eJournals Forum Modernes Theater 26/1-2

Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/0601
2011
261-2 Balme

Freiheit durch Verwandlung(en)

0601
2011
Stefan Tigges
Ausgehend von der Grundannahme, dass sich die Vorstellungsräume von Künstlern und Publikum erst dann wirklich schöpferisch entfalten, wenn beide Seiten ihre ästhetischen Erfahrungen gemacht haben und die Spielregeln bzw. die “Eigengesetzlichkeit des Bühnenraums” (Edward Gordon Craig) durchschaut und wahrgenommen haben, werden am Beispiel von Jürgen Goschs Uraufführung von Roland Schimmelpfennigs Das Reich der Tiere (Deutsches Theater Berlin 2007) die ästhetischen Maßverhältnisse im Spiel- und Kunstraum bestimmt. Dabei stellt sich u. a. die Frage wie der Autor bereits im Probenraum seinesTextes Regie führt, szenische Prozesse strukturell reflektiert und mit welchen Strategien die Regie im intensiven Zusammenspiel mit der Ausstattung (Johannes Schütz) die Darsteller spielerisch in einen performativ geprägten körperzentrierten und raumbildenden Diskurs verwickelt, der sowohl Fragen desVerwandlungsspektrums berührt als auch mit der Performanceart (Yves Klein) bzw. der aktionistisch geprägten Kunstpraxis (Wiener Aktionismus) in den Dialog tritt.
fmth261-20099
Freiheit durch Verwandlung(en). Eine künstlerische Vision im Rückblick. Roland Schimmelpfennigs Das Reich der Tiere in der Inszenierung von Jürgen Gosch Stefan Tigges (Ruhr Universität Bochum) Ausgehend von der Grundannahme, dass sich die Vorstellungsräume von Künstlern und Publikum erst dann wirklich schöpferisch entfalten, wenn beide Seiten ihre ästhetischen Erfahrungen gemacht haben und die Spielregeln bzw. die “ Eigengesetzlichkeit des Bühnenraums ” (Edward Gordon Craig) durchschaut und wahrgenommen haben, werden am Beispiel von Jürgen Goschs Uraufführung von Roland Schimmelpfennigs Das Reich der Tiere (Deutsches Theater Berlin 2007) die ästhetischen Maßverhältnisse im Spiel- und Kunstraum bestimmt. Dabei stellt sich u. a. die Frage wie der Autor bereits im Probenraum seinesTextes Regie führt, szenische Prozesse strukturell reflektiert und mit welchen Strategien die Regie im intensiven Zusammenspiel mit der Ausstattung (Johannes Schütz) die Darsteller spielerisch in einen performativ geprägten körperzentrierten und raumbildenden Diskurs verwickelt, der sowohl Fragen desVerwandlungsspektrums berührt als auch mit der Performanceart (Yves Klein) bzw. der aktionistisch geprägten Kunstpraxis (Wiener Aktionismus) in den Dialog tritt. Die Ginsterkatze: Lass uns etwas anders sein, als wir sein müssen. Der Löwe: Lass uns vergessen, was wir sind, und etwas anderes werden. Wir wollen aufbrechen, uns verwandeln, frei sein. 1 Die Maske fiel, und langsam trat der Schauspieler mit seiner Person in die Verwandlung ein. 2 In seiner Laudatio für Jürgen Gosch und Johannes Schütz anlässlich der Verleihung des Theaterpreises Berlin der Stiftung Preußische Seehandlung am 03. Mai 2009 im Deutschen Theater, ihre letzte Zusammenarbeit Idomeneus liegt nur wenige Tage zurück, gewährt der Autor Roland Schimmelpfennig seinen Zuhörern Einblicke in die kollektiven Arbeitserfahrungen, indem er versucht ihre in den letzten Jahren entwickelte Theaterästhetik genauer zu bestimmen. 3 Unterstreicht die Auszeichnung die Bedeutung des intensiven Zusammenspiels von Regie und Ausstattung - Jürgen Gosch und Johannes Schütz arbeiteten seit ihrer ersten Möwe (Schauspielhaus Bochum, 1991) kontinuierlich zusammen - erstaunt Schimmelpfennigs Rede gleich mehrfach. In der in einem auffällig persönlichen Ton verfassten Laudatio, die gerade deswegen so frei und sinnlich nachklingt, da sie ohne theoretische Exkurse oder künstlerische Beglaubigungsmuster auskommt, gelingt es dem Dramatiker die höchst vergängliche Theaterkunst exemplarisch im Hier und Jetzt binnenperspektivisch aufzurufen und dort für einen Moment assoziationsreich zu verorten. Für eine Laudatio eher untypisch skizziert Schimmelpfennig (s)eine künstlerische Vision, d. h. ein (utopisches) ästhetisches Programm, wobei er die Zuhörenden dazu einlädt Vorstellungsräume zu betreten, um sich weitere von Gosch und Schütz realisierte Arbeiten vorzustellen. Schimmelpfennig fragt weniger “ Was war? ” sondern richtet sein Interesse auf die Frage “ Wohin Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 99 - 120. Gunter Narr Verlag Tübingen jetzt? ” , womit eine signifikante Aufbruchstimmung und eine Lust auf noch minimalistischere, d. h. noch radikalere Schreib-, Spiel- und Raumästhetiken spürbar wird, die Autor, Regisseur und Bühnenbildner teilen, die insgesamt zehn Mal zusammenarbeiteten und sich gegenseitig immer stärker künstlerisch befruchteten. Zu Beginn der Rede erinnert sich der Dramatiker an ein gemeinsames Gespräch, in dem es um die Frage ging, “ wie es wäre, wenn sich ein komplettes Ensemble von Schauspielern in einen Schwarm Vögel ” verwandeln würde oder wie sich Verwandlungen in Löwen, Wölfe, Krokodile, Skorpione oder in ein Spiegelei realisieren ließen, um darauf den Regisseur zu zitieren und eine zentrale Grundvorstellung von Gosch und Schütz zusammenzufassen: “ Alles ist spielbar, solange es im Text steht. Das Theater von Jürgen Gosch und Johannes Schütz ist ein Theater auf der Suche nach der vollkommenen Freiheit. Es ist ein Theater der Vorstellungskraft. ” Die Passage belegt, dass es in dem Gespräch auch um Das Reich der Tiere ging, das am 1. September 2007 in der bewährten Konstellation als siebte Zusammenarbeit im Deutschen Theater Berlin als Auftragsarbeit uraufgeführt wurde. Mit der angestrebten “ vollkommenen Freiheit ” , die ein “ Theater der Vorstellungskraft ” voraussetzt bzw. diese in Form von “ Ergänzungsenergien ” (Schütz) gleichermaßen von allen beteiligten Künstlern und Zuschauern einfordert, kommt auch das zentrale Moment der Verwandlung ins Spiel, die, so die These, die ästhetischen Maßverhältnisse in den Spiel- und Kunsträumen von Jürgen Gosch und Johannes Schütz maßgeblich mitbestimmt und in der gegenwärtigen Aufführungspraxis durch den z. T. überhitzten “ Authentizitätshunger ” - u. a. im Fall des Einsatzes von “ Experten ” bzw. Kleindarstellern (an Originalschauplätzen) - auf schauspieltechnischer Ebene wiederholt auf eine nüchterne, primär informative (politische) Eindimensionalität reduziert werden kann und nur eine Neben-Rolle zu spielen scheint. 4 Roland Schimmelpfennig, dies zeigt ebenso Das Reich der Tiere, entwickelt zunehmend ein Interesse, bereits als Autor in seinen eigenen Texten Regie zu führen, szenische Prozesse strukturell zu reflektieren, Figuren zu choreographieren, mit dem Raum zu spielen, die Zeit des Textes und die Zeit der Aufführung in ihrer Relationalität zu bedenken, Verwandlungsprozesse zu motivieren und damit eine Theater-Grundlagenforschung zu betreiben, die über die herkömmliche autoreflexive Arbeit des Autors am Text hinausgeht. 5 Dies liegt, so mein Vorschlag, auch an seinem Regiehintergrund sowie an den Arbeitserfahrungen mit Jürgen Gosch und Johannes Schütz. 6 Stellt Schimmelpfennig in seiner Laudatio fest, dass ihm die Arbeiten von Gosch und Schütz “ ungemein lustvoll und zugleich vollkommen illusionslos ” erscheinen, da dem Zuschauer nichts “ vorgemacht ” werde, formuliert er bei einer anderen Gelegenheit seinen eigenen Begriff von Theater: Theater ist eine direkte Kunstform. Theater ist eine Kunst, die sich bei ihrer Herstellung durch Schauspieler zusehen lässt. Spielen und Geschichte gehören untrennbar zusammen. Etwas Schöneres gibt es für mich nicht - solange das Theater nicht anfängt, mir etwas vorzumachen. 7 Seine geistige Nähe zu Gosch und Schütz wird durch die folgende Präzision noch deutlicher: Mich interessiert die Reduktion, die Verdichtung - oder auch die Auslassung, die Verweigerung bestimmter Details. Die Reduktion lässt den Zuschauer bestimmte Teile selbst zusammensetzen, entdecken, abwägen. [. . .] Das ist ein dialogischer Umgang mit dem Zuschauer. Es geht darum, die Geschichte so zu erzählen, dass man dem Zuschauer die Chance lässt, das Geschehen abzugleichen, zu 100 Stefan Tigges überprüfen. Ich mag Theater als offenes System. 8 Wie stellt sich nun das Prinzip des “ offenen Systems ” in Text und Aufführung dar und wie spielt dieses mit den von Autor und Regie/ Ausstattung gleichermaßen transparent gestalteten Verwandlungsformen zusammen? 9 Wie konstituiert sich ein “ Theater der Vorstellungskraft ” , das dem Zuschauer “ nichts vormacht ” aber spezifische Imaginations-, Assoziations- und Reflexionsräume (er-)öffnet? Äußerte Jürgen Gosch bereits 2006, dass ihn “ eher die Abwesenheit von dramatischen Äußerungen ” interessiere, so ist danach zu fragen ob sich dieser schlichte Kommentar primär auf seine Spielästhetik bezieht oder ob der Regisseur damit nicht auch sein Interesse an anders-, nichtbzw. postdramatischen Theatertexten bekundet. Und wieder auf Schimmelpfennig bezogen: In welcher Form unterzieht der Autor seine Texte dramatischen Transformationen und motiviert dabei zugunsten neuer Erzähloptionen Äußerungen, die nicht mehr als rein dramatisch zu bezeichnen sind? 10 Das Reich der Tiere, in dem bereits die von Schimmelpfennig in der Laudatio skizzierte künstlerische Utopie anklingt und sich im Text und in der Aufführung szenisch zu realisieren beginnt, eignet sich im Hinblick auf diese Fragen besonders, da der Autor die Funktion und Bedeutung der Verwandlung spielerisch in Form eines Meta-Theaters reflektiert und ausschließlich Künstler-Figuren, d. h. zwei Schauspielerinnen, drei Schauspieler sowie einen Autor-Regisseur auftreten lässt. Fällt auf, dass der Autor in seiner Preisrede insbesondere auf die Rolle der Schauspieler eingeht, die in den Arbeiten von Gosch und Schütz “ sehr nahe bei sich sind ” , in den “ Ensemble-Abenden ” eine große Verantwortung übertragen bekommen, nicht von der Regie “ verbogen ” werden, dass bei Gosch und Schütz die “ Darstellung des Menschen keines dramaturgischen Konzepts ” bedarf und dass im “ Zentrum des Textes bei Gosch und Schütz immer der Mensch steht, der Mensch im Stück, also die Figur, und der Mensch auf der Bühne, der Schauspieler ” 11 , stellt sich die Frage mit welchem Bewusstsein der Autor seine Figuren (szenisch) anlegt und die spielerischen Freiheiten und Verwandlungsmöglichkeiten der Schauspieler bereits im Vorfeld mitdenkt bzw. potenziert. Dies zeigt sich Im Reich der Tiere bereits in den für Schimmelpfennig eher ungewöhnlich präzisen Angaben zur Körpersprache und Präsenz der Schauspieler (-Figuren) als auch zu deren “ Kostümen ” , indem er Repräsentationsdiskurse, Verwandlungsmomente, performative Schwellen und (Rollen-)Zwischenräume fokussiert, womit er die Schauspieler, die Regie und Ausstattung subtil herausfordert und ästhetische Fragen anstößt, die Jürgen Gosch und Johannes Schütz speziell in ihrer Auseinandersetzung mit Shakespeare immer wieder beschäftigten. 