Forum Modernes Theater
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BalmeWolf-Dieter Ernst. Der affektive Schauspieler. Die Energetik des postdramatischen Theaters. Berlin: Theater der Zeit, 2012, 256 Seiten.
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Marion Tiedtke
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definierte, zum anderen von bürgerlichen Begehrensstrukturen, die von dem Wunsch nach dem Autochthonen und dem Exotismus geprägt waren [. . .]. (S. 188) Watzka arbeitet sehr präzise heraus, dass es Eleonora Duse in den folgenden Jahren, insbesondere seit ihren Auftritten in Mainz 1895 und endgütig mit der Darbietung der Kameliendame 1899, jedoch gelungen ist, die ihr im deutschen Diskurs während der ersten Gastspiele zugeschriebene Rolle als Repräsentantin der typisch italienischen Schauspielkunst zu minimieren und ihre individuelle Kunstfertigkeit mehr in den Vordergrund zu rücken. Vor allem aufgrund ihres zu diesem Zeitpunkt bereits großen internationalen Erfolges wurde sie von deutschen Kritikern zunehmend als eine universale Künstlerin anerkannt. Der “ italienische Typus ” wurde so, wie aus einer Rezension der Vossischen Zeitung im Titel des Buches zitiert wird, zum “ heimathlosen Zugvogel ” . Dennoch, so betont die Autorin, wurde Eleonora Duse im deutschen Diskurs weiterhin als eine Fremde stereotypisiert. Eine solche Diversifizierung der Perspektiven lässt Watzka den Rückschluss auf die deutsche Wir- Gruppe ziehen, die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert einerseits zunehmend für kosmopolitisches Denken öffnete, andererseits aber eine klar definierte deutsche Kultur wünschte: Kosmopolitismus beziehungsweise Transnationalitismus sowie Metropolitanismus (wie im Falle Berlins) auf der einen Seite und ein sich modifizierender Nationalismus auf der anderen Seite schlossen sich um 1900 also nicht aus, sondern existierten als in der Gesellschaft gleichzeitig vorhandene Strömungen. (S. 314) Stefanie Watzkas Arbeit überzeugt durch eine intensive und kritische Auseinandersetzung mit historischen Quellen. Immer wieder gibt die Autorin wichtige theatergeschichtliche Zusatzinformationen und wertvolle Exkurse, die die deutsche Rezeption um Eleonora Duse bereichern. Auch gelingt es ihr, insbesondere im zweiten Teil der Abhandlung, die mononationale Perspektive auf das 19. Jahrhundert zu erweitern. Allerdings wäre es diesbezüglich wünschenswert gewesen, wenn Watzka den Transnationalismusbegriff nicht limitiert aus dem deutschen Diskurs heraus angewandt, sondern seine methodischen Vorteile gerade in Hinblick einer vergleichenden Untersuchung ausgenutzt hätte. So wäre es in diesem Zusammenhang z. B. nicht uninteressant gewesen, einen Blick in die ausländische Presse zu werfen, um nachzugehen, ob vor dem Hintergrund des Nation-Building-Prozesses hier ebenfalls Tendenzen einer ähnlichen Stereotypisierung der Schauspielerin auszumachen seien und somit etwa als transnationale Phänomene betrachtet werden können, oder ob die Rezeption der Virtuosin vielmehr als eine deutsche und somit lokale Besonderheit aufzufassen sei. Dies stellt nicht in Abrede, dass die Dissertationsschrift von Stefanie Watzka sehr lesenswert ist. Die Autorin arbeitet einleuchtend an den Gastspielen der Schauspielerin Eleonora Duse heraus, wie sich Tradition und Moderne im Deutschen Reich des ausgehenden 19. Jahrhunderts brechen und wie stark die Institution des Gastspiels in dieser Zeit Politisierungen ausgesetzt war. So ist die Publikation nicht nur für Eleonora Duse Fans, sondern gerade auch für all diejenigen zu empfehlen, die sich mit dem Theater, vor allem aber mit dem Gastspielwesen des Deutschen Reiches im 19. Jahrhundert befassen. München B ERENIKA S ZYMANSKI -D ÜLL Wolf-Dieter Ernst. Der affektive Schauspieler. Die Energetik des postdramatischen Theaters. Berlin: Theater der Zeit, 2012, 256 Seiten. Seit einigen Jahren häufen sich Konferenzen und Tagungen zu den zentralen Fragen, wie sich die Ausbildung für den Schauspieler im Hinblick auf das zeitgenössische Theater verändern müsse. Dass der Schauspieler heute nicht mehr nur ein Rollenbild zu erfüllen habe, dass die gängigen Spielweisen aus der Schule Stanislawskis oder Brechts den vielfältigen Theaterformen bei weitem nicht mehr Rechnung tragen und sich die Position des Schauspielers im Probenprozess ver- Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 231 - 233. Gunter Narr Verlag Tübingen 231 Rezensionen ändert hat, ist evident. Dennoch gibt es kaum einschlägige