Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
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2013
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BalmeMartina Gross: Querelle, Begräbnis,Wiederkehr. Alain-René Lesage, der Markt und das Theater. Beiträge zur neueren Literaturgeschichte. Band 358, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2016, 378 Seiten.
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2013
Katharina Keim
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Martina Gross: Querelle, Begräbnis, Wiederkehr. Alain-René Lesage, der Markt und das Theater. Beiträge zur neueren Literaturgeschichte. Band 358, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2016, 378 Seiten. Die Auseinandersetzung mit der Theatergeschichte der Frühen Neuzeit, insbesondere mit der Frankreichs, ist in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft eher eine Seltenheit. Umso begrüßenswerter ist daher das Erscheinen von Martina Gross ’ Frankfurter Dissertation zum Pariser Jahrmarktstheater im frühen 18. Jh. Gleich nach der Vertreibung der italienischen Truppe aus Paris 1697 etablierte sich auf den Jahrmärkten Saint Germain und Saint Laurent eine von diesen inspirierte Theaterkultur, das „ Théâtre de la foire “ . Auf Betreiben des mit dem Sprechtheater-Privileg ausgestatteten Théâtre Français wurde den Jahrmarkttheatern ein Dialog- und später gar ein Sprechverbot auferlegt. Der damit verbundenen Beschränkung ihrer Darbietungen auf Pantomime und „ Pièces à écriteaux “ (stumme Stücke mit Texttafeln) entgingen die Jahrmarktstheater, indem sie der finanziell maroden Oper deren Privileg für Musiktheater und Ballett teilweise abkauften. Ende 1714 erhielten sie schließlich ein Privileg für die sog. „ Opéra comique “ . Dieses Genre entzog sich jeglicher gattungstheoretischen Festlegung, vielmehr bezog sich die Bezeichnung in erster Linie auf den Aufführungsmodus mit tänzerischen und musikalischen Einlagen, bei denen auch das Publikum mitsingen konnte. In dieser Akzentuierung der Aufführung liegt der besondere Reiz des Jahrmarktstheaters. Zwischen 1718 und 1721 wurden dem Jahrmarktstheater, das mittlerweile in der Gunst des Pariser Publikum und des Hofs ganz oben stand, auf Betreiben der Sprechtheater (dem Théâtre Français und dem 1716 vom Regenten wieder in die Hauptstadt zurück berufenen, ebenfalls privilegierten Théâtre Italien) das Privileg der „ Opéra comique “ kurzzeitig jedoch wieder entzogen. Dieser sog. „ Theaterkrieg “ dokumentiert sich in einer metatheatralen Trilogie des Theaterautors Alain-René Lesage (1668 - 1747) und seiner diversen Ko-Autoren. In Form eines Prologs (Querelle, 1718) und zweier einaktigen „ Opéras comiques “ (Begräbnis / Funerailles, 1718, und Wiederkehr / Rappel, 1721) wird die Auseinandersetzung zwischen Jahrmarkttheater und privilegierten Bühnen theatral verhandelt. In der Konzentration auf eben diese zentrale Episode der Geschichte des Jahrmarktstheaters und die Verwendung dieser drei Stücktexte als theaterhistorisches Quellenmaterial liegt die besondere Originalität und Stärke der Studie von Gross (vgl. hierzu bes. Kap. 2 und 3). Dadurch wird zum einen eine werkgeschichtliche Vorgehensweise vermieden. Zum anderen ermöglicht die Fokussierung auf diese Textbeispiele, das Prinzip der Parodie als innerästhetisches Verfahren (z. B. durch das variierte Zitat klassischer Theaterautoren, wie etwa Racine) und das körperlich-gestische Potenzial dieser Texte, auf denen letztlich der performative Charakter des Jahrmarkttheaters basiert, zu verdeutlichen. Trotz dieses gelungenen Ansatzes ist die Studie von einer gewissen methodischen Unsicherheit geprägt. Zwar wird in der Einleitung auf das theaterhistoriographische Modell des „ anderen Theaters “ von Rudolf Münz rekurriert, gleichzeitig aber keine historische Kontextualisierung unternommen, um das spezifische „ Theatralitätsgefüge “ jener Epoche zu umreißen. So findet etwa die spezifische Konstellation der Régence, die ja nur um den Preis einer Wiedererstarkung des Parlaments von Paris gegenüber der Krone durchgesetzt