Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
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2013
281
BalmeErde, Ströme, Chöre
0601
2013
Jörn Etzold
Der Aufsatz behandelt zunächst den entscheidenden Moment im Schreiben des Dichters Friedrich Hölderlin: Den Abbruch desTrauerspiel-Projekts Der Tod des Empedokles und den Beginn der Arbeit an einer neuen Form der Dichtung, den „Hymnen“, „Gesängen“ oder auch „vaterländischen Gesängen“. Dabei wird eine in der Forschung neue Perspektive eröffnet, jene auf den Chor. Hölderlin bricht dasTrauerspiel – in dem von einem „Chor“ vielfach die Rede ist, ohne dass er erscheint – eben mitten im ersten Lied ab, das er tatsächlich für diesen Chor schreibt. Die „Gesänge“werden als Fortsetzung dieser Arbeit am Chor verstanden, der im „Trauerspiel“ die Bühne nicht betreten konnte. Sie handeln nicht von tragischen Helden, sondern auch von der Erde und von Strömen, also von nicht-menschlichen Akteuren; in ihnen wird ein geschichtliches Geschehen ausgesagt, das nicht mehr an große Handelnde geknüpft werden kann. Im letzten Abschnitt wird dieses Konzept mit Karin Beiers Jelinek-Abend Das Werk / ImBus / Ein Sturz verglichen, in dem dasWasser und die Erde langsam von der Bühne der Protagonisten Besitz ergreifen.
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Erde, Ströme, Chöre. Von Hölderlin zu Jelinek / Beier Jörn Etzold (Bochum) Der Aufsatz behandelt zunächst den entscheidenden Moment im Schreiben des Dichters Friedrich Hölderlin: Den Abbruch des Trauerspiel-Projekts Der Tod des Empedokles und den Beginn der Arbeit an einer neuen Form der Dichtung, den „ Hymnen “ , „ Gesängen “ oder auch „ vaterländischen Gesängen “ . Dabei wird eine in der Forschung neue Perspektive eröffnet, jene auf den Chor. Hölderlin bricht das Trauerspiel - in dem von einem „ Chor “ vielfach die Rede ist, ohne dass er erscheint - eben mitten im ersten Lied ab, das er tatsächlich für diesen Chor schreibt. Die „ Gesänge “ werden als Fortsetzung dieser Arbeit am Chor verstanden, der im „ Trauerspiel “ die Bühne nicht betreten konnte. Sie handeln nicht von tragischen Helden, sondern auch von der Erde und von Strömen, also von nicht-menschlichen Akteuren; in ihnen wird ein geschichtliches Geschehen ausgesagt, das nicht mehr an große Handelnde geknüpft werden kann. Im letzten Abschnitt wird dieses Konzept mit Karin Beiers Jelinek-Abend Das Werk / Im Bus / Ein Sturz verglichen, in dem dasWasser und die Erde langsam von der Bühne der Protagonisten Besitz ergreifen. 1. Der fehlende Chor In Friedrich Hölderlins Trauerspiel-Fragment Empedokles hat der Chor einen eigentümlichen Auftritt. Im auf fünf Akte angelegten „ Frankfurter Plan “ ist er zunächst ebenso wenig vorgesehen wie im ersten der drei Entwürfe, der aus zwei Akten besteht: Im ersten Akt wird der Dichter-Philosoph Empedokles durch das Betreiben des Priesters Hermokrates aus seiner Heimatstadt Agrigent verbannt, weil, wie der Priester erklärt, „ der trunkne Mann / Vor allem Volk sich einen Gott genannt. “ 1 Im zweiten Akt aber, in der „ Gegend am Ätna “ , 2 sucht das Volk ihn wieder auf, und als Dank übergibt Empedokles den Vielen sein „ Wort “ , in dem er eine neue Politik einfordert, die von Endlichkeit und (Mit-)Teilung ausgeht. In diesen prophetischen Reden, zögernd vor dem Sprung in den Vulkan, wird der Chor evoziert: Er steht hier für eine kommende Gemeinschaft der Menschen untereinander, aber auch des Menschen und der Natur: „ Und freudig ungeduldig rief ich schon / Vom Orient die goldne Morgenwolke / Zum neuen Fest, an dem mein einsam Lied / Mit euch zum Freudenchore würd, hinauf. “ 3 Und unmittelbar vor seinem Abschied sieht Empedokles sich als Toten in einem Chor wiederkehren, den die ganze Welt zu singen scheint: „ dann wehet wohl / wie Harfenlaut ein Ton von mir im Liede, / des Freundes Wort, verhüllt ins Liebeschor / der schönen Welt “ . 4 Auf der Bühne aber findet der Chor sich nicht. In der Darstellung der Vielen oder der anderen, die den Konflikt zwischen Hermokrates und Empedokles begleiten und kommentieren, orientiert sich Hölderlin am von seinen Zeitgenossen verehrten Shakespeare: Wie nach der Rede Marc Anthonys in Julius Cesar wird das „ Volk “ in wankelmütigen Vertretern figuriert, in diesem Fall in drei „ Agrigentinern “ , die von einem Extrem ins nächste fallen und zuerst Empedokles und dann, im zweiten Akt, Hermokrates verdammen. Im zweiten Entwurf hingegen kündigt Hölderlin in den dramatis personae einen „ Chor der Agrigentiner in der Ferne “ an. In Forum Modernes Theater, 28 (2013 [2017]), 40 - 55. Gunter Narr Verlag Tübingen den ersten Sätzen, die der Priester Hermokrates und der Archon Mekades sprechen, wird auf diesen Chor verwiesen, dessen Äußerungen jedoch nicht als Gesang, sondern als ein unklares Gemurmel beschrieben werden: „ Mekades. Hörst du das trunkne Volk? / Hermokrates. Sie suchen ihn “ . 5 Und später sagt der Archon: „ Daß einer so die Menge bewegt, mir ists, / Als wie wenn Jovis Bliz den Wald / Ergreift, und furchtbarer “ . Das aufgewühlte Volk, Chor im Hintergrund der politischen Bühne, braust, murmelt, tost - aber es hat noch keine Worte gefunden; keine zumindest, die Hölderlin für den „ Chor der Agrigentiner in der Ferne “ schreiben könnte. Er bleibt eben „ in der Ferne “ - und doch ermöglicht er das Geschehen auf der Bühne, den revolutionären Aufruhr, der in der Figur des Empedokles einen Anführer sucht. Mekades klagt: „ Sie wissen nichts, denn ihn, / Er soll ihr Gott, / Er soll ihr König sein, / [. . .] Ein Irrgestirn ist unser Volk / Geworden “ . 6 Im dritten Entwurf schließlich hat sich das dramatische Geschehen auf ein Minimum reduziert. Obgleich Hölderlin abermals - wie schon zu Beginn - ein Trauerspiel in fünf Akten konzipiert, das von einem Konflikt zwischen Empedokles und seinem neu eingeführten Bruder, dem König von Agrigent, motiviert sein soll, arbeitet er nur die ersten drei Szenen aus: Einen Monolog, den der erwachende Empedokles in der Gegend am Ätna hält, ein Abschiedsgespräch mit seinem Schüler und Liebhaber Pausanias und schließlich ein Streitgespräch mit seinem Lehrer, dem weisen Ägypter Manes, der wie ein Gespenst erscheint und Empedokles ’ Entschluss zum Selbstmord mit dem Verweis auf den „ Eine[n] “ kritisiert, dem einzig diese „ schwarze Sünde “ 7 gestattet sei: dem Versöhner. Empedokles hingegen beschreibt sich als transitorische Figur des Übergangs, durch den der „ Schwanensang, das letzte Leben “ 8 eines untergehenden Landes töne. Man kann in diesem Gespräch eine Auseinandersetzung Hölderlins mit seinem Freund Hegel sehen, der zu dieser Zeit sein christologisches Geschichtsmodell in Der Geist des Christentums ausarbeitete, dem Hölderlin hier in gewisser Weise widerspricht. Doch ist dieser Dialog nicht das letzte, was Hölderlin im Rahmen der Empedokles- Fragmente schreibt. Auf der Rückseite des Blattes, auf dem das Streitgespräch in Stichomythien abbricht, verzeichnet er die neuen dramatis personae. Neben Empedokles, Pausanias, Manes, dem Bruder und der Schwester des Empedokles sowie einem unbestimmten „ Gefolge “ findet sich hier an letzter Position: „ Chor der Agrigentiner “ 9 . Für jenen Chor scheint das Fragment geschrieben zu sein, das auf dem folgenden Blatt notiert ist. In der griechischen Tragödie wäre es die parodos, das Lied, mit dem der Chor in das Theater einzieht. Hier erleben wir also den ersten Auftritt des Chors im Theater Hölderlins. Überschrieben ist der Gesang mit den Worten „ Neue Welt “ . Mit einigem Abstand folgen diese Verse: und es hängt, ein ehern Gewölbe der Himmel über uns, es lähmt Fluch die Glieder den Menschen, und ihre stärkenden, die erfreuenden Gaaben der Erde sind, wie Spreu, es spottet unser, mit ihren Geschenken die Mutter und alles ist Schein - O wann, wann öffnet sich Die Fluth über der Dürre. Aber wo ist er? Daß er beschwöre den lebendigen Geist. 