Literatur dazu, die speziell den Paradigmenwechsel beschreibt, der sich in den letzten zwanzig Jahren an unseren Bühnen vollzogen hat. Der Theaterwissenschaftler Wolf-Dieter Ernst, ausgebildet an der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen, hat sich diesem Thema in seiner neu erschienenen Forschungsarbeit Der affektive Schauspieler gestellt. Den Begriff des Affektiven benutzt Ernst vor allem deshalb, weil es ihm nicht um die Erarbeitung einer Schauspieltheorie geht, die erklärt, wie man auf der Bühne Affekte herstellt, sondern um das Wirkungsprinzip einer schauspielerischen Darstellung, die sowohl die Beziehung zum Publikum auslotet wie auch das Spiel für den Spieler selbst, der von seinem eigenen Spiel noch affiziert wird. Das Titelbild seines Buches soll dabei zur symptomatischen Aussage werden. Es zeigt den holländischen Schauspieler Benny Claessens in Alwis Hermanis ’ Aufführung Ruf der Wildnis, liegend neben zwei Hunden. Für den Autor ist diese Szene Ausdruck von Hemmung und Entladung einer Energie, für die sinnbildhaft das Tier steht: der affektive Schauspieler sieht sich ausgesetzt in einer bewussten Theaterverweigerung oder aber extremen Übersteigerung. Die Kunst des Schauspielers im zeitgenössischen Theaters erschöpft sich eben nicht in der Erfüllung einer Rolle, in glaubwürdiger Verstellung - der Schauspieler ist um so wahrer, je besser er lügt, wie es Peter Stein noch glaubte - oder in der Einfühlung. Stattdessen wird die Rolle zum Anlass einer energetischen Darstellung, die den Text gleichsam affektiv über- oder unterbietet. Die Entwicklung einer solchen darstellerischen Praxis wurzelt vor allem in einem Diskurs über Theater und einer Aufführungspraxis, die sich dem postdramatischen Theater verdankt. Als Überwindung des Repräsentationstheaters stellt es komplett neue Aufgaben an den Schauspieler. Der Text wird zum Vehikel einer affektiven Darstellung, die den Schauspieler in das Risiko der jeweiligen als Erlebnis erfahrenen Probe oder Vorstellung führt, die er nicht mehr durch Rollenbilder oder Klischees kontrollieren kann. Wolf-Dieter Ernst beschreibt Trainings- und Ausbildungsmethoden und Probenbedingungen der Regisseure Heiner Müller, Luk Perceval, René Pollesch sowie Jan Fabre und analysiert die Kunst der Schauspieler Katja Bürkle, Grace Ellen Barkey, Hans Petter Dahl, Thomas Thieme, Bernd Moss und Martin Wuttke. Mit seiner Recherche und Analyse zu Hitler-Darstellungen bei Bruno Ganz und Martin Wuttke, zur Zeiterfahrung in Luk Percevals Schlachten, zur Gedächtnisarbeit bei der Needcompany und der Selbstreflexion der Affekte in der Theaterarbeit von René Pollesch macht Ernst ein breites Spektrum auf und berührt dabei zugleich theatergeschichtliche Diskurse wie Artauds Ekstase, Diderots Paradox des Schauspielers oder Peter Brooks leeren Raum und Grotowskis Techniken der Selbstentblößung, was in der angesetzten Fülle natürlich nicht erschöpfend behandelt werden kann. Am Ende verweist er noch auf einen Methodenwechsel in der Sprecherziehung. Wo einstmals der richtige Sprachduktus klassischer Texte im Vordergrund stand, noch eng verwandt mit dem Wohlklang in einer Gesangsausbildung, entwickelten sich stimmtechnische Trainingsmethoden, welche die Grundlagen für ein affektives Spiel legen: mit ihnen als Trennung von körperlichen Vorgang und Sprechsemantik konnten zwei Seiten einer ästhetischen Darstellung gewonnen werden. Dass diese zwei Seiten eindrücklich im Spiel zu nutzen sind, analysiert Ernst in der Darstellung des Dirty Rich von Thomas Thieme. Hier sitzt einer der großen zeitgenössischen Schauspieler als Richard der Dritte alleine auf der Bühne, stellt sich dem Sprachwirrwarr aus englischen und deutschen Wortfetzen, die eine Konversation im üblichen Sinne schon ausschließen und die Figur in ihrer Sprachverlorenheit und -verwirrung vorführen. Wie Thieme aber die sprachliche Vorlage darstellerisch überbietet, in dem er alle Mittel von Atem-, Stimm- und Sprechtechnik einsetzt und damit sein darstellerisches Repertoire komplett auslotet, wird Ernst zum Beweis einer affektiven Spieltechnik: So kommt der Schauspieler Thieme schließlich selbst an einen Punkt der darstellerischen Erschöpfung (nicht Ermüdung, wohlgemerkt! ) aller seiner Mittel und Spielweisen, die er bis zur Entgrenzung des eigenen Spiels einsetzt und damit zum Höhepunkt einer darstellerischen Intensität führt: Person und Rolle fallen in eins ebenso Spiel und unmittelbares Erleben. In der Arbeit von René Pollesch sieht Ernst das Paradox von Diderot