eJournals Forum Modernes Theater 26/1-2

Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
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2011
261-2 Balme

Imanuel Schipper. Ästhetik versus Authentizität. Reflexionen über die Darstellung von und mit Behinderung. Berlin: Theater der Zeit, 2012, 174 Seiten.

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2011
Wolf-Dieter Ernst
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Rezensionen Imanuel Schipper. Ästhetik versus Authentizität. Reflexionen über die Darstellung von und mit Behinderung. Berlin: Theater der Zeit, 2012, 174 Seiten. Die Darstellung von und mit Behinderung hat nicht erst seit jenem Moment Konjunktur, da die mit einem Down-Syndrom geborene Schauspielerin Julia Häusermann auf dem 50. Berliner Theatertreffen den renommierten Alfred-Kerr- Preis für ihre schauspielerische Leistung in Disabled Theatre in Empfang nehmen konnte. Hier rückt nur ins mediale Rampenlicht, dass sich bereits seit einigen Dekaden Gruppen wie das Theater Hora, das Berliner Theater Ramba Zamba oder das Theater Thikwa mit hoher Professionalität der Theaterarbeit widmen. Einen Einblick zur Rezeption und Diskussion dieser Theaterformen bietet der hier besprochene Band. Unter dem programmatischen Titel “ Ästhetik versus Authentizität ” stellt der Sammelband die Darstellung von und mit Behinderung in einen gleichermaßen ästhetischen und politischen Zusammenhang, zugespitzt auf die Frage, welche Körper auf der Bühne repräsentiert werden können und sollen. Insbesondere das Stichwort ‘ Authentizität ’ fungiert dabei in doppelter Weise polarisierend: einerseits als Abgrenzung von Theater zu massenmedialen Repräsentationen, die häufig als weniger authentisch angesehen werden, andererseits als programmatische Formel für die Suche nach neuen Theaterformen. Wir haben es also im Lichte dieser Fragestellung keineswegs mit einer Form angewandten Theaters oder gar mit Sozialarbeit oder Therapie mit theatralen Mitteln zu tun, welche scheinbar jenseits ästhetischer Kalküle zu verorten wären - vielmehr wird mit der Anbindung der Ästhetik an den gesteigerten Effekt von Wahrscheinlichkeit und Wirklichkeit, genannt Authentizität, die Unterscheidung von Ästhetik und Sozialem, von Kunst und Leben tendenziell unterlaufen, indem sie noch einmal bedacht und begründet werden soll. Alle Beitragenden haben denn auch teilweise explizit Ästhetik und Authentizität gar nicht mehr als Gegensatz oder Wahloption aufgefasst, sondern sind ganz eigenen Denklinien gefolgt. Einige Positionen seien hier aufgeführt. Der amerikanische Literaturwissenschaftler Tobin Siebers liefert einen sehr gut lesbaren Essay, der vor dem Hintergrund seiner langjährigen Forschungen in den so genannten Disability Studies vor allem die Repräsentation und Identitätspolitik im Theater von und mit Behinderten aufnimmt. Dabei stellt er mit Blick auf körperliche Behinderung die Prämisse auf, dass physische Beeinträchtigungen im Rahmen einer ‘ Ideologie der Fähigkeiten ’ (ab)gewertet werden. Dies geschieht in zwei Schritten: Erstens wird der sichtbare Kontrast und damit die Beziehung von nicht Behinderten und Behinderten bewertet und mit Emotionen wie “ Vergnügen, Schmerz, Abscheu oder Schrecken ” (S. 17) belegt. Im zweiten Schritt greift dann der Mechanismus der Ausgrenzung, in dem z. B. in der Rollenbesetzung davon ausgegangen wird, dass ein behinderter