10 Der Chor beklagt einen aus den Fugen geratenen Kosmos. Der Himmel hängt über ihm als „ ein ehern Gewölbe “ ; er eröffnet keine Transzendenz, sondern scheint, in seiner leeren Wolkenlosigkeit, berührbar zu sein. 11 Die Erde aber, die zugleich „ Mutter “ genannt wird, ist unfruchtbar: Ihre 41 Erde, Ströme, Chöre. Von Hölderlin zu Jelinek / Beier Gaben sind wertlos. Das Wasser fehlt, der Regen, der das Leben und die Erneuerung - die „ Neue Welt “ - bringt. Doch der Chor endet mit zwei Fragen: „ Wann [. . .] öffnet sich / Die Fluth “ ? Und: „ Aber wo ist er? “ - Wer ist hier gemeint? Der Erlöser, den Manes beschwor? Oder der Chor selbst, der nur dieses einzige Mal auftritt, klagt, und dessen Gesang mit diesen Worten ebenso abbricht wie das gesamte Projekt? Auf der Rückseite entwirft Hölderlin ein letztes Mal einen Plan für ein Trauerspiel in fünf Akten; dabei werden die bereits geschriebenen drei Szenen offenbar vorausgesetzt und bilden den ersten Akt. Was an diesem ersten Akt noch fehlt, markiert Hölderlin wie folgt: „ + Chor. Zukunft “ . 12 Für Sattler lässt dies „ den Schluß zu, daß dieses Motiv - nicht Neue Welt - Gegenstand des Chors sein sollte. “ 13 Der Chor soll von der Zukunft singen; er tut es aber nicht: Er klagt über ein zerstörtes Verhältnis von Himmel und Erde, über das fehlende Wasser und über die Verkehrung der Gaben in Spott 14 - und er fragt, bevor er verstummt: „ Aber wo ist er? “ Fragt er nach jenem Chor, der in den Reden des Empedokles mit dem Fest assoziiert war, mit der kommenden Demokratie und der Versöhnung von Mensch und Natur? 2. Von Empedokles zu den „ Gesängen “ Das Trauerspiel endet hier; und in der Wertung der meisten Leser ist es gescheitert. Philippe Lacoue-Labarthe war wohl die erste philosophische Stimme von Gewicht, die betont, dass es Hölderlin in seinen Arbeiten an der Tragödie wirklich ums Theater ginge. Das Theater selbst hat sich seit der Uraufführung des Empedokles durch Wilhelm von Scholz in Stuttgart 1916 immer wieder mit diesem Stoff und mit den Sophokles-Übersetzungen auseinandergesetzt. 15 Doch auch Lacoue-Labarthes Bewertung des Empedokles bleibt traditionell und steht für das gängige Verständnis von Hölderlins Theater: Das Stück kranke an einem „ Mangel an Theatralität “ , denn seine „ Intrige “ sei unterentwickelt. 16 Und eben wegen dieser dramatischen Defizite wende Hölderlin sich den Übersetzungen des Sophokles zu. Denn jene Hinwendung ist ebenso eine zur aristotelischen Poetik. 17 Die „μηχανη [mekhané] der Alten “ 18 , die Hölderlin sich am Beginn der „ Anmerkungen zum Ödipus “ auch für die moderne Dichtung wünscht, wäre somit von Aristoteles geprägt, denn von jenem lernt Hölderlin, „ dass die Person oder die Personen dem Autor absolut äußerlich sein müssen, damit es überhaupt Theater gibt. “ 19 Er lernt, so ließe sich sagen, den Umgang mit den „ Protagonisten “ im Theater, die sich in Rede und Gegenrede konfrontieren und nicht Abbilder ihres Autors sein dürfen, um als dramatische Figuren zu funktionieren. Es ist offensichtlich, dass die „ Anmerkungen “ von einer Aristoteles-Lektüre geprägt sind. Wenn Hölderlin in den „ Anmerkungen zum Ödipus “ postuliert, dass in der „ Darstellung des Tragischen “ „ das gränzenlose Einswerden [von Gott und Mensch] durch gränzenloses Scheiden sich reinigt “ 20 , dann ist dies eine eigentümliche, christianisierende Lektüre des ebenfalls eigentümlichen Konzepts der katharsis aus dem vierten Kapitel der Poetik. Und im Begriff der „ Darstellung “ ist diese Neuformulierung des katharsis-Gedankens, wie bei Aristoteles, an die mimesis gekoppelt. Doch in einem weicht Hölderlin in den „ Anmerkungen “ deutlich von Aristoteles ab: In der Frage nach der Rolle des Chores. Während Aristoteles lakonisch fordert, man solle den Chor „ ebenso einbeziehen wie einen der Schauspieler “ , 21 erklärt Hölderlin, im Anschluss an die der zitierten analoge Stelle in den „ Anmerkungen zur Antigonä “ : „ Deswegen [. . .] die dialogische Form, und der Chor im Gegensaze mit dieser. “ 22 Der Chor ist also in der 42 Jörn Etzold Tragödie eben keiner der Darsteller, die ihre Reden in der dialogischen Form gegeneinanderstellen: Er steht zu dieser Form als Ganzer „ im Gegensaze “ . In ihm lebt etwas anderes in der Tragödie fort, das in der „ dialogischen Form “ nicht aufgeht. Diese andere Figur aber gewinnt in Hölderlins Zeit wieder neue Aktualität. „ Diß ist die Zeit der Könige nicht mehr “ , 23 sagt Empedokles, als die Bürger von Agrigent ihm, im zweiten Akt des ersten Entwurfs, die Krone anbieten. In einem Brief an den Bruder schrieb Hölderlin etwa zur gleichen Zeit: „ Es ist auch gut, und sogar die erste Bedingung alles Lebens und aller Organisation, daß keine Kraft monarchisch ist im Himmel und auf Erden. “ 24 Zugleich lässt sich sagen: Es ist auch nicht mehr die Zeit der Protagonisten. Hölderlin ersetzt nicht die Helden aus hohen Häusern durch einfache Bürger. Er sucht nach einem anderen Weg. Nicht nur Lacoue-Labarthe hat die Mühe herausgestellt, die Hölderlin hat, das Geschehen des Empedokles dramatisch zu motivieren; selten aber wurde der Grund dieser Schwierigkeiten erkannt: Hölderlin sieht eine neue, zukünftige Zeit aufziehen: Jene ist die Zeit der Vielen. „ Ich liebe das Geschlecht der kommenden Jahrhunderte “ , 25 schrieb er schon 1793 an seinen Bruder - er sehnt herbei, was mit Begriffen der französischen Philosophie als „ kommende Demokratie “ (Derrida) oder als „ gemeinsames Erscheinen “ (Nancy) der Vielen bezeichnet werden kann. 26 Diese neue Zeit aber wird in den Reden des Empedokles mit den Bildern des Chors beschworen: Auf den Auftritt dieses Chores scheint letztlich das gesamte Projekt zuzulaufen. Und doch gelangen die Fragmente einzig zu jenem Punkt, an dem ein Chor die Bühne betritt - und nicht darüber hinaus. Wie arbeitet Hölderlin weiter? Ist die Hinwendung zu Sophokles und, so Lacoue-Labarthe, damit auch zu Aristoteles Hölderlins einzige Reaktion darauf, dass er das Trauerspielprojekt offenbar in dem Moment abbrechen muss, in dem der Chor erscheint? Ein Exkurs in die Philologie kann hier hilfreich sein. Er zeigt, dass der Abbruch der Arbeit am Trauerspiel Empedokles in jenem Moment, in dem der Chor auftreten sollte, den entscheidenden Bruch in Hölderlins Schreiben vorbereitete: Dieser Bruch erst ermöglicht die späten Langgedichte, die als Hymnen, Gesänge oder vaterländische Gesänge bezeichnet werden. Wurden sie für jenen Chor verfasst, der im Empedokles die Bühne nur ephemer betreten konnte? Hölderlin schrieb den letzten Entwurf, der wahrscheinlich „ Empedokles auf dem Ätna “ heißen sollte, in das sogenannte Stuttgarter Foliobuch, das erhalten ist. Am Rand des letzten Plans für ein Trauerspiel in fünf Akten beginnt er bereits die theoretische Erörterung „ Das untergehende Vaterland . . . “ , und er setzt die Niederschrift auch am Seitenrand fort, als plane er noch immer, den Hauptteil der Seiten mit der Fortsetzung seines Trauerspiels zu füllen. In der vorausgehenden Abhandlung „ Der Grund des Empedokles “ , niedergeschrieben zwischen dem zweiten und dem dritten Entwurf des Stückes, hatte Hölderlin die „ tragische Figur “ dadurch bestimmt, dass sich in ihr „ Natur und Kunst [. . .] im Extreme des Widerstreits [. . .] vereinigen. “ 27 Die tragische Figur ist kein Individuum, sondern Schauplatz hyperbolischer Steigerung von Gegensätzen. 