12 Gilt die 2005 am Schauspielhaus Düsseldorf realisierte Macbeth-Inszenierung in der Rezeption allgemein als die radikalste Arbeit Jürgen Goschs, 13 so soll im Folgenden die Aufführung von Im Reich der Tiere als weiterführender körperzentrierter, szenischer Dialog verstanden und die These formuliert werden, dass speziell im Kontext der mitspielenden Ausstattung entgegen der zumeist negativen, das Stück und die Inszenierung fast gleichermaßen betreffenden Kritiken ein weiterer ästhetischer Radikalisierungsschritt vollzogen und eine signifikante künstlerische Selbstverortung vorgenommen wurde, deren experimentelles Moment erstaunlicherweise kaum wahrgenommen wurde. 14 Der Text als Probenraum: Freiräume und Verwandlungen. In Das Reich der Tiere, dem zweiten Teil der Trilogie der Tiere, entwirft Schimmelpfennig 101 Freiheit durch Verwandlung(en) in drei Akten mit insgesamt zwanzig Bildern eine Spielanordnung, die den gegenwärtigen Kunst- und (Stadt-)Theaterbetrieb strukturell sowie ästhetisch spiegelt und versucht, die in den konventionellen Rollenmustern eingeschlossenen Schauspieler-Subjekte wieder sichtbar zu machen, deren ermüdete Körper spielerisch zu reflektieren und in ihrer Präsenz, d. h. in ihren Rollenspielen bzw. Verwandlungsprozessen neu zu verorten. 15 In Anspielung auf Walt Disneys König der Löwen gewinnt der Leser Einblick in den monotonen Arbeitsalltag eines desillusionierten Schauspieler-Ensembles, das seit sechs Jahren täglich in der Show Das Reich der Tiere in Tierrollen schlüpfen muss und als Mensch und Künstler hinter seinen Masken verschwindet. Die in der Show verhandelten tierischen Machtkämpfe, Eifersüchte, Rivalitäten und Intrigen und sich dadurch ergebenden Feindschaften vergiften ebenso den Backstage-Bereich, der sich als zweiter zentraler Schauplatz entfaltet und immer wieder zwischen die “ Spiel ” -Szenen geblendet wird bzw. als aufschlussreicher Zwischenraum fungiert. Der zweite Akt spielt zumeist außerhalb des Theaters in der Wohnung von Frankie, der den Autor und Regisseur Chris beherbergt, der die Nachfolge- Produktion vorbereitet und mit der Leitung über die neue Besetzung verhandelt, womit ein weiterer menschlich-künstlerischer Konflikt motiviert wird. Schon zu Beginn des kurz vor der Absetzung stehenden Reichs der Tiere wird das hohe Frustrationspotential der Schauspieler spürbar, die sich wegen ihrer prekären Existenz misstrauisch untereinander fragen, wer in neuen Verhandlungen steht, sich gegenseitig demütigen, erniedrigen und strategisch etwas “ vorspielen ” , da ihr Spieltrieb in der Show unterbunden wird. Andererseits sind sie sich aber in ihrer wachsenden Skepsis bzw. in ihrem Unverständnis gegenüber der neuen Produktion “ Der Garten der Dinge ” einig, da der Grad ihrer künstlerischen Entfremdung in Form ihrer Unsichtbarkeit und beliebigen Austauschbarkeit maximal ansteigen wird, sie nur noch Objekte darzustellen haben und somit von der Kulturindustrie “ materialisiert ” werden. So äußert Sabine, Mitte dreißig, seit vier Jahren die Ginsterkatze stellvertretend: Ein Ei, ein Spiegelei, trotzdem kahl. Ebenso eine Ketchupflasche, eine Pfeffermühle, ein Toast, alle kahl, schweigend, sich gegenüberstehend. Sind das Gegenstände, oder sind wir Häftlinge? Gefangene? 16 Während sie sich im siebten Bild eine Bandage vom Fuß wickelt und sich einen blutigen abgefallenen Nagel vor den Augen ihres Kollegen wieder aufzusetzen versucht und dabei vor Schmerzen stöhnt, leidet Dirk, über vierzig, der sich innerhalb von sechs Jahren zu einem Marabu hochgearbeitet hat und zuvor Mitglied des Kolibri-Schwarms war, im zehnten Bild unter einem seit langem, durch das permanente Auf- und Abkleben der Federn bedingten offenen, eitrigen Rücken, worauf ihm seine Kollegin Sandra rät, die Federn doch einfach auf seinem Körper zu belassen. Hinterlassen die Kostüme lediglich körperliche Spuren, so stellen sich die vom Spiel ausgehenden seelischen Verletzungen noch verheerender dar, indem die Schauspieler darunter leiden, dass sie im eigenen Haus nicht erkannt oder verwechselt werden. So gestehen Frankie: “ Kein Mensch weiß überhaupt noch, wie Du aussiehst. Du, nicht das Zebra. Das Zebra kennt jeder. Kein Mensch erinnert sich noch daran, dass es dich überhaupt gibt ” und Dirk: “ [. . .] ich glaube immer, dass die überhaupt nicht wissen, wer ich bin, wie ich aussehe, meine ich, die glauben vielleicht, ich arbeite in der Verwaltung, wenn sie mich auf dem Flur treffen. ” 17 Noch schlimmer ergeht es Sandra, die mit Peter eine Affäre hatte, aus der ein Kind 102 Stefan Tigges entsprang, nach zehn Monaten Kinderpause wieder am Haus ist und von ihrem Ex- Partner nur aufgrund ihres “ Arsches ” wiedererkannt wird, als sie sich als Antilope an einem “ Wasserloch ” bückt. 18 Peter, der dank Frankies Mithilfe seit zwei Jahren den König im Tierreich gibt, liefert sich mit seinem nunmehr zum Kontrahenten gewordenen Kollegen, der als Zebra die zweite Hauptrolle spielt, den Löwen über einen Fluss trägt und vor einem Feuer rettet, bevor er am Ende nach einer tödlichen Hetzjagd von einem Berggipfel stürzt, einen erbitterten Kampf, wobei Schimmelpfennig deren Machtspiel doppelbödig entfaltet, indem sich ihre tierischen Rollenmuster “ backstage ” fortsetzen und sich ihre Spielgrenzen aufzulösen beginnen: Frankie: Ohne mich wärst du untergegangen. Peter: Ohne dich wäre ich - Frankie: Ohne mich wärst du längst verbrannt - Peter: Es gibt eine Grenze. Frankie: Eine Grenze - Peter: Ich habe - Frankie: Welche Grenze - Peter: Ich bin - Frankie: Du wärst nicht einmal - Peter: Ich bin dir - Frankie: Nicht einmal ein - Peter: Ich bin dir nichts, nichts - Frankie: Nichts, du wärst ein vollkommenes Nichts, Peter: Ich bin dir nichts schuldig - Frankie: Ohne mich wärst du nichts, und du wärst nirgendwo. Peter: Du kommst hier nicht weg. Kurze Pause. Ich habe nie verstanden, was du von mir willst. Ich bin dir nichts schuldig, nichts - Frankie: Ohne mich schaffst du es nicht. Ohne mich bist du nichts. 19 Der Konflikt zwischen Peter und Frankie verschärft sich noch in einem etwas versponnenen Subplot, den Schimmelpfennig splitterartig in sein Stück einblendet um den Theaterapparat erneut ironisch zu spiegeln und weitere Verwandlungsmuster zu skizzieren, die an Shakespeares Spiel mit den Geschlechter-Identitätenwechseln wie in Wie es euch gefällt oder Was ihr wollt erinnern. Frankie, der sich als geistiger Vater eines neuen, selbstbestimmten künstlerischen Projektes versteht und endlich seine “ eigene Geschichte ” erzählen möchte, 20 stellt den Plot während eines Monologes (Bild 9) vor: Die Idee ist ganz einfach: zwei Männer, Schauspieler, verlieren ihre Arbeit. Und sie finden keine neue Arbeit. Sie bewerben sich, verschicken Briefe, Photos, Lebensläufe. Einer der beiden kauft von seinem letzten Geld eine Karte für eine Benefizgala, um mit den richtigen Leuten in Kontakt zu kommen. Es gelingt nicht. Es gibt keine Jobs. Die einzigen Jobs, die es gibt, sind für Frauen. Also verkleiden sich die beiden arbeitslosen Schauspieler als Frauen. Sie landen bei einer Reinigungsfirma, die die beiden in eine Putzkolonne steckt. Eine Türkin, eine Bolivianerin, eine Polin, eine Deutsche, eine Italienerin. Keine der Frauen spricht dieselbe Sprache. Dazu die beiden Männer: der eine gibt sich als Libanesin aus, der andere als Iranerin. Beide tragen Kopftücher. Sie kommunizieren in einem erfundenen Arabisch. Lauter Frauen und zwei verkleidete Männer. 21 Nachdem Frankie in einem weiteren kurzen Monolog (Bild 15) den Erzählstrang präzisiert hat - die beiden Männer putzen schließlich in einem gläsernen Bankturm - spinnt Peter als künstlerischer “ Ideenklauer ” den Plot weiter: 22 Längst hatten die beiden verkleideten Männer beschlossen, die Bank auszurauben, in der sie jeden Morgen putzten. Schließlich überweisen sie, während sie scheinbar gerade in der Chefetage die Ledersessel reinigen, auf einem nicht verfolgbaren Weg Hundert Millionen Dollar auf ein Schweizer Konto. Natürlich 103 Freiheit durch Verwandlung(en) sind die anderen Frauen, die Bolivianerin, die Vietnamesin, die Polin und so weiter längst mit Teil des Plans - das stellt sich irgendwann überraschender Weise heraus - , und als sich die Frauen schließlich mit einem Boot über den Bodensee in die Schweiz absetzen, verkleiden sie sich alle als Geschäftsmänner. Im letzten Bild sehen wir sie in Nadelstreifenanzügen, mit Dreitagebärten, Sonnenbrillen und kurzen Männerhaarschnitten. Ihre Krawatten flattern im Wind. Und du stehst dann als Mann, der sich als Frau verkleidet, die sich als Mann verkleidet am Steuer eines Motorbootes auf dem Bodensee, auf dem Weg in die Freiheit. 23 Auch wenn dieser Erzählfaden Gefahr läuft auszufransen, den Theateranekdoten ein gewisser Karikaturgrad innewohnt, das (Betriebs-)System Theater dadurch nicht kontinuierlich gleich scharf gespiegelt wird und die Backstage-Comedie-Pointen einen (dramatischen) Leerlauf hervorrufen, - der jedoch vom Autor durchaus intendiert wird - interessieren diese als kurzweilige Projektionsflächen, denen in der Konfrontation mit der (szenischen) Wirklichkeit, d. h. im Raum der “ ausgeweiteten Kampfzone ” auf tragische Weise die Luft ausgeht bzw. diese darin brutal zersplittern. Anders formuliert: Schimmelpfennig spannt als Autor ein Netz von eingestreuten Anekdoten, Pointen und Schauspieler-Figuren-Schicksalen über die Oberfläche seines Textes, das auf binnenfiktionaler Ebene die Künstler-Figuren aus ihrer sequenzartigen Spielillusion aus dem Reich der Tiere reißt und diese durch Kommentare und Tierfiguren-(Über-)Spiegelungen vergrößert - aber die grundsätzliche Spielillusion “ spielende Schauspieler-Figuren reflektieren ihre Darstellung ” zunächst aufrecht erhält. Jedoch steuert der Autor kontinuierlich durch choreographierte Störungen, dramatische Krisenmomente bzw. ein verhindertes Spiel derart strukturell die Spielvorlage, dass die Spielillusion durch die Präsenz der realen “ Performer ” stark zersetzt wird, die Darsteller ihre Figuren abschütteln, jedoch in den Augen behalten und damit das Nicht-Spiel bzw. die adramatischen Äußerungen in den Mittelpunkt des Interesses rücken. Wichtig ist hier, dass im Gegensatz zu zahlreichen Beispielen in der gegenwärtigen Aufführungspraxis, die Darsteller sich weder in undramatischen Lücken “ privat ” entfalten noch mit dem Publikum (in ihrer “ Nacktheit ” ) “ intim ” werden, sondern ausschließlich in ihrer Persönlichkeit anwachsen. 