eJournals Forum Modernes Theater 26/1-2

Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/0601
2011
261-2 Balme

Sehen lassen, was nicht geschah, um gesehen zu werden

0601
2011
Constanze Schellow
Das postdramatische Theater, verstanden als eine “bestimmte”, nicht eine “abstrakte” Negation des Dramatischen, ist, so Christoph Menke, gekennzeichnet durch eine Einsicht in die strukturelle Differenz zwischen Spiel und Handeln, Theater und Praxis (Menke). Im Diskurs über zeitgenössischen Tanz wird “Praxis” etwa zeitgleich mit Menkes Feststellung zu einem zentralen Begriff aufgewertet: Im Umfeld postdramatischer Performance verortete Stücke werden als Diskurs einer Praxis selbst-reflexiver Denkbewegungen beschrieben (Lepecki; Husemann; Sabisch). Vor dem Hintergrund dieses scheinbaren Widerspruchs wird das Verhältnis von Handlung und Spiel in dem seriellen Format walk+talk des Wiener Choreographen Philipp Gehmacher untersucht. Er lädt ChoreographInnen ein, ihre Praxis vor Publikum zu reflektieren, und zwar, indem sie diese performativ ausführen und dabei über sie sprechen. Bisher taten dies u. a. Meg Stuart, Boris Charmatz, Antonia Baehr, Mette Ingvartsen und Martin Nachbar im Wiener Tanzquartier (2008) und den Kaaistudios Brüssel (2011). Auf einer mit minimalen Interventionen präparierten Bühne akkumulieren sich im Lauf jeder Serie, wenn nicht Handlungen, so doch Handhabungen und Lokalisierungen. Sie aktualisieren sich wechselseitig in einem Prozess, der sich anders vollzieht als zeitlich linear und räumlich konsistent: relational (Löw) und durational (Bergson). Was so vorgeschlagen wird, so die These, ist eine Neu-Be-Gründung von Bewegung im Theaterraum.
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Sehen lassen, was nicht geschah, um gesehen zu werden Das choreografisch-diskursive Format “ walk+talk ” von Philipp Gehmacher Constanze Schellow (Bern) Das postdramatische Theater, verstanden als eine “ bestimmte ” , nicht eine “ abstrakte ” Negation des Dramatischen, ist, so Christoph Menke, gekennzeichnet durch eine Einsicht in die strukturelle Differenz zwischen Spiel und Handeln, Theater und Praxis (Menke). Im Diskurs über zeitgenössischen Tanz wird “ Praxis ” etwa zeitgleich mit Menkes Feststellung zu einem zentralen Begriff aufgewertet: Im Umfeld postdramatischer Performance verortete Stücke werden als Diskurs einer Praxis selbst-reflexiver Denkbewegungen beschrieben (Lepecki; Husemann; Sabisch). Vor dem Hintergrund dieses scheinbaren Widerspruchs wird das Verhältnis von Handlung und Spiel in dem seriellen Format walk+talk des Wiener Choreographen Philipp Gehmacher untersucht. Er lädt ChoreographInnen ein, ihre Praxis vor Publikum zu reflektieren, und zwar, indem sie diese performativ ausführen und dabei über sie sprechen. Bisher taten dies u. a. Meg Stuart, Boris Charmatz, Antonia Baehr, Mette Ingvartsen und Martin Nachbar im Wiener Tanzquartier (2008) und den Kaaistudios Brüssel (2011). Auf einer mit minimalen Interventionen präparierten Bühne akkumulieren sich im Lauf jeder Serie, wenn nicht Handlungen, so doch Handhabungen und Lokalisierungen. Sie aktualisieren sich wechselseitig in einem Prozess, der sich anders vollzieht als zeitlich linear und räumlich konsistent: relational (Löw) und durational (Bergson). Was so vorgeschlagen wird, so die These, ist eine Neu-Be-Gründung von Bewegung im Theaterraum. This is not a lecture. Don ’ t trust my words. (Oleg Soulimenko) Es gäbe keine besseren ersten Worte für einen Text über walk+walk als die ersten Worte von walk+talk #1 von Oleg Soulimenko. Sie scheinen eine Antwort auf die Frage zu geben, was von diesem, von dem Choreographen und Tänzer Philipp Gehmacher konzipierten Format zu erwarten ist. Kein Vortrag, glaubt man Soulimenko. Der Sprecher selbst rät davon, ihm zu glauben, ab. Andererseits: Traut man seinen Worten also nicht, denen zufolge dies keine ‘ Lecture ’ ist - worauf anders gründet sich unser begründetes Misstrauen dann als auf seine Worte? Alle mit (Namen) markierten Aussagen sind meinen Notizen zu den Performances und den Videoaufzeichnungen der walk+talks #1-#10 entnommen. Im März 2008 lud Gehmacher neun Choreographinnen und Choreographen ein, sich im Tanzquartier Wien in einem für alle gleichen räumlichen Setup mit zentralen Triebkräften und Parametern ihrer künstlerischen Arbeit in actu zu befassen. Die Herausforderung bestand in der Vorgabe, die im Titel mit “ walk ” und “ talk ” benannten Spielarten von Reflexion dabei möglichst eng geführt anzuwenden: Sprache und physische Performance, Reden und Tun. Beides verstanden als reflexive Äußerungen über eine tänzerisch-performative Praxis im Modus dieser Praxis selbst. Teil nahmen damals in der Reihenfolge ihres Auftretens an fünf je zweiteiligen Abenden wichtige Akteure des zeitgenössischen Tanzes in Europa: Oleg Soulimenko, Meg Stuart, Gehmacher selbst, Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 169 - 180. Gunter Narr Verlag Tübingen Antonia Baehr, Rémy Héritier, Sioned Huws, Boris Charmatz, Jeremy Wade, Milli Bitterli und Anne Juren. Im Februar 2011 gab es in den Studios des Kaaitheaters Brüssel eine Fortsetzung u. a. mit Martin Nachbar und Mette Ingvartsen. Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen ist die erste Version in Wien. Zur Diskussion gestellt werden soll die Frage, inwiefern es sich bei walk+talk um mehr als eine Serie von Lecture Performances oder Improvisationen handelt, nämlich um den choreographisch-diskursiven Prozess einer Neu-Aus-Handlung der Bühne als Spiel- Raum. Why don ’ t you just follow the wall? (Anne Juren) Erika Fischer-Lichte hat den Begriff der Aushandlung im Kontext ihrer Ästhetik des Performativen verwendet, dort bezogen auf die je neu in der Aufführung zu vereinbarenden partizipativen und rezeptiven Anteile im ko-präsenten Verhältnis von Akteuren und Zuschauern. 1 Der hier vorgeschlagene Begriff der Aus-Handlung meint dagegen etwas anderes, nämlich das Handeln als per definitionem aus dem Spiel- Raum Bühne ausgeschlossene Tätigkeit oder sagen wir vorsichtiger: die Spielart eines solchen Handelns. Dabei werden die Begriffe von Handeln und Spiel in walk+talk über spezifische Operationen an den Raum- und Zeit-Dispositiven ‘ Bühne ’ und ‘ Performance ’ in ein verändertes Verhältnis gebracht, ohne ihren strukturellen Gegensatz aufzulösen oder zu überdecken. Pirkko Husemann begründet die etwa um das Jahr 2000 beginnende Etablierung der Lecture Performance als vielgebräuchliches Format in der europäischen Tanzszene mit deren zunehmender Tendenz zur Selbstreflexivität: In einer Zeit, in der Choreographen sich weniger als Autoren eines Werks, denn als “ Initiatoren, Mediatoren und Forscher ” 2 verstünden, setze die choreographische Praxis das Arbeiten selbst als Aufführung in Szene und schaffe so einen “ doppelt kompatiblen Hybrid zwischen (theater-)wissenschaftlichem Diskurs und Theateraufführung ” . 3 Bei aller Skepsis gegenüber der Kategorie der Autorschaft ist der Lecture Performance damit eine charakteristische Ich-Bezogenheit eigen in Gestalt ihrer Rückbeugung auf das jeweilige künstlerische Selbst ihrer Reflexivität, das die Zuschauer vom Meta-Standpunkt seines Interesses aus adressiert. Husemann spricht an anderer Stelle von einer “ gemeinsam geteilten Meta-Reflexion ” . 4 I think about movement with options. (Milli Bitterli) In walk+talk hört man ständig das Wort “ I ” , doch wird hier jede verbale oder nonverbale Äußerung anstelle frontaler Präsentation zu einer raumzeitlichen Geste des Verweisens. Diese Gesten repräsentieren weniger im wörtlichen wie im übertragenen Sinn die Position ihrer AutorInnen im künstlerischen Feld oder im Bühnenraum, als dass sie als wahrnehmende, erinnernde und dabei alles andere als Ichzentrierte Anstrengung einer Verortung zwischen multiplen möglichen Positionierungen lesbar werden. rethinking the mouthspace. (Boris Charmatz) Wenn ich im Folgenden aus dem ‘ talking ’ der walk+talks zitiere, dann nicht, um die Künstler als Fürsprecher in meine Analyse einzuspannen. Seit im Tanzfeld im Zuge der von Husemann benannten Entwicklung Choreographen selbst massiv ihre eigene Theoretisierung oder zumindest Kontextualisierung betreiben - etwa durch die offene Kommunikation philosophischer Einflüsse oder die Veröffentlichung von Texten zur Ethik von Produktionsprozessen - steht die Tanzwissenschaft vor einem Problem. Teilte sie ihr Selbstverständnis als der Ort des analytischen Tanz-Diskurses zuvor allein mit der Tanzkritik, muss sie sich nun auch zu einem von den Künstlern, wie einige Kollegen sagen würden, ‘ inszenierten ’ Diskurs verhalten. This space is very scary to us. (Antonia Baehr) Dabei ist dieses tanzwissenschaftliche Problem nur insofern neu als 170 Constanze Schellow die Disziplin noch nicht lange an ihrer akademischen Institutionalisierung arbeitet. 5 Dennoch scheint ein Format wie walk +talk auf die beschriebene zeitgenössische Tendenz zu verweisen. Gleichzeitig interessiert es sich mehr für das Reflexivwerden in seiner körperlichen Dimension als möglichunmögliche Bewegung als für den Inhalt der auf dem Weg dorthin getroffenen Statements - und es ist damit ein im Kern choreographisches Projekt. Ich habe mich vor diesem Hintergrund für eine Textform entschieden, die die prinzipielle Gleichzeitigkeit der tanzwissenschaftlichen und der künstlerischen Artikulation aufrecht erhält. Beide Ebenen bilden wechselseitig Bezugspunkte füreinander. Sie fungieren dabei weniger als Belege, denn als Unterbrechungen, Perforationen, eben nicht als Fürsondern als Einsprecher. Do you understand me? It ’ s ok. You don ’ t have to get it. (Meg Stuart) Dasselbe gilt für die Diversität und gleichzeitige Aufeinanderbezogenheit der zehn Stimmen innerhalb der Serie. Keine steht (und spricht), so meine These, einfach ‘ für sich ’ . Mich interessieren hier weniger Inhalt und Form der einzelnen Versionen, sondern die Resonanz und Widerständigkeit, die sie innerhalb des gesetzten Rahmens an- und ineinander erzeugen. Ich betrachte walk+talk als ein kollektives choreografisches Gefüge, in dem auf der Bühne wie im Zuschauerraum mit Fragen von Aneignung und Widerstand, Einschreibung und Erinnerung, Geschichtlichkeit, Dauer und Projektion umgegangen werden muss. I. I walk. I walk and. I walk and talk. (Antonia Baehr) Antonia Baehr nimmt sich vor, den Titel beim Wort zu nehmen. Zumindest sagt sie das. Sie geht und spricht dabei aus, dass sie geht und dass sie spricht. Jeden Schritt, jedes Wort regelt der Beat eines Metronoms, das Baehr in der Bühnenmitte platziert hat und um das ihre Umlaufbahnen kreisen. Es dauert nicht lange, und Beat, Wort und Schritt zerfallen mit der Zeit unwillkürlich in ihr. Lücken tun sich auf zwischen der vorgeschriebenen Handlung und ihrer ungenügenden Realisierung. Sie kommen der Performerin mehr als entgegen. In ihrer Arbeit mit Handlungsanweisungen und Scores erhofft sich Baehr ähnliche, mit dem Kollaps von Situationen unter dem Druck überdeterminierter Strukturen auftretende Er-Öffnungen. 