28 In „ Das untergehende Vaterland . . . “ , das den Abbruch des Empedokles-Projekts theoretisch beschließt und verarbeitet, ist jedoch vom tragischen Helden nicht mehr die Rede. Das Geschehen der Tragödie wird vielmehr wie folgt beschrieben: „ Aber das Mögliche, welches in die Wirklichkeit tritt, indem die Wirklichkeit sich auflöst, diß wirkt, u. es bewirkt sowohl die Empfindung der Auflösung als die Erinnerung des Aufgelösten. “ 29 Die Tragödie als Werk der Dichtung wiederum bestimmt Hölderlin als „ idea- 43 Erde, Ströme, Chöre. Von Hölderlin zu Jelinek / Beier lische Auflösung “ , welche rückblickend von dieser Situation absoluter Potentialität eine Darstellung geben kann. Vieles wäre zu diesem Text zu sagen; hier aber möchte ich mich auf eine Feststellung beschränken: Hölderlin fasst geschichtliche Veränderung ( „ Untergang oder Übergang des Vaterlandes “ 30 ) nunmehr als ein Geschehen, das nicht mehr an das Tun von tragischen Personen gebunden ist. Ein anderes Verständnis von Geschichte deutet sich an, das den Abbruch des Empedokles-Projekts in einem anderen Licht erscheinen lässt. Nicht etwa die Unfähigkeit, einen dramatischen Konflikt zu entwickeln, lässt das Projekt scheitern, sondern der Glaube, man könne mitten in der Umbruchszeit, aus der die Moderne geboren werden wird, eine Tragödie schreiben, in der sich das historische Geschehen in einem Helden figuriert. Eine andere Form muss gefunden werden. Die Chronologie des Stuttgarter Foliobuches ist kaum eindeutig zu rekonstruieren. Nach Sattler folgen auf „ Das untergehende Vaterland . . . “ das umfangreiche poetologische Fragment „ Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig . . . “ und eine wichtige Überlegung zur poetologischen Lehre vom „ Wechsel der Töne “ , genannt „ Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht . . . “ . Szondi liest aus ihr eine Tendenz zur „ Episierung “ der modernen Lyrik und einen Hinweis auf ein episches Theater als eigentlich moderne Form der Theaterdichtung. 31 Auch hier, so lässt sich sehr allgemein feststellen, wird der Wandel als Prinzip der Poesie gefasst. An diese theoretischen Arbeiten aber schließt sich vermutlich die „ metrisch genaue Übertragung “ 32 des ersten Stasimon der Antigone an, in welcher der berühmte erste Vers übersetzt wird mit: „ Vieles gewaltiges giebts “ . 33 Auch ein weiterer Text aus einer Tragödie wird übersetzt: die ersten 24 Verse aus Euripides ’ letzter Tragödie Die Bakchen, in denen Dionysos sich selbst vorstellt und an den Tod seiner Mutter Semele durch den Blitz des Zeus erinnert: „ So kam ich hier in eine Griechenstadt zuerst, / Daselbst mein Chor zu führen [. . .] “ . 34 Auf diese Übersetzungen aber folgt der Text, der den entscheidenden Umbruch in Hölderlins Schreiben markiert. Szondi erklärt, „ dass die Hymne Wie wenn am Feiertage . . . um die Jahrhundertwende im Werk durchaus als ein Novum erscheint. “ 35 Denn hier, nach Sattlers Chronologie im Mai 1800, etwa vier Monate nach Abbruch des Empedokles-Projekts, findet Hölderlin plötzlich die dichterische Stimme seines Spätwerks. Szondi sieht das Kennzeichen dieses Spätwerks im „ Hymnischen “ und schreibt: „ Das Elegische mündet [. . .] nicht eigentlich ins Hymnische, ein qualitativer Sprung trennt die beiden Formen: der von der Erlebnislyrik zum selbstlosen Preis der Götter. “ 36 Ob man dieses Spätwerk nun, wie Szondi, als Hymnen, wie Sattler als Gesänge oder aber wie Nägele, nach einer Briefstelle Hölderlins, als „ vaterländische Gesänge “ bezeichnet: „ Wie wenn am Feiertage . . . “ markiert einen Bruch oder Sprung in Hölderlins Werk: von der klassischen oder elegischen Dichtung zu einer neuen Form, die Szondi „ selbstlosen Preis “ nennt. Denn tatsächlich ist hier ein „ Selbst “ verloren gegangen. Dieser entscheidende Bruch wurde vielfach beschrieben: als Eintritt in die „ Barockstufe “ 37 des Werkes; als Übergang von bloßer Dichtung in das „ Gedichtete “ , dessen Prinzip „ die Alleinherrschaft der Beziehung “ sei, so dass „ immer wieder die gesonderte Gestalt sich aufhebt in der raumzeitlichen Ordnung, in der sie als gestaltlos, allgestalt, Vorgang und Dasein, zeitliche Plastik und räumliches Geschehen aufgehoben ist “ ; 38 als Entdeckung eines „ dichtende[n] Worts “ , welches „ das stiftende Sagen “ und „ das Ereignis des Heiligen “ 39 sei, letztlich die „ Gründung des Zeit-Raums der Wahrheit des Seyns “ ; 40 als Verbannung des „ Moment[s] 44 Jörn Etzold persönlichen Leids “ 41 aus einer Dichtung, die „ einen anderen Pfeil als den Gottes nicht mehr “ 42 kennt oder als Durchbruch zum Musikhaften der Dichtung als „ begrifflose Synthesis “ . 43 All diese Thesen, so unterschiedlich und gegenstrebig sie auch formuliert sein mögen, verweisen jedoch auf ein Verschwinden einer subjektiven Instanz in einem anderen, nicht vom Subjekt konstituierten Zeitraum; sie versuchen, eine Sprache zu fassen, die nicht mehr von einem gegebenen Ich ausgeht, sondern Darstellung historischer Prozesse, Darstellung von Beziehungen und - in letzter Instanz - Darstellung eines sich verändernden Zeitraums ist, die Veränderung, Wandel, Umsturz oder Revolution aber nicht an das Tun eines selbstbewussten, großen Einzelnen bindet. 44 Diese Sprache ist, so soll hier behauptet werden, jene des Chores. Die Gesänge sind für einen künftigen Chor der Vielen geschrieben, der in der „ Gegend “ , in die das Geschehen des Trauerspiels Empedokles wanderte, einen nur ephemeren Auftritt finden konnte. Es wurde in der Forschung seit Hellingrath herausgestellt, dass sich der spezifische Sound der Gesänge der Auseinandersetzung mit griechischer Chordichtung verdankte: „ [I]n der dichtung fällt diese entwicklung zum heilignüchternen zusammen mit dem einwirken des Pindar und der harten gehaltenen weisheit Sophokleischer chöre. “ 45 Die griechische Dichtung aber war, wie John Herington betont, in jeder ihrer Formen eine „ performing art “ : 46 Ebenso ist auch Hölderlins Dichtung nicht allein für den stillen Leser verfasst; bereits die von ihm erfundene Gattungsbeschreibung „ vaterländische Gesänge “ weist darauf hin. Pierre Bertaux erklärt, dass das Wort „ vaterländisch “ in Hölderlins Zeit „ revolutionär “ bedeutete: 47 Empedokles war seiner Auffassung nach als Festspiel zur Feier einer von Hölderlin erhofften und dann gescheiterten schwäbischen Republik geplant. 48 Sind auch die Gesänge für festliche, chorische Aufführungen geschrieben? Gerhard Kurz vermutet, dass Hölderlin auch beim Schreiben der Gesänge von den Revolutionsfeiern der Jakobiner - die auf Rousseaus Idee eines Bürgerfests zurückgehen - geprägt war: Die alle Beobachter faszinierenden liturgischen Inszenierungen und Chöre dieser Feste waren gewiß Vorbilder für Hölderlins Bilder des ‚ Fests ‘ und des ‚ Chors ‘ der ‚ Vaterlandsfeste ‘ , für die er, wie Beißner wohl zu Recht vermutet, seine Gedichte als öffentliche und oratorische entwarf. 