erfüllt, zeitgleich in Exzess und Ermüdung sich der Darstellungsaufgabe zu 232 Rezensionen nähern. “ Pollesch Spielfiguren erleichtern diese paradoxe Kommunikation nicht zuletzt dadurch, dass sie noch Theaterfiguren behaupten und zugleich als Meta-Theater, das heißt Theaterdiskurse diese Theaterfiguren infrage stellen, ironisieren und kommentieren ” . Katja Bürkles Spiel in Pollesch Inszenierung Liebe ist kälter als das Kapital zergliedert Ernst in Sprache und Gestik, zeigt ihre Darstellung von Verzweiflung und Peinlichkeit, die sie im Moment der Darstellung in die Unmöglichkeit der Darstellung überführt. Die affektive Schauspielerin setzt eben nicht auf eine souverän geführte schauspielerische Darstellung, die sich in ihrer Kunstfertigkeit beweist, sondern vielmehr auf eine eigene Gefährdung, Begrenzung und Unfähigkeit: Katja Bürkle lässt sich selbst von ihrem ungesicherten Spiel affizieren. Im Moment des Spiels wird die Figur defiguriert und damit das Theater von Pollesch zur Verweigerung eines repräsentativen Spiels, das gesellschaftliche Denkbilder und Gefühlswelten immer nur reproduziert. Diese Beispiele mögen neugierig machen auf die verschiedenen Recherchen, an deren Ende der Leser entscheiden muss, ob der zeitgenössische Schauspieler in der Kategorie des Affektiven eindrücklich und hinlänglich beschrieben ist. Frankfurt a. M. M ARION T IEDTKE Katharina Pewny. Das Drama des Prekären. Über die Wiederkehr der Ethik in Theater und Performance. Theater, Band 26. Bielefeld: Transcript Verlag, 2011, 331 Seiten. Seit der Jahrtausendwende - und verschärft seit Ausbruch der gegenwärtigen Finanz-, Staatsschulden-, und schließlich auch Beschäftigungskrise im Jahr 2007 - , ist der Begriff “ prekär ” in aller Munde. Ob es sich nun um die Beschreibung unzureichend die Zukunft sichernder Beschäftigungsverhältnisse, das Lebensgefühl der “ Generation Praktikum ” oder eine Grundkonstante menschlichen Lebens im Zeichen von 9/ 11 und Guantanamo (Judith Butler) handelt, charakterisiert er stets einen Mangel an Sicherheit und souveräner Verfügungsgewalt über einen Gegenstand, einen Zustand, oder das eigene Leben. Kaum ein Begriff mit all seinen Facetten von “ ungesichert ” , “ widerruflich ” , “ bittweise erlangt ” , “ flehentlich erbeten ” , oder “ verletzlich ” konnte so schnell in den unterschiedlichen Disziplinen Karriere machen wie das “ Prekäre ” , was sehr wahrscheinlich auch an seiner Attraktivität für eine Selbstbeschreibung des Wissenschafts- und Kreativprekariats (zu denen sich auch der Autor dieser Besprechung zählt) liegt. Die Theaterwissenschaftlerin Katharina Pewny unternimmt in ihrer bereits 2011 erschienenen Habilitationsschrift den Versuch, die Allgegenwärtigkeit dieses Schlagworts auf den deutschsprachigen Bühnen nicht nur inhaltlich auszudeuten, sondern auch für theoretische Überlegungen zur Ästhetik und Ethik des Performativen fruchtbar zu machen. Ausgehend von einer semantischen Bestimmung des Wortes “ prekär ” , die im Wesentlichen die genannten Bedeutungsfelder identifiziert, bemüht sich die Autorin um eine umfassende Einbettung ihres Forschungsdesiderats in die aktuellen Diskurse um das Postdramatische Theater (Hans-Thies Lehmann), die Theorie und Ästhetik der Performance Studies aus Sicht einer theaterwissenschaftlichen Forschung (Peggy Phelan, Erika Fischer-Lichte) sowie um deren Anschluss an sozialwissenschaftliche und ethisch-philosophische Diskurse (Emmanuel Lévinas, Louis Althusser, Nicolas Bourriaud). Dabei entwickelt sie die ihrer Arbeit zugrunde liegende These, dass das postdramatische Gegenwartstheater in seiner gesamten Bandbreite von Theatertexten, über Tanz- und Performance-orientierten Zugängen, bis hin zu Adaptionen nichtliterarischer Vorlagen das “ Prekäre ” nicht nur explizit dramatisiert, sondern in zahlreichen Variationen auch als “ Leerstelle ” der eingesetzten theatralen Codes “ performt ” . (S. 13 - 21) Daraus ergebe sich ein “ ästhetisches Modell ” (S. 21) für die Theatersituation als “ Begegnung des Publikums mit den Performenden, beziehungsweise mit der Bühnensituation. Diese theatralen Begegnungen finden [. . .] unter der Voraussetzungen des Prekären, mithin des Ungesicherten, statt ” . (S. 24) Denn durch die - implizite oder explizite - Anrufung des Zuschauers “ eröffnet sich ein komplexer performativer Vorgang, der die spezifische Theatralität der leiblichen Co-Präsenz von Per- Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 233 - 235. 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