24 Damit motivieren die aus dem Drama springenden Schauspieler eine darstellungsbezogene Diskursform, die deswegen so komplex erscheint, da hier körperzentrierte ästhetische Fragen in (größtmöglicher) spielerischer Freiheit verhandelt werden. Jürgen Gosch arbeitet in seiner Inszenierung genau mit diesen vom Autor vorgegebenen Freiräumen, fokussiert den bereits im Text angelegten szenischen Diskurs (insbesondere den Auf- und Abbau des Spiels sowie die “ Zwischenspiele ” ), indem er das theatrale Verwandlungsspektrum ästhetisch und menschlich durchdekliniert, dabei seine Schauspieler schützt und zugleich in ihrer darstellerischen Freiheit bestärkt. In Bezug auf die von Schütz ausgehenden und die Spielästhetik prägenden Bühnenraumerfahrungen spricht Ulrich Matthes davon, dass ihm “ diese Räume ein enormes Selbstbewusstsein ” geben würden. Jens Harzer, der in Onkel Wanja (Deutsches Theater Berlin, 2008) die Rolle des Arztes Astrow spielt, fasst seine räumlichen Erfahrungen noch genauer zusammen: Der Raum, in dem wir das machen, hilft da sehr. Man könnte das ja auch auf einer leeren Bühne machen, diese Untersuchung, rechts und links und oben und unten ist alles frei, aber wahrscheinlich wäre man da relativ verloren und hätte viel mehr zu reflektieren. Dieser sehr geschlossene Rahmen entlastet völlig von der Überlegung, ob ich jetzt stehe oder sitze, rechts bin oder links. Dass das weggenommen wird, die Sache nach der formalen Lösung im Raum, schafft es, dass 104 Stefan Tigges man so unverstellt die anderen Figuren verfolgen kann 25 Dass diesen ästhetischen Fragen bzw. dieser Suche nach Freiheit durch Verwandlung(en) auch eine gesellschaftsbzw. arbeitssystempolitische Dimension innewohnt, zeigen Goschs zunehmende Versuche, den (Stadttheater-)Probenalltag in Form einer “ Workshoppraxis ” strukturell aufzubrechen, indem er konventionelle ergebnisfixierte Haupt- und Generalproben in Frage stellte und zusammen mit seinen Darstellern nach einem Gefühl der nach den Proben andauernden “ Augenblicksbezogenheit ” bzw. bewusst angestrebten “ Unfertigkeit ” suchte. Constanze Becker, die als Jelena mit Matthes und Harzer zusammenspielte, deutet ein utopisches Moment an, das sich für sie (im Idealfall) von Vorstellung zu Vorstellung weiter entfaltend verwirklicht und die Aufführungspraxis als eine fortgesetzte Probenarbeit erscheinen lässt: Weil man ja sowieso nie das Gefühl hat, man ist fertig. Das hätte auch noch drei Monate weitergehen können. Weil man immer im Prozess bleibt, der gar nicht ergebnisorientiert ist. 26 Johannes Schütz entwickelt, so soll sich nun zeigen, eine Kostümbzw. Ausstattungs-Ästhetik, welche die Auseinandersetzung über die absenten (abgestorbenen) und präsenten (re-vitalisierten) Körper ausschlaggebend motiviert und eine neue Spielästhetik einfordert. Zwischen Maske, Bühne und Atelier Für die Inszenierung stellt sich primär die Frage, wie Jürgen Gosch und Johannes Schütz die von Schimmelpfennig angebotenen Rollenein- und ausstiege bzw. Verwandlungsmomente ästhetisch umsetzen sowie szenisch fortschreiben. Dabei geht es einerseits darum, die Schauspieler aus ihren Masken und Kostümen lustvoll und befreit hervortreten zu lassen und andererseits darum, deren erstarrte Rollenmuster, toten Körper und künstlerische Unterworfenheit zum Ausdruck zu bringen, d. h. beide Zustände in einem relationalen Repräsentations- und Präsenzverhältnis spielästhetisch zu justieren. Verzichtete Jürgen Gosch in den letzten Jahren zunehmend darauf die Schauspieler konventionell aufsowie abgehen zu lassen und platzierte diese in “ Spielpausen ” in der ersten Parkettreihe in einer Stand-Bye- Position oder beließ sie zuletzt mit den wenigen Requisiten permanent im Bühnenraum - in Das Reich der Tiere operiert er mit beiden Strategien - , so entscheidet sich Johannes Schütz konsequent für eine weiß-graue Einraumbühne, welche die von Schimmelpfennig vorgegebenen Spielorte (Maske, Garderobe, Bühne, Frankies Wohnung) aufnimmt bzw. diese mittels der raumbildenden Schauspieler aufruft. Damit werden die Darsteller nicht als Bühnenarbeiter funktionalisiert, sondern die Raumtransformationen spielerisch mit einfachsten Mitteln vollzogen und immer wieder die “ leibhafte Räumlichkeit ” verhandelt sowie neu modelliert. 27 Ein vergleichbar hoher Transparenzgrad gilt speziell für die Kostüme, indem die Schauspieler auf offener Bühne zu ihren eigenen Masken- und Kostümbildnern werden und sich für ihre fließenden Verwandlungen die Zeit nehmen, die sie dafür benötigen. Entsprechend heißt es in Schimmelpfennigs anfänglichen Regieangaben, in denen sein Drang nach einer noch “ entschlackteren ” Theaterästhetik ganz im Sinne von Gosch und Schütz unmittelbar durchschimmert: Zwei Schauspieler in ihrer Garderobe, Peter und Frankie. [. . .] Beide sind gerade erst hereingekommen, sie tragen noch ihre eigenen Sachen. [. . .] Sie ziehen sich aus. Jetzt 105 Freiheit durch Verwandlung(en) verwandeln sie sich allmählich in Tiere: Sie schminken sich, sie bemalen ihre Körper, sie bekleben sich mit Haaren oder Federn oder Fellstücken. Peter wird am Ende der Szene zu einem Löwen geworden sein, Frankie zu einem Zebra. Die beiden folgen einer lang erprobten Folge von bedachten, sicheren Handgriffen. Ihre Bewegungen sind routiniert und verraten doch bei aller Sicherheit so etwas wie Stolz oder Selbstbewusstsein. Die Qualität und Originalität beider (und aller folgenden) Tier-Kostümentwürfe bei gleichzeitiger Einfachheit ist bestechend. [. . .] Die Szene dauert in jedem Fall so lange wie es dauert, bis sich beide ohne Hilfe von außen in ein Zebra oder einen Löwen verwandelt haben 28 Dass es Schimmelpfennig drauf ankommt, die Lächerlichkeit der Tierdarsteller überaus ernst zu nehmen bzw. störungsfreie dramatische illusionistische (Spiel-)Techniken abzubauen, zeigen schon seine ersten Regieangaben, die sich unmittelbar unter dem Personenverzeichnis befinden: Die Tierkostüme sind freie Erfindungen auf ethnologisch recherchiertem Niveau. Anregungen lassen sich bei den Urvölkern Nord- und Südamerikas und Afrikas finden. Kein Plüsch, keine Lächerlichkeit. Niemand geht oder spielt auf vier Beinen. Ein fließender Übergang von Mensch zu Fabelwesen oder Tierwie bei manchen ägyptischen oder aztekischen Göttern. 29 Ganz im Gegensatz dazu heißt es in einem Werbetext für die Hamburger Musical-Produktion von Der König der Löwen, der - wie vermutlich auch die Produktion selbst - keinen Einblick hinter die “ phantastischen Kulissen ” gewährt und die in ihren Rollen bzw. hinter ihren Masken verborgenen Schauspieler auf ein Schlumpfmaß reduziert: Atemberaubende Masken, fantastische Kostüme, mitreißende Klänge: Die bunte Tierwelt Afrikas erwacht vor den Augen des staunenden Publikums, der Zauber der Serengeti entfaltet sich auf geradezu magische Weise. Disneys König der Löwen lässt niemanden unberührt. Es ist mehr als ein Musical, es ist ein Bühnenkunstwerk, ein kreatives Feuerwerk der Emotionen. 25 verschiedene Tiere sind in der grandiosen Show zu sehen. Kunstvolle Masken erwecken sie zum Leben. Majestätisch thronen sie auf den Köpfen der Darsteller und schmiegen sich fließend an die kunstvoll geschminkten Gesichter. Mensch und Tier kommen so gleichermaßen zur Wirkung und bilden eine harmonische Einheit voller Kraft und Poesie. 30 Interessant ist nun insbesondere die Frage in welcher Form und mit welchen Strategien es Gosch, Schütz und den Schauspielern gelingt, Mensch und Tier zu berücksichtigen ohne diese ästhetisch zu einer vierbeinigen harmonischen Masse zu verschmelzen und stattdessen körper-sprachliche Bruchstellen, d. h. Transformationsbzw. Konfigurationsprozesse als konfliktreiche ästhetische Schwellenmomente erfahrbar zu machen. Werfen wir zunächst einen Blick in die ersten fünfundzwanzig Minuten der Aufführung, in denen sich die fünf Schauspieler einzeln oder in Zweierkonstellationen langsam aus der ersten Reihe des Parketts erheben, sich im Bühnenraum einfinden, dort lustlos und angewidert verweilen, aus ihren Wasserflaschen trinken oder Nachrichten auf ihren Handys abhören und sich jeweils äußerst wortkarg mental auf die ihnen verhassten Rollen vorbereiten. In den ersten Sequenzen, die durch ihre spezifische Zeitästhetik beim Publikum eine äußerst subjektive Zeiterfahrung hervorrufen, die in ihrer extremen Ausdehnung und Intensität eine Spielillusion erst gar nicht aufkommen lässt und die Aufmerksamkeit auf die Bühnenprozesse lenkt, zeigt sich, dass hier eine auffällig offene Theaterform intendiert wird, die sich viel Zeit nimmt und ein dramatisches Spiel(en) konsequent verweigert. Es wird dem Publikum hier als auch im Verlauf 106 Stefan Tigges der gesamten Aufführung bewusst vorgeführt, dass ihm nichts vorgemacht wird. Entsprechend lange dauern die Vorbereitungen sowie Verwandlungsprozesse der Schauspieler, die damit beginnen die Materialien für ihre nicht-textilen Kostüme zusammenzustellen um diese schließlich vor den Augen des zunehmend ungeduldig wirkenden Publikums akribisch herzustellen. Nachdem sich die ersten beiden Darsteller ausgezogen haben - jeder Schauspieler hat im Bühnenraum seinen persönlichen Garderobenbzw. Maskenplatz in Form eines Stuhls und einen Standspiegels - schüttet Ernst Stötzner Wasser auf eine feine sandfarbene Substanz, die er routiniert auf seinen Körper aufträgt, setzt sich eine zottelige Löwenmähne-Perücke auf und beginnt, sich in seine Königsrolle einzufühlen, indem er ein kurzes Brüllen andeutet und lächerlich, aber zugleich majestätisch durch den Raum schreitet, womit er am eigenen Körper bzw. durch seine Körpersprache seine Rollenkonflikte transparent verhandelt. Parallel dazu rührt Falk Rockstroh schwarze Farbe in einem Eimer an, schwärzt seinen Körper ein, schüttet zusätzlich Farbe an die Wand, reibt sich daran mit seinem Rücken