eJournals Forum Modernes Theater 25/2

Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/1201
2010
252 Balme

Petra Stuber, Ulrich Beck (Hg.). Theater und 19. Jahrhundert. Schriften der Hochschule fürMusikundTheater “FelixMendelssohn Bartholdy” 2. Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms Verlag, 2009, 245 Seiten.

1201
2010
Antje Tumat
fmth2520219
prinzipiell unumkehrbare Abhängigkeitsrelation. Bezeichnend ist das Fazit zu den jüngsten Entwicklungen: Die Überschrift, “ Anschwellender Bocksgesang ” , ist bekanntlich der Titel eines Essays von Botho Strauß. Der Titel soll aber lediglich “ anzeigen, daß [. . .] die Präsenz des antiken Theaters [. . .] stark ‘ angeschwollen ’ ist ” (S. 281). Diese Bemerkung weist auf ein Kernproblem der Darstellung: Angesichts der Fülle des Materials kapituliert die Analyse und geht vielerorts über globale Anmerkungen nicht hinaus. Unter dem Titel “ Das Repertoiretheater ” werden schließlich Aischylos, Sophokles und Euripides blockartig nacheinander abgehandelt, was angesichts der nicht mehr in erster Linie an Werkzusammenhängen orientierten Theaterpraxis wenig sinnvoll ist. Das Buch endet mit grundsätzlichen Einlassungen zum Verhältnis von Drama und Theater. In seiner Auseinandersetzung mit Inszenierungen der jüngsten Vergangenheit lässt Flashar es an eben jener hermeneutischen Reflexion fehlen, die er für szenische Auseinandersetzungen mit dem antiken Drama fordert. Hier wird allzu deutlich, dass er das Verhältnis von Theater und Drama als ein dienendes versteht: Das Theater hat das Bedeutungspotential des Dramas lediglich zu erschließen und zu konkretisieren; wo dies nicht gelingt, vielleicht auch gar nicht das Ziel ist, kommt Flashar schnell zu einem negativen Urteil, ja einer Verurteilung der Inszenierungen als ‘ seltsam ’ , ‘ kryptisch ’ , ‘ hermetisch ’ . Literatur - so das implizite Fazit - darf polyvalent sein, Theater muss eine konkrete, aus dem Drama erschließbare Botschaft vermitteln. So kommt der respektable Philologe Flashar immer wieder zu erstaunlich trivialen Interpretationen, etwa wenn er lakonisch bemerkt, in Leander Haußmanns Antigone-Inszenierung (1993) werde Kreon von einer Frau gespielt, “ um das Weibische dieser Gestalt zu betonen ” (S. 325). Überhaupt ist es oft die lakonische Kürze, die zum Problem wird: Die allermeisten Inszenierungen der letzten Jahre handelt Flashar in wenigen Sätzen ab; und die Bewertung orientiert sich in erster Linie am Kriterium der Texttreue. Der Text, so heißt es abschließend, sei die “ wesentliche Errungenschaft ” (S. 351) des europäischen Theaters. Als Zeugen für diese Behauptung nennt Flashar “ einige gerade der besten Regisseure ” (ebd.); wer die besten Regisseure sind, das entscheidet er sehr subjektiv. Leider verzichtet der Band nicht nur nahezu vollkommen auf eine Auseinandersetzung mit der theaterwissenschaftlichen Forschung, sondern auch auf ein Literaturverzeichnis. Zwar ist das Sachregister angesichts der Fülle des Materials hilfreich. Doch eine Orientierung über die neuere Forschungsliteratur ersetzt es nicht. Die in der Neuauflage ersatzlos weggefallenen Bildtafeln sind ein Verlust - gerade angesichts des breiteren, auch nicht-akademischen Publikums, das der Band ansprechen will. In ungemein sympathischer Begeisterung endet der Autor mit einem Plädoyer für die Antike auf der Bühne; wo er mit der überzeitlichen Gültigkeit der antiken Themen