werden konnte, kaum Erwähnung. Stattdessen wird durchgängig von einer Opposition zwischen dem Jahrmarktstheater und dem sogenannten „ Hoftheater “ argumentiert, wobei unter letzterem vor allem das von der sog. „ doctrine classique “ geprägte Sprechtheater Racines (statt dem „ ballet de cour “ ) verstanden wird. Allerdings spielte dieses schon in der späten Regierungszeit von Ludwig XIV. kaum mehr eine tragende Rolle. Das im 17. Jahrhundert vorherrschende, nationale und absolutistische Zwecke verfolgende Repräsentationstheater hatte nach 1700 seine Funktion längst ausgespielt. Gleichzeitig zeichnete sich das Aufkommen eines bürgerlichen Theaters, in dessen Kontext die Evolution neuer Theaterformen zunächst ansatzweise verortet wird (S. 65), erst nach 1750 ab. Letztlich erkennt Gross im Jahrmarkttheater Lesages lediglich „ eine spezifische Widerständigkeit [. . .], die sich gleichermaßen dem klassischen Forum Modernes Theater, 28 (2013 [2017]), 97 - 98. Gunter Narr Verlag Tübingen 97 Rezensionen wie auch dem bürgerlichen Kanon versperrt. “ (S. 203) Die Frage nach dem kulturpolitischen Impetus des populären Jahrmarkttheaters, dessen Publikum sich aus allen Gesellschaftsschichten rekrutierte, bleibt so letztlich unbeantwortet. Dabei könnte gerade die (sicherlich nicht nur ökonomisch, sondern auch ästhetisch bedingte) Allianz mit der Oper wie auch die Protektion des Jahrmarkttheaters durch den Hof wichtige Anhaltspunkte liefern: So wurde die Querelle zwar vermutlich auf der Foire Saint Laurent 1718 aufgeführt, im Oktober des gleichen Jahres erfolgte jedoch auch eine Aufführung in der Pariser Oper, die von „ Madame “ , also Liselotte von der Pfalz, der Mutter des Regenten, veranlasst wurde. Ebenso verantwortete sie im gleichen Monat die Uraufführung der Funerailles (zusammen mit Querelles) im Théâtre du Palais Royal, der auch der Regent beiwohnte, um so dem Jahrmarktstheater zu einem symbolischen Sieg zu verhelfen (vgl. S. 136, 153). Die fast die gesamte Studie durchziehende, neue Sichtweisen letztlich versperrende Auffassung von Lesages Theater als Gegenmodell zum klassizistischen Theater und der unter Ludwig XIV. etablierten Regelpoetik ist wohl in erster Linie weniger der Verfasserin selbst als vielmehr der noch immerwährenden Dominanz einschlägiger Lesarten der älteren deutschsprachigen Romanistik anzulasten (insb. der ausgiebig zitierten Arbeiten von Köhler, Auerbach, von Stackelberg, J. Grimm). Trotzdem wäre eine stärkere Berücksichtigung neuerer Forschungsarbeiten, wie etwa der erhellenden Kommentare von Georges Forestier in dessen von der Verfasserin ebenfalls zitierten Racine-Ausgabe, sicherlich gewinnbringend gewesen. Auch der II. Teil der Studie ist letztlich von dieser einseitigen Argumentation geprägt. Im Abschnitt über den „ Markt als Möglichkeitsraum des Theaters “ wird abermals die Selbstreferenzialität des Jahrmarkttheaters betont, dessen ästhetisches Subversionspotenzial primär durch den Konflikt mit den privilegierten Sprechtheatern bzw. der Regelpoetik des 17. Jahrhunderts konditioniert sei. Statt neuerer einschlägiger theaterwissenschaftlicher Studien (wie etwa Jean-Christophe Agnew, Worlds Apart: The Market and the Theater, Cambridge 1986) werden hier lediglich kulturwissenschaftliche „ Klassiker “ referiert, wie etwa Bachtins Studie zu Rabelais, die aber kaum je konkret auf das Jahrmarktstheater des 18. Jahrhunderts bezogen werden. Die offensichtliche Analogie zwischen Jahrmarktstheater und postdramatischem Theater nach Lehmann wird dem Leser im abschließenden „ Ausblick “ nahegelegt. Als Abschluss einer Studie, der zweifelsohne das Verdienst zukommt, ein zentrales Kapitel des „ anderen Theaters “ zu beleuchten, hätte man sich allerdings schon einen kurzen Überblick zur spezifisch französischen Rezeptionslinie des „ Théâtre de la foire “ vom „ Boulevard du Crime “ des 19. Jahrhunderts über Copeau hin zu Vilar, Barrault, Mnouchkine und Lecoq sowie den „ Theaterfesten “ Benno Besson an der Berliner Volksbühne als Wegbereitern des performativen Theaters gewünscht. München K ATHARINA K EIM 98 Rezensionen