und föhnt die Farbe trocken um sich schließlich als Zebra noch weiße Streifen anzupinseln. Gefühlte fünfzehn Minuten später betritt Dörte Lyssewski die Bühne, die im Gegensatz zu ihren Kollegen ein geschecktes Kleid anzieht, sich die Haare hochsteckt, sich eine Antilopenmaske über den Kopf zieht, eine hastige Zigarette gegen ihren Husten raucht, sich widerwillig warmläuft und sich in die erste Parkettreihe zurückzieht. Unmittelbar danach betreten Kathrin Wehlisch sowie Wolfgang Michael die Bühne, um sich als Ginsterkatze bzw. Marabu zu präparieren. Während sich ihr männlicher Kollege Kopf und Körper mit Honig bestreicht, sich mit weißen und roten Federn beschüttet und mit seinen schlaffen Armen qualvoll einige Flügelschläge initiiert, wälzt Kathrin Wehlisch ihren Rücken in von ihr ausgeschütteter gelber Farbe, trägt den Rest auf ihre Vorderseite auf, malt sich schwarze Punkte auf ihren Körper, dehnt diesen, wärmt ihre Stimme auf, faucht sich in ihre Rolle und beginnt ihr “ Revier ” zu markieren, indem sie ihren Körper an der Hinterwand reibt und dabei Farbspuren hinterlässt. Die in ihrem Detailreichtum hier nur unzureichend wiedergegebenen Verwandlungsprozesse der Schauspieler, die jeweils einen individuellen körpersprachlichen Ausdruck entwickeln und dabei diskursiv ihren Abstand zu ihren (Tier-)Rollen markieren, in die sie partout nicht schlüpfen möchten, führen zunächst dazu, dass das Publikum für die sich schrittweise konstituierende, in ihrer Komplexität anwachsende Bühnenwirklichkeit sensibilisiert wird, Erfahrungen unter der konventionellen “ Schwelle der Erfahrung ” (Brian O ’ Doherty) sammelt sowie hautnah Verwandlungsgesten miterlebt, die in ihrer Naivität und Einsichtigkeit debutantisch erscheinen und ein später behauptetes “ Spiel ” eigentlich schon im Vorfeld im Keim ersticken. Jedoch motivieren diese szenischen Ereignisse gerade das Glaubwürdigkeitspotential der Darsteller und ihrer Metamorphosen, da das Spiel von vornherein entlarvt, dies sichtbar gemacht wird und damit erst eine wirkliche Chance zu einem befreiten Ausbruch erhält. Eine zentrale Strategie des Autors, der Regie und der Ausstattung ist dem zur Folge, dafür zu sorgen, dass das Drama, das Spielgeschehen als auch der Bühnenraum nicht möglichst schnell (dramatisch) “ funktionieren ” , sondern sich vor-stellen und Sinn verweigern, um sich dann erst gegenseitig kunstvoll aufzuladen und miteinander situativ spielerisch ins Gespräch zu kommen. Anders ausgedrückt: Die Vorstellungsräume von Künstlern und Publikum können sich erst wirklich schöpferisch entfalten, wenn beide Seiten ihre ästhetischen Erfahrungen gemacht haben und die Spiel- 107 Freiheit durch Verwandlung(en) bedingungen, die Spielregeln bzw. die “ Eigengesetzlichkeit des Bühnenraumes ” (Edward Gordon Craig) durchschaut, d. h. zentrale performative Reibungsmomente wahrgenommen haben. 31 Liegt der Gedanke nahe, dass die Ausstattung Einsicht in die Maske, Requisite und Garderobe gewährt, diese entsprechend einer Back-Stage-Comedy auf die Bühne holt, um sie jeweils temporär zu beleuchten, erscheint die Raumordnung von Johannes Schütz zugleich einfach und komplex. Einfach, indem keine zusätzlichen (Theater-) Räume im Bühnenraum installiert werden, keine Dreh-, Hubbühne oder Videoprojektionen zum Einsatz kommen und sich ausschließlich auf das spielerische, raumbildende Spektrum der Schauspieler verlassen wird. 32 Komplex, da der schachtelartige Bühnenraum abgedichtet, nur nach vorne hin offen ist und in seiner Sterilität und Nüchternheit wie ein Kunstraum erscheint, der erst noch ästhetisch zu beleben und performativ zu bespielen ist - nicht unähnlich einer weißen Zelle in einem Ausstellungsraum einer Galerie oder eines Museums, in der bildende Künstler bzw. Performer für ihre Raummodulation mit einer carte blanche ausgestattet werden. Es handelt sich hier aber weniger um eine abgeschlossene white cube bzw. um ein starres Container-Konzept, 33 das ausschließlich als fixer Behälter zu denken ist, in das die Schauspieler gestellt werden, um sich darin künstlerisch zu entfalten. Eher geht es darum, dass der Raum in seinen Konstituierungsschritten erfahrbar wird und durch die spielerische Präsenz der Darsteller einen künstlerisch-phänomenologischen Stoffwechsel eingeht/ anregt. Zur Aktivierung des sinnlich-intellektuellen Transfers zwischen Bühne und Publikumsraum tragen auch die aus dem Spielbzw. Kunstraum gesendeten Referenz- und Assoziationsketten bei, womit der Dialog zwischen Theater und Bildender Kunst sowie der Happening- und Performance-Praxis, den Gosch und Schütz speziell in ihren körperzentrierten Arbeiten immer wieder suchten, deutlich wird. 34 Zu nennen sind hier u. a. aktionsorientierte Anthropometrien von Yves Klein aus den 1960er Jahren, in denen der Künstler mittels Körperbemalungen, die sich seine nackten Akt-Modelle (in seinem Atelier oder später in Galerien) selbst auftrugen um schließlich Körperabdrücke auf (Lein-)Wänden oder Stoffbahnen zu hinterlassen, ein wieder neu belebtes bzw. befreites Körperbild verfolgte. Obwohl bei einem Vergleich mit dem jeweils angestrebten hohen Grad an Unmittelbarkeit und Transparenz, d. h. der “ Enthüllung des künstlerischen Schaffensprozesses ” (Klein spricht vom “ Niederreißen des Tempelschleiers des Ateliers ” ) gemeinsame Zielvorstellungen deutlich werden - wobei in beiden Fällen gerade die undramatische “ Vermittlung der phänomenologischen Präsenz des Körpers ” im Mittelpunkt des künstlerischen Interesses steht - zeigen sich schnell fundamentale ästhetische Differenzen. 35 Begreift Yves Klein seine Modelle als “ lebende Pinsel ” , d. h. als kreative Agenten, laufen diese Gefahr in ihrer (körperlichen) Freiheit beschnitten und auf von Klein dirigierte Objekte reduziert zu werden, wohingegen sich die Schauspieler in der Aufführung in einem kollaborativ-kollektiven Prozess körpersprachlich frei entfalten können und sich mit Hilfe der Regie und Ausstattung mit ihrer spezifischen Körperschwere im Raum als aufgewertete Subjekte zentrieren. In Bezug auf Strategien, den eigenen Körper zu politisieren sowie diesen als gesteigertes “ Ausdrucks- und Reflexionsmedium ” zu verstehen und zu befreien, liegen neben Vergleichen mit aktuellen Performance-Praktiken Kontextualisierungen zum Wiener Aktionismus und zur Body Art ebenso nahe, da hier der (nackte) Körper mit seiner Unmittelbarkeit, Leiblichkeit und Zeitlichkeit in Form von “ Körperanalysen ” im Zentrum des Interesses steht, als “ Träger für Farb- und 108 Stefan Tigges Materialaktionen ” auftritt und die Subjekt- Objekt-Relationen als auch dessen (Material- )Status verhandelt werden. 36 Da sich der Wiener Aktionismus wiederum aus der Aktionsmalerei entwickelt, in der der Malvorgang in den Vordergrund rückt und das “ Malen damit nicht mehr an repräsentationalistisch motivierte Formen gebunden ” ist bzw. die “ Form von der Funktion des Inhalts ” , d. h. des Repräsentierten befreit wird, böten sich für die Analyse der Aufführung - insbesondere für Szenen, in denen die Körper durch Bemalungen und “ Materialaktionen ” zu einem erfahrungsreichen ästhetischen Schauplatz werden - auch Bezugnahmen auf den Tachismus oder das Action Painting an. 37 Wurde bereits darauf hingewiesen, dass in den ersten Szenen der Aufführung von der Regie und Ausstattung Sensibilisierungsprozesse motiviert werden, die gleichermaßen für die Künstler und das Publikum den Theaterrahmen bzw. die Bühnensituation schrittweise erfahrbar machen und dabei das Verwandlungsspektrum der Darsteller glaubwürdig bewusst gemacht wurde - wobei die Kunst darin liegt, sowohl die in der Spielvorlage thematisierte (corporale) Unfreiheit als auch die darstellerische Freiheit der Akteure zum Ausdruck zu bringen - fungiert diese Bewusstmachung, wie auch in aktionistischen Formen der Körperkunst, als Vorraussetzung für den Versuch der Wiederherstellung eines autonomen (politisierten) Körpers. Verfolgen wir den weiteren Verlauf der Aufführung und behalten dabei die Körper- und Materialaktionen der Wiener Aktionisten, die - trotz divergierender ästhetischer Strategien - den Körper als “ Aktionsraum ” verstehen, im Hinterkopf und beziehen den Körperraum-Begriff Maurice Merleau-Pontys in die Analyse mit ein: “ Die Räumlichkeit des Leibes ist die Entfaltung seines Leibseins selbst, die Weise, in der er als Leib sich realisiert ” . Damit motiviert der Phänomenologe eine doppelte Denkbewegung, indem er davon ausgeht, dass sich der Körper als Raum und als Körper im Raum konstituiert und daran anknüpfend zwischen einer “ Situationsräumlichkeit ” (des Körpers) und einer “ Positionsräumlichkeit ” (der Dinge) differenziert. 38 Nachdem sich der Streit um die Rolle des Königs im Reich der Tiere zugespitzt und sich die jeweiligen Lager herauskristallisiert haben, ruft die Antilope den ersten dramatischen Höhepunkt des ersten Aktes auf: Die Steppe brennt. Die Tiere fliehen, aber die Flammen sind schneller, der Wind treibt das Feuer immer weiter. Das Reich der Tiere steht in Flammen, und die Flammen jagen schneller über die Steppe als die Antilope und die Ginsterkatze springen können, schneller als der Marabu fliegen kann, schneller als das Zebra, schneller als der Löwe, die Gefahr kommt näher. 39 Darauf berichten der Marabu, das Zebra und der Löwe über den Fluchtverlauf, wobei sich zeigt, wie das Moment des Erzählens und Spielens zusammenarbeitet. Laufen die Schauspieler in Panik durch den Raum um schließlich über den rettenden Fluss überzusetzen, so erinnern diese Szenen durch ihre spielerisch-naive Darstellung an ein erwachsenes Kinderspiel, das deswegen so frei und grenzenlos erscheint, da die Spielillusion durch das bewusste Offenlegen der Theatermittel bzw. durch das Vertrauen auf die scheinbar begrenzten reinen darstellerischen Mittel gebrochen und die Aufmerksamkeit auf die Herstellung sowie die Entfaltung der Spielsituationen gelenkt wird. 40 Schimmelpfennig potenziert die Situationsgebundenheit der einzelnen Spielereignisse gerade dadurch, dass er diese abrupt abbricht und durch die Einfügung von Szenenfolgen, die nicht zum eigentlichen Stoff der Show gehören, aber die Konflikte auf einer anderen Ebene ausbauen, zerlegt. So hören wir zunächst durch wechselnde (sich selbst ver- 109 Freiheit durch Verwandlung(en) körpernde) Erzähler, wie das Zebra den wasserscheuen Löwen auf dem Rücken über den Fluss trägt, dabei von einem Krokodil bedroht wird, verfolgen darauf einen Monolog von Frankie (Skizze für ein eigenes künstlerisches Projekt) und werden Zeuge von einem Dialog zwischen Sandra und Dirk (Dirks Nackenverletzung), um dann die Szene nachträglich spielerisch vorgeführt zu bekommen, indem Falk Rockstroh Ernst Stötzner auf seinen Rücken aufsteigen lässt und ihn einige Meter durch den Raum trägt. 