argumentiert, fällt er allerdings hinter ausführliche Debatten zurück, die das problematische Verhältnis der konkurrierenden Ansprüche von überzeitlicher Geltung und historischer Singularität in der Formierung von Klassikern problematisiert haben. Aus der Feder eines Altphilologen nimmt sich die Geschichte der Antike-Inszenierung naturgemäß anders aus, als es der Theaterwissenschaftler gewohnt ist. Doch wäre zu wünschen gewesen, dass der Philologe die Nachbardisziplin ernster nimmt, gerade dort, wo es um theoretische und methodische Fragen zum Umgehen mit Aufführung und Inszenierung geht. So bleibt das mit Verve und mit reicher Kenntnis der antiken Dramen geschriebene Buch Einiges schuldig. Doch ist zu erwarten, dass es auch in seiner zweiten Auflage die Auseinandersetzung mit der Inszenierungsgeschichte der Antike befördern wird: Dem Wissenschaftler bietet es wertvolles Material, dem Laien einen Überblick über die Bühnenpräsenz des Attischen Dramas. Lesenswert ist das Buch in jedem Fall. München J ULIA S TENZEL Petra Stuber, Ulrich Beck (Hg.). Theater und 19. Jahrhundert. Schriften der Hochschule für Musik und Theater “ Felix Mendelssohn Bartholdy ” 2. Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms Verlag, 2009, 245 Seiten. Im Zentrum des Bandes Theater und 19. Jahrhundert steht die Idee der Grenzüberschreitung Forum Modernes Theater, 25/ 2 (2010), 219 - 221. Gunter Narr Verlag Tübingen 219 Rezensionen zwischen (Theater-)theorie und (Theater-)praxis einerseits und den Disziplinen Theater-, Musik- und anderen Kulturwissenschaften andererseits. Der Band besteht aus zwei Teilen, die in unterschiedlichen Kontexten entstanden sind: Die wissenschaftlich ausgerichteten Aufsätze des ersten Abschnitts unter dem Titel “ Aufführungspraxis im 19. Jahrhundert ” gehen auf das 2008 an der Hochschule für Musik und Theater in Leipzig gehaltene Kolloquium “ Theater/ Musik im 19. Jahrhundert ” zurück. Im Mittelpunkt dieser Untersuchungen steht die Musik in Schauspielaufführungen - allerdings letztlich vor allem aus “ theaterhistoriographischer ” (Petra Stuber, S. 9) Perspektive. Der zweite, von Studierenden des Studiengangs Dramaturgie verfasste Teil “ Gegenwärtige Inszenierungen ” geht aus einem Workshop aus dem Jahre 2007 hervor, in dem über aktuelle Inszenierungen von Dramentexten aus dem 19. Jahrhundert diskutiert wurde. Mit einem berühmten Sonderfall der Schauspielmusikgeschichte beginnt Susanne Boetius den wissenschaftlichen Teil des Bandes: In ihrem Beitrag über “ Felix Mendelssohn Bartholdys Schauspielmusiken zu Antigone und Ödipus in Kolonos ” rekonstruiert sie die Folgen der Aufführungsbedingungen im Potsdamer Palais für die Besetzung dieser Musiken, die im Auftrag des Preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. entstanden. Wie Gesine Schröder im folgenden Text zeigt, fand Heinrich Bellermann in seiner Musik zu Sophokles gänzlich andere kompositorische Lösungen zur Wiederbelebung der griechischen Tragödie: in “ barockisierendem ” Stil und mit dem Versuch, eine “ würdige ausdrucksvolle Melodie zu erfinden, welche nicht an die moderne Oper erinnert ” (Chrysander bei Schröder, S. 46). Schröder geht es in ihren Überlegungen nicht um die Qualität der Kompositionen Bellermanns, sondern um ästhetische Fragestellungen im Hinblick auf die griechische Tragödie mit zeitgenössischer Musik im 19. Jahrhundert. Nach diesen Beiträgen über Aufführungen