eJournals Forum Modernes Theater 26/1-2

Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/0601
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Katharina Pewny. Das Drama des Prekären. Über dieWiederkehr der Ethik in Theater und Performance. Theater, Band 26. Bielefeld: Transcript Verlag, 2011, 331 Seiten.

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nähern. “ Pollesch Spielfiguren erleichtern diese paradoxe Kommunikation nicht zuletzt dadurch, dass sie noch Theaterfiguren behaupten und zugleich als Meta-Theater, das heißt Theaterdiskurse diese Theaterfiguren infrage stellen, ironisieren und kommentieren ” . Katja Bürkles Spiel in Pollesch Inszenierung Liebe ist kälter als das Kapital zergliedert Ernst in Sprache und Gestik, zeigt ihre Darstellung von Verzweiflung und Peinlichkeit, die sie im Moment der Darstellung in die Unmöglichkeit der Darstellung überführt. Die affektive Schauspielerin setzt eben nicht auf eine souverän geführte schauspielerische Darstellung, die sich in ihrer Kunstfertigkeit beweist, sondern vielmehr auf eine eigene Gefährdung, Begrenzung und Unfähigkeit: Katja Bürkle lässt sich selbst von ihrem ungesicherten Spiel affizieren. Im Moment des Spiels wird die Figur defiguriert und damit das Theater von Pollesch zur Verweigerung eines repräsentativen Spiels, das gesellschaftliche Denkbilder und Gefühlswelten immer nur reproduziert. Diese Beispiele mögen neugierig machen auf die verschiedenen Recherchen, an deren Ende der Leser entscheiden muss, ob der zeitgenössische Schauspieler in der Kategorie des Affektiven eindrücklich und hinlänglich beschrieben ist. Frankfurt a. M. M ARION T IEDTKE Katharina Pewny. Das Drama des Prekären. Über die Wiederkehr der Ethik in Theater und Performance. Theater, Band 26. Bielefeld: Transcript Verlag, 2011, 331 Seiten. Seit der Jahrtausendwende - und verschärft seit Ausbruch der gegenwärtigen Finanz-, Staatsschulden-, und schließlich auch Beschäftigungskrise im Jahr 2007 - , ist der Begriff “ prekär ” in aller Munde. Ob es sich nun um die Beschreibung unzureichend die Zukunft sichernder Beschäftigungsverhältnisse, das Lebensgefühl der “ Generation Praktikum ” oder eine Grundkonstante menschlichen Lebens im Zeichen von 9/ 11 und Guantanamo (Judith Butler) handelt, charakterisiert er stets einen Mangel an Sicherheit und souveräner Verfügungsgewalt über einen Gegenstand, einen Zustand, oder das eigene Leben. Kaum ein Begriff mit all seinen Facetten von “ ungesichert ” , “ widerruflich ” , “ bittweise erlangt ” , “ flehentlich erbeten ” , oder “ verletzlich ” konnte so schnell in den unterschiedlichen Disziplinen Karriere machen wie das “ Prekäre ” , was sehr wahrscheinlich auch an seiner Attraktivität für eine Selbstbeschreibung des Wissenschafts- und Kreativprekariats (zu denen sich auch der Autor dieser Besprechung zählt) liegt. Die Theaterwissenschaftlerin Katharina Pewny unternimmt in ihrer bereits 2011 erschienenen Habilitationsschrift den Versuch, die Allgegenwärtigkeit dieses Schlagworts auf den deutschsprachigen Bühnen nicht nur inhaltlich auszudeuten, sondern auch für theoretische Überlegungen zur Ästhetik und Ethik des Performativen fruchtbar zu machen. Ausgehend von einer semantischen Bestimmung des Wortes “ prekär ” , die im Wesentlichen die genannten Bedeutungsfelder identifiziert, bemüht sich die Autorin um eine umfassende Einbettung ihres