41 Nach einem erneuten Perspektivwechsel, hier bekundet Isabel ihre Abneigung gegenüber der Nachfolgeproduktion, erfahren wir vom Marabu, wie der Löwe mit einem Tatzenhieb das heranschwimmende Krokodil erschlägt und dieses auf das Bett des Flusses sinkt. Interessant ist nun die szenische Umsetzung und das damit verbundene Verwandlungsmoment von Wolfgang Michael, der sich über sein Marabu-Kostüm grüne Farbe schüttet, sich bäuchlings auf ein Rollbrett legt, Richtung Zebra und Löwe steuert, nach seiner erfolglosen Attacke tödlich getroffen zusammensackt, rote Farbe auf seinen Körper gießt und in dem Moment aus seiner zweiten Tierrolle springt und aufsteht, als er seinen Tod selbst in Frage stellt: “ Aber wenn der Löwe das Krokodil nicht getötet hätte- ” . 42 Die skizzierten Szenen deuten an, wie die Verwandlungsmomente seitens des Autors, der Regie und Ausstattung durch die Künstlichkeit, Transparenz und die dazwischen geschalteten Szenen in der Schwebe gehalten werden und wie die Darsteller immer wieder mit einfachsten Mitteln spielerisch neue (Vorstellungs-)Räume öffnen, in denen sich ästhetische Erlebnisse als Realerfahrungen ablagern, die weniger plotbzw. figurengebunden interpretativ erschlossen als sinnlich erfahren werden wollen. 43 Dass dabei vor allem die mehrsprachigen Körper im Zentrum stehen, zeigt, dass sich an diesen jeweils ihre leibgebundenen Geschichten spurenreich ansammeln, die durch neue Farbaufträge überschrieben werden können, wobei die alten Farbschichten nicht beseitigt werden und somit durchschimmernd in Erinnerung bleiben. Die bewusst herbeigeführten bzw. zwangsläufig eintretenden Abnutzungserscheinungen der nicht-textilen Kostüme - sei es durch das Spiel, indem die Schauspieler durch Kontakte mit den Wänden oder dem Boden Farbabbdrücke hinterlassen und Farbe verlieren, die schwitzenden Körper durch Berührungen untereinander Farben austauschen oder die Farben auf den Körpern austrocknen und verblassen - motivieren einen szenischen, d. h. körper-räumlichen Diskurs, der die jeweiligen Subjektkonstitutionen und deren Raum- und Zeitgebundenheit hinterfragt sowie ästhetisch kommentiert. Zentral erscheint hier insbesondere die Offenlegung der im Verlauf der Aufführung zunehmend unter den Farben durchschimmernden Haut der Akteure, die im Zusammenspiel mit den Bewegungsprozessen der Schauspieler ein Spannungsfeld erschließt, das sowohl die Körperoberflächen als auch die “ Fleischwerdung ” (in der Tiefe) der Körper einschließt womit die Körper im Sinne Jean Luc Nancys authentisch “ in der Gegenwart ankommen ” und nur im “ Plural ” zu fassen sind. 44 Die Dichte der Pluralität der Corporalität wird in der Aufführung auch dadurch potenziert, dass die von den Körpern ausgehende phänomenologisch-performative Dimension gegenüber der semiotischen Trägerlast signifikant gestärkt wird. 45 Es bleibt damit die Frage offen, inwieweit die Semantisierung des Körpers - trotz ihres erheblichen Abbaus - im Sinne Fischer- Lichtes auf einen “ Effekt ” oder ein “ Nebenprodukt ” zu reduzieren ist. Zu klären wäre ebenso noch genauer, ob sich einerseits die Performativität in der Aufführung im Vergleich zu anderen aktuell im Schauspiel realisierten performativ geprägten Arbeiten nicht differenzierter ausdrückt (da sie sich 110 Stefan Tigges nicht in sich selbst erschöpft) und ob andererseits im Fall der extremen Fokussierung eines performativitätstheoretischen Ansatzes nicht relevante Zeichenprozesse (zu) folgenschwer auf die Hinterbühne verbannt werden. Anders formuliert und konkret auf unser Beispiel bezogen: Jürgen Gosch und Johannes Schütz motivieren gemeinsam mit ihren Schauspielern die bereits von Schimmelpfennig reflektierte Körperdialektik (die (Re-) präsentation der Repräsentation des Körpers), indem sie - mit Helmuth Plessner gesprochen - den Dialog zwischen dem “ Leib-Sein ” und dem “ Körper-Haben ” offen legen, dabei die leiblich-phänomenale Ebene in ihren Konstitutionsprozessen betonen und damit (körperbildliche und -räumliche) Aspekte der Verwandlung sowie Verkörperung spielerisch hinterfragen. 46 Nachdem sich die Tiere über den Fluss gerettet haben und sich der Konflikt um die Machtfrage verschärft hat, kommt es zu einem weiteren spielerischen Höhepunkt. Während einer tödlichen Hetzjagd stürzt das vom Löwen ins Gebirge getriebene Zebra ab, womit der Löwe die Rolle des Herrschers einnimmt. 47 Entleeren die Schauspieler hier den mit Federn gefüllten Karton des Marabu- Darstellers, um den Schneesturm darzustellen und spielen damit einen weiteren Naturraum im Kunstraum, erscheint ihre raumbildende Funktion beim Wechsel vom ersten zum zweiten Akt noch eindrücklicher. Für den zweiten Akt, der in Frankies Wohnung spielt, aber durch drei Monologe unterbrochen wird, 48 räumen die Schauspieler den vorderen Bühnenbereich frei, bringen alle Requisiten nach hinten und stellen sich jeweils mit Stuhl und Spiegel in die Mitte des Raumes um den neuen Spielraum zu begründen. Als Frankie und der zuvor noch nicht aufgetretene Chris (Niklas Kohrt) aus der Tiefe des Raums kommen und Frankie beim gemeinsamen Hereintreten in sein “ Apartment ” das Licht anmacht, signalisiert die Lichtregie durch ein kurzes Black die Pause, worauf die Schauspieler den Raum wieder zurückbauen und die Bühne verlassen. Nach der Pause wird der Vorgang nochmals exakt wiederholt und eine unmittelbar neue Spielenergie sowie Bühnenrealität erzeugt, deren Grad sofort ansteigt, da hier die Raum- und Spielsituation erst wieder modelliert werden muss und die Schauspieler nicht in einen fixen Raum gestellt werden bzw. einen Raum behaupten müssen, den sie vor der Pause spielerisch hergestellt hatten. Die ästhetische Grundhaltung, Theater als “ offenes System ” zu verstehen, setzt sich auch in einer Sequenz gegen Ende der Aufführung fort, in der die Darsteller auf den Beginn der Vorstellung verweisen, schrittweise ihre Maske bzw. ihr Kostüm ablegen und sich rückverwandeln. Nachdem die Schauspieler Duschen im Raum installiert, die Wasserhähne aufgedreht und sich eingeseift haben, waschen sie sich jeweils solange bis sie die letzten (Farb-)Spuren auf ihrer Haut beseitigt haben um sich dann abzutrocknen und in Bademäntel zu schlüpfen, die sie sich bereits in Pausen ihrer Show übergezogen hatten. 49 Interessant ist hier erneut die Erfahrung der unmaskierten Realzeit - die Schauspieler nehmen sich von Aufführung zu Aufführung nach ihrem persönlichem Empfinden die Zeit, die sie benötigen - als auch die Authentizität der handelnden Körper sowie die zeitlich leicht versetzten Entwandlungsbzw. Rückverwandlungssprozesse (von der Tierzur Schauspielerfigur zum “ Performer ” ), die sich trotz des Theaterrahmens jeweils natürlich vollziehen und wiederum dazu beitragen, den Grad der Theatralität ästhetisch zu unterdrücken bzw. dramatisch abzubauen. Es geht hier weder um das Ausstellen von immer ungeschützteren nackten Körpern, die Bloßstellung von privaten, möglicherweise peinlich wirkenden (nicht-perfekten) Schauspieler-Körpern, die Produktion von Schamgefühlen noch um das Auslösen einer Provokation. 50 Stattdessen wohnen wir im Sinne der Spiel- und Ausstattungsästhetik einer reflexiven Offenlegung der, ihre eige- 111 Freiheit durch Verwandlung(en) nen Wege gehenden Körper und Leiber bei, die auch deswegen in ihrer Logik so frei bestimmt erscheint, da diese von Beginn an in ihrer Pluralität hervorgehoben und in ihrer Relationalität verhandelt wurde. Als die Schauspieler ins Foyer abgegangen und einige Zuschauer bereits vom Ende der Vorstellung ausgegangen sind, kommt es im Schlussbild zu einer letzten kollektiven Verwandlung, die hier nicht einsichtig für die Zuschauer ist. 51 Nach und nach kommen die Schauspieler auf die Bühne zurück, formieren sich in ihren Ganzkörperkostümen wie ephemere ready mades für “ Der Garten der Dinge ” in einer Reihe frontal zum Publikum, wobei sich das Spiegelei und das Toastbrot der Regieangabe entsprechend leicht aneinander reiben und die Ketchupflasche rote Flüssigkeit verliert bis sich alle Darsteller die Kostüme vom Leib reißen und diese dabei zum Teil bewusst zerstören. Auch wenn das hier ausnahmsweise verheimlichte Verwandlungsmoment möglicherweise technisch bedingt ist - die zuvor nicht eingesetzten aufwendigen und sperrigen Kostüme wären im Bühnenraum zu dominant gewesen - spricht nicht nur das ausgelöste Überraschungsmoment für diese ästhetische Setzung. Entsprechend der künstlerischen Unfreiheit, die jedem körperlosen bzw. “ vergegenständlichten ” Schauspieler-Objekt den letzten künstlerischen Atem raubt und in der neuen Produktion maximal ansteigen wird, sinkt auch der szenische Transparenzgrad - womit die Idee des Theaters als “ offenes System ” definitiv verabschiedet wird. Insgesamt unterstreicht die durch-schaubare Aufführung, in der konsequent die Illusionszugunsten von Reflexionsräumen abgebaut werden und trotzdem (über die mitspielenden Hautflächen bzw. Körperräume der Darsteller) neue Vorstellungs-Räume erschlossen werden eine erstarkte “ Wiederkehr der Körper ” , 52 womit sich die Darsteller dank ihrer gestiegenen Eigenverantwortung eine potenzierte Präsenz bzw. größere künstlerische (Verwandlungs-)Freiheit erspielen. Anmerkungen 1 Vgl. Schimmelpfennig, Roland. Das Reich der Tiere. Frankfurt am Main, 2006, 45. 2 Vgl. Plessner, Helmuth. “ Zur Anthropologie des Schauspielers. ” Lektionen 3. Schauspielen. Theorie. Ed. Bernd Stegemann. Berlin 2010, 52. 3 Die Laudatio wurde abgedruckt in: Theater heute 6 (2009), 36 - 39. 4 Vgl. dazu: Raddatz, Frank M. “ Authentische Rezepte für ein unvergessliches Morgen. Der Wunsch nach dem Echten in Zeiten globalen Wandels. ” Reality strikes back II. Tod der Repräsentation. Die Zukunft der Vorstellungskraft in einer globalisierten Welt. Eds. Katrin Tiedemann/ Frank M. Raddatz. Berlin, 2010, 139 - 162. Vgl. ebenso: Raddatz, Frank M. “ Die Vertreibung der Dichtung durch das Authentische. ” Das Drama nach dem Drama. Verwandlungen dramatischer Formen in Deutschland nach 1945. Eds. Artur Pelka/ Stefan Tigges. Bielefeld 2011). 