Schauspieler mehr Aufmerksamkeit für seine Behinderung denn für sein Rollenportrait erregen werde und man ihn folglich nicht besetzen könne. Diesem Zusammenspiel aus ästhetischer Unerfahrenheit im Anblick von anderen Körpern mit der Ideologie wäre nach Siebers mit einer Ästhetik zu begegnen, die “ Behinderung zu einer Ressource für die Erweiterung des auf der Bühne dargestellten Emotionsspektrums ” (S. 29) bedenkt. Damit hinterfragt Siebers die Konstitution der westlichen Ästhetik, auch noch die der Rosenkranzschen Ästhetik des Hässlichen, in ihrer Abhängigkeit von positiv konnotierten Begriffen der Kunst und der Könnerschaft. In ähnlicher Weise, nämlich mit Blick auf die (amerikanischen) Sichtbarkeitsverhältnisse und normierenden Diskurse argumentiert auch Bruce Henderson. Seine Überwindung der Opposition von Ästhetik und Authentizität nimmt nicht von ungefähr den Wechsel des Leitsinns vom Sehen zum Hören vor. In der besonderen Situation, zu hören und blind zu sein, die er von zwei jüngeren Theatertexte herleitet, sieht der Autor gewissermaßen einen spielerischen Kontrapunkt zur Identitätspolitik, die Siebers umtreibt. Während näm- Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 223 - 225. Gunter Narr Verlag Tübingen lich das Für und Wider des Theaters mit Behinderung im Regime des Sichtbaren leichter markiert und attackiert werden könne, während also die Frage, ob ein behinderter Schauspieler eine nicht behinderte Figur spielen kann oder darf, eine konkrete und politisch lesbare Antwort hervorbringt, so unterläuft die Idee des Hörens diesen politischen Konflikt. Hören ist Henderson zu Folge vielmehr eine dialogische Form, welche an Stelle des Könnens die “ Achtsamkeit, Bescheidenheit und Bewußtheit ” (S. 77) noch jeder schauspielerischen Rollenerarbeitung setzt. Dialogizität und soziales Miteinander gemahnen ihn eher an ein Theater im Sinne einer cultural performance, in der kulturelle Konflikte bearbeitet werden, denn an ein Theater des Dramas (der Behinderten). Mit Blick auf die deutsche Theaterlandschaft bespricht Frank Raddatz einige Auffälligkeiten und Tendenzen des Theaters mit Behinderten und Randgruppen im weiteren Sinne. Dabei reklamiert er zu Recht für jede Form des Theaters einen Abstand von Darstellung und Dargestelltem. Authentizität ist ihm der Kollaps dieser Differenz, apodiktisch als “ Ende der Repräsentation ” (S. 45) bezeichnet. Das Gegenmodell wäre Schillers ‘ Freiheit durch Spiel ’ , die im Prozess der Verkörperung einer Rolle zu erzielen sei. Die Besetzung eines Chores der Arbeitslosen mit Hartz IV Empfängern im Theater Volker Löschs ist ihm folglich ein Graus, da es kein Spiel sei. Hier erfahre man weder etwas von der Subjektivität der Beteiligten oder des Regisseurs noch sei hier eine dauerhafte soziale Bindung hergestellt, wie sie noch jede Laienspielgruppe präge. So stimmig seine Kritik ist, so verdeckt sie zuweilen doch, dass es durchaus Differenzen in der Arbeit mit Behinderten oder Randgruppen gibt. Diese nämlich sind nicht mit Laien gleich zu setzen. Rimini Protokoll oder She She Pop, die Sozialarbeiter, Soldaten oder die eigenen Väter auf die Bühne holen, haben sich nicht nur eine spezielle ‘ Dramaturgie der Fürsorge ’ (Malzacher) erarbeitet, die sich von kurzfristigen Verwertungskalkülen unterscheidet. Sie haben sich zudem - anders als die besprochenen Theatermacher in Meinigen und Stuttgart - bewusst gegen