Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
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BalmeChristian Grüny und Matteo Nanni (Hg.). Rhythmus – Balance – Metrum. Formen raumzeitlicher Organisation (= Edition Kulturwissenschaft Band 30). Bielefeld: transcript 2014, 214 Seiten.
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Maren Butte
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Die Untersuchung der Theaterkultur Münchens zeigt, wie egalitäre und elitäre Konzeptionen von Öffentlichkeit in Konkurrenz treten, untere Gesellschaftsschichten in das Theater einbezogen oder von ihm ausgeschlossen werden, was die Zensurbehörden wie schon in Berlin vor eine komplexe Aufgabe stellt. Dabei tritt die „ institutionelle Funktion “ (S. 252) unterschiedlicher städtischer Theaterformen zu Tage. Vor allem die Liebhabertheater, durch die Handwerker, Studenten, Staatsdiener und Geistliche an der Theateröffentlichkeit partizipieren, drohen durch ihre „ Überschreitung der Klassenzugehörigkeit “ die soziale Ordnung zu stören (S. 249). Am Isarthor-Theater wiederum lässt sich das Zusammenspiel von bürgerlicher und höfischer Einflussnahme bei der Herausbildung des Theaters als öffentlicher Institution beobachten. Es kommt, in erster Linie aufgrund der Kombination staatlicher und privater Finanzierung, zu einer „ Mischform des Hof- und Privattheaters “ (S. 264). Im Zentrum der letzten Fallstudie steht die performative Konstitution von Theateröffentlichkeit während der Revolution in Wien 1848 und die Rolle der Vorstadttheater bei der Etablierung einer Versammlungsdemokratie. Es wird deutlich, wie die Bühnen theatrale Elemente studentischer Straßen-Politik und der Kaffeehaus-Öffentlichkeit durch die „ Herstellung einer kollektiven Performativität “ und „ die symbolische Darstellung einer politischen Gruppenzugehörigkeit “ (S. 316) produktiv aufnehmen. Damit in Verbindung steht die Politisierung der Presse. Bäuerles Allgemeine Theaterzeitung und Saphirs Humorist versuchen, „ sich imitierend an eine Versammlungsöffentlichkeit anzunähern “ (S. 319). Davon ist auch die Dramenproduktion betroffen. Während ein Erfolgsstück wie Benedix ’ Das bemooste Haupt zu spontanen Gemeinschaftsstiftungen im Publikum führt, bringt Johann Nestroys Freiheit in Krähwinkel die performativen Praktiken der Revolution „ wieder zurück in den repräsentativen Rahmen “ (S. 391). Eine der Stärken der Studie ist der Einbezug zahlreicher, bislang unerschlossener Archivmaterialien, die die Autorin zur Analyse der Fallbeispiele heranzieht. Ihre Einordnung in einen anspruchsvollen theoretischen Rahmen gelingt auf souveräne Weise. Wagner schafft es, sämtliche Facetten der Theateröffentlichkeit des Vormärz zu beleuchten: die institutionellen Reformen ebenso wie die Verbindung von Bühne und Presse, die Rollen der verschiedenen Akteure und der dramatischen Werke. Der einzige methodische Vorwurf, den man dieser Arbeit machen könnte, ist die teilweise zu starke Personen- und Ereignisbezogenheit ihrer Analyse. In einigen wenigen Abschnitten verliert sie sich zu stark in die Rekonstruktion der Konflikte zwischen einzelnen Akteuren. Ein weiteres Manko besteht in der fehlenden Auseinandersetzung mit der institutionengeschichtlichen Studie Hoftheater von Ute Daniel, die nur in einer Fußnote kurz erwähnt wird (S. 224). Diese Einwände können aber die herausragende Leistung der Arbeit nicht schmälern. Meike Wagner hat eine überzeugende Gesamtdarstellung des deutschsprachigen Theaters des Vormärz vorgelegt. Und nicht nur das: Ihre „ mediale[ ] Theaterhistoriographie “ (S. 33) ist methodisch innovativ, ermöglicht sie doch, Theater als politische Institution und öffentliches Medium zu begreifen, ohne Performativität und Ästhetik zu vernachlässigen. Von hier aus eröffnen sich neue Perspektiven auf das Verhältnis von Theater und Öffentlichkeit in anderen Zeiträumen. Vor allem aber ist zu hoffen, dass die von ihr geleistete Verknüpfung von quellennaher Archivarbeit und avancierter Theoriebildung in der Theaterwissenschaft Nachfolger findet. Hamburg M ARTIN S CHNEIDER Christian Grüny und Matteