eJournals Forum Modernes Theater 26/1-2

Forum Modernes Theater
fmth
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2196-3517
Narr Verlag Tübingen
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2011
261-2 Balme

Jörg Rothkamm. Ballettmusik im 19. und 20. Jahrhundert.Dramaturgie einer Gattung. Mainz etc.: Schott Music, 2011, 380 Seiten.

0601
2011
Albert Gier
fmth261-20228
und dies ist zentral - eine Liste möglicher Fragestellungen für die Aufführungsanalyse. So fragt die Autorin etwa: “ Wie ist das Tempo des Dramas zu beschreiben (Auf- und Abtritte der Figuren, Länge der Repliken)? ” . Somit legt deutet sie an, daß und wie eine kanonische theaterwissenschaftliche Angelegenheiten wie die Aufführungsanalyse mit neueren wissenschaftlichen Diskursen, in dem Fall mit dem so genannten acoustic turn (Meyer 2008) der Theater- und Kulturwissenschaften, (siehe auch Roesner 2003, 2011, 2012), Hand in Hand gehen können. Franziska Schößlers Einführung in die Dramenanalyse ist Theater-, Literatur- und Kulturwissenschaftler/ innen, sowie Forscher/ innen aus verwandten Disziplinen, die verstehen wollen, wie Theatertexte, künstlerische Aufführungen und deren Analyse funktionieren, ausdrücklich zu empfehlen. Der Band bietet eine außerordentlich gründliche, sehr reiche und exzellent strukturierte Grundlage für die entsprechende Lehre, das Studium und die Forschung. Darüber hinaus zeugt er von den gelungenen Kooperationen und Austauschverhältnissen zwischen den Literatur- und Theaterwissenschaften. Gent K ATHARINA P EWNY Jörg Rothkamm. Ballettmusik im 19. und 20. Jahrhundert. Dramaturgie einer Gattung. Mainz etc.: Schott Music, 2011, 380 Seiten. Ziel dieser Mannheimer Habilitationsschrift ist, “ Kompositionsstruktur und Gattungsspezifik originärer Ballettmusik des 19. und 20. Jahrhunderts ” zu untersuchen (S. 9); in monographischen Kapiteln werden fünfzehn einschlägige Kompositionen von Beethoven bis Schnittke behandelt. Als “ Ballett ” gilt dem Verf., was in der Tradition der “ klassisch-akademischen Tanztechnik ” steht (S. 18, vgl. S. 27). Die Einleitung (S. 13 - 33) skizziert die Fragestellungen: Kann Ballettmusik als eigene Gattung der Musik verstanden werden? Welche gattungsspezifischen Rahmenbedingungen gab es zu verschiedenen Zeiten für die Komposition und welche kompositorischen Lösungen wurden jeweils gefunden? Wie lässt sich die musikhistorische Entwicklung von Ballettmusik beschreiben? Welches sind die für eine Gattung Ballettmusik relevanten dramaturgischen und kompositorischen Neuerungen - in Annäherung wie Abgrenzung zu anderen Gattungen der Musik? Welche Arten der Beziehung von Musik und Choreographie bzw. Musik und Handlung wurden intendiert und welche realisiert? Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit zwischen Komponist und Choreograph? (S. 14). Das “ Fazit ” (S. 347 - 355) unterstreicht, daß Ballettmusik in der Tat als eigenständige musikalische Gattung zu betrachten sei (S. 347 - 355; zu den Kriterien für die Definition einer musikalischen Gattung S. 30 f.). Der Forschungsüberblick registriert vor allem Defizite: Die Tanzforschung klammere die Musik weitgehend aus (S. 18 f.); als musikalische Gattung werde Ballettmusik kaum wahrgenommen (S. 20), einschlägige historisch-philologische Untersuchungen gebe es kaum. Neben der Partitur, die die Basis der folgenden