49 Auch der Titel des Gesangs Friedensfeier - ohne Artikel - verweist darauf, dass hier nicht eine Feier beschrieben wird, sondern dass der Gesang selbst eine Feier ist: dass er vorgetragen werden soll, um den Frieden zu feiern., 50 Doch anders als beim jakobinischen Fest des „ Être suprème “ , das Robespierre als Priester in Szene setzt, um gegen den anarchischen Geist des Atheismus eine neue Theokratie zu errichten (und das zumindest Michelet als traurige Veranstaltung beschreibt), 51 werden in den „ Gesängen “ andere Akteure zur Sprache gebracht. Es sind die Flüsse, die den Zeitraum geprägt haben, den wir Europa nennen ( „ Der Rhein “ ; „ Der Ister “ ), es sind die Winde, die den Schiffern „ gute Fahrt “ 52 verheißen ( „ Andenken “ ), es sind die Vielen, die „ unterwegs einmal “ 53 gestorben sind ( „ Mnemosyne “ ). Zu einem Zeitpunkt, als das bürgerliche Theater sich durch eine vierte Wand von den Zuschauern abschließt und in einem Innenraum Konflikte zwischen Personen ausagiert werden, entwirft Hölderlin, so soll hier behauptet werden, in seinen „ Gesängen “ ein „ anderes “ 54 , chorisches Theater - ein Theater, das vielfältige Geschehnisse zur Darstellung bringt, deren Akteure nicht nur menschlich sind. Hölderlins Weg nach dem Abbruch der Empedokles-Experimente führt somit nicht allein in die Übersetzung des Sophokles und 45 Erde, Ströme, Chöre. Von Hölderlin zu Jelinek / Beier die Auseinandersetzung mit der aristotelischen Dramaturgie. Parallel dazu arbeitet er an den Gesängen. Jene aber kann man nur dann der „ Gattung “ „ Lyrik “ zuschlagen, wenn man bedenkt, dass auch jene in Griechenland stets aufgeführt wurde. In den Gesängen wird ein anderes Sprechen oder Singen erprobt: Ein Sprechen der Vielen und des Vielen: für jenen Chor, der in Empedokles keine Bühne finden konnte, weil er, wie Schillers Experiment in Die Braut von Messina zeigt, auf der Guckkastenbühne der Modernen nur unter großen Schwierigkeiten auftreten kann. Der Chor löst sich aus dem Raum einer gegebenen Bühne und aus einer wie auch immer motivierten dramatischen Intrige. Er selbst ist es, der aussagt oder singt, wie ein Zeitraum gebildet wird, er eröffnet sich im Gesang selbst eine Bühne. Er steht an der Grenze dessen, was als „ Theater “ angesprochen werden kann; er figuriert ein Theater ohne Protagonisten, ohne Schauspieler, ohne Helden. 3. Feier der Erde Die Gesänge beziehen sich formal wie stilistisch auf den antiken Chor - auf jene eine multiple Figur, die der Tragödie vorausgeht und sie erst ermöglicht. Doch bereits in den Pindar- und Sophokles-Übersetzungen führt die wortgenaue Übertragung des Griechischen zu einer Sprache von unerhörter Modernität. Auch die Gesänge konzipiert Hölderlin explizit als moderne Dichtung - in einem Brief an seinen Verleger Wilmans kündigt er „ [e]inzelne lyrische größere Gedichte an “ , von denen „ jedes besonders gedrukt wird, weil der Inhalt unmittelbar das Vaterland angehn soll oder die Zeit “ . 55 Doch eben weil die Gesänge moderne Dichtung sind, ist ihr Gegenstand die „ Erde “ . Im Neuen liegt eine Wendung zu einem Alten, das bereits vorhanden war, aber von den Menschen nicht erschlossen wurde. Das Verhältnis der Griechen und der Abendländler (der „ Hesperischen “ ) zur Erde bestimmt Hölderlin in den „ Anmerkungen zur Antigonä “ . Die antike Tragödie stellt jenen Moment dar, an dem Zeus „ zwischen dieser Erde und der wilden Welt der Todten innehält “ 56 : Sie eröffnet einen Zeitraum des Zögerns im Abschied der Götter und, um es mit einer Hölderlin fernen Sprache zu sagen, im Übergang von einer religiösen zu einer politischen, einer ländlichen zu einer städtischen und einer oralen zu einer literalen Kultur. 57 „ Wir “ Hesperischen aber - wir Abendländler - stehen, so Hölderlin „ unter dem eigentlicheren Zeus, der [. . .] den ewig menschenfeindlichen Naturgang, auf seinem Wege in die andere Welt, entschiedener zur Erde zwinget “ . 58 Die Modernen haben sich die Erfahrung einer Welt der endlichen Singularitäten erschlossen, während die Helden der antiken Tragödie sich, entzündet durch das „ Feuer vom Himmel “ 59 in den politischen (Ödipus) oder religiösen (Antigone) Wahn steigern. In der Moderne ist der Todestrieb - der Weg „ in die andere Welt “ - in Hölderlins Diagnose gebändigt, die konkrete irdische Erfahrung in endlicher und geschichtlicher Zeit ist möglich geworden. (Es wird sich freilich zeigen, dass der Drang „ in die andere Welt “ auch in der Moderne, bis in die Gegenwart, stark ist). Der Mensch jedoch ist bestimmt als das Wesen, das sich die Erde erst bewohnbar machen muss; nur so wird sie zur Erde. Paul de Man übersetzt „ Erde “ daher mit zwei nur scheinbar weit auseinander liegenden philosophischen Konzepten: „ The ‚ Earth ‘ of Hölderlin is the „ Being-inthe-world “ ( „ In-der-Welt-sein “ ) of Heidegger, the „ sentiment of existence “ ( „ sentiment de l ’ existence “ ) of Rousseau [. . .]. The earth thought of as consciousness, as mediated apprehension of being in inwardness, in opposition to the sky which is being itself. “ 60 46 Jörn Etzold Die hesperischen „ Gesänge “ sind eine Dichtung, welche die „ Erde “ besingt: Ihre chorische Aufführung ist Feier der Erde. Ebenso wie der Begriff des Vaterländischen ruft auch jener der „ Erde “ im gegenwärtigen Sprachgebrauch befremdende Assoziationen auf. Doch „ Erde “ bezeichnet bei Hölderlin nicht etwas Gegebenes und Unwandelbares, sondern die Vielzahl der mittelbaren Beziehungen, die sich der Mensch als „ Empfindungssystem “ 61 erschließt. „ Auf der Erde, unter Menschen, kann die Sonne, wie sie relativ physisch wird, auch wirklich relativ im Moralischen werden “ , 62 lautet die kürzeste und rätselhafteste Erklärung, die Hölderlin von seinen Übersetzungsentscheidungen in den „ Anmerkungen zur Antigonä “ gibt. „ Auf der Erde “ bedeutet also: „ unter Menschen “ , unter vielen Menschen. Und die weitere Erklärung lässt sich lesen als: Auch die Sonne, das Zentralgestirn, das einzig Leben ermöglicht - und das seit dem Mittelalter für die königliche Souveränität einsteht - geht auf der Erde in Beziehungen ein, und weil der Mensch das Empfindungssystem ist, das jene Beziehungen wahrnimmt, kann auch die Sonne mit Begriffen des Moralischen benannt werden. 63 „ Erde “ ist letztlich, um de Mans zwei Übersetzungen noch eine dritte hinzuzufügen, synonym mit dem, was Benjamin „ Alleinherrschaft der Beziehung “ 64 nennt. Diese „ Erde “ aber ist, in verschiedenen Formen, der Gegenstand der „ Gesänge “ . Wenn aber die Gesänge von der Erde singen, dann nehmen sie jedoch, unter den Bedingungen der Moderne, jene Rolle wieder auf, die der Chor in der antiken Tragödie innehat. Hegel bezeichnet den Chor mit großer Intuition als „ das fruchtbare Erdreich, aus welchem die Individuen wie die Blumen und Bäume aus ihrem eigenen heimischen Boden emporwachsen und durch die Existenz desselben [sie] bedingt sind. “ 65 Mit Hölderlin ließe sich sagen, dass die Protagonisten in die „ andere Welt “ streben, während der Chor die Erde ist und aussagt, auf der sie stehen und aus dem sie hervorgehen; die Protagonisten suchen „ das gränzenlose Einswerden “ mit Gott, während der Chor an ihre Endlichkeit, Sterblichkeit und Mittelbarkeit erinnert. Mit diesem Verhältnis aber ist ein zentrales Thema der Konfiguration der Tragödie überhaupt berührt. Denn die für sich stehenden und sprechenden Protagonisten zeichnen sich durch ihre Genealogie aus, sie entstammen einem - verfluchten - Haus. Der Chor aber, der aus vielen Randständigen gebildet ist - oft aus Alten oder Frauen - vertritt ein