwissenschaftlichen wie der altphilologischen Rezensionen zur Erstauflage großenteils nicht berücksichtigt - sie hätten zur historischen Tiefenschärfe beitragen können. Dass der Text über weite Strecken unbearbeitet bleibt, verleiht ihm einen zuweilen anachronistischen Ton. Kennern der Auflage von 1991 mag auffallen, dass erkleckliche Teile des Abschnitts zur “ globalisierten Antike ” aufs Wort einem nun entfallenen Unterkapitel der Erstauflage entsprechen. Wenngleich Flashar 2009 in der Bewertung des Regietheaters vorsichtigere Töne anschlägt, so sieht er das Verhältnis von Text und Theater doch als Forum Modernes Theater, 25/ 2 (2010), 218 - 219. Gunter Narr Verlag Tübingen 218 Rezensionen