5 Gerda Poschmann diagnostiziert entsprechend grundsätzlich: “ Es gibt heute sowohl Regisseure, die sich als Autoren verstehen, als auch Autoren, die im Schreiben bereits Aufgaben der Regie übernehmen. Vgl. Poschmann, Gerda. Der nicht mehr dramatische Theatertext. Tübingen, 1997, 346. 6 Diese noch weiter auszuführende Arbeitsthese habe ich erstmals am Beispiel von Hier und Jetzt entwickelt, wo der Autor eine Raum und Zeit zentrierte szenisch-reflexive Versuchsanordnung entwirft und experimentell mit Narrationsformen spielt. Vgl. Tigges, Stefan. “‘ Der Sprung in der Scheibe, mit dem alles begann ’ . Wort-Regie-Theater. Roland Schimmelpfennigs Hier und Jetzt als polyphone Zeit-Raum-Variation. ” Das Drama nach dem Drama. Verwandlungen dramatischer Formen in Deutschland nach 1945. Eds. Artur Pelka/ Stefan Tigges. Bielefeld. 112 Stefan Tigges 7 Vgl. Schimmelpfennig, Roland. “ Narratives Theater. ” Lektionen. Dramaturgie. Ed. Bernd Stegemann. Berlin, 2009, 315 - 317; hier: 316. 8 Vgl. Schimmelpfennig, Roland. “ Theater ist immer Eskalation. Ein Gespräch mit Uwe B. Carstensen und Friederike Emmerling. ” Trilogie der Tiere. Roland Schimmelpfennig. Frankfurt a. Main, 2007, 229 - 243; hier: 242. Ganz ähnlich äußert sich Johannes Schütz in einem Gespräch mit Siegfried Gohr: “ Man braucht die Kondition, Dinge nicht zu realisieren. Ich glaube nicht, dass das Theater der Ort ist, an dem man andere Orte nachbaut, weil es bereits Ort ist, und im Moment interessiert mich der Ort, der das Theater selbst ist. ” Vgl. Schütz, Johannes. Bühnen. Stages 2000 - 2008. Nürnberg, 2008, 6 - 25; hier: 23. In die gleiche Richtung zielt der Kommentar von Jürgen Gosch: “ Es geht immer um Theater. Das ist der Ort, an dem es spielt. ” Vgl. Jürgen Gosch in einem Gespräch mit Nina Peters, “ Mit Beckett auf dem Abstellgleis. Der Regisseur Jürgen Gosch über Natürlichkeit, Scham und den Sauerstoff des Textes. ” Theater der Zeit 05 (2006), 21 - 26. 9 Vgl. dazu auch Fischer-Lichte, Erika. “ Die Entdeckung des Performativen. Verwandlung als ästhetische Kategorie. Zur Entwicklung einer neuen Ästhetik des Performativen. ” Theater seit den 60er Jahren. Grenzgänge der Neo-Avantgarde. Eds. Erika Fischer-Lichte, Friedemann Kreuder, Isabel Pflug. Tübingen/ Basel 1998, 21 - 91. Fischer-Lichte formuliert hier als Grundthese, dass “ im Theater der westlichen Kultur seit den sechziger Jahren Verwandlung erneut zur zentralen Kategorie seiner Rezeptionsästhetik geworden ist ” und in der “ Performance-Kunst sowie in experimentellen Theateraufführungen ” eine “ Ästhetik des Performativen ” entwickelt wurde, “ für die der Vorgang der Verwandlung grundlegend ” sei. Zentral ist hier u. a. ihr Modell des “ energetischen Körpers ” , mit dem ein “ Abbau des semiotischen Körpers ” einhergeht, womit eine Negation des fixen Status der Verwandlung verbunden ist, was in Schimmelpfennigs Auffassung von “ Theater als offenes System ” mündet: “ Die Verwandlung, welche die künstlerische Performance bewirkt, meint daher auch nicht den Übergang von einem fixierten Status zu einem anderen, sondern die Negation eines jeden fixierten Status; sie intendiert ein Selbst, das sozusagen ständig im Fluß ist, das sich immer wieder neu konstituiert und so permanent wandelt. ” (47). 10 Peter Michalzik erkennt im Thema der Sichtbarkeit ein zentrales Motiv in Schimmelpfennigs Werken und bilanziert, dass es dem Autor seit einiger Zeit gelinge “ mehr Wirklichkeit einzufangen, als mancher Naturalist oder Aufklärer sich träumen lässt ” und attestiert dem Autor eine außergewöhnlich hohe Wirklichkeitsdurchdringung. Somit stellt sich u. a. die Frage, wie Schimmelpfennig das Thema der (Un-)Sichtbarkeit in Das Reich der Tiere weiterentwickelt, wie er im Text selbst Wirklichkeit produziert, das Stück dramatisch transformiert und sich damit der Haltung Jürgen Goschs nähert, der daran arbeitet (un-)dramatisch den “ Sauerstoff des Textes ” in den Schauspielern zu entfalten. Vgl. ebd. und vgl. Michalzik, Peter “ Dramen für ein Theater ohne Drama. Traditionelle neue Dramatik bei Rinke, von Mayenburg, Schimmelpfennig und Bärfuss. ” Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater. Ed. Stefan Tigges, Stefan. Bielefeld, 2008, 31 - 42; hier: 37 - 39. 11 Vgl. Laudatio von Roland Schimmelpfennig. 12 Hierzu zählen insbesondere Darstellungsfragen, d. h. wie die Schauspieler u. a. einen Sturm, ein Schiffsunglück (Was ihr wollt), einen Wald (Macbeth) oder Obstbäume, eine Lammgeburt sowie einen Braten (Wie es euch gefällt) spielerisch darstellen können. 13 Interessant wäre hier auch Jürgen Goschs ersten, 1988 an der Berliner Schaubühne realisierten und von der Kritik fast einstimmig für gescheitert erklärten Macbeth nochmals rückblickend aufzurufen und die jeweilige Spiel- und Aufführungsästhetik zu vergleichen, um damit die danach schrittweise eingetretene ästhetische Gratwanderung bzw. konsequente Weiterentwicklung des Regisseurs genauer zu bestimmen. Hellmut Karasek diagnostizierte damals in seinem Totalverriss im Spiegel - ganz im Gegensatz zum 113 Freiheit durch Verwandlung(en) späteren (ernst zu nehmenden) Rezeptionston - völlig unfreie Schauspieler, die als “ Rekruten mit lächerlichen Kostümen, in einer geschwollenen Diktion und hölzernen Bewegungen und Gesten über den Kasernenhof der Phantasielosigkeit robbten ” , vom “ Theaterfeldwebel Gosch ” ihrer Lebendigkeit und Individualität beraubt wurden und damit Shakespeares Tragödie zu einem “ bleichen ausblutenden Exerzitium bzw. Todesfall ” wurde, womit an der Schaubühne besonders deutlich die “ Symptome einer allgemeinen Krankheit, einer Bleichsucht des Theaters, das sich nicht zum Leben vorwagen möchte ” , zum Ausdruck kamen. Vgl. Karasek, Hellmut. “ Ein Feldwebel schleift Shakespeare. Spiegel- Redakteur Hellmuth Karasek über das Schaubühnen-Desaster mit Goschs ‘ Macbeth ’ . ” Der Spiegel 48 (1988) vom 28. 11. 1988. 14 Peter Michalzik, der die Stücke von Schimmelpfennig sowie deren/ den Inszenierungen von Jürgen Gosch wiederholt zu würdigen wusste und deren ästhetische Avanciertheit differenziert darstellte, soll hier stellvertretend für die negativen Kommentare aufgeführt werden. Michalzik bilanziert in seiner Kritik, dass vom Stück eine “ Banalität ” , eine “ aktive Spaßbemühung ” bzw. ein “ gehobener Schwachsinn ” ausgehen würden, es sich um “ aktive Theatersterbehilfe ” handele, das Theater hier versuche “ die allgemeine und freiwillige öffentliche Infantilisierung mitzumachen ” , um schließlich die Inszenierung als “ kongenial banal ” und den Regisseur als “ Meister der Nackerten ” zu bezeichnen. Vgl. Michalzik, Peter. “ Für den gehobenen Geschmack. Roland Schimmelpfennig witzloses ‘ Reich der Tiere ’ wurde am Deutschen Theater uraufgeführt ” Frankfurter Rundschau. 03. 09. 2007. 15 Besuch bei dem Vater, der erste Teil der Trilogie, wurde von Elmar Goerden im April 2007 am Schauspielhaus Bochum uraufgeführt. Der vom Autor zuerst geschriebene dritte Teil, Ende und Anfang, wurde von Nicolas Stemann im Oktober 2006 im Akademietheater/ Burgtheater Wien uraufgeführt. Im Folgenden wird ausschließlich der zweite Teil der Trilogie untersucht, da die Stücke trotz ihrer thematischen Verbundenheit und einiger wiederkehrender Figuren von Schimmelpfennig bewusst autonom angelegt wurden, formal disparat sind und in meinen Überlegungen die Wechselwirkungen der Zusammenarbeit von Gosch, Schütz und Schimmelpfennig im Zentrum stehen sollen. 16 Vgl. Schimmelpfennig Das Reich der Tiere. Frankfurt am Main, 2007, 37. Ihre Kollegin Isabel verschärft noch den Ton und nennt gleich drei Titel-Alternativen für die neue Produktion: “ Die Misshandlung ” , “ Die Folter ” , “ Das Lager ” . Vgl. Schimmelpfennig 2007, 13 f. Michel Foucaults Analyse der überwachten und unterworfenen Körper ließe sich hier “ frei ” und mit einem ironischen Unterton auf das Kerkersystem des herkömmlichen (Stadt-)Theaters übersetzen, in dem die Schauspieler-Körper immer wieder diszipliniert und ästhetisch abgestraft werden. Vgl. Foucault, Michel. Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. Main, 1994. 17 Schimmelpfennig 2007, 9 f. u. 49. 18 Ähnlich ergeht es auch Frankie, der in seiner Rolle als Zebra für Chris unerkannt bleibt: Frankie: “ Das Stück heißt: Im Reich der Tiere. ” Chris: “ Das habe ich doch gesehen. Heute, vor der Lesung, die haben mir eine Karte besorgt - ich habe dich gar nicht erkannt. Entschuldige, ich habe dich gar nicht wiedererkannt. ” Pause. “ Wer warst du denn- ” Frankie: “ Nicht so wichtig- ” Chris: “ Nein, sag- ” Frankie: “ Ich war das Zebra- ” . Vgl. Schimmelpfennig 2007, 66. 19 Schimmelpfennig 2007, 17 f. 20 Entsprechend lautet Frankies “ Auto-Fiktion ” bzw. “ Auto-Illusion ” : “ Wir haben mal gesagt, wenn das hier vorbei ist, wenn das alles vorüber ist - nach der langen Zeit - dann machen wir etwas ganz anderes. Wenn die hier mal dicht machen. Wenn die uns auf die Straße setzen. Dann denken wir uns selber etwas aus, unsere eigene Geschichte. ” , in: Schimmelpfennig 2007, 32. 21 Vgl. Schimmelpfennig 2007, 32. 22 Dass innerhalb des Theaters nicht nur geistiges Eigentum den Besitzer wechseln kann, zeigt Frankie, der den Rucksack von Chris 114 Stefan Tigges stiehlt, um sich in seiner Wohnung bei dem Autor und Regisseur ins Gespräch zu bringen, dessen Hilflosigkeit auszunutzen und an seiner Karriere zu arbeiten, was ihm letztlich gelingt, indem er eine Rolle in dessen Werbefilm erhält. So wird er schließlich in New York als Modell eine Frau über eine Pfütze tragen, womit sein Gesicht - wenn auch nur in kommerzialisierter Form - als Landschaftsaufnahme endlich identifizierbar wird. Zugleich karikiert Schimmelpfennig mit der Figur von Chris, der seinen Rucksack immer mit auf der Bühne hat, da er den Sicherheitsstandards der Theatergarderoben nicht vertraut, heutige gehetzte und international vernetzte Künstlernomaden, die sich bei dem geringsten Fehltritt - wie dem Verlust ihrer persönlichen Dokumente, Arbeitspläne oder ihres Handys - in Raum und Zeit verlieren und dabei schnell vereinsamen können. 23 Vgl. Schimmelpfennig 2007, 44. 