6 Imagine that you are crossing the room . . . (Anne Juren) Anweisungen sind deshalb so nützliche Werkzeuge, weil sie sprachlich quasi-materielle und im Austinschen Sinne faktische Realitäten schaffen, zu denen man sich verhalten muss. Handlung und Spiel, Sagen und Tun Das postdramatische Theater, verstanden als eine “‘ bestimmte ’ , nicht eine ‘ abstrakte ’ Negation des Dramatischen ” 7 , ist, so Christoph Menke, gekennzeichnet durch eine postavantgardistische Einsicht in die “ strukturelle Differenz ” 8 zwischen Spiel und Handeln, Theater und Praxis. I spend a lot of time observing my hands. (Meg Stuart) Hinter sich lässt ein solches Theater nicht das Dramatische als solches, wohl aber den dialektischen Rahmen des Projektes der Avantgarden mit seinem Anspruch, “ durch theatrale Selbstreflexion zur Lebenskunst eines experimentellen Selbstverständnisses beizutragen ” 9 : “ Ein postdramatisches Theater, das sich selbst und damit im Verhältnis zur Praxis begreifen will, ist ein Theater, das in sich einen Streit zwischen Handlung und Spiel, zwischen Dramatischem und Theatralem austrägt ” . 10 So kollidiert auch in walk+talk jeder Versuch eines Bewegungshandelns auf der Bühne zunächst mit der 171 Sehen lassen, was nicht geschah, um gesehen zu werden spezifischen Geologie der Spielfläche, dies jedoch im Modus einer Aus-Handlung. And she will press “ Play ” . (Antonia Baehr) Baehrs Ausdruck, als ihr klar wird, dass der falsche Track beginnt, weil sie versehentlich den falschen von zwei Ghettoblastern bedient hat, ist eine der genannten Er-Öffnungen. Sich selbst nun den Weg zum anderen, richtigen Gerät ein zweites Mal laut in aller Kleinteiligkeit vorhersagend - wie sie zur anderen Bühnenseite läuft, die Hosenbeine mit spitzen Fingern anhebt, wie sie in die Hocke geht und die diesmal korrekte Taste drückt - bei alledem ist ihr neben dem Ringen um Konzentration eine erfüllte Irritation anzusehen. Sie kann kaum glauben, dass sie ihren eigenen Spielregeln gerade ‘ wirklich ’ erlegen ist. Projection meets projection, I would say. (Philipp Gehmacher) Es ist dieses Ineinanderführen und Auseinanderbrechen von Sagen und Tun, auf das in walk+talk alles hindeutet. Nicht, um ein weiteres Mal betreten vor Publikum den Spalt zwischen Körper und Intellekt abzuschreiten oder um mit gespieltem Entsetzen die unmögliche Gleichzeitigkeit Ok, watch this! (Meg Stuart) von Materialität und Reflexion in Bezug auf das Ereignis auszusprechen. Schon gar nicht, um die Choreographen sich erklären zu lassen. Klarer wird diese Aufeinanderbezogenheit von Gehen und Sprechen, wenn man Philipp Gehmachers eigene Praxis der “ Äußerung ” (utterance) berücksichtigt, wie er sie in seinen Stücken entwickelt. Diese gestische Äußerung, das sind etwa Bewegungen der Arme, die zwischen Ausholen, Hinweisen, Zeigen, Berühren und dem Vermessen eines Abstandes oszillierend bis indifferent ihren leer laufenden Verweischarakter auf ein Anderes hin ausspielen (die Bühnenwand oder einen Mit-Performer). Sie artikulieren ein physisch-reflexives Vermögen, das in einem uneinholbaren Zwischenraum siedelt, an dem Gehmacher unermüdlich Überbrückungsarbeit leistet: dem der Intersubjektivität. 11 Für Gehmacher liegt hier der Ort der Problematisierung des Subjekts. Would you exchange space with me? (Sioned Huws) Und es geht ihm nicht um ein Gelingen oder Scheitern, sondern um den nicht-resignativen Umgang mit der Vergeblichkeit dieses Projekts. It is interesting to think about limitation. (Milli Bitterli) Seine “ utterance ” veräußert aber immer auch die Frage nach ihrem Potenzial, nach der Möglichkeit, sich hervorzubringen, zu zeigen und mitzuteilen, in einer ständigen sprunghaften Ver-Stellung des einen durch das andere durch das Dritte. Der Zwischenraum als Raum zwischen Räumen wird in walk+talk zuerst durch einen übermächtigen visuellen Eindruck verschlossen. Die Halle G im Wiener Museumsquartier, gebaut als multifunktionale Veranstaltungshalle, wurde für die Raumbearbeitung des Bildenden Künstlers Alexander Schellow entkleidet bis auf die Mauern. Tagelang ließ man Schlaufe für Schlaufe hunderte von Quadratmetern der schweren, schwarzsamtenen Schalldämmungsvorhänge abknoten. Some years ago I was performing here as a dancer. And in the middle of the performance I was exactly here. But at that moment I was kind of . . . hidden. (Rémy Héritier) Das Vorhaben, den nach theatralem Konsensus neutralisierten Raum unverhüllt zu zeigen, stellt die Theatertechnik bei einer Halle dieser Größe vor eine logistische Herausforderung. Letztlich handelt es sich nach ihrer Logik bei dem Entfernen der als feste Einbauten und kaum noch als “ Einrichtung ” wahrgenommenen Verhänge um eine besonders aufwändige Ausstattung. Ein Großteil des Raumbudgets verbrauchte sich so in umgekehrter Richtung: mit dem Wegnehmen, dem Freistellen als inszenatorischer Arbeit und als Kostenfaktor. 172 Constanze Schellow Der Raum als seine eigene Skulptur Der Effekt ist enorm. Und überraschend. Riesenhaft, überpräsent, die Wände geädert von den Zügen, den Arbeitslichtleisten und der Kabelage ist die Halle jetzt sichtbar. Doch was sieht man? The theatre as a nervous system. (Jeremy Wade) Halle G wird zu ihrer eigenen Skulptur. Hinten mittig läuft der Raum aus in eine absurde kleine Bühne auf der Bühne, eine niedrige boxförmige Apsis mit einer hohen Metalltür an der Rückseite, die den Sog seiner Tiefe noch verstärkt. Ästhetisiert wirkt, was eben noch in seiner Funktionalität verborgen war, wie verschwenderische Ornamentik. I want to imagine that this whole space comes and eats me. (Milli Bitterli) Die Halle wird anmaßend. Gefräßig. Die Auseinandersetzung mit Raum, mit diesem konstruierten Raum, findet ihre Fortsetzung in den walk +talks. Sie provoziert unterschiedliche Strategien, nicht nur in Reaktion auf die Architektur, sondern auch auf die Installation, mit der Halle G unter Mitarbeit des Soundkünstlers noid präpariert worden ist. Der mit minimalen Unregelmäßigkeiten in der Bahnenlänge und -breite verlegte Tanzteppich wirft ungehörig einige Falten, die zu störend sind, als dass man sie zufällig übersehen haben könnte. Er zieht sich fast bis an die Ränder und lässt doch eine schmale Umlaufbahn Parkettboden frei. Damit bildet er nicht die übliche komprimiert-symmetrische Tanzflächeninsel, die den Fokus von der Peripherie abzieht, aber er füllt den Raum auch nicht vollständig aus. Boden- und Standmikrofone schaffen, verbunden mit einem System aus Lautsprechern, Zonen mit speziellen Sound-Eigenschaften. 12 To describe is to create. To create is to describe. (Oleg Soulimenko) Mit dem ‘ Minimalismus ’ dieser Eingriffe verhält es sich ähnlich wie mit der so genannten Funktionalität des ‘ Realraums ’ Halle G: Er ist hier ganz klar eine ästhetische Setzung. Als solche kommt er Gehmachers eigenem Umgang mit Raum sehr entgegen, während er der Arbeitsweise etwa einer Meg Stuart oder eines Jeremy Wade einigermaßen fern liegt. Bezeichnender Weise nutzt aber gerade Stuart die Reibungsfläche, die der Raum ihr durch seine gestaltete Oberfläche bietet, maximal aus, um ihn mit der für ihre Spielart von Performance notwendigen theatralen Nervosität eben selbst aufzuladen. What do you want from me? (Meg Stuart) Auf die Zuschauer zu und wie getrieben im Rückwärtslauf zurück bewegt sie sich vor allem in der mittleren Raumflucht und lässt ihren Körper, wenn er winzig klein schon fast im Dunkel verschwindet, dank der Sound-Inversion gleichzeitig mit seinem Aufprall an der Metalltür akustisch vorwärts direkt auf die Zuschauer krachen. Könnte man also nicht auch sagen: Die Projektinitiatoren haben eine unverzichtbare Folie geschaffen. Time to be somewhere else. (Oleg Soulimenko) Sie verunmöglicht einerseits jede Verharmlosung oder Idealisierung des ‘ leeren ’ Raums als ungestaltet, neutral oder gar demokratisch, und sie bietet andererseits ein ganzes Arsenal teils versetzbarer Landmarken, mit deren Hilfe sich über die Zeit der wechselnden Nutzungen eine Vielzahl von Räumen in Reibung mit den gegebenen Optionen herausbilden kann. . . . making you exist by my gesture. (Boris Charmatz) Diskurs als Monument Schafft Anne Juren, wenn sie in ihrem walk +talk mit dem Rücken zur Seitenwand auf dem Boden sitzt und von “ being the periphery ” spricht, eine Zone der Randständigkeit? Oder aktualisiert sie nur eine vorgeschriebene Möglichkeit im Spiel-Feld? Stülpt sich im Fokus der Aufmerksamkeit beim Zuschauer nicht im selben Moment der 173 Sehen lassen, was nicht geschah, um gesehen zu werden Raum schon von innen nach außen und hat sein Zentrum automatisch an der Peripherie? What is your reference point? (Anne Juren) In diesem Raum, der seine Geschichte, seine Form immer schon ‘ von anderen ’ und ‘ durch anderes ’ hat, bilden sich unablässig neue Schichtungen, obwohl die weiße Fläche zu Beginn jedes Abends wieder jungfräulich und leer erscheint. Die Arbeit, mit diesen Verwerfungen umzugehen, erinnert an die Arbeit der Foucaultschen Archäologie. Die physischen und verbalen Bewegungen und ihre Spuren sind eben nicht Verweise in die Tiefe auf eine dahinterliegende Ursprünglichkeit - der Aussage, des Körpers, des Subjekts. Sie werden selbst zu Gegenständen in einem diskursiven Feld, und als solches lässt sich die Struktur walk+talk durchaus begreifen. You can ’ t steal a movement. You just use it. (Oleg Soulimenko) Das Besondere an einer Handlung, sagt Meg Stuart, sei, dass man sie wie ein Objekt von allen Seiten betrachten könne. 13 Archäologie, so Foucault - , “ behandelt den Diskurs nicht als Dokument, (. . .) sie wendet sich an den Diskurs in seinem ihm eigenen Volumen als Monument. Es ist keine interpretative Disziplin, sie sucht nicht einen ‘ anderen Diskurs ’ , der besser verborgen wäre. ” 14 For me horse riding is a matter of dissociation, abstraction because when you want to get something you ’ re facing the fact that you ’ re not speaking the same language. (Rémy Héritier) Jurens Blick von der Peripherie in die Mitte folgend, entdeckt man dort unzählige sich überlappende, schneidende Räume und Bewegungslinien Blink-blink. (Jerremy Wade) : Stuarts konfrontativer Korridor die mittlere Flucht auf und ab. Gehmachers seitlich ausgestreckter Arm, der mit den Fingerspitzen genau ihre Weglinie ‘ berührt ’ und dabei die Dramatik, mit der sie den Raum bildlich auflud, förmlich zurücknimmt, nach innen ableitet. Die Tanzteppichfalte, die seinen Arm wiederum horizontal verlängert und dort endet, wo die Zirkularität der gelaufenen Acht ihren Nukleus hatte, zu der Antonia Baehr den Raum zusammenzog. Auch Anne Juren geht Tage später eine Weile auf ihr entlang, ehe sie die Schleife anhält, mit sich beiseite nimmt und dort wieder ausrollt als grade Linie eines Umwegs entlang der Hallenwände, auf dem Sioned Huws den Raum, minutenlang um sich selbst kreiselnd, umrundet hat. Blink-blink-blink. (Jeremy Wade) Welcher Art sind diese Relationen? Und wo sind sie eigentlich oder stellen sich her: im Raum, im Körper der Performer, in der Wahrnehmung des Zuschauers oder immer schon in der Erinnerung? Was haben die einzelnen körper-sprachlichen Reflexionen hier miteinander zu tun? Was tun sie miteinander? Die Unmöglichkeit, im Raum zu sein I never see an empty space. (Meg Stuart) In walk +talk wird ein relationaler Vorgang der Verräumlichung wahrnehmbar. Choreographie kristallisiert sich als interpersonelles Netz von Verortungen und zeitlichen Kontraktionen nicht in, sondern zwischen den einzelnen Präsentationen heraus. Die Nutzungen aktualisieren sich gegenseitig in einem Prozess, der sich anders vollzieht als zeitlich linear und räumlich konsistent. Was mit dem installativen Setting vorgeschlagen wird, ist eine spezifische Art der Be-Gründung von Bewegung im Theaterraum, und ebenso die der Serialität des Formates innewohnende Zeitlichkeit einer gewissen Dauer im Verhältnis zu der fortlaufenden Realisierung von Körpergeschichte/ n. Who tells him to walk (Antonia Baehr) Der Begriff der Be-Gründung ist dabei nicht zu verwechseln mit dem der Begründung, und zwar weder im ontologischen noch im Sinn eines eindeutigen, linearen Zusammenhangs von Ursache und Wirkung, der in kausalen Theorien der Zeit etwa bei Kant und Leibniz erst die Lokalisierung eines Geschehens als bestimmte 174 Constanze Schellow ‘ Stelle ’ in der Zeit ermöglicht. Be-Gründung zielt vielmehr auf den Grund als materiellen Untergrund von Bewegung wie im englischen Wort “ ground ” . In seiner Kritik modernistischer Subjekt- und Bewegungsideologie weist André Lepecki darauf hin, dass ein zur Fläche planierter, abstrahierter, formloser Untergrund die choreopolitische Formation der Moderne überhaupt erst ermöglicht hat - “ for modernity imagines its topography as already abstracted from its grounding on a land previously occupied by other human bodies, other life forms, filled with other dynamics, gestures, steps, and temporalities ” . 15 Many years I was trying to get up from the floor. (Meg Stuart) In Anlehnung an Homi Bhabhas Identifikation des Zusammenhangs von Kolonialismus und Moderne attestiert Lepecki beiden eine zentrale “ spatial blindness (of perceiving all space as an ‘ empty space ’ ) ” : “ This bulldozing of the ground, a colonialist gesture, is also a gesture that allows for representation to take place on an empty flatness, and that generates, sustains, and reproduces a subjectivity that perceives its own truth as a self-propelled ‘ machine for free movement ’ (. . .) gliding along a flat and unmovable terrain ” . 16 Lepeckis Denkfigur der planierten, geschichtslosen Fläche des abstrahierten Grundes lässt sich mit Raumvorstellungen in Verbindung bringen, die Martina Löw in ihrem Entwurf einer Raumsoziologie “ absolutistisch ” genannt hat. Shifting between picture and activity. (Anne Juren) Löw wendet sich gegen Konzepte, die den Raum als Container für Körper, Menschen, Handlungen und damit als abstrakte Kategorie setzen. Sie bestreitet, dass Raum als Materialität im Sinne eines physischen Substrats überhaupt existiert. Man ist ihr zufolge nie im Raum. Auch ist Raum ‘ leer ’ nicht zu denken. Menschen sind in seine Konstitution immer schon einbezogen: “ (. . .) zum einen können sie ein Bestandteil der zu Räumen verknüpften Elemente sein, zum zweiten ist die Verknüpfung selbst an menschliche Aktivität gebunden. ” 17 Twisting spine is always the motor of being towards. (Philipp Gehmacher) Die Folge eines solchen entterritorialisierten Raumverständnisses ist, dass sich zur selben Zeit mehrere Räume am selben Platz materialisieren können, dann aber auch quasi-materielle Stabilität und Widerständigkeit aufweisen. Als “ relationale (An)Ordnung ” ist Raum zugleich strukturierend und strukturiert. 18 Er entsteht wesentlich prozesshaft. Löw unterscheidet zwei im alltäglichen Handeln parallel ablaufende Prozesse: einerseits das Errichten, Bauen oder Positionieren als die Bewegung hin zu einer Platzierung in Relation zu anderen Platzierungen, andererseits eine gegenläufige, für die Raumkonstitution aber ebenso notwendige Bewegung, in der über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse disparate Strukturen überhaupt erst zu Räumen zusammengefasst werden. 19 . . . the hard work of perception! (Oleg Soulimenko) Das Theater ist Teil des sozialen Raumes. Und doch gerät ein Raumverständnis wie es sich in der Bespielung und Betrachtung der mit rutschfestem Tanzboden ausgeschlagenen Black Box häufig niederschlägt, in die Nähe sowohl zu der räumlichen Blindheit, von der Lepecki spricht, als auch zu dem von Löw zurückgewiesenen Container-Raum. You can relax, this is not a performance. (Sioned Huws) Noch in der Raumtheorie des postdramatischen Theaters etwa bei Hans- Thies Lehmann hat Raum, auch wenn er nicht mehr als Dramen- “ Schau-Platz ” dient, im Prinzip eine unterschwellige Behälterfunktion. Zwar ist der “ postdramatische Raum ” nicht mehr die plane Projektionsfläche für einen anderen fiktionalen Ort. Aber implizit bleibt der in seiner gestalteten Durchbrochenheit das Geschehen umschließende Theaterraum dessen Behältnis. Dies wird deutlich, wenn ein Theater, das sich mit 175 Sehen lassen, was nicht geschah, um gesehen zu werden spezifischen räumlichen Materialitäten befasst, ausschließlich unter “ Theatre on Location ” , also Theater außerhalb des Bühnenraums abgehandelt wird. 20 Der postdramatische Raum im Theater, der sich nicht lokalisieren muss oder kann, stimuliert dem gegenüber, so Lehmann, in erster Linie “ unvorhersehbare Verschaltungen und Konnexionen der Wahrnehmung. ” 21 Reformuliert mit Löw, stimulieren in walk+talk strukturierende und strukturierte Wahrnehmungen die Konstitution einer Vielzahl von Räumen, sowohl für die Performer als auch für die Zuschauer. Sie bilden auf der Bühne eine immer wieder überbaute choreografische Architektur aus, in der sich nie nur der eine Körper befindet, der sich und sie gerade bewegt. How to stand still on stage? (Milli Bitterli) Praktiken der Aus-Handlung Will man die Bühne nicht als dem Spiel voraus- und vorgesetzte Fläche für Projektionen oder als bloßen Imaginations-Container verstehen, bedeutet das, dass sie als Raum stets neu und potenziell konflikthaft zwischen den jeweiligen Akteuren aus-gehandelt werden muss. Zu diesen Akteuren gehören in walk+talk sowohl die Choreographen-Performer als auch die Zuschauer. Beide Gruppen lassen sich nicht mehr trennen. Die Künstler verfolgen vor und nach ihren Präsentationen die übrigen im Publikum. Ihr Zugang zum eigenen proposal entwickelt sich also auf zwei Ebenen: ihrer individuellen Aktualisierung des Set-Ups und der Beobachtung anderer möglicher Aktualisierungen. 22 Die Grenze zum Zuschauerraum wird auch ganz faktisch von der Bühne aus überschritten, am radikalsten von Sioned Huws. I haven ’ t managed to achieve Philipp ’ s proposition. (Sioned Huws) Sie bittet die Zuschauer nach einer langen Zeit, in der sie wortlos mit ihnen den leeren Raum betrachtet hat, ihn an ihrer Stelle zu betreten. Kaum jemand verweigert sich dieser Einladung. Einzeln und in Grüppchen stehen, sitzen, schlendern die Leute auf der weiten weißen Fläche herum. Sie untersuchen die Technik, manche scheinen gezielt von einzelnen Choreographen etablierte Orte aufzusuchen. I look at you. I don ’ t see you, I don ’ t know who you are, but I am aware of the gaze upon me. (Philipp Gehmacher) Dagegen interessiert sich ein grauhaariger Mann im blauen T-Shirt und schwarzen Sakko viel mehr für den Ort, an dem er eben gerade noch gesessen hat. Reglos steht er mitten in der bewegten Gruppe mit Blick auf die entleerte Tribüne. Er steht und schaut weiter, selbst als nach einer Weile die Zuschauer nach und nach zu ihren Plätzen zurückkehren. Dann setzt auch er sich. Mitten auf die Bühne. Dies ist kein einfacher Platztausch. Die Situation ist in Bezug auf die Frage, wer hier für wen performt und wer wem dabei zusieht, einen Moment in der Schwebe. Leave the stage! (Antonia Baehr) Auf der Tribüne wird gelacht. Der Mann schaut dem aufmerksam zu. Bis nach einer ganzen Zeit zwei Frauen erneut aufstehen und zurück in die Halle hinein laufen, eine von ihnen auf Meg Stuarts Mittellinie an dem Mann vorbei bis zur Tür am Ende der Apsis. Kurz darauf folgt ihr Huws, die zwischenzeitlich im Auditorium gesessen hat, und verlässt den Raum. Die Leute klatschen, Huws erscheint wieder, klatschend. Alle applaudieren einander. Such an artificial gesture! (Anne Juren) In Die Aufteilung des Sinnlichen bestimmt Jacques Rancière das Sinnliche als einen Möglichkeitsraum, der als aufgeteilter vor allem auch das regelt, was nicht gesehen und nicht gesagt werden kann. Vor diesem Hintergrund etabliert er seinen Begriff des Politischen: “ Als politisch kann jene Tätigkeit bezeichnet werden, die einen Körper von 176 Constanze Schellow dem ihm angewiesenen Ort anderswohin versetzt; die eine Funktion verkehrt; die das sehen lässt, was nicht geschah, um gesehen zu werden; die das als Diskurs hörbar macht, was nur als Lärm vernommen wurde. ” 23 Do you have any questions? (Boris Charmatz) In dem Moment aber, wo der Lärm vernommen wird, ist er nicht mehr Lärm, sondern Teil einer neuen Aufteilung des Sinnlichen. Das Politische, dessen Grundlage die Annahme der Gleichheit aller ist, kann diese Gleichheit selbst nicht denken, weil - das Sinnliche neu aufteilend - immer Ungleichheiten geschaffen werden: “ Die egalitäre Einschreibung und die unegalitäre Distribution in ein Verhältnis setzend, weist der politische Akt gleichzeitig die Ungleichheit der Distribution von Körpern und gesellschaftlichen Räumen und das gleiche Vermögen sprechender Wesen nach. (. . .) Damit soll gesagt werden, dass es keine dem Politischen eigene Orte oder Handlungen gibt. Das politische Merkmal einer Handlung besteht im Geflecht, das sie bewirkt, es wird nicht vom Ort, an dem sie dies leistet, gebildet. ” 24 Could you please laugh for seven minutes. (Antonia Baehr) Wahrnehmung als Gedächtnisarbeit Wenn Raum sich prozesshaft herstellt, ist er wesentlich zeithaft. Sowohl Hans-Thies Lehmann als auch André Lepecki setzen in ihrer Kritik des Dramatischen bzw. des Bewegungsparadigmas der Moderne bei der Reformulierung des Zeitbegriffs an. Beide berufen sich auf Henri Bergsons Konzept der Dauer (durée) im Unterschied zur Zeit (temps). 25 Here I have a history of being here, and of being there and the possibility to be there. What shall I do with this history? (Oleg Soulimenko) Bergson betrachtet die Zeit als eine problematische Vermischung von Zeit und Raum. In Materie und Gedächtnis argumentiert er, dass die Gegenwart nur als Abstraktum existiert, da jede Wahrnehmung einer “ Anstrengung des Gedächtnisses ” bedarf, “ durch welche die einzelnen Momente ineinandergedehnt und verschmolzen werden. ” 26 Und an anderer Stelle: “ Man definiert willkürlich die Gegenwart als das was ist, während sie einfach nur das ist, was geschieht (. . .), und in Wahrheit ist jede Wahrnehmung schon Gedächtnis. ” 27 This is the end. (Antonia Baehr) Der homogene Raum und die homogene Zeit sind, so Bergson, weder Eigenschaften der Dinge noch Fundamentalkategorien unserer Erkenntnisfähigkeit, sondern “ der abstrakte Ausdruck für die zweifache Arbeit der Verdichtung und Zerteilung, welche wir an der bewegten Kontinuität des Wirklichen vollziehen, um uns in ihr Stützpunkte zu sichern, Operationsbasen festzulegen, ja schließlich um wirkliche Veränderungen an ihr vorzunehmen; sie sind die Schemata unserer Wirksamkeit auf die Materie. ” 28 I once did a piece where I . . . (Milli Bitterli) Die Teilnehmer von walk+talk gehen in der Halle G fast immer auch mit individueller Erfahrung um, die in der Zeit zurückliegt. Sie sind hier entweder mit eigenen Stücken aufgetreten oder haben als Tänzer in den Projekten Anderer performt. Wiederholt kehren sie zu Orten und Bewegungen dieser vergangenen Performances zurück. . . . imagining that my body. . . or a line I am making would . . . extend . . . (Philipp Gehmacher) Milli Bitterli rekapituliert in rasendem Tempo Aktionen, die sie in früheren ihrer Stücke ausgeführt hat, während sie hin und her läuft, als würde sie sich selbst folgen und zusehen, - so als fürchte sie, den Anschluss an sich zu verlieren. Meg Stuart führt mit einem reißerischen “ Watch this! ” die erste Bewegung ihrer Choreographie No One is Watching (1994) vor - wie eine isolierte Pointe ohne dazugehörigen Sketch. Rémy Héritier wiederholt mehrmals nacheinander eine Phrase, die er einmal getanzt hat. In diesen Ver- 177 Sehen lassen, was nicht geschah, um gesehen zu werden sionen derselben Bewegung lokalisiert er die diversen Bühnenräume, die sich je anders in sie eingetragen haben. Wie feedbacks spielt er sie zurück in den aktuellen Raum. When is the transition perceivable? (Anne Juren) Philipp Gehmacher bleibt vielleicht am dichtesten bei seiner Ausgangsfrage, wie und wo sich zwischen Sprache und Körper Spiel-Räume herstellen lassen und wo sich ihre Modi der Reflexion so aneinander brechen, dass angefangene Sätze abrupt zum Stillstand kommen, weil die Bewegung zu den Worten nicht aufschließen will. Auch er greift zurück auf Material aus seinen Choreographien, Material, das für ihn in seiner Arbeit und in Halle G bereits einen Platz hat. Und doch wird diese frühere Platzierung nicht einfach reproduziert: Gleich zu Beginn ist da dieses seltsame, deutliche, wenn auch zögerliche Zurücktreten vom eigenen Standpunkt. Come closer. (Oleg Soulimenko) Ein paar Schritte rückwärts von dem Portal zur kleinen Apsis entfernt, an dem er eben noch gelehnt hat, betrachtet Gehmacher den nun verlassenen Ort, der vielleicht auch schon gar kein Ort mehr ist, lange mit dem Rücken zum Publikum. So als projiziere er sich in die unmittelbare Vergangenheit dieser Pose, um, mit Bergson gesprochen, eine Gegenwart sich abspielen zu lassen, die nicht völlig von der Trauerarbeit über die eigene Selbstungleichheit eingenommen ist, die ja im Tanz und in der Tanzwissenschaft eine lange Tradition hat, sondern die im besten Sinn tänzerisch bewegt und mental biegsam die Verbindung zwischen Gedächtnis und Situation zu halten versucht. Es wäre dann gar ‘ kein Drama ’ mehr, dass eine solche Gegenwart wie der Raum nie einfach ist. Sie könnte sich, wie dieser Raum, mit bewegter Spiellust, als permanente Aus- Handlung - so wie die walk+talks es nahelegen - geschehen lassen. Die ‘ schwarze Kiste ’ hörte auf, “ empty flatness ” 29 zu sein. Performance wäre nicht mehr der unwiederbringliche Jetzt-Moment, sondern eine Praxis des Geschichte(n) Schreibens, in der beides, Handeln und Wahrnehmen, nur in der Bergsonschen Kontraktion, der Aktualisierung dessen, was war, was getanzt und gesagt worden ist, auf die eigene, aktuelle Position hin überhaupt möglich wird. Eyes down left. Eyes down right. Eyes right centre. Eyes centre. Eyes up. Eyes down. Smile. (Antonia Baehr) Literatur Bergson, Henri. Materie und Gedächtnis. Hamburg, 1991. Carter, Paul. The Lie of the Land. Boston, Mass./ London, 1996. Fischer-Lichte, Erika. “ Theater als Modell für eine Ästhetik des Performativen. ” Performativität und Praxis. Hg. Jens Kertscher/ Dieter Mersch, München, 2003. 