Laiendarsteller in Form von beispielsweise psychisch Kranken oder Huren entschieden, weil diese Laien zu ihrem Thema gar nicht beitragen könnten. Grundsätzlicher aber noch bekommt man spätestens mit Blick auf diesen Text den Leseeindruck, dass die Rahmung des Kunsttheaters als ein Ort der Ästhetik, in den das Authentische nun einbreche, in dem Band eher unreflektiert bleibt. Der Rahmen Kunst aber funktioniert derart, dass jede Geste mit dem Anspruch ‘ Dies ist Kunst ’ Zu- oder Widerspruch für sich reklamieren kann, ‘ reale Körper ’ und Laien eingeschlossen. Die von Marcel Duchamp und anderen explizit gemachte Funktion des Kunstrahmens lässt es allerdings fraglich erscheinen, ob man in den Bereich der freien und spielerischen Nachahmung der Realität zurückkehren kann, wie Raddatz andeutet, oder ob es nicht längst einen gesellschaftlichen Trend zur Authentizität gibt, dem sich Theatermacher wie Rimini Protokoll nur mit einer speziellen Dramaturgie stellen. Da die ästhetische Selbstermächtigung, die Duchamp zu seiner Geste getrieben hat, in der Welt ist, kann der Abstand zwischen Darstellung und Dargestellten zumindest ultradünn werden und verläuft dann etwa zwischen dem empirischen Vater und der Bühnenfigur ‘ mein Vater ’ . Dieser Abstand aber muss wohl in einer Welt der schnellen Kopien gleichsam auf Höhe der Darstellungstechniken allererst errungen werden und sei es mit Strategien der Mimikry. Dem eher thematischen Aufriss, welcher hier nur exemplarisch besprochen werden kann und der durch den phänomenologische Ansatz Jens Roselts zu den Grenzen der Scham im Angesicht des Dilettantismus ergänzt wird, sind zwei Themenblöcke mit Fallstudien beigeordnet. Im ersten werden aus Sicht von Theatermachern Strategien der Arbeit mit und von Behinderten vorgestellt. Die Beiträge von Lila Derridj, die sehr anschaulich ihre tänzerischen Arbeit mit Rollstuhl in den Kontext des zeitgenössischen Tanzes rückt und Bill Shannon lecture performance über sein Leben mit Krücken innerhalb der Skateboard-Szene korrespondieren mit zwei sehr gut lesbaren Interviews, die mit dem Choreografen Rui Horta sowie der Kuratorin Hedy Graber und der Tanzpädagogin Isabella Spirig geführt wurden. Der zweite Thementeil stellt aus aufführungsanalytischer Sicht Arbeiten von Christoph Schlingensief, Monster Truck und des Back to Back Theatre vor. Der Leser bekommt einleitend einen von Yvonne Schmidt konzis verfassten kulturhistorischen Ansatz dargeboten, der die Darstellung von 224 Rezensionen und mit Behinderung als ‘ enfreakment ’ herleitet. Philip Schulte weist sehr überzeugend auf die Behinderung als eine darstellungstheoretische Größe hin, die ihre ästhetische Provokation erst aus der Verfremdung und Verschiebung von (Körper)Normen gewinnen kann. Benjamin Wihstutz schließlich analysiert detailreich die Verdrehung der Rollen und Formate im Back to Back Theatre als einen politischen Akt, mit der die Funktionalisierung oder Dysfunktion behinderter Körper unterlaufen wird. Der Band Ästhetik versus Authentizität stellt die Reflexion über die Darstellung von und mit Behinderung als ein aktuelles und politisches Phänomen dar und bietet in seiner klugen Zusammenstellung eine gute Einführung in die Debatte. Bayreuth W OLF -D IETER E RNST Sigrid Bekmeier-Feuerhahn, Karen van den Berg, Steffen Höhne, Rolf Keller, Birgit Mandel, Martin Tröndle, Tasos Zembylas (Hrsg.). Zukunft Publikum. Jahrbuch