in Berlin und Potsdam wendet sich Johann Hüttners Text der “ Aufführungspraxis im Wien des frühen 19. Jahrhunderts am Beispiel von Franz Grillparzer und Ferdinand Raimund ” zu. Seine Ausführungen offenbaren einmal mehr die fließenden Grenzen zwischen den Bühnengattungen unserer Musikgeschichtsschreibung. Sie machen neugierig auf eine genaue Betrachtung der Wiener Quellenlage von Textbüchern und Musikalien. Letztere hat Maren Goltz in ihrem Text über “ Die Praxis der Bühnen- und Zwischenaktmusik bei den Theateraufführungen der Meininger während der Regierungszeit Herzog Georgs II. von Sachsen-Meiningen (1866 - 1914) ” für das Meininger Hoftheater aufgearbeitet und damit eine Lücke in der Schauspielmusikforschung geschlossen. Vor allem im deutschen Sprachraum des 19. Jahrhunderts bildete jede Bühne eine eigene regionale Tradition heraus. Es erscheint daher sinnvoll, wie hier ein Theater über einen bestimmten Zeitraum unter konstanten institutionellen Rahmenbedingungen zu betrachten. Maren Goltz bestätigt die bisherigen Erkenntnisse der Schauspielmusikforschung auch für Meiningen: Die Musik im Sprechtheater fand keine bis kaum Erwähnung in den Rezensionen oder auf den Theaterzetteln. Die Aufführungen waren aber dennoch mit sorgfältig ausgewählter, allerdings sehr kurzer - durch den Anschein von historisch stimmiger “ Originalität ” in das Inszenierungskonzept des Meininger Hoftheaters integrierter - Musik versehen. Lars Gebhardt und Jörg Rothkamm stellen Gattungsfragen in den Mittelpunkt ihrer Beiträge. Lars Gebhardt verfolgt in “‘ . . .eine Abgeburt, welche aus gräulichen Inceste entsteht. . . ’ - Hector Berlioz' Huit Scènes de Faust als Schauspielmusik? ” die These, dass Berlioz' Huit Scènes de Faust ursprünglich als Schauspielmusik konzipiert waren. Jörg Rothkamm ( “ Gattungsspezifisch komponiert? Französische und deutsche Musik zur Pantomime in Ballett, Oper und Schauspiel zwischen 1828 und 1841 ” ) zeigt in seinem Text auf, wie in allen drei Gattungen Ballett, Oper und Schauspiel Pantomimenmusik Anlass für kompositionsgeschichtliche Innovationen gab. Wolf-Dieter Ernst schließlich geht in seinem Beitrag zur “ Schauspielerausbildung am Beispiel der königlichen Musikschule in München ab 1874 ” einem wenig aufgearbeiteten Thema nach. Ernst betont noch für das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts die enge Verknüpfung von Schauspieler- und Sängerausbildung und zeigt auf, “ dass Schauspieler in dieser Zeit selbstverständlich auch Darsteller in der Oper und im Musikdrama waren ” (S. 109). Auch Goltz und Hüttner berichten für ihren jeweiligen Unter- 220 Rezensionen suchungszeitraum in Meiningen (S. 87) und Wien ( “ Die meisten Darsteller der heiteren Vorstadtstücke konnten Fähigkeiten im Gesang vorweisen, oft auch im Tanz ” , S. 60) von den sängerischen Fähigkeiten der Schauspieler. Fraglich erscheint daher die in der Einführung des Bandes formulierte These, der Einsatz des Melodrams im Schauspiel sei eine Reaktion auf die mangelnden sängerischen Fähigkeiten der Schauspieler: “ Das Melodram ist [. . .] jene [. . .] Struktur, in der sich gerade die Trennung von Schauspiel und Musik niederschlägt, denn es ist für Schauspieler gedacht, die nicht mehr singen können ” (S. 10). Das Melodram war nicht erst im 19. Jahrhundert in spezifischen Szenentypen aus ästhetischen und dramaturgischen Gründen (neben gesungenen Liedern) ein zentraler Teil fast