Forschungsdesiderats in die aktuellen Diskurse um das Postdramatische Theater (Hans-Thies Lehmann), die Theorie und Ästhetik der Performance Studies aus Sicht einer theaterwissenschaftlichen Forschung (Peggy Phelan, Erika Fischer-Lichte) sowie um deren Anschluss an sozialwissenschaftliche und ethisch-philosophische Diskurse (Emmanuel Lévinas, Louis Althusser, Nicolas Bourriaud). Dabei entwickelt sie die ihrer Arbeit zugrunde liegende These, dass das postdramatische Gegenwartstheater in seiner gesamten Bandbreite von Theatertexten, über Tanz- und Performance-orientierten Zugängen, bis hin zu Adaptionen nichtliterarischer Vorlagen das “ Prekäre ” nicht nur explizit dramatisiert, sondern in zahlreichen Variationen auch als “ Leerstelle ” der eingesetzten theatralen Codes “ performt ” . (S. 13 - 21) Daraus ergebe sich ein “ ästhetisches Modell ” (S. 21) für die Theatersituation als “ Begegnung des Publikums mit den Performenden, beziehungsweise mit der Bühnensituation. Diese theatralen Begegnungen finden [. . .] unter der Voraussetzungen des Prekären, mithin des Ungesicherten, statt ” . (S. 24) Denn durch die - implizite oder explizite - Anrufung des Zuschauers “ eröffnet sich ein komplexer performativer Vorgang, der die spezifische Theatralität der leiblichen Co-Präsenz von Per- Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 233 - 235. Gunter Narr Verlag Tübingen 233 Rezensionen formenden und Publikum sowohl nutzt als auch [. . .] hervorbringt ” (S. 32). Dabei werde ein “ kommunikatives Dreieck ” (ebd.) aus Akteur, Betrachter und Bühnengeschehen evoziert, das letztlich nur als performativer und relationaler Prozess beschrieben, niemals jedoch festgeschrieben werden könne. Gleichfalls werde das Dargestellte als “ instabiler Zustand assoziiert ” , aber nicht unbedingt “ narrativ entfaltet ” (S. 34): Prekär [. . .] verweist auf eine Schwierigkeit, ohne diese narrativ zu füllen und ohne das, worauf es sich bezieht, in eine letztgültige Definition zu pressen. [. . .] Wenn widerruflich ist, was prekär ist, dann bringt prekär eine Relation zwischen Rufenden und Gerufenen und damit diese beiden (Subjekt-) Positionen erst hervor. Wenn diese Relation theatral ist, dann erlaubt sie die abwechselnde Besetzung dieser beiden Positionen durch ein Theaterpublikum. Eine dergestalte Publikumsaktivität ist ebenfalls nicht von Dauer, sondern per se ungesichert, denn sie bewohnt ihr Imaginäres. Diese Ungesichertheit, aber auch die Produktivität des Imaginären wird hier besonders betont, wenn die Geschichte endet, indem die Aufführung beendet wird. (S. 34 f ) Und damit konstituiere sich, Pewny zufolge, die theatrale Situation als Realität, zwischen der und anderen Realitäten das Prekäre wie auf einem “ Möbius-Band ” (S. 95) zirkuliere. Durch seine, wie auch immer geartete, Beteiligung an diesem Geschehen, sei der Zuschauer dabei stets auch im Sinne Lévinas ’ in eine “ Verantwortung zur Antwort auf das Bühnengeschehen ” (S. 109) eingebunden, da er am Zustandekommen der “ Performanz des Prekären ” (S. 110) mitbeteiligt sei. So werde mit dem Zustandekommen eines performativen Aktes stets auch “ Ethik [. . .] in künstlerischen Aufführungen des Prekären auf performative Weise hervorgebracht ” (S. 112). An diese Überlegungen schließt Pewny drei Kapitel mit repräsentativen Aufführungsanalysen an: (a) zum “ Posttraumatischen Theater als Wahrnehmung