Analysen bildet (S. 25), wurden Szenarien bzw. Libretti (für die Vorgaben des Choreographen) sowie das musikalische Probenmaterial herangezogen (S. 24). Acht der meist auf ein Werk zentrierten monographischen Kapitel sind dem 19., sieben dem 20. Jh. gewidmet. In der Regel folgen auf eine Übersicht zur Quellenlage exemplarische Analysen einzelner musikalischer Nummern. Beethovens Geschöpfe des Prometheus (1801, S. 37 - 52) erweisen sich in mehrfacher Hinsicht als zukunftsweisend (S. 38, 47 f.), u. a. durch die differenzierte Behandlung der Soli männlicher und weiblicher Solisten (S. 47 f.). Ferdinand Hérolds Fille mal gardée (1828, S. 53 - 71) verdeutlicht die Verwendung sogenannter “ airs parlants ” , also von musikalischen (Oper - oder Volkslied-)Zitaten, die durch den dem Publikum bekannten ursprünglichen Text semantisiert werden (S. 54 f.). Herman Løvenskjold schreibt für Sylphiden (1836, S. 73 - 90; Neukomposition von Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 228 - 230. Gunter Narr Verlag Tübingen 228 Rezensionen Schneitzhoeffers Pariser Sylphide von 1832, S. 73 f.) Musik, die “ dialogähnlich und aktionsbezogen ” ist (S. 78). Kontrastiv wird im folgenden Kapitel (S. 91 - 112) “ französische und deutsche Pantomime-Musik in Ballett [u. a. Schneitzhoeffers Sylphide], Oper [Meyerbeer, Auber, Berlioz, Wagners Rienzi] und Schauspiel [Beethovens Egmont-Musik; Musiken zu Goethes Faust] zwischen 1828 und 1841 ” behandelt; in dieser Zeit vollzieht sich die Entwicklung von der Praxis der “ airs parlants ” zur Verwendung von Erinnerungsmotiven (S. 92 f.). Eine wichtige Rolle spielen Erinnerungsmotive (etwa ein Dutzend, vgl. S. 114) in Adolphe Adams Giselle (1841, S. 113 - 130; dieses Kapitel berücksichtigt erstmals Adams eigene choreographisch-szenische Angaben, vgl. S. 117); sie werden allerdings noch nicht systematisch eingesetzt (vgl. S. 129) wie in Coppélia von Léo Delibes (1870, S. 131 - 149), der erstmals in einem Ballett Figuren jeweils mehrere Motive zuordnet (S. 146), womit er an Techniken der Oper - speziell Richard Wagners - anschließt (S. 147, 149). Tschaikowsky (S. 151 - 179) schafft in Schwanensee (1877), Dornröschen (1890) und Nußknacker (1892) die von Rothkamm erstmals als eigener Typus beschriebene “ Pas-Musik ” (S. 156 - 171) zum “ verfeinerten Ausdruck der Gefühle der Figuren ” analog zur Arie (S. 156); der Pas de deux besteht üblicherweise aus den fünf Teilen Entrée, Adagio, Solo des Tänzers, Solo der Tänzerin und Coda. Das letzte dem 19. Jh. gewidmete Kapitel (S. 181 - 206) behandelt Bajaderka (1877/ 1900) und (knapper) Don Kichot (1869) von Ludwig Minkus, der 1870 - 1886 als etatmäßiger Ballettkomponist am Theater in St. Petersburg wirkte (S. 181). Bemerkenswerterweise sind die “ geschlechtsspezifische Ausprägung musikalischer Charakteristika ” und auch die Abgrenzung der Musikformen (wie Pas- und Nationaltanz-Musik) bei Minkus weniger deutlich als bei dem Ballett- Laien Tschaikowsky (S. 200 f.). Der Teil zum 20. Jh. beginnt mit Strawinskys Sacre du printemps (1913, S. 209 - 240), einem Werk, das sich weitestgehend von den älteren Formen der Ballettmusik löst (S. 209). Die Analyse (S. 212 - 230) bezieht Nijinskys Choreographie ein, deren Rekonstruktion durch Millicent Hodson u. a. wegen der unvollständigen Quellenbasis kritisiert wird; sie habe vor allem die