24 Völlig deplatziert erscheint mir dementsprechend die Diagnose von Gerhard Stadelmaier, der diese Subtilität nicht erkennt bzw. den verhandelten Körperdiskurs nicht durchschaut und der Inszenierung eine Fortsetzung der “ Ekeltheater ” -Debatte vorwirft: “ Die Schwabbel- oder Hungerhaken-Schniedelwutz-Anatomie der Schauspieler, das privatest Körperliche, macht aus dem Reich der Tiere, in dem die Schauspieler spielen, wie Schauspieler sich in Wesen einer anderen Welt verwandeln, kein Reich eines Gegenkosmos - sondern buchstäblich ein Reich der Schmiere. Leider auch im übertragenen Sinn. ” Vgl. Stadelmaier, Gerhard. “ Im Reich der Schmiere. Theaterquälerei als Intimitätshorror: Jürgen Gosch inszeniert die Uraufführung des neuen Stücks von Roland Schimmelpfennig in Berlin. ” Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03. 09. 2007. 25 Vgl. “ Warten auf die Wahrheit. Ein Gespräch mit Constanze Becker, Jens Harzer und Ulrich Matthes. ” Theater heute. Jahrbuch. 2008 (92 - 102, hier: 100 f.). 26 Theater heute. Jahrbuch, 2008, 103. 27 Vgl. Waldenfels, Bernhard. “ Architektur am Leitfaden des Leibes. ” Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Ed. Bernhard Waldenfels. Frankfurt a. Main, 1999, 200 - 215; hier 202. 28 Vgl. Schimmelpfennig 2007, 5, 8. 29 Schimmelpfennig 2007, S. 3. 30 Vgl. Anzeige: “ Disneys Der König der Löwen. Hamburg Tipp. ” Mobil. Das Magazin der Deutschen Bahn. 05 (2010), 34. Das sich auf Walt Disneys Zeichentrickfilm aus dem Jahr 1994 beziehende Broadway-Musical Der König der Löwen von Elton John und Tim Rice, in dem sowohl Schauspieler in Tierkostümen (mit technischen Hilfsmitteln) als auch überdimensionale Puppen auftreten, wurde am 31. 7. 1997 im Orpheum Theater in Minneapolis uraufgeführt, darauf im gleichen Jahr an das New Amsterdam Theater an den Broadway in New York verlegt und läuft seit 2006 u. a. am Minskoff Theater. 31 Das reflexive Durchschaubarmachen des Theaters bzw. die Betonung der Realität als Bühnenrealität spielte bereits im “ Bremer Stil ” eine maßgebliche Rolle, womit sich die weiterzuverfolgende Frage stellt, inwieweit der ästhetische Einflussbereich zwischen Wilfried Minks - der unter der Intendanz von Kurt Hübner als Bühnenbildner frühe, wichtige Akzente setzte - und seinem Schüler Johannes Schütz zu bewerten ist bzw. inwieweit Jürgen Gosch sich mit dieser ästhetischen Tradition auseinandersetzt und diese weiterentwickelt. Andererseits ließe sich auch danach fragen inwieweit Jürgen Gosch mit dem Mittel des (reflexiven) Sichtbarmachens der künstlichen Theatermittel nicht auch an seine Theaterästhetik anknüpft, die er zwischen 1980 und 1985 gemeinsam mit Axel Manthey entwickelte, mit dem er in Bremen, Hamburg und Köln insgesamt neun Mal zusammenarbeitete. Zur Zusammenarbeit von Jürgen Gosch und Axel Manthey am Beispiel von Hamlet (Bremen 1980) vgl.: Kaesbohrer, Barbara. Die sprechenden Räume. Ästhetisches Begreifen von Bühnenbildern der Postmoderne. München, 2010, 51 - 64. 32 Ein aktuelles Gegenbeispiel wäre hier z. B. Ivo van Hoves Inszenierung von Molières Der Menschenfeind an der Berliner Schaubühne (P. 19. 09. 2010, Bühne: Jan Verseweyveld, Video: Tal Yarden), in der wiederholt 115 Freiheit durch Verwandlung(en) Einblicke in die Garderobenräume der Schauspieler bzw. die Maske gewährt werden, sich darin Spielszenen fortsetzen, indem von den Akteuren eine Rolllade hoch- und heruntergezogen wird, aus dem (behaupteten) Hinterraum zusätzlich Videobilder projiziert werden und (pseudo-)private Momente der Schauspieler in das Spiel integriert werden. 33 Brian O ’ Doherty berücksichtigt in seinen Reflexionen über den Bedeutungs- und Funktionswandel der white cube ebenso institutionelle sowie ökonomische Dimensionen und bilanziert u. a., dass die klinisch weiße Zelle mit ihrem gleißenden Licht jede Ausstellung in eine Warenpräsentation verwandeln könne, Kunst somit zu einem Objekt der universalen Tauschbarkeit degradiert würde und die weiße Zelle wiederholt Gefahr laufe zu einem Raum ohne Ort zu mutieren. Übersetzt man diese Lesart auf den Bühnenraum von Das Reich der Tiere, ließe sich entsprechend der vorangestellten Lesart folgern, dass Schütz hier die Form der white cube aufruft und bewusst eine Ästhetik wählt, die die kaum identifizierbaren, subjektlosen Schauspieler-Figuren und ihre finale Materialisierung bzw. Vergegenständlichung vergrößernd ausstellt. Vgl. O ’ Doherty, Brian. “ Der Kontext als Text. ” In der weißen Zelle. Inside the white cube. Eds. Wolfgang Kemp/ Markus Brüderlin, Berlin, 1996, 70 - 98. 34 In mir vorliegenden 2009 geführten und unveröffentlichten Gesprächen zwischen Jürgen Gosch, Johannes Schütz und Roland Schimmelpfennig betont der Regisseur sein Interesse an den Arbeiten (und Gesprächen) von Lucian Freud und Francis Bacon. Dies betrifft insbesondere die Frage der wahren, entfesselten Darstellung der (nackten) Körper, deren individueller konzentrierten Augenblicksbzw. Situationsgebundenheit sowie Fragen des Verhältnisses von Lebendigkeit und Künstlichkeit. Eine geistige Nähe belegt bereits Freuds folgende Vorstellung: “ Es interessiert mich nicht, etwas im Hinblick auf einen symbolischen oder übertragenen Sinn oder Ähnliches zu malen. Das Langweiligste, was man über ein Kunstwerk sagen kann, ist, finde ich, dass es zeitlos ist. ” Vgl. Lucian Freud im Gespräch mit Sebastian Smee, in: Holborn, Mark. Lucian Freud im Atelier. München, 2006, 11 - 42, hier: 33. Es verbleibt somit die Aufgabe - speziell in körperzentrierten Arbeiten von Gosch - weitere Spuren, Verweise und ästhetische Befruchtungsmomente herauszuarbeiten. 35 Vgl. Stich, Sidra. “ Anthropometrien ” Yves Klein. Katalog zur Ausstellung im Museum Ludwig, Köln und der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen. Ed. Sidra Stich. Düsseldorf, 1994, 171 - 192. 36 Vgl. Marschall, Brigitte. Politisches Theater nach 1950. Wien/ Köln/ Weimar, 2010, 421. Vgl. auch Tigges, Stefan. “ Die Haut als Bühne - der Körper als Aktionsraum: Jürgen Gosch und Johannes Schütz sezieren Shakespeares Macbeth. ” Politik mit dem Körper. Performative Praktiken in Theater, Medien und Alltagskultur seit 1968. Ed. Friedemann Kreuder/ Michael Bachmann. Bielefeld, 2009, 251 - 270. Hier habe ich in Form einer ersten Annäherung versucht, die Spiel- und Ausstattungsästhetik von Jürgen Gosch und Johannes Schütz mit spezifischen künstlerischen Strategien der Wiener Aktionisten zusammenzudenken. 37 Vgl. hierzu auch Jahraus, Oliver. Die Aktion des Wiener Aktionismus. Subversion der Kultur und Disponierung des Bewusstseins. München, 2001. 124. In der von Gosch und Schütz am Düsseldorfer Schauspielhaus realisierten Arbeit von Was ihr wollt (2007) wird eine Bezugnahme auf Formen der aktionistischen Malerei überaus deutlich, indem ein Schauspieler zu Beginn der Aufführung minutenlang eine gold glänzende Bühnenhinterwand schwarz anstreicht, wiederholt mit dem materiellen, spatialen und temporalen Moment des Raumes gespielt wird, was so weit führt, dass die Schauspieler (und Bühnenarbeiter) zur Pause die gesamte Wand abwaschen und in ihren ursprünglichen Zustand zurückführen bis sie später z. T. wieder mit Farbe beschüttet wird. 38 Vgl. Merleau-Ponty, Maurice. Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin, 1974, 179 u. 125. Vgl. auch Jahraus 2001, 231. 116 Stefan Tigges 39 Vgl. Schimmelpfennig 2007, 30. Die jeweiligen Lager bzw. tierischen Verhaltensmuster setzen sich auch in Spielpausen des Ensembles fort, indem die Darsteller entweder vegetarische Snacks, wie einen Salat (Zebra) zu sich nehmen oder wie der Marabu als Aasfresser Hähnchenknochen abnagt. 40 Wie ein spielästhetischer Meta-Kommentar von Schimmelpfennig klingt auch der Kommentar von Chris, der als Autor und Regisseur für seine Arbeit “ Der Garten der Dinge ” fordert: “ Es geht um die Situation [Hervorhebung S. T.]. Was da passiert. Was die machen. ” Vgl. Schimmelpfennig 2007, 73. 41 Im 8. Bild des ersten Aktes heißt es: Der Marabu: “ Da erreichen die Tiere einen breiten Fluß. Schon nimmt ihnen der Rauch den Atem. Kommt doch, kommt doch, ruft der Marabu, der bereits über dem Wasser flattert, kommt doch, und dann stürzen sich die Gazelle und die Antilope ins Wasser, die Giraffe und die Ginsterkatze, die Mäuse, die Schlangen und der Skorpion, das Nashorn und der Elephant. ” Das Zebra: “ Nur das Zebra bleibt am Ufer zurück, achtsam besorgt, dass auch jedes Tier den Sprung in das rettende Wasser wagt - die Spinnen, der Vogel Strauß ” Der Löwe: “ Und der Löwe bleibt zurückt, denn der Löwe, das wilde Tier, kennt, anders als das Zebra, die Furcht. Der Löwe fürchtet die Peitsche des Menschen, der ihn sich im Zirkus Untertan machen kann, und der Löwe fürchtet das Wasser, denn er kann nicht schwimmen. ” Das Zebra: “ Spring auf, ruft das Zebra zu dem Löwen, zu seinem schlimmsten Feind, ich trage dich auf die andere Seite. Ich schwimme mit dir auf die andere Seite. ” Schimmelpfennigs Szenenanweisung für das 11. Bild lautet schlicht: “ Kurze Musik. Die Tiere. Das Zebra trägt den Löwen über den Fluß. Ein Krokodil kommt näher. ” Vgl. Schimmelpfennig 2007, 30, 36. 42 Vgl. Schimmelpfennig 2007 39. 43 Otto Muehl verfolgt mit dem Prinzip der totalen Transparenz zumindest in dieser Hinsicht ein identisches ästhetisches Ziel: “ [. . .] ab sofort wird dem publikum nichts mehr vorgemacht. alles was es gibt, wird direct (sic) hergestellt. ” Vgl. Muehl, Otto. Mama & Papa. Materialaktionen 63 - 69. Frankfurt a. Main, 1969. 11. Zitiert nach: Gorsen, Peter. “ Der Wiener Aktionismus in seinen Festen des psychophysischen Naturalismus. ” Wiener Aktionsismus. Sammlung Hummel Wien. Eds. Julius Hummel/ Edizioni Mazzotta. Milano, 2005, 77 - 90, hier: 77. 44 Vgl. Nancy, Jean Luc. “ Verklärter Leib. ” Corpus. Jean Luc Nancy. Berlin, 2003, 57. 