des Ungesicherten ” ; (b) dem “ Transformatorischen Theater als Sicherung des Ungesicherten ” ; sowie (c) zum “ Relationalen Theater als (unmögliche) Begegnung mit dem Ungesicherten ” . Die in diesen Kapiteln durchwegs knapp und überaus leserfreundlich gehaltenen Fallstudien decken kenntnisreich eine Vielzahl der namhaften Autoren, Regisseure, Choreographen und Performer des avancierten Gegenwartstheaters der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts ab. Darin erläutert die Autorin wie (a) traumatische Erfahrungen als Begegnungen mit dem “ Anspruch des Anderen ” (S. 138) mittels ästhetischer Verfahren in “ körperliche Einschreibungen ” (S. 139) transponiert werden, um “ bereits stattgefundene Verletzungen des ungesicherten Lebendigen ” (S. 140) in der gegenwärtigen Theatersituation näherungsweise zu aktualisieren und damit dem Publikum nachvollziehbarer werden zu lassen; (b) “ die Formveränderung des Prekären ” (185) von einem Status der Unsicherheit in eine Stabilisierung der eigenen oder einer kollektiven Lebenssituation umgestaltet werden kann; und (c) die interdisziplinären Arbeitsweisen postdramatischen Theaters mit der Herstellung innertheatraler Sozialwirklichkeiten auf wie hinter der Bühne, sowie zwischen Bühne und Zuschauerraum “ verfransen ” (S. 248). Hierbei erweisen sich Pewnys Analysen von (a) Christoph Marthalers Schutz vor der Zukunft (2005); (b) der Heidi-ho Trilogie René Polleschs (2001/ 02); sowie (c) von Karl Marx: Das Kapital, Erster Band des Regie- Labels Rimini Protokoll (2005) als besonders gelungen, lesenswert, und für den gewählten Theorierahmen produktiv. Pewnys Ausführungen zum “ posttraumatischen ” und “ transformatorischen ” Theater sind im Wesentlichen gut nachvollziehbare und naheliegende Erweiterungen der vorliegenden Standardwerke Hans-Thies Lehmanns und Erika Fischer-Lichtes (Ästhetik des Performativen) um die Dimension des Ethischen im avancierten Gegenwartstheater. Dabei sind in den Details durchaus Schwierigkeiten in der Verbindung von theoretischem Programm und der Analyse künstlerischer Praxis in der gesamten Bandbreite performativer theatraler Ausdrucksformen feststellbar. Die dargestellte Methode des wissenschaftlichen “ Überschreibens ” (S. 121 - 131) der Aufführungstexte um die Kategorie des Prekären ist aufgrund des starken theoretischen Interesses der Autorin durchaus überzeugend, aber für die Praxis der theaterwissenschaftlichen Analyse sicherlich noch diskussionswürdig. Mit ihrem 234 Rezensionen Beitrag zum “ relationalen Theater ” betritt Katharina Pewny hingegen Neuland, das fachlichen Weitblick für den Anschluss theaterwissenschaftlicher Forschung an sozialwissenschaftliche Diskurse demonstriert. Hier liegen wohl die interessantesten Herausforderungen für die Theoriebildung der nächsten Dekade. München G ERO T ÖGL Hermann Korte u. Hans-Joachim Jakob (Hg.). “ Das Theater glich einem Irrenhause. ” Das Publikum im Theater des 18. und 19. Jahrhunderts. Heidelberg: Winter, 2012, 311 Seiten. In ihrem Sammelband fokussieren die beiden Literaturwissenschaftler Hermann Korte und Hans-Joachim Jakob auf die ihrer Aussage nach “ weitgehend unbekannte Größe ” der Zuschauerinnen und Zuschauer, um das Publikum als aktiven Mitgestalter der Kommunikation und des Erlebnisses ‘ Theater ’ stärker in den Blick zu bekommen und eröffnen damit die neue Reihe “ Proszenium. Beiträge