für Kulturmanagement 2012, Bielefeld: Transcript, 2012, 428 Seiten. Die empirische Publikumsforschung hat mittlerweile auch in die Kunst- und Kulturwissenschaften Eingang gefunden. Das aktuelle Jahrbuch Kulturmanagement widmet sich nun dieser Thematik aus historisch-theoretischer und methodischer Perspektive sowie anhand einer Reihe von Fallbeispielen. Ein Großteil der Beiträge basiert dabei auf der 6. Jahrestagung des Fachverbands für Kulturmanagement an der Universität Lüneburg im Januar 2012. Im Vordergrund stehen Untersuchungen zur Hochkultur im Non-Profit- Bereich in den deutschsprachigen Ländern. In ihrem einleitenden Überblick zum ‘ Audience Development ’ fasst Birgit Mandel zunächst die wesentlichen aktuellen kulturpolitischen Bedingungen (wie Internationalisierung, Legitimationsdruck der öffentlichen Kulturfinanzierung etc.) zusammen, die die Basis für die Kulturnutzungsforschung bilden. Im Hinblick auf den Leitgedanken einer verstärkten Publikums- Partizipation und dem derzeitigen Wandel des Kulturnutzers vom eher passiven Konsumenten bzw. Rezipienten hin zum ‘ Prosumer ’ zeigt Steffen Höhne anhand der Analyse von Anstandsbüchern seit dem 18. Jh. die historische Genese des disziplinierten, passiven Theaterbesuchers auf. Hierbei wird deutlich, dass erst die Autonomieästhetik den Wandel von der realen, affektiven Teilnahme des Publikums hin zu einer imaginären Teilhabe mit sich brachte. Für eine Erweiterung des kulturwirtschaftlichen ‘ Audience Development ’ hin zu einem künstlerischen ‘ Dialogue Development ’ plädieren hingegen Verena Teissl und Gernot Wolfram. In Anlehnung an Albrecht Koschorkes Konzept der “ Figur des Dritten ” 1 verstehen sie hierunter eine Neuordnung des bestehenden Machtgefüges zwischen den Kulturbetrieben (mit ihren das Programm gestaltenden Intendanten bzw. Kuratoren) und dem Publikum durch innovative Partizipations- und Interventionsstrategien. Dabei sei ‘ das ’ Publikum nicht länger als Masse zu denken, sondern als ausdifferenzierte Gruppen (wie etwa Fach-, Folge-, Traditions-, Zufallspublikum oder unsichtbares, virtuelles Internet-Publikum). Der Wirkungsbereich der “ Figur des Dritten ” wäre somit zwischen dem Dargebotenen und seiner Rezeption bzw. den Folgereaktionen der unterschiedlichen Publikumstypen zu verorten. Durch unkonventionelle, gerade nicht am Fach- und Traditionspublikum orientierte kulturmanageriale Strategien könne, wie anhand einer Fallstudie zum experimentellen Wiener Publikumsfilmfestival “ Viennale ” dargelegt wird, ein kreativer Dialog zwischen Veranstaltern und Publikum hergestellt und neue Besuchergruppen gewonnen werden. Dieter Haselbach und Corinna Vosse schlagen in ihrem Beitrag “ Kann ich hier mitmachen? ” eine Neudefinition des Begriffs kultureller Partizipation vor, wie sie bereits in der umstrittenen Studie Der Kulturinfarkt angedacht wurde, an deren Herausgabe Haselbach 2012 mitwirkte. Statt das in den 1970er Jahren geprägte Profil von “ Kultur für alle ” weiterhin als Teilhabe breiterer Bevölkerungsschichten an von Kulturinstitutionen vorfabrizierten Werken zu definieren, plädieren die Autoren für eine verstärkte öffentliche Förderung der künstlerischen Eigenbetätigung des Publikums selbst. Kulturvermittlung solle nicht allein eine Steigerung des “ Kunstkonsums ” Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 225 - 226. Gunter Narr Verlag Tübingen 225 Rezensionen