anderes Prinzip der Herkunft, das nicht von der Zeugung durch Vater und Mutter ausgeht. In ihrem Aufsatz „ Woher kommt der Chor “ beschreibt Ulrike Haß dieses Prinzip mit einem Rückgriff auf Claude Lévi-Strauss ’ Strukturale Anthropologie. Lévi-Strauss kommt dort zu dem Schluss, dass das Thema des Ödipus-Mythos die Frage nach der Herkunft des Menschen sei: Ist er aus der Erde entwachsen oder wurde er von Vater und Mutter gezeugt? Die Labdakiden haben allesamt Probleme mit dem aufrechten Gang, weil sie ursprünglich aus der Erde, genauer: aus den Zähnen des von Kadmos erschlagenen Drachen hervorgegangen sind und sich nicht vollkommen von der Erde lösen können; zugleich aber finden sich im Mythos extreme Über- und Unterbewertungen von Verwandtschaftsbeziehungen als Inzest, Vater- oder Brudermord. Die Frage des Ödipus-Mythos ist somit letztlich folgende: „ [W]ird man aus einem oder aus zweien geboren? “ 66 Für Haß übernimmt in der Konfiguration der griechischen Tragödie der Chor die erste Position: Mit der Frage, ‚ wie man von Zweien abstammt ‘ , setzen die Genealogiebildungen der tragischen Helden ein, während sich Spuren eines ‚ anfangslosen ‘ Gattungsbewusstseins im Sinn der Autochtonie vereinzelt im Chor antiker Tragödien finden lassen. 67 47 Erde, Ströme, Chöre. Von Hölderlin zu Jelinek / Beier Mit der Genealogie entsteht auch die Herrschaft der königlichen Geschlechter, während der Chor aus den Vielen gebildet ist. Sein Gattungsbewusstsein ist mit der Erde verbunden: Haß spricht vom Bewusstsein der „ aus einer Erdfalte hervorgegangenen ‚ Kindschaft ‘ [. . .], das im Kern das Bewusstsein der geteilten Endlichkeit ist “ 68 und mit dem Zurückdrängen des Chores bei Euripides verloren gehe. Für Hölderlin wird an der Frage, ob etwas aus der Erde hervorgegangen oder von Menschen gemacht wurde, schließlich die „ Verständlichkeit “ der Tragödie des Ödipus als ganzer hängen: Denn das von Kreon befragte Orakel spricht, in Hölderlins Übersetzung, von „ des Landes Schmach, auf diesem Grund genährt “ (Bollack übersetzt: „ dieser Erde entsprossen “ 69 ); Ödipus aber „ gehet ins besondere “ und möchte einen „ Mann “ ausmachen, der für das Unheil verantwortlich ist. 70 Ebenso wie für die vieldeutigen „ phême “ . 71 des Orakels ist auch für den Chor das Tun des einen „ Mannes “ weniger entscheidend. Auch seine „ Klage gilt nicht dem individuellen Toten, sondern jenem Leben, das über den Einzelnen hinausgeht, das von der Erde getragen und genährt wird, ohne Ansehen des Einzelnen. “ 72 Der Einzelne ist eingewoben in unhintergehbar mittelbare Beziehungen, die ihn bedingen und ermöglichen. 73 Eben als eine Vielheit von Beziehungen aber ist die Erde der Gegenstand von Hölderlins Gesängen: Und dadurch sollen sie, nach dem Ende der „ Zeit der Könige “ , eine „ vaterländische “ , d. h. zugleich revolutionäre und irdische, auf die jeweilige singuläre Erfahrung bezogene Form der öffentlichen Vorführung und politischen Kunst sein. In ihnen wird ein deklamatorisches Sprechen versucht, das, anders als die extremen Äußerungen des tragischen Charakters, nicht in einem anmaßenden Exzess aus dieser Welt in den Himmel (mit de Man: in das „ Sein “ selbst) auszubrechen versucht, sondern sich der Erde zuwendet und auf sie horcht. Nicht die Exaltationen des Protagonisten sind ihr Thema, sondern, in nüchterner Sprache, die sich der Prosa annähert, die Vielen und das Viele, das zudem nicht nur menschlich ist. In Der Ister heißt es mit der lakonischen Klarheit, die Hölderlins Spätwerk auszeichnet: „ Hier aber wollen wir bauen. Denn Ströme machen urbar / Das Land. Wenn nemlich Kräuter wachsen / Und an denselben gehen / Im Sommer zu trinken die Tiere, / So gehn auch die Menschen dran. “ 74 Am Ufer des Stroms wachsen Kräuter, trinken Tiere - und dann bauen die Menschen ihre Städte, gründen sie ihre Kultur. 75 Der Mensch wird in einen Verbund mit Kräutern und Tieren gestellt, in einer Landschaft, die, bevor der Mensch sie bebaute, durch die Ströme geformt wurde. Artikuliert wird somit auch eine Sensibilität, die „ das Waldgeschrei “ zu „ spüren “ 76 vermag und bemerkt, dass „ Wachstum hörbar ist / An harzigen Bäumen des Isters “ 77 . Doch die Erde, der gelauscht wird, erscheint in den Gesängen zugleich als von der Technik durchdrungene. In Mnemosyne heißt es: „ Nemlich unrecht, / Wie Rosse, gehen die gefangenen / Element ’ und alten / Geseze der Erd “ : 78 Hölderlin spielt hier auf das erste Stasimon der Antigone an, in dem der Mensch als das Wesen beschrieben wird, das unheimlicher ist als alles Unheimliche (deinon): „ Und der Himmlischen erhabene Erde / Die unverderbliche, unermüdete / Reibet er auf; mit dem strebenden Pfluge / [. . .] / Und dem rauhmähnigen Rosse wirft er um / Den Naken das Joch. “ 79 Ackerbau und Viehzucht, die für Sophokles die Ungeheuerlichkeit des Menschen ausdrücken, bringt Hölderlin in einem Bild zusammen, in dem die „ Geseze der Erd “ selbst gezähmt werden - und er wertet dies kühl als „ unrecht “ . Denn die Hinwendung der Menschen zur Erde ist zugleich ihre Durchdringung mit der Technik: „ Auf der Erde, unter Menschen “ kann die Natur nur wahrnehmbar werden, indem sie von der Technik des 48 Jörn Etzold Menschen - die den Menschen übersteigt und sich selbst unheimlich macht - affiziert wird. In die „ Erde “ als Vielzahl von Beziehungen ist die menschliche und den Menschen übersteigende Technik von Beginn an eingewoben.Im „ Grund zum Empedokles “ konnte Hölderlin den Konflikt zwischen physis und tekhné nicht lösen; er wurde einzig in den hyperbolischen Steigerungen der tragischen Figur exponiert. Doch im Hintergrund jener Exponierung des tragischen Charakters, der mit einer „ Rolle “ des bürgerlichen Theaters wenig gemein hat, 80 werden bereits andere Stimmen hörbar: Zunächst als Gemurmel „ in der Ferne “ und schließlich als abgebrochener Entwurf eines Chores, der eine verschobene Kosmologie und eine unfruchtbare Erde beklagt. In den Gesängen aber wird eine Feier der Erde versucht, wird eine Vielzahl mittelbarer Beziehungen jenseits der Figuration in einem tragischen Helden artikuliert; in einem Sprechen der Vielen und des Vielen wird Veränderung ausgesagt und gefeiert, ohne sie an das Tun von Protagonisten zu binden. Doch ist jene Feier zugleich von irreversiblen Verlusterfahrungen durchkreuzt: Die Erfahrung der geteilten Endlichkeit, welche die irdische Erfahrung ist, wird in Texten artikuliert, die zu zerfallen drohen und ihren drohenden Verfall thematisieren: „ Vieles aber ist zu behalten “ 81 (Mnemosyne). Was bleibt, ist eine Ruinenlandschaft aus Buchstaben: Hölderlin zerbricht an der selbst auferlegten Rolle, stellvertretend für einen kommenden Chor der Vielen zu singen. Er ist, in einem sehr radikalen Sinne, ganz allein; sein anderes Theater wird nie realisiert. 