autographen Eintragungen in Strawinskys Klavierauszug nicht berücksichtigt (S. 211 f.). Der Komponist wünschte sich eine “ abstrakte Choreographie ” als “ optische Erweiterung unter Verwendung einiger seiner musikalischen Verfahren ” (S. 238 f.). Die Partitur zu Apollon musagète (1928, S. 241 - 250) schloß Strawinsky ab, ehe George Balanchine mit der Arbeit an der Choreographie begann, so daß es hier zu keiner Zusammenarbeit kam (S. 244 n); musikalisch nimmt das “ Erstlingswerk der Neoklassik ” (S. 241) vor allem auf Tschaikowsky Bezug. Das Kapitel zu Prokofjews Romeo und Julia-Ballett (1939/ 40, S. 251 - 267) behandelt vor allem den Entstehungsprozeß und die Zusammenarbeit des Komponisten mit dem Choreographen Leonid Lavrovsky; auch bei Hans Werner Henzes Undine (1958, S. 269 - 289) steht das Zusammenwirken des Komponisten und des Choreographen Frederick Ashton im Vordergrund: Die besonders günstige Quellenlage (S. 269) läßt erkennen, daß Henze Ashtons Vorgaben genau folgt (S. 281 f.) und eine wesentlich narrative Musik schreibt (S. 288), die er selbst mit einer gewissen Berechtigung als “ Oper ohne Sänger ” bezeichnet hat (S. 273). Mit dem “ Ballet blanc ” Présence von Bernd Alois Zimmermann (1961) und der von Zimmermann als “ Erfüllung ” bezeichneten (S. 292) Choreographie von John Cranko (1968) lockert sich der Bezug zur “ klassisch-akademischen ” Tradition: Intendiert ist “ eine primär szenische Komponente, und nicht eine primär tänzerische zur Musik ” (S. 304). Mauricio Kagels Pas de cinq (1965, S. 305 - 322) sprengt vollends den Rahmen der Untersuchung; es handelt sich um ein Stück instrumentales Theater, das, wie Rothkamm selbst konstatiert, “ von etablierten Ballett(musik)strukturen unabhängig ” ist (S. 315). Der “ traditionsbezogene Titel ” (ebd.), der die Aufnahme ins Corpus rechtfertigen soll, ist ein Wortspiel: pas heißt hier nicht ‘ (Solo-)Tanz ’ , sondern bezeichnet schlicht die ‘ Schritte ’ der sich auf der Spielfläche bewegenden Darsteller. Am Ende steht Alfred Schnittkes Peer Gynt für John Neumeier (1989, S. 323 - 344): Hier gestaltet die Musik Inhalte des Librettos (S. 342), auf den musikalischen Stil reagiere ein “ Polystilismus der Choreographie ” (ebd.). Durch die geschickte Verbindung von Allgemeinem und anschaulichen Detailanalysen vermag dieses sorgfältig dokumentierte Buch auch 229 Rezensionen Ballett-Laien Einblick in die Entwicklung einer von der Forschung vernachlässigten musikalischen Gattung zu geben. Bamberg A LBERT G IER Stefanie Watzka. Die ‘ Persona ’ der Virtuosin Eleonora Duse im Kulturwandel Berlins in den 1890er-Jahren. “ Italienischer Typus ” oder “ Heimathloser Zugvogel ” ? Tübingen: Francke, 2012, 349 Seiten. Während im 18. Jahrhundert vor allem überdurchschnittlich talentierte Künstler des Musiktheaters als Virtuosen bezeichnet wurden, werden seit dem 19. Jahrhundert auch begabte und beim Publikum besonders beliebte Akteure des Sprechtheaters, die durch ihre hochwertige, jedoch auch effektvolle Spielweise den Hauptfokus einer Inszenierung bilden, mit einer solchen Bezeichnung versehen. Doch nicht mehr nur die Leistungen auf, sondern auch die Performance außerhalb der Bühne ist in diesem Kontext von Bedeutung. Dabei verstehen es Virtuosen, sich öffentlichkeitswirksam zu vermarkten, um Zuschauer ins Theater zu locken und so neben künstlerischem