Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
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2012
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BalmeSebastian Breu. Anatomie des Alltags. Postdramatischer Realismus bei Hirata Oriza und Okada Toshiki. München: Iudicium Verlag, 2014, 139 Seiten.
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Ken Hagiwara
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Sebastian Breu. Anatomie des Alltags. Postdramatischer Realismus bei Hirata Oriza und Okada Toshiki. München: Iudicium Verlag, 2014, 139 Seiten. Japanisches zeitgenössisches Theater wird heute außerhalb Japans immer bekannter. Aktive Theatermacher stellen in verschiedenen internationalen Theaterfestivals wie in Brüssel, Mannheim und Wien ihre Arbeiten vor, und manche Uraufführungen finden sogar außerhalb Japans statt. Das nichtjapanische Publikum kann jedoch im Normalfall nicht erkennen, wie sich die (Körper-) sprachen in den einzelnen Aufführungen voneinander unterscheiden. Eine systematische und sorgfältige Antwort auf diese Frage gibt Anatomie des Alltags. Postdramatischer Realismus bei Hirata Oriza und Okada Toshiki. Der Autor Sebastian Breu studierte in Wien, Osaka und Berlin Japanologie und Vergleichende Literaturwissenschaft und arbeitet zurzeit an seiner Dissertation an der Graduate School of Arts and Sciences der Universität Tokyo. Er betreut außerdem als Dramaturg verschiedene japanische Theatergruppen, deren Vorstellungen in und außerhalb von Japan stattfinden. Aufgrund seiner profunden Japanischkenntnisse und Erfahrungen aus der Theaterpraxis erklärt Breu die (körper-)sprachlichen Charakteristika der Arbeiten zweier leitender zeitgenössischer japanischer Dramatiker/ Regisseure, Hirata Oriza und Okada Toshiki (im Japanischen wird der Familienname dem Vornamen vorangestellt). Analysiert werden die Prinzipien und Prozesse ihrer Dramen- und Regiearbeit. Die Einleitung skizziert die Entwicklung des japanischen Sprechtheaters, das sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts unter dem europäischen Einfluss mit der Darstellung der Realität auseinandergesetzt hat. Die Arbeiten einiger jüngerer Theatermacher werden jedoch als eine neue Art von Darstellung der Realität betrachtet. Der Schlüsselbegriff, den Hirata Oriza hierfür vorschlägt, ist „Theater der zeitgenössischen Umgangssprache“. Im ersten Teil des Buchs untersucht der Autor Hiratas Theorie. In den vergangenen hundert Jahren bis zu Hiratas Ansatz wurde das japanische Sprechtheater von der „‚Darstellung der Realität‘ innerhalb der Formgrenzen und Genrekonventionen des dramatischen Theaters“ (S. 35) dominiert. Sie wurde bei Hirata als „die ‚Lüge‘ des Theaters“ aufgehoben, so dass ein „postdramatischer Realismus“ (Breu) entstand. Hirata „fordert einen Paradigmenwechsel‚ von einem Theater, das Handlung darstellt, zu einem Theater, das Zustände darstellt“ (S. 36); in seinem Theater herrscht der „Realismus der Anwesenheit“ (S. 39). Breu erweitert Hiratas Ansatz durch Luhmanns Systemtheorie und Bunias Fiktionstheorie. Im zweiten Teil werden die Praxen von Hirata und Okada am Beispiel ihrer repräsentativen Dramen analysiert. Hiratas Noten aus Tokyo (1994) verfolgt ruhige, doch manchmal höchst angespannte Gespräche in einem Museumsfoyer. Hirata, der realistische Alltagsszenen in Japan untersucht und sich für die Subjektivität von „Japanisch Sprechenden“ (S. 64) interessiert, lässt seine Schauspieler „so emotionslos wie möglich“ (S. 80) agieren. Sein Text ist zudem mit „mathematisch genauen Anweisungen“ (S. 81) versehen, wie in einer Partitur. Die Zeichenlegende am Anfang des Dramas bestimmt z. B. simultan ausgesprochene Sätze, überlappende Sprechtexte oder Pausenlängen. Okadas ebenso exakte Art der Realitätsdarstellung wird als eine weiterentwickelte Version des postdramatischen Realismus betrachtet. In seinem Fünf Tage im März (2004), das ein Tokyoter Stundenhotel während des Irak-Kriegs zum Schauplatz wählt, findet man viele Gemeinsamkeiten zu Noten aus Tokyo. Beide erzählen „von einem Krieg in der Ferne, der durch den Alltag in Tokyo gefiltert wie ein fiktionales Ereignis erscheint“. Beide „portraitieren mit hoher Detaillastigkeit einen kleinen Ausschnitt des Lebens in der Großstadt“ und „zeigen ein ausgeprägtes Problembewusstsein für den Status Quo der japanischen Gesellschaft und des japanischen Theaters“ (S. 99). Okada schreibt aber in den Sprechtext ein sogenanntes Noise ein, das im Alltag erkannt, aber in Dramen meist ignoriert wird. Dies bedeutet, dass sein Text durch „[p]räzise Ungenauigkeiten“ (Breu) charakterisiert ist. Okada identifiziert außerdem Sprecher und Rolle nicht und „lässt eine beliebige Anzahl von Akteuren als anonyme Diskursträger Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 120-121. Gunter Narr Verlag Tübingen 120 Rezensionen (‚Schauspieler 1‘ etc.) auftreten“ (S. 110). Seine Schauspieler sind „auf der Bühne keine Persönlichkeiten, sondern Körper im fast schon mathematischen Sinne“ (S. 111). Zusammenfassend behauptet Breu, das Theater der zeitgenössischen Umgangssprache sei „eine Reinkarnation von realistischem Texttheater unter den Bedingungen allgemeiner Sprach- und Repräsentationsskepsis“ (S. 117). Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Okadas Aussage, dass er von Brechts Aufsatz Kann die heutige Welt durch Theater wiedergegeben werden? beeinflusst worden sei. Fünf Tage im März könnte also „eine ‚epische‘ oder ‚verfremdete‘ Variante von Hiratas Theater der zeitgenössischen Umgangssprache“ (S. 119) genannt werden. Außerdem lasse sich „[i]n der [. . .] eröffneten Distanz zwischen Erzählern und Erzähltem, zwischen Sprache und Körper - und damit auch: zwischen Tokyo und dem Krieg im Irak“ „eine Verwandtschaft zur Theatermontage von Bertolt Brecht entdecken“ (S. 121). Berücksichtigt man die Arbeiten von Hirata und Okada, kann man die Frage von Brecht sehr wohl bejahen, allerdings „nur, wenn man zugibt, dass sie [die heutige Welt, K. H.] dabei unsichtbar bleiben muss“ (S. 122). So wie in den letzten Jahren japanische Gastspiele außerhalb Japans zugenommen haben, ist auch öfter in deutscher Sprache über japanisches Sprechtheater geschrieben worden. Fischer-Lichte (2010) hat die ersten Auseinandersetzungen der japanischen Intellektuellen mit der Rezeption des europäischen Sprechtheaters im transkulturellen Kontext diskutiert. Auch die Arbeiten der zeitgenössischen japanischen Theatermacher sind Gegenstand der Forschung, wie z. B. bei Lehmann/ Hirata (2009) oder Pewny (2011) für die vorliegende Zeitschrift. Im Vergleich mit den genannten Arbeiten, die einem theaterwissenschaftlichen oder philosophischen Ansatz folgen, wählt der Japanologe Breu einen soziolinguistischen Ansatz und konzentriert sich auf den Aspekt der (Körper-)sprache. Ein weiteres Verdienst liegt in der Übertragung aktueller umgangssprachlicher japanischer Zitate aus den Texten in die deutsche Umgangssprache. Hierbei muss jedoch bemerkt werden, dass die Übersetzung an einigen Stellen noch zu schriftsprachlich ist. Um den Ton der japanischen Umgangssprache genauer zu treffen, sollten die Wortwahl im Deutschen noch lässiger und der Satzbau noch unvollständiger sein. Wie man sich verhält, hängt eng damit zusammen, was und wie man spricht. Dieses Was und Wie des japanischen zeitgenössischen Sprechtheaters, und die Frage, warum die Praxen japanischer Theatermacher in der jüngsten Zeit anders sind als die der konventionellen Theatermacher, erklärt Breu zum ersten Mal ausführlich in deutscher Sprache. Gleichzeitig wird, wie der Autor zu Beginn selbst anmerkt, „Hiratas einflussreiche Schauspieltheorie [. . .] erstmals im Rahmen einer kommentierten Analyse für den deutschen Sprachraum zugänglich“ (S. 9) gemacht. Einige kleine typographische Fehler stören zwar den Lesefluss an einigen Stellen, beeinträchtigen jedoch den Gesamtwert des Buches nicht. Neben den ausführlich angeführten Zitaten sind auch das Glossar zu Schlüsselbegriffen und -personen (S. 127 - 139) und die abgedruckten Bühnenfotos für das Verständnis dieser jüngsten Form des japanischen Theaters hilfreich. Tokyo KEN HAGIWARA Bernd Stegemann. Kritik des Theaters. Berlin: Theater der Zeit, 2013, 334 Seiten. Eine Kunst, die so sehr Gefallen daran findet, ihre eigenen Verfahren zu dekonstruieren, dass sie darüber versäumt, die Wirklichkeit der ökonomischen Verhältnisse zu verstehen und ihnen etwas entgegenzusetzen, leistet keine wirksame Kritik des neoliberalen Kapitalismus. Ihre lustvoll-reflexiven Experimente spielen vielmehr dessen Deregulierungen zu. Im Verzicht auf Opposition oder dialektische Konfliktzuspitzung hängt sie der Idylle eines friedlichen und vielfältigen Nebeneinanders nach, während die Ausbeuter ungestört den gesellschaftlich erwirtschafteten Reichtum abschöpfen. So lautet die an Ève Chiapello und Luc Boltanski anschließende These der Kritik des Theaters von Bernd Stegemann, der an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin Dramaturgie und Theaterge- Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 121-123. Gunter Narr Verlag Tübingen 121 Rezensionen