45 Vgl. dazu auch Klein, Gabriele. “ Das Theater des Körpers. Zur Performanz des Körperlichen. ” Soziologie des Körpers. Markus Schroer. Frankfurt a. Main, 2005, 73 - 81. Gabriele Klein zeichnet hier u. a. die Geschichte des Abbaus der semiotischen Trägerlast des Körpers nach, entwickelt den Begriff der “ Doppelgesichtigkeit des Körpers ” , fragt nach der Handlungskompetenz des Körpers, wenn diesem eine Subjektposition eingeräumt wird und bilanziert im Kontext des Zusammenspiels von Performativität und Theatralität: “ Wenn Theatralität die Praxis der Bedeutungsproduktion meint, dann lässt sich Performativität als eine Strategie beschreiben, über die Prozesse der Bedeutungsproduktion wirklichkeitskonstituierende Kraft erlangen können. Verkörperung wäre demnach der Modus der Generierung von Praxis, die Semantisierung des Körpers wäre ihr Effekt. ” (83). Erika Fischer-Lichte beleuchtet die Relation von Theatralität und Performativität aus einem anderen Blickwinkel und unterscheidet zunächst zwischen den historischen und Neo-Avantgarden. Während für sie die historischen Avantgarden Performativität als Weg und Theatralität als Ziel wählen, ändert sich bei den Neo-Avantgarden die Strategie, indem nun Theatralität als Weg und Performativität als Ziel fungieren. Im Rahmen ihrer Aufwertung der Kategorie des Performativen unterstreicht Fischer-Lichte das Moment der “ metamorphotischen Konstellation ” deren Dynamik im vergrößerten Verwandlungsspektrum in Das Reich der Tiere nachvollziehbar wird: “ Wie auch immer, die Konstellation von Theatralität und Performativität enthüllt sich als eine per se metamorphotische Konstellation: Sie setzt voraus und begründet zugleich Verwandlung als 117 Freiheit durch Verwandlung(en) eine grundlegende theatrale und ästhetische Kategorie. ” Vgl. Fischer-Lichte, Erika. “ Verwandlung als ästhetische Kategorie. Zur Entwicklung einer neuen Ästhetik des Performativen. ” Theater seit den 60er Jahren. Grenzgänge der Neo-Avantgarde. Eds. Erika Fischer-Lichte/ Friedemann Kreuder/ Isabel Pflug. Tübingen, 1998, 89. 46 In neueren Überlegungen plädiert Erika Fischer-Lichte noch stärker für phänomenologisch geprägte Positionen, indem sie die Relation des “ phänomenalen Leibs ” und des “ semiotischen Körpers ” reflektiert und folgert, dass der phänomenale Leib bisher in kulturwissenschaftlich geprägten Untersuchungen von Aufführungen zugunsten des semiotischen Körpers “ praktisch ausgeblendet ” wurde obwohl beide “ unlösbar miteinander verknüpft ” sind, wobei, so Fischer-Lichte “ der phänomenale Leib durchaus ohne den semiotischen Körper ” gedacht werden könne, “ das Umgekehrte aber nicht möglich ” sei. In einem nächsten Schritt bezieht Fischer-Lichte mit dem Begriff der Verkörperung (embodiment) beide Momente unmittelbar aufeinander: “ Vielmehr meint der Begriff der Verkörperung diejenigen körperlichen Prozesse, mit denen der phänomenale Leib sich immer wieder selbst als einen je besonderen hervorbringt und damit spezifische Bedeutungen erzeugt. [. . .] Das Konzept der Verkörperung erweist sich noch in anderer Hinsicht als folgenreich für die Kulturwissenschaften. Er setzt den Jahrtausende gültigen Dualismus von Leib- Seele, Körper-Geist/ Bewusstsein außer Kraft. Denn es verdeutlicht, dass es Geist bzw. Bewusstsein nicht außerhalb des Körpers geben kann, dass Geist nur als ein in diesem Sinne verkörperter zu denken und zu haben ist. Der Mensch ist nicht aus dem Dualismus von Körper und Geist zu begreifen, sondern nur als verkörperter Geist, als embodied mind. ” Vgl. Fischer-Lichte, Erika. “ Theatralität als kulturelles Modell. ” Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften. Eds. Erika Fischer-Lichte/ Christian Horn/ Sandra Umathum/ Mathias Warstat. Tübingen und Basel, 2004, 7 - 26, hier: 20. Vgl. auch: Fischer-Lichte, Erika. “ Vom Theater als dem Paradigma der Moderne zu den Kulturen des Performativen. Ein Stück Wissenschaftsgeschichte. ” Theater als Paradigma der Moderne? Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter. Christopher Balme/ Erika Fischer-Lichte/ Stephan Grätzel. Tübingen und Basel, 2003, 15 - 32. Der Phänomenologe Bernhard Waldenfels bezieht sich ebenso auf Plessner und spricht von der “ Doppeltheit unseres Leibes, der als Leib eine Welt eröffnet und vermittelt, in der er zugleich als Körper vorkommt ” . Interessant ist nun auch das Modell der “ Selbstverdoppelung eines leiblichen Wesens ” das nach Waldenfels “ zugleich sieht und gesehen wird oder berührt und berührt wird ” , wiederum einer “ räumlichen Verdopplung ” entspricht und für eine noch komplexere Aufführungsanalyse fruchtbar sein könnte. Vgl. Waldenfels, Bernhard. Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhafter Erfahrung. Frankfurt a. Main, 2009, 97. 47 In der vierten Szene des dritten Aktes kommt es zu einer erneuten Verwandlung eines Tieres, indem nach dem Ausfall des Zebra-Darstellers - Frankie hat das Ensemble verlassen um in einem Werbespott von Chris in New York mitzuspielen, weswegen die Rolle in der auslaufenden Show nicht neu besetzt wird - Wolfgang Michael als Marabu den Löwen über den Fluss trägt und Kathrin Wehlisch als Ginsterkatze die Rolle des Krokodils übernimmt. Schimmelpfennig kommentiert diesen Rollenwechsel zusätzlich ironisch über den Löwendarsteller Peter: “ Das glaubt doch keiner. ” Vgl. Roland Schimmelpfennig, Das Reich der Tiere, 2006, S. 91. 48 Die nicht unmittelbar aufeinander folgenden drei Monologe (Marabu, Peter, Antilope) üben verschiedene Funktionen aus. Einerseits wird durch die eingebauten Störungen ein sich einstellender zu fixer Spiel-Illusionsgrad sowie eine zu autonome (psychologisierte) Figurwerdung von Frankie und Chris unterbunden. Andererseits werden durch die Kommentarfunktionen auslösenden Einblendungen bzw. durch die sprungartigen Perspektivwechsel die Machtdiskurse szenisch verdichtet und ineinander geblendet kurzgeschlossen. So sprechen der Marabu 118 Stefan Tigges und die Antilope ihre Monologe im 2. bzw. 6. Bild jeweils in der dritten Person und erzeugen durch ihre an Brehms Tierleben angelehnte Charakterisierungen einen weiteren Rollenzwischenraum, den die Schauspieler und das Publikum hier gleichermaßen reflexiv betreten: Der Marabu: “ Der Marabu ist ein Tier, das trotz seiner Größe immer in Angst lebt. [. . .] Der Marabu hat neben dem chilenischen Condor die größte Spannweite aller Vögel, mehr als ein Adler. [. . .] Aber er ist kein Jäger. Der Marabu ist ein Aasfresser. Und deshalb weiß er nicht, zu wem er gehört. Er nagt die verwesenden Knochen ab, die andere Tiere übriggelassen haben. ” Die Antilope: “ Die Antilope lebt in scheinbarem Frieden, aber in Wahrheit lebt sie, wenn sie mit ihrer Herde in der Weite der Steppe grast, in ständiger Angst, denn eine Vielzahl von Tieren ist auf der Jagd, um sie, das herrliche Geschöpf, zu erlegen, sie wird immer gejagt, sie ist in jedem Moment ihres Lebens in Gefahr. ” Unmittelbar daran anschließend werden nochmals die beiden Spielräume kurzgeschlossen, indem die Antilope Frankies Widersacher, d. h. den Löwen- Darsteller Peter küsst, mit dem sie eine Affäre hat(te). Vgl. auch Schimmelpfennig, 2006, S. 60 u. 78. Zugleich wird hier auch die binnendramatische zeit-räumliche Logik zugunsten des spielästhetischen Diskurses außer Kraft gesetzt, indem in die nächtliche Szene in Frankies Wohnung Figurenanalysen der an der Show beteiligten Kollegen projiziert werden, die während ihrer Monologe auf der “ Bühne ” aus ihren Rollen gleiten, ihre Kostüme aber anbehalten und im Hier und Jetzt agieren, obwohl das Publikum diese zeitlich mehr oder weniger noch in der Abendshow situiert. 49 Währenddessen kommt es nochmals zu persönlichen Dialogen zwischen einigen Schauspielern, die ihre Sorgen um ihre künstlerische Zukunft sowie materielle Absicherung zum Ausdruck bringen, über Umschulungsoptionen nachdenken aber auch familiäre Probleme ansprechen. Interessant ist hier einerseits die sich einstellende Privatheit der Schauspieler-Figuren, die während der intimen kollektiven Duschszene jedoch nicht voyeuristisch vergrößert werden. Andererseits richtet sich die Aufmerksamkeit des Publikums zunehmend auf die realen Performer, die nach der fast dreistündigen Aufführung erschöpft sind, kurz vor Vorstellungsende ihre doppelten Rollen abstreifen und jeweils individuell schrittweise aus der Vorstellung aussteigen. 50 Vgl. dazu auch: Traub, Ulrike. Theater der Nacktheit. Zum Bedeutungswandel entblößter Körper auf der Bühne seit 1900. Bielefeld, 2010. Die Autorin kommt in ihrer wenig hilfreichen Studie zu dem fragwürdigen Ergebnis, dass sich bei einer “ chronologischen Betrachtung der Nacktheit auf der Bühne eine tendenzielle Verschiebung von schön nach hässlich ” bemerkbar mache und sich der “ nackte Leib hauptsächlich auf zwei Weisen inszenieren ” ließe: “ [. . .] idealisiert und schön im Sinne der Entindividualisierung oder schonungslos und authentisch, was sich bis in das bewusst Hässliche steigern kann. ” (360). Für Traub erweist es sich nach wie vor als problematisch einen “ nackten, naturbelassenen und somit freien Körper zu zeigen ” (359) weswegen die Nacktheit auf der Bühne heute notwendig sei, “ um zu zeigen, wie unfrei der Körper und damit letztlich der Mensch ” sei (366). Dabei greift sie auch auf Arbeiten von Gosch zurück, missversteht dessen Theater wiederholt grundlegend und bilanziert, dass “ durch die Identifizierung des Zuschauers mit dem Körper des Schauspielers wie in Macbeth oder dem Reich der Tiere eine höhere Identifikationsmöglichkeit des Zuchauers mit den Bühnenfiguren ” entstehe, um dann eine weitere ästhetische Fehleinschätzung zu leisten, indem sie diagnostiziert, dass sich “ die Nacktheit in einer Gosch-Inszenierung nach dem Macbeth [. . .] somit dem Anfangsverdacht des Ekeltheaters ” stellen müsse (326). Wesentlich gehaltvoller erscheinen dagegen die Reflexionen von Giorgio Agamben, der zu “ äußerster Nüchternheit ” rät, “ wenn man die Nacktheit von dem Schema befreien will, die sie lediglich als plötzliche Beraubung zu denken erlauben ” und eine zentrale Problematik auf den Punkt bringt: “ Die Nacktheit des menschlichen Körpers ist 119 Freiheit durch Verwandlung(en) sein Bild, also das Erzittern, das ihn erkennbar macht, ohne dass er deshalb fassbarer würde. ” Vgl. Agamben, Giorgio. Nacktheiten. Frankfurt a. Main, 2010, 110, 138. 51 Roland Schimmelpfennig tendiert in seinen letzten Regieanweisungen wohl eher für eine offene Form der schauspielerischen Verwandlung: “ Sobald sie mit dem Duschen und dem Abtrocknen fertig sind, beginnen die vier sich neue Kostüme anzuziehen. Peter steigt in ein Spiegelei-Kostüm, Dirk wird zu einer Ketchupflasche, Typ “ Squeeze ” , Isabel hat ein Pfeffermühlen-Kostüm, das wie die anderen Kostüme auch nicht ganz leicht anzuziehen ist, das Kostüm, das Sandra anzieht, ist DAS TOASTBROT. Anders als die Tierkostüme sind diese Kostüme viel weniger zeichenhaft, viel eindeutiger. ” Vgl. Roland Schimmelpfennig, Das Reich der Tiere, S. 99. Hier wieder: Ist das Schimmelpfennig 2007, 99? 52 Vgl. auch Kamper, Dietmar/ Wulf, Christoph (Ed.). Die Wiederkehr des Körpers. Frankfurt a. Main, 1982. 120 Stefan Tigges