Erfolg auch einen finanziellen Gewinn zu erzielen. Die Schauspielerinnen Sarah Bernhardt (1844 - 1923) und Eleonora Duse (1858 - 1924) gelten als Musterbeispiele des Virtuosentums. Durch ihre international erfolgreichen Gastspiele wurden sie von Zuschauern auf der ganzen Welt geliebt und bewundert und von zahlreichen Mitstreiterinnen kopiert. So überrascht es nicht, dass beiden Schauspielerinnen eine kaum zu überblickende Anzahl an Publikationen, insbesondere biographischer Art, gewidmet worden ist. Auch Stephanie Watzka stellt eine der beiden Ausnahmekünstlerinnen - Eleonora Duse - in den Mittelpunkt ihrer Dissertationsschrift Die ‘ Persona ’ der Virtuosin Eleonora Duse im Kulturwandel Berlins in den 1890er-Jahren. “ Italienischer Typus ” oder “ Heimathloser Zugvogel ” ? Dabei sieht sie klugerweise von einer Lebensbeschreibung der italienischen Schauspielerin ab und legt ihren Fokus auf die Gastspieltätigkeit der Duse im Deutschen Reich: Watzka konzentriert sich auf ausgewählte Gastspiele der Virtuosin in Berlin der 1890er Jahre, die die Italienerin 1892 am Lessing- Theater begründete, sowie exemplarisch für die Theaterprovinz auf ihre Auftritte in Mainz im Jahr 1895. Ihr Ziel ist es, aufzuzeigen, welche Folgen die Gastspieltätigkeit der Duse für die deutsche bzw. Berliner Gesellschaft in kultureller, sozialer wie auch national und transnationaler Hinsicht hatte. Hierbei stellt sie die These auf, dass das Gastspiel der Eleonora Duse die Funktion eines Katalysators der nationalisierend und gleichzeitig transnationalisierend wirkenden Strömungen innerhalb der deutschen Gesellschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert übernimmt. In ihrer Schrift greift die Autorin auf schriftliche Quellen zurück, welche vorwiegend aus Zeitschriften- und Zeitungsartikeln bestehen, die im geläufig zitierten Textkorpus um Eleonora Duse bis dato keine Berücksichtigung fanden. Den ersten Teil ihrer Abhandlung widmet Watzka der Frage nach nationalen Stereotypen und ihrer Funktion innerhalb kollektiver Vorstellungen, wobei sie ihren Schwerpunkt auf die Herausarbeitung der Stereotypisierung einer ‘ typisch italienischen ’ Schauspielkunst legt. In diesem Zusammenhang stellt sie im Analyseteil heraus, dass Eleonora Duse während ihres ersten Berliner Gastspiels von deutschen Rezensenten als Symbolfigur einer solchen Schauspielkunst betrachtet wurde. Expressive Gestik und Mimik, ein hoher Grad an Natürlichkeit, Einfühlung sowie Authentizität galten deutschen Kritikern als typisch italienisch und wurden als nachahmenswert für die Bühnenkünstler des Deutschen Reiches deklariert. Diesbezüglich legt Watzka dar, dass Eleonora Duse von deutschen Kritikern zwar ein herausragendes Talent zugesprochen wurde, man dieses jedoch als Teil ihres für die Schauspielkunst prädestinierten italienischen Naturells ansah und somit nicht als originär bewertete, was die eigene Kunstfertigkeit der Schauspielerin erheblich reduzierte. Im Mittelpunkt der von Watzka fokussierten Quellen findet sich also nicht die Individualität der Duse, sondern vielmehr die Projektionsfläche als die sie fungierte: zum einen von nationalen Stereotypen, anhand derer sich die Eigengruppe abgrenzen konnte und sich in diesem Prozess selbst Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 230 - 231. Gunter Narr Verlag Tübingen 230 Rezensionen