97 - 111. Foucault, Michel. Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M., 1997. Husemann, Pirkko. “ Die anwesende Abwesenheit künstlerischer Arbeitsprozesse. Zum Aufführungsformat der lecture-performance. ” OB? SCENE. Zur Präsenz der Absenz im zeitgenössischen Tanz, Theater und Film. Hg. Krassimira Kruschkova, Wien [etc.], 2006. 85 - 97. Lehmann, Hans-Thies. Postdramatisches Theater. Frankfurt a. M., 1999. Lepecki, André. Exhausting Dance. Performance and the Politics of Movement. New York, 2006. Löw, Martina. Raumsoziologie. Frankfurt a. M., 2001. Menke, Christoph. “ Praxis und Spiel. Bemerkungen zur Dialektik eines postavantgardistischen Theaters. ” AufBrüche. Theaterarbeit zwischen Text und Situation. Hg. Patrick Primavesi/ Olaf A. Schmitt, Berlin, 2004. 27 - 35. Rancière, Jacques. “ Gibt es eine politische Philosophie? ” Politik der Wahrheit. Hg. Alain Badiou/ Ders., Wien/ Berlin, 2010. 79 - 118. 178 Constanze Schellow Thurner, Christina. Beredte Körper - bewegte Seelen. Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten. Bielefeld, 2009. Anmerkungen 1 Erika Fischer-Lichte. “ Theater als Modell für eine Ästhetik des Performativen. ” Performativität und Praxis. Hg. Jens Kertscher/ Dieter Mersch, München, 2003, 97 - 111, hier S. 103 - 106. 2 Pirkko Husemann. “ Die anwesende Abwesenheit künstlerischer Arbeitsprozesse. Zum Aufführungsformat der lecture-performance. ” OB? SCENE. Zur Präsenz der Absenz im zeitgenössischen Tanz, Theater und Film. Hg. Krassimira Kruschkova, Wien [etc.], 2006, 85 - 97, hier S. 86. 3 Husemann 2006, 87. 4 Husemann 2006, 89. Gabriele Brandstetter nennt ihre “ selbstreflexive Dimension (. . .) geradezu ein Strukturmerkmal der Lecture- Performance in ihrer Ausprägung als Konzept-Kunst ” und datiert ihr Aufkommen in die 1990er Jahre - in hier unausgesprochener Engführung mit dem so genannten (in der Forschung als Begriff nicht unumstrittenen) ‘ Konzept-Tanz ’ . Vgl. Gabriele Brandstetter. “ Tanz zeigen. Lecture-Performance im Tanz seit den 90er Jahren. ” Konzepte der Tanzkultur. Wissen und Wege der Tanzforschung. Hg. Margrit Bischof/ Claudia Rosiny, Bielefeld, 2010, 45 - 61, hier S. 56. 5 Choreographen haben schon immer Reflexion und Selbstreflexion auch in Textform betrieben und waren damit an der theoretischen Herstellung des Gegenstands “ Tanz ” in hohem Maß beteiligt, wie es Christina Thurner für die Zeit des romantischen Balletts rekonstruiert. Vgl. Christina Thurner. Beredte Körper - bewegte Seelen. Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten. Bielefeld, 2009. 6 Etwa in Un après-midi (2003), Danke (2006) oder Lachen (2008). 7 Christoph Menke. “ Praxis und Spiel. Bemerkungen zur Dialektik eines postavantgardistischen Theaters. ” AufBrüche. Theaterarbeit zwischen Text und Situation. Hg. Patrick Primavesi/ Olaf A. Schmitt. Berlin, 2004, 27 - 35, hier S. 27. 8 Menke 2004, 32. 9 Menke 2004, 29 ff. 10 Menke 2004, 34. 11 Herausgearbeitet wurde dieser Aspekt besonders explizit in den Produktionen mountains are mountains (2003) und incubator (2004 - 2007) sowie in dem Trio Gehmachers mit Meg Stuart und dem Videokünstler Vladimir Miller the fault lines (2010). 12 Regelmäßig über der hinteren kleinen Apsis verteilte Mikrofone sind etwa mit einem äquivalenten, im Maßstab gestreckten Lautsprechernetz über der Tribüne verbunden, das den Klang aus der größten Raumtiefe direkt über den Zuschauern wiedergibt. Der Ton aus der vorderen Bühnenmitte, dem Ort der direktesten Frontalansprache dagegen, kann umgekehrt gespiegelt nach hinten an die Metalltür der Apsis projiziert werden. Diese und andere Interventionen, die Widerstände, Faltungen und Verwerfungen im Raum erzeugen, sind einzeln verfügbar. How can I connect? (Anne Juren) Sie können auf Wunsch von den Choreografen aber auch deaktiviert werden. 13 Meg Stuart. walk+talk #2. 14 Michel Foucault. Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M., 1997, 198. 15 André Lepecki. Exhausting Dance. Performance and the Politics of Movement. New York, 2006, 14. 16 Lepecki 2006, 100; Lepecki zitiert hier Paul Carter. The Lie of the Land. Boston, Mass./ London, 1996, 364. 17 Martina Löw. Raumsoziologie. Frankfurt a. M., 2001, 224. 18 Löw 2001, ebd. 19 Vgl. Löw 2001, 160 f. 20 Hans-Thies Lehmann. Postdramatisches Theater. Frankfurt a. M., 1999, 304 - 306. 21 Lehmann 1999, 298. 22 Dabei ist zu betonen, dass solche ‘ Beobachtung ’ in ihrer Eigenschaft als Wahrnehmung nicht nur umfasst, was im Moment sichtbar ist. 23 Jacques Rancière. “ Gibt es eine politische Philosophie? ” Politik der Wahrheit. Hg. 179 Sehen lassen, was nicht geschah, um gesehen zu werden Alain Badiou/ Ders., Wien/ Berlin, 2010, 79 - 118, hier S. 83. 24 Rancière 2010, 95. 25 Lehmann geht es darum, die Theaterzeit als subjektiv erfahrene gegenüber einer objektiv messbaren Zeit auszuweisen; Lepecki dient der Bezug auf Bergson dazu, der Bewegung über die Redefinition eines ihrer beiden bestimmenden Parameters - Zeit und Raum - einen Ausweg aus ihrer Verkettung mit der Moderne als “ being towards movement ” zu erschließen. Vgl. Lehmann 1999, 309ff; Lepecki 2006, 128 ff. 26 Henri Bergson. Materie und Gedächtnis. Hamburg, 1991. 19. 27 Bergson 1991, 145. 28 Bergson 1991, 210. 29 siehe Fußnote 16. 180 Constanze Schellow