jeder Schauspielmusik. In den essayistisch formulierten Beiträgen der Studierenden im zweiten Teil des Bandes werden einzelne Inszenierungen von ausgewählten Dramen des 19. Jahrhunderts reflektiert: Hebbels Judith und Maria Magdalena sowie Grillparzers Das goldene Vließ. Einen Bezug zum ersten Teil des Bandes schafft Lene Grösch, indem sie das Thema Schauspielmusik in ihrem Text “ Die Stille hat einen Körper - mit Grillparzer in der Karaoke- Bar ” aufgreift. Sie interpretiert heutige Bühnenmusikszenen anhand der Leierszene in Medea, in der Kreusa der Ausländerin Medea ein Stück griechischer Kultur durch ein Lied zur Leier beibringen will. Roger Vontobel gestaltete in seiner Essener Inszenierung von 2007 diese Szene als Karaoke-Lied. Der Medienwechsel, so Grösch, sei hier hervorgehoben in dem Medium Karaoke, in dem durch die Zusammenführung von Konservenmusik und Live-Stimme “ das Spiel mit der eigenen Kultur als Folie bereits inhärent ” und die Frage der Authentizität eingeschrieben sei. Der Essay “ Von der Gleichzeitigkeit der Künste ” des Schauspielkomponisten Fred Kerkmann aus der Sicht des in der Theaterpraxis arbeitenden Künstlers bestätigt viele der Annahmen für die Gegenwart, die in der Schauspielmusikforschung auch für das 19. Jahrhundert erarbeitet wurden. Kerkmann beschreibt seine Musik als Teil der Inszenierung im multimedialen Verband der Künste: “ Meine Kunst ist ein Teil einer anderen Kunst, sie wird von ihr absorbiert, zu etwas Neuem ” (S. 163). Der Band hat der akademischen Öffentlichkeit sehr lesenswerte Erkenntnisse zum Thema Schauspielmusik zugänglich gemacht. Eine willkommene Ergänzung wäre die musikgeschichtliche Einordnung und ästhetische Beurteilung der jeweiligen Musiken als Teil des gesamten Bühnenereignisses. So ruft der Band zu einem noch intensiveren Dialog aller der am Nachdenken über das Phänomen Musik und Bühne beteiligten Disziplinen auf - zu einem Thema, dessen Erforschung für das 19. Jahrhundert gerade erst begonnen hat. Heidelberg A NTJE T UMAT Constanze Schuler. Der Altar als Bühne - Die Kollegienkirche als Aufführungsort der Salzburger Festspiele. Mainzer Forschungen zu Drama und Theater. 37. Tübingen: Francke Verlag, 2007, 279 Seiten. Der Theatermacher und Festspielgründer Max Reinhardt bezeichnete das Bayreuther Festspielhaus als “ vielleicht das Genialste ” der Werke Richard Wagners. Er selbst ging jedoch in Salzburg einen anderen Weg. Stand am Beginn des Festspielprojektes 1876 in Bayreuth der Bau des Festspielhauses auf dem Grünen Hügel, so sollte in Salzburg indessen die ganze Stadt zur Szene werden. Dazu wurden mehrere bereits vorhandene Örtlichkeiten, geschlossene Räume wie auch offene Plätze zu Spielstätten erkoren. Erst fünf Jahre nach Festspielgründung wurde durch Umbau des Marstalls das erste Salzburger Festspielhaus eröffnet. Das Gründerkollektiv der Salzburger Festspiele setzte von Beginn an auf ein mehrere Sparten umfassendes Repertoire mit Schauspiel und Oper - “ Beides und von beiden das Höchste ” 1 . Zudem sprachen nach dem Ersten Weltkrieg und seinen Folgen die materiellen Rahmenbedingungen zunächst gegen ein großes Bauprojekt. Begonnen hatten die Salzburger Festspiele 1920 auf dem Domplatz mit sechs Vorstellungen von Hofmannsthals Jedermann. 1921 wurde das Festspiel auf Stadttheater, Reitschule, Naturthea- Forum Modernes Theater, 25/ 2 (2010), 221 - 223. Gunter Narr Verlag Tübingen 221 Rezensionen