4. Im Schlamm Es ist ein großer Sprung von Hölderlins Gesängen - verstanden als Versuch einer revolutionären, chorischen Kunst - zu einer Inszenierung des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts, die abschließend betrachtet werden soll: Das Werk / Im Bus / Ein Sturz nach Texten von Elfriede Jelinek in der Regie von Karin Beier am Kölner Theater aus dem Jahr 2010. Zwischen Hölderlins Liebeserklärung an das „ Geschlecht der kommenden Jahrhunderte “ und der desillusionierten Gegenwart „ liegt “ - und selten ist diese idiomatische Wendung so unpassend - der Nationalsozialismus. Mit ihm kann nicht abgeschlossen werden - und seine Aneignungen affizieren jede erneute Lektüre Hölderlins ebenso wie unbefangene Versuche mit chorischen Theaterformen. In Jelineks Texten ist der Nationalsozialismus als Tiefenschicht stets in Latenz anwesend - und bereit, unvermittelt hervorzubrechen. Aber auch Hölderlins idiosynkratische Sprache klingt bei Jelinek immer wieder an. 82 Das Werk / Im Bus / Ein Sturz ist ein Theaterabend, dessen „ Inhalt “ , in Hölderlins Sinne, „ unmittelbar das Vaterland angehen soll oder die Zeit “ : Er behandelt ein aktuelles Geschehen, stellt es jedoch in einen großen, sehr großen - und zwar: kosmischen - Zusammenhang. Der dritte Text, Ein Sturz, bezieht sich auf den Einsturz des Kölner Stadtarchivs am 3. März 2009, ausgelöst wahrscheinlich durch Fehler beim Bau der U-Bahn. Er ist eine Anrufung der „ Erde “ , die nicht zu Füßen des Menschen verbleibt, sondern sich, mit Wasser vermischt, in sein unterirdisches Bauwerk drängt, wo niemand sie haben will: „ Erde, was machst du denn da? Was machst du da für Versuche? [. . .] Du willst hier herein? Wir würden dir nicht öffnen, das weißt du doch. “ 83 Für die Aufführung wurde er zusammengestellt mit zwei älteren Texten; beide thematisieren ebenfalls die Beherrschung und Durchdringung der Erde durch die menschliche und den Menschen übersteigende Technik. Der erste, umfangreichste und gewichtigste Text, Das Werk, postum Einar Schleef gewidmet, behandelt den Bau 49 Erde, Ströme, Chöre. Von Hölderlin zu Jelinek / Beier des Wasserkraftwerks Kaprun in Österreich, begonnen in den zwanziger Jahren und während der Nazizeit mit Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen fortgesetzt: Der Nationalsozialismus, die Beherrschung der Natur mit Mitteln der Technik, Sexismus, Zwangsarbeit und Shoah 84 sowie die moderne Arbeitsgesellschaft werden in einem homogenen und atemberaubenden Strom aus Assoziationen und Kalauern zu einer unbehaglichen Einheit verschmolzen: Nur das Wasser genügt sich selbst [. . .], es genügt uns, wenn es ins Rätsel Trauernwerk hineinfällt und auf der andren Seite zerschmettert wieder rauskommt. Es hat Turbinen angetrieben, das Wasser. Arbeiter muß man antreiben, aber das Wasser treibt selbst! 85 Der zweite Text, Im Bus, der in jenem langen Abend die Funktion der Farce einnimmt und in die Pause überleitet, ist dem Konvolut Tod-krank.doc für Christoph Schlingensief entnommen und hat einen Unfall in München 1994 zum Thema, bei dem ein Bus in eine Baustelle einbrach und einige Leichen gar einzementiert wurden. Eine Stimme, die einem Ingenieur zugeschrieben werden kann, sagt: „ An mir liegts nicht, es liegt an der Mutter Erde, an der Höhle, an der guten Mutter Erde, die nicht will, daß man in ihr herumwühlt. “ 86 Die Erde, die Ströme, das Bauen: Hölderlinsche Motive werden in diesen Texten aufgegriffen, mit Zitaten aus der antiken Tragödie und Texten wie Jüngers Der Arbeiter oder Sprenglers Untergang des Abendlandes durchsetzt. Die grotesken und monströsen Texte stellen den Menschen als das Wesen heraus, das unheimlicher ist als das Unheimliche, die Erde durchwühlt und beherrscht, sie bebaut und zerstört, der arbeitet und in seiner Arbeit seinesgleichen auslöscht. Doch tun diese Texte dies in jenem ausgelassenen Duktus, den Lacan bereits dem Sophokleischen Stasimon selbst zuschreibt, das er als „ großartigen Witz “ bezeichnet. 87 Der dreistündige Abend, dessen detaillierte Beschreibung viele Seiten füllen könnte, 88 beginnt mit einem langen Monolog eines „ Geißenpeters “ - so die Angabe Jelineks - vor dem Vorhang, welcher sich dann auf einen reduzierten Raum öffnet, in dem mehrere Tische stehen (Bühne: Johannes Schütz); zwei weitere „ Geißenpeters “ in Arbeitskleidung von Ingenieuren und fünf „ Heidis “ in Kleidern sprechen in endlosen Kaskaden über das Werk, die Erde, das Wasser, die Arbeit, die Toten. Doch nicht nur diese Menschen sind (zusammen mit Statisten, die Heidi- und Geißenpetermasken tragen) auf der Bühne, sondern auch bereits das Wasser selbst: Domestiziert in Flaschen und kleinen Gläsern steht es auf den Tischen; später wird es von den Spielenden wie von gotischen Wasserspeiern in die Luft gesprüht. Nach einer langen Tanzszene baut sich dann, für den zweiten Teil des Texts, ein Chor hinter den frontal zum Publikum stehenden Schauspielern und Schauspielerinnen auf: Es ist der bekannte Kölner Schwulenchor „ Zauberflöten “ , ergänzt durch einige weitere Choreuten und Choreutinnen. Wie der „ Chor der Agrigentiner in der Ferne “ im zweiten Entwurf des Empedokles ist auch dieser Chor zunächst nur stumm anwesend; dann beginnt er, Laute und Phrasen des von den Darstellern in die Mikrophone gesprochenen Texts zu wiederholen. Jelinek dachte in ihrer Textfassung für diesen zweiten Teil an „ Hänsel und Tretel, zwei Arbeiter aus dem ARBEI- TERHEER “ , sowie an ein „ Ballett der Bäume “ und ein „ Heer der Schneeflocken “ ; Beiers szenische Umsetzung jedoch ist reduziert und frontal. Auf der Bühne steht dem Publikum ein Chor gegenüber; dieser aber ist kein „ Freudenchor der schönen Welt “ , den Empedokles herbeisehnt, und er singt auch nicht von einer kommenden Zeit: Es ist eher ein Gespensterchor jener 50 Jörn Etzold unerlösten Toten, die bei den großen Bauten der Menschen zurückgelassen wurden, genauer: ein Chor der Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen, die für die Elektrifizierung Österreichs einen Strom zu stauen hatten. Nach der langen Chorszene schließt ein Epilog entsprechend mit einer Totenklage der Mütter Das Werk ab. Der zweite Teil ist kurz: Die drei männlichen Darsteller kommen in clownesken Kostümen, verfolgt von einem Scheinwerfer, von der rechten Vorderbühne auf die verwüstete Bühne, auf der die Totenklage stattfand. Im dritten Teil, nach der Pause, wird die Erde direkt angesprochen, und sie tritt auch auf. Nackt, mit Sand beschmiert, bewegt sich Kathrin Wehlisch über die Bühne, die sich immer mehr mit Wasser füllt, das aus einer Öffnung im Bühnenboden hervorquillt. Später tanzt sie ein brutales pas de deux mit Krzysztof Raczkowski als Allegorie des Wassers. Der Text ertönt die meiste Zeit aus einem Radiogerät auf der Bühne, das, im Duktus einer Digitalstimme, von selbst zu sprechen scheint; auch werden Originalstimmen eingespielt - Oberbürgermeister Schramma erklärt zum Einsturz des Archivs, es „ würde ja vielleicht gar nicht unbedingt jemand sein, der das direkt verursacht hat. “ Am Ende schwimmen aufgeweichte Akten im schlammigen Wasser, das den ganzen Bühnenboden bedeckt. Das Werk / Im Bus / Ein Sturz ist ein chorischer Theaterabend: Nicht allein durch den Auftritt der Zauberflöten, sondern auf einer grundlegenderen Ebene. Zwar treten auch einzelne Sprecher und Sprecherinnen auf, vor allem die Geißenpeter-Ingenieure und die Heidis aus dem ersten Teil von Das Werk. Doch ihre Bemühungen protagonistischer und gestaltender Rede gehen ins Leere gegenüber den anderen Kräften, die auf die Bühne drängen: der Erde, dem Wasser und der nicht restlos beherrschbaren Technik. Es geht hier um ein Sprechen, das nicht allein die Zuschreibung fester Rollen überwindet, sondern vielmehr Beziehungen aussagt, die nicht allein menschlich sind, in die „ der Mensch “ als das unheimlichste aller Wesen jedoch eingewoben ist. Und dieses Sprechen steht wiederum in Beziehung zu den anderen „ Mitteln “ des Theaters. Somit entsteht ein Theater, das vollständig aus mittelbaren Beziehungen konstituiert ist - eine