zur historischen Theaterpublikumsforschung ” . Der Einbezug performativer und transitorischer Aspekte des Bühnengeschehens sprenge, so Korte und Jakob, die literaturwissenschaftlich tradierte Dramenanalyse und erfordere die Erschließung bisher wenig beachteter Quellen. Die Herausgeber formulieren hier das Desiderat einer literaturwissenschaftlichen Perspektive, die durch die umfassenden editorischen Vorarbeiten zu den Theaterpublikationen des 18. Jahrhunderts von Wolfgang Bender u. a. 1 gut fundiert werden kann. Mit seinem einleitenden Artikel “ Historische Theaterpublikumsforschung ” bietet Hermann Korte einen lesenswerten Überblick über den Forschungsstand und die wesentlichen Fragestellungen zur Situation des Publikums im Übergang zwischen Aufklärung und Moderne. Zum einen konstatiert er hier eine spezifische Rolle des Publikums, von dessen Geschmack und Reaktion die Theateraufführungen wesentlich abhingen, welche noch keine geschlossene Ensembleleistung vorweisen konnten, keine dramaturgische Textbehandlung und keine künstlerische Regiekonzeption, so Korte. Der häufig wechselnde Spielplan reagierte rasch auf die Zustimmung oder Ablehnung durch das Publikum, nicht selten waren diese Publikumsäußerungen laut und unvorhersehbar. Um 1800 nun muss man einen kulturelle Wahrnehmungs- und Sehgewohnheitenwandel konstatieren, der wesentlich verbunden ist mit den künstlerischen, literarischen und institutionellen Transformationen der Theaterpraxis. Seit den 1770er Jahren reagierten Theaterzeitschriften zunehmend kritisch auf ein aktives und einsprechendes Publikum, der aufmerksame und stille Zuhörer/ Zuschauer wurde diskursiv zum Ideal erhoben. Korte diskutiert hier wesentliche Texte aus den Theaterjournalen, die sich mit dieser Umdeutung des Zuschauers, des Zuschauens als disziplinierten Adressat eines ‘ Bildungstheaters ’ befassen und gibt einen umfassenden Einblick in die historische Situation. 2 Damit gibt er dem Band eine grundsätzliche Perspektive, von der aus die weiteren Beiträge operieren. So etwa auch Peter Heßelmann, der mit seinem Beitrag “ Der Ruf nach der ‘ Polizey ’ im Tempel der Kunst. Das Theaterpublikum des 18. Jahrhundert zwischen Andacht und Vergnügen ” die Disziplinierung der Zuschauer weiter ausführt und exemplarisch fundiert. Johannes Birgfeld spannt mit seinem Beitrag “ Theater ohne Schauspiel? Theatre on location? Kotzebues Konzept dramatischer Spiele zur geselligen Unterhaltung auf dem Lande mit Blick auf sein Verhältnis zum Publikum ” die kulturhistorische Perspektive von Theaterpraxis weiter auf und macht somit den wichtigen Schritt hin zur Frage der gesamtgesellschaftlichen Situation und der Funktion von Theater. Hier gewinnen wir ein spannendes ‘ anderes ’ Bild von August von Kotzebue, der mit quasi theaterpädagogischen Mitteln, nämlich der serienweisen Publikation von leicht nachzuspielenden Einaktern und Kurzdramen in seinem Almanach dramatischer Spiele (1803 - 1820), dem Unterhaltungs- und Darstellungsbedürfnis der Bürger nachkommen wollte. Anschaulich stellt uns Birgfeld Kotzebue als einen Autor vor, der dem ‘ Primat der Besserung des Publikums ’ verpflichtet war und gleichzeitig mit seiner ‘ Dramatik der kleinen Schritte ’ das Theaterspielen beförderte und so die bürgerliche Thea- Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 235 - 237. Gunter Narr Verlag Tübingen 235 Rezensionen