Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
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2013
281
BalmeRolle des Chors
0601
2013
Jean-Luc Nancy
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Rolle des Chors Jean-Luc Nancy (Strasbourg) Ein Chor beginnt jede Geschichte, immer. Ein Chor kommt vor jedem Protagonisten. Vor jedem zweiten Schauspieler und allen Gegenspielern. Vor Wortgefechten, Waffengefechten und Todeskämpfen. Bevor ein Einzelner anhebt, allein zu sprechen. Bevor eine Einzelne ihre Stimme erhebt. Bevor irgendjemand „ ich “ sagt. Der vor allem kommende Chor sagt „ ich “ , aber es ist nicht das Ich, das wir kennen. Es ist nicht das „ ich “ eines einzigen Mundes. Es ist nicht das „ ich “ , das angesichts anderer ausgesprochen wird. Weder angesichts der Weite der Ebenen oder des Ozeans noch in durchwachter Nacht auf einem Wachturm noch im dunklen Winkel einsamer Klage. Der erste Chor sagt „ ich “ aus hundert verschiedenen Mündern. Eine Vielzahl geht voraus, eine versammelte Menge ist dem Sprechen eines jeden vorausgegangen. Sogar das Sprechen selbst ist sich in dieser Zusammenkunft vorausgegangen. Es hat sich für die Möglichkeit zu sprechen geöffnet. Denn wie, wenn nicht zu mehreren sprechen? Das Mehrfache kommt vor dem Sprechen Das Mehrfache spricht vor jedem Einzelnen Es ist kein Beginn: es ist davor, es ist immer schon davor Es ist nicht einmal zuerst, es ist noch davor Es ist niemals gekommen, es war schon immer da Das Mehrfache, die Mehrzahl. Aber auch ein Einzelner kann nicht beginnen: er muss zumindest zu sich selbst sprechen. Aber wie könnte er, ohne sich von sich selbst zu unterscheiden? Wie, ohne sich zu einem anderen zu machen? Forum Modernes Theater, 28 (2013 [2017]), 8 - 10. Gunter Narr Verlag Tübingen Aber wer kann sich je zu einem anderen machen? Keiner kann das. Wer „ ich “ sagt, kann sich nicht als ein anderer erfinden, außer er spielt eine Theaterszene: und dies nur, wenn bereits eine Teilung in zwei Rollen vorliegt, Einen Protagonisten und einen Deuteragonisten, Einen Rivalen und dessen Rivalen, Eine Vertrauende und deren Vertraute, Einen Wachenden und einen Ankommenden. Wie aber sich diese Rollen teilen. Wie sich teilen, Ohne einen Blick, ein Ohr für sie, Für diese Schauspieler, Masken, Darsteller? Jede oder jeder von ihnen wird also das Publikum des anderen wie auch seiner selbst sein. Eine wirkliche Öffentlichkeit, präsentiert auf der Bühne Damit das Publikum sich repräsentiert sieht Und sein Denken in Szene gesetzt Seine Angst und sein verlautbartes Mitleid. So wird jede und jeder aus der Fabel Auch einen fabulösen Doppelgänger haben Der sich selbst wiederum vervielfachen kann Um Menge zu werden Hörend sehend Seine Empfindungen wiederum mitteilend. All diesen Doppelgängern wird man selbst wieder Masken, einfache Kostüme und Erscheinungsweisen geben, Auch Stimme, um in gemeinsamem Klang Laut werden zu lassen Das Chorlied: Oioioioi, Opopoi, ola, was kommt da, Was, sagt mir, geht dort vorbei, Was ist da unter uns, das uns nicht völlig gleicht, Das nicht mit uns allen übereinstimmt Und dennoch, dennoch ist wie wir? 9 Rolle des Chors Oh, arme Menschen, die ich sehe Ich, die Menschenmenge Oh glanzvolle Helden schöne Gestalten Hervorgetreten aus meiner vielköpfigen Menge Ihr werdet zu mir zurückkehren Ihr werdet mir euren Glanz und eure Tränen bringen Eure Wunden euren Gesang euren Schmuck Ich werde alles bei mir verbergen Alles in meiner zutiefst dunklen Mehrzahl Im Mehrfachen, das vor euch allen war Im Herzen meines Chors Im Verborgenen dieser Tanzschritte Wo vielzählig ich uns wiege. übersetzt von Christina Schmidt 10 Jean-Luc Nancy