theatrale „ Ökologie “ , 89 welche die Beziehungen von Akteuren, Elementen und Technik nicht nur zum Gegenstand hat, sondern szenisch darstellt. Wie in den Reden des Chores der antiken Tragödie erscheint der Mensch als Kind der Erde - doch ist er jenes unheimliche Kind, das die Erde durchdringt mit einer Technik, die ihn selbst übersteigt. Dabei feiert die Inszenierung ganz offensichtlich keine Revolution; sie hebt weder die Trennung von Spielenden und Zuschauenden noch überhaupt das Dispositiv Guckkastenbühne 90 auf. Alles, was geschieht, geschieht im bekannten Rahmen des Theaters. Wenn ich diese Inszenierung dennoch mit Hölderlins Gesängen in eine Konstellation zu bringen versuche, dann deswegen, weil in jenen - vielleicht zum ersten Mal in der europäischen Moderne und eben in jenem Moment, in dem sich das bürgerliche Theater mit seinen Rollen, seiner Psychologie und seiner Autonomie entwickelte - ein anderes Theater gedacht wurde: kein Theater der Protagonisten, sondern der vielen; nicht der autonomen Figuren, sondern der „ Alleinherrschaft der Beziehungen “ . Ein unmögliches Theater, das eine „ Neue Welt “ , eine neue Lebensform feiern sollte, in der, im Himmel wie auf Erden, „ keine Kraft monarchisch ist “ 91 . In Karin Beiers Jelinek-Inszenierung ist diese „ Neue Welt “ kaum mehr zu erkennen, sie ist verschüttet oder im Schlamm versunken. Doch bringt die Inszenierung die Bühne des Kölner Schauspielhauses zum Vibrieren, öffnet sie auf ein Gefüge von Beziehungen zwischen Mensch, Technik und Erde hin, das 51 Erde, Ströme, Chöre. Von Hölderlin zu Jelinek / Beier auf der Bühne nicht vollkommen zur Darstellung gebracht werden kann. Die Erde wird als eine unheimliche Vielheit sichtbar, durchwühlt vom unheimlichsten aller Wesen, dem Menschen, von dem in der Antike der Chor zu singen vermochte. Anmerkungen 1 Friedrich Hölderlin, Empedokles. Sämtliche Werke, Bd. 12 u. 13, Basel / Frankfurt a. M. 1985, S. 702. (Die beiden Bände sind durchgängig paginiert.) 2 Zur Gegend als Bühnenraum vgl. Jörn Etzold, „ Gegend ohne Könige. Zur Bühne in Hölderlins Empedokles “ , in: Norbert Otto Eke, Ulrike Haß, Irina Kaldrack (Hg.), Bühne: Raumbildende Prozesse im Theater, Paderborn 2014, S. 305 - 328. 3 Hölderlin, Empedokles, S. 744. 4 Ebd., S. 751. 5 Ebd., S. 817. 6 Ebd., S. 818. 7 Ebd., S. 942. 8 Ebd., S. 944. 9 Ebd., S. 518. 10 Ebd., S. 946. 11 Bei Büchner wird dieses Sprachbild an mehreren Stellen wiederkehren. Siehe beispielsweise „ Die Himmelsdecke mit den Lichtern hatte sich gesenkt, ich stieß daran, ich betastete die Sterne, ich taumelte wie ein Ertrinkender unter der Eisdecke. Das war entsetzlich Danton. “ (Georg Büchner, Dantons Tod, in: Georg Büchner, Dichtungen, Frankfurt a. M. 2006, S. 11 - 90, hier S. 80.) 12 Hölderlin, Empedokles, S. 522. In der Handschrift ist „ Zukunft “ durch eine gepunktete Linie unterstrichen und befindet sich auf gleicher Höhe wie „ Neue Welt “ auf der Vorderseite. 13 Ebd., S. 928. 14 Zum Motiv der Verkehrung von Gabe und Gift in den Empedokles-Fragmenten siehe Theresia Birkenhauer, Legende und Dichtung. Der Tod des Philosophen und Hölderlins Empedokles, Berlin 1996, v. a. S. 402 f. 15 Zur Inszenierungsgeschichte im Überblick siehe Hellmut Flashar, „ Hölderlins Sophoklesübersetzungen auf der Bühne “ , in: Christoph Jamme, Otto Pöggeler (Hg.), Jenseits des Idealismus. Hölderlins letzte Homburger Jahre (1804 - 1806), Bonn 1988, S. 291 - 317. 16 Philipp Lacoue-Labarthe, „ Das Theater Hölderlins “ , in: Metaphrasis. Das Theater Hölderlins. Zwei Vorträge, Zürich / Berlin o. J., S. 45 - 89, hier S. 52. 17 „ Die Zuwendung [passage, JE] zu Sophokles bedeutet auch eine Zuwendung zu Aristoteles “ , ebd., S. 57. 18 Friedrich Hölderlin, „ Anmerkungen zum Ödipus “ , in: Sophokles. Sämtliche Werke, Bd. 16, Basel / Frankfurt a. M. 1988, S. 249 - 258, hier: S. 249. 19 Lacoue-Labarthe, „ Das Theater Hölderlins “ , S. 59. Übersetzung modifiziert. Dort: „ daß die Person oder die Personen in Bezug auf den Autor absolut außerhalb sein müssen damit [sic! ] es überhaupt Theater gibt. “ 20 Hölderlin, „ Anmerkungen zum Ödipus “ , S. 257. 21 Aristoteles, Poetik, übersetzt von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1994, S. 59. 22 Friedrich Hölderlin, „ Anmerkungen zur Antigonä “ , in: Sophokles. Sämtliche Werke, Bd. 16, Basel / Frankfurt a. M., S. 411 - 421, hier S. 417. 23 Hölderlin, Empedokles, S. 742. 24 Friedrich Hölderlin, Stammbucheinträge, Widmungen und Briefe II. Sämtliche Werke, Bd. 19, Frankfurt a. M. / Basel 2007, S. 343. 25 Ebd., S. 153. 26 Vgl. Jacques Derrida, Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, Frankfurt a. M. 2003 und Jean-Luc Nancy: „ Das gemeinsame Erscheinen. Von der Existenz des ‚ Kommunismus ‘ zur Gemeinschaftlichkeit der ‚ Existenz ‘“ , in: Joseph Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a. M. 1994, S. 167 - 204. 27 Hölderlin, Empedokles, S. 878. 28 Vgl. dazu Birkenhauer, Legende und Dichtung, S. 469 - 477. 29 Friedrich Hölderlin, Stuttgarter Foliobuch. Sämtliche Werke, Supplement 2, Frankfurt 52 Jörn Etzold a. M, / Basel 1989, S. 183. Herausgeberkorrekturen stillschweigend eingearbeitet. 30 Ebd., S. 181. 31 Vgl. Peter Szondi, „ Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis “ , in: Schriften, Bd. 1, Frankfurt a. M. 2006, 261 - 418, hier 392 ff. 32 D. E. Sattler, „ Zur Chronologie “ , in: Stuttgarter Foliobuch, S. 11 - 17, hier: S. 14. 33 Hölderlin, Stuttgarter Foliobuch, S. 73. 34 Ebd., S. 57. 35 Peter Szondi, „ Hölderlin-Studien “ , S. 289. 36 Ebd., S. 313. 37 Norbert von Hellingrath, Hölderlins Wahnsinn - und andere Schriften aus dem Nachlaß, Karlsruhe 1986, S. 166. 38 Walter Benjamin, „ Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin “ , in: Gesammelte Schriften, Bd. II, Frankfurt a. M. 1977, S. 105 - 126, hier S. 124. Zu diesem Denken der raumzeitlichen Ordnung, das dem hier entwickelten Denken des Chores nahesteht, siehe auch Peter Fenves „ Um Worte verlegen. Zu Benjamins gegenhistorischer Lektüre Hölderlins “ in: Heinz Brüggemann, Günter Oesterle (Hg.), Walter Benjamin und die romantische Moderne, Würzburg 2009, 465 - 499. 39 Martin Heidegger, „ Wie wenn am Feiertage . . . “ , in: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Gesamtausgabe, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1996, S. 49 - 77, hier: S. 76 f. 40 Martin Heidegger, „ Zu Hölderlins Empedokles-Bruchstücken “ , in: Zu Hölderlin. Griechenlandreisen. Gesamtausgabe, Bd. 75, Frankfurt a. M. 2000, S. 331 - 339, hier: S. 335. 41 Peter Szondi, „ Hölderlin-Studien “ , S. 313. 42 Ebd., S. 314. 43 Theodor W. Adorno, „ Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins “ , in: Noten zur Literatur, Gesammelte Schriften, Bd. 11, Frankfurt a. M. 1974, S. 447 - 491, hier: S. 471. 44 So Bart Philipsen in seinem sehr hellsichtigen Handbuch-Artikel zu den Gesängen: „ Das Programm der Gesänge drängt deshalb das Ich als substantielles Subjekt der Sprache zurück zugunsten einer Reihe von vermittelnden Instanzen, welche die Identität einer allein voausgesetzten und in der Sprache dann nur noch repräsentierten Subjektivität dissoziieren [. . .], um sie durch Sprache zu allererst zu konstituieren. “ Bart Philipsen, „ Gesänge (Stuttgart, Homburg) “ , in: Hölderlin-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, Stuttgart 2011, S. 347 - 378, hier: S. 348. 45 Norbert von Hellingrath, Pindarübertragungen von Hölderlin. Prolegomena zu einer Erstausgabe. Leipzig 1910, S. 40. 46 John Herinton, Poetry into Drama. Early Tragedy and the Greek Poetic Tradition Berkeley, CA / Los Angeles, CA / London, UK 1985, S. x. 47 Bertaux verweist darauf, dass „ im Wortgebrauch der Zeit [der französischen Revolution] die Antithese ‚ Aristokrat - Patriot ‘ galt. Das gibt den Ton an für die spätere Bedeutung des Wortes bei Hölderlin. Aristokraten, Untertanen haben keine patrie. Nur freie Menschen haben ein Vaterland; das stiftet erst die Revolution; die Welt der Aristokraten ist eine internationale, unpatriotische Welt. “ Pierre Bertaux, Hölderlin und die französische Revolution, Berlin und Weimar 1990, S. 52. Dieses „ Vaterland “ bei Hölderlin ist stets ein kommendes, nicht ein gegebenes Vaterland. Zu diesem Begriff und den Schwierigkeiten, die er dem heutigen Leser macht, siehe auch Rainer Nägele, Text, Geschichte und Subjektivität in Hölderlins Dichtung - „ Uneßbarer Schrift gleich “ , Stuttgart 1985, S. 121 - 36. 48 Vgl. Bertaux, Hölderlin und die französische Revolution, S. 111. 49 Gerhard Kurz, Mittelbarkeit und Vereinigung. Zum Verhältnis von Poesie, Reflexion und Revolution bei Hölderlin, Stuttgart 1975, S. 206 f. Zu den Festen der französischen Revolution siehe Mona Ozouf, La fête révolutionnaire, Paris 1988. 50 Vgl. Philipsen, „ Gesänge (Stuttgart, Homburg) “ , S. 350. 51 Vgl. Jules Michelet: Histoire de la révolution française, Bd. 2, Paris 1979, S. 801 - 804. Zu Hölderlin und den jakobinischen Festen vgl. auch Alexander Honold, Hölderlins Kalender. Astronomie und Revolution um 1800, Berlin 2005, S. 350 - 363. 52 Friedrich Hölderlin, Gesänge II. Sämtliche Werke, Bd. 8, Frankfurt a. M. / Basel, S. 804. 53 Ebd., S. 861. 53 Erde, Ströme, Chöre. Von Hölderlin zu Jelinek / Beier 54 Dieses „ andere “ Theater ist nicht jenes, das Rudolf Münz unter diesem Namen gegen das bürgerliche Theater des 18. Jahrhunderts abgrenzt. Geht es Münz um das Fortleben vorbürgerlicher Theaterformen, so entwirft Hölderlin ein kommendes Theater, das auf idiosynkratische Weise auf die griechische Dichtung zurückgreift. Vgl. Rudolf Münz, Das „ andere “ Theater: Studien über ein deutschsprachiges teatro dell'arte der Lessingzeit, Berlin 1979. 55 Friedrich Hölderlin, Stammbucheinträge, Widmungen und Briefe II, S. 504. 56 Hölderlin, „ Anmerkungen zur Antigonä “ , S. 418. 57 Vgl. dazu auch Jean-Luc Nancy, Nach der Tragödie, Stuttgart 2008. 58 Hölderlin, „ Anmerkungen zur Antigonä “ , S. 418. 59 Hölderlin, Stammbucheinträge, Widmungen und Briefe II, S. 492. 60 Paul de Man, „ The Image of Rousseau in the Poetry of Hölderlin “ , in: The Rhetoric of Romanticism, New York 1984, S. 19 - 45, hier S. 40. 61 Hölderlin, „ Anmerkungen zum Ödipus “ , S. 250. 62 Hölderlin, „ Anmerkungen zur Antigonä “ , S. 414. 63 Er erläutert damit die Verse: „ Nicht lang mehr brütest / In eifersüchtiger Sonne du. “ Siehe dazu auch Rainer Nägele, Hölderlins Kritik der poetischen Vernunft, Basel / Wien 2005, S. 142 f. 64 Benjamin, „ Zwei Gedichte Friedrich Hölderlins “ , a. a. O. 65 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, 541. Auch für Hegel ist die „ Erde “ freilich nicht das Gegebene. Den Menschen zieht es vielmehr in eine „ jenseitige [. . .] Gegenwart “ : „ Das Auge des Geistes musste mit Zwang auf das Irdische gerichtet und bei ihm festgehalten werden [. . .]. “ So wurde es möglich, „ die Aufmerksamkeit auf das Gegenwärtige als solches, welches Erfahrung genannt wurde, interessant und gelten zu machen. “ (Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a. M. 1986, S. 16 f.) 66 Claude Lévi-Strauss, „ Die Struktur der Mythen “ , in: Strukturale Anthropologie I, Frankfurt a. M. 1991, S. 226 - 254, hier S. 238. 67 Ulrike Haß, „ Woher kommt der Chor “ , in: Genia Enzelberger, Monika Meister und Stefanie Schmitt (Hg.), Auftritt Chor. Formationen des Chorischen im gegenwärtigen Theater. Maske und Kothurn, 1 (2012), S. 13 - 30, hier S. 17. 68 Ebd., S. 25. 69 Jean Bollack, Sophokles: König Ödipus. Übersetzung, Text, Kommentar, Frankfurt a. M. 1994, S. 18. 70 Hölderlin, „ Anmerkungen zum Ödipus “ , S. 252. 71 Siehe dazu Émile Benveniste, Indoeuropäische Institutionen, Frankfurt a. M. 1993, S. 402. 72 Haß, „ Woher kommt der Chor “ , S. 21. 73 Es soll jedoch nicht unterschlagen werden, dass der Chor in einigen antiken Tragödien auch ein territoriales Verständnis von Erde vertritt. In Ödipus auf Kolonos erklärt er: „ Ab mit dir vom Ort hier, marsch, weg von meinem / Boden “ . Sophokles, Ödipus in Kolonos, übertragen von Peter Handke, Frankfurt a. M. 2005, S. 27 f. Später freilich erklärt der Chor Ödipus, wie er die chthonischen Göttinnen beruhigt. 74 Der leichteren Lesbarkeit halber zitiert nach: Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. I, München 1992, S. 475. 75 Der Begriff „ Kultur “ stammt vom lateinischen Wort colere, das „ bebauen “ , „ pflegen “ bedeutet. 76 Ebd. 77 Ebd., S. 476. 78 Ebd., S. 437. Vgl. dazu Heidegger: „ Das unendliche Verhältnis von Erde und Himmel, Mensch und Gott “ , das Hölderlins Dichtung aussagt, „ scheint zerstört. “ (Martin Heidegger, „ Hölderlins Erde und Himmel “ , in: Gesamtausgabe, Bd. 4, S. 156 - 181, hier: S. 176.) 79 Hölderlin, Sophokles, S. 299. 80 Zur Bildung dieses Begriffs vgl. Nikolaus Müller-Schöll, „ Plus d ’ un rôle. Zusammen spielen in gegenwärtiger Tanz-, Theater- und Performance-Praxis “ , in: Friedemann Kreuder et al. (Hg.), Theater und Subjekt- 54 Jörn Etzold konstitution. Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion, Bielefeld, S. 545 - 558. 81 Hölderlin, Gesänge II, S. 859. 82 Vgl. dazu auch Evelyn Annuß, Theater des Nachlebens, Paderborn 2007, v. a. S. 175 - 206. 83 Elfriede Jelinek, Ein Sturz, Reinbek o. J., S. 2. 84 Es wird aus den Protokollen der Wannseekonferenz zitiert, vgl. Jelinek, Das Werk, Reinbek o. J., S. 6. 85 Ebd., S. 8. 86 Elfriede Jelinek, „ Im Bus “ (Kapitel von „ Todkrank.doc “ ), über www.elfriedejelinek.com [6. 5. 2014]. 87 Jacques Lacan, Die Ethik der Psychoanalyse. (Das Seminar, Buch VII), Weinheim / Berlin 1996, S. 321. 88 Vgl. u. a. den Essay von Ulrike Haß und Sebastian Kirsch, „ Karin Beiers Inszenierung von Elfriede Jelineks Das Werk / Im Bus / Ein Sturz “ , in: Prospero European Review, 2 (2011), http: / / www.prospero-theatre.com/ en/ prospero/ european-review/ fiche. php? id=65&lang=2&edition=9 [8. 5. 2014]. 89 Vgl. zum Begriff einer „ allgemeinen Ökologie “ , die Mensch, Natur und Technik betrifft, vor allem Erich Hörl, „ Tausend Ökologien. Der Prozess der Kybernetisierung und die allgemeine Ökologie “ , in: Diedrich Diederichsen, Anselm Franke (Hg.), The Whole Earth. Kalifornien und das Verschwinden des Außen, Berlin 2013, S. 121 - 130. Ulrike Haß verwendet den Begriff einer „ szenischen Ökologie “ in Bezug auf Adolphe Appia: „ Von der Schau-Bühne zur Architektur und über das Theater hinaus. Raumbildende Prozesse bei Sabbatini, Torelli, Pozzo und Appia “ , in: Norbert Otto Eke, Ulrike Haß, Irina Kaldrack (Hg.), Bühne: Raumbildende Prozesse im Theater, Paderborn 2014, S. 345 - 370. 90 Vgl. Nikolaus Müller-Schöll, „ Raum-zeitliche Kippfiguren. Endende Räume in Theater und Performance der Gegenwart “ , in: Norbert Otto Eke, Ulrike Haß, Irina Kaldrack (Hg.), Bühne. Raumbildende Prozesse der Gegenwart, Paderborn 2014, S. 227 - 247. 91 Hölderlin, Stammbucheinträge, Widmungen und Briefe II, S. 343. 55 Erde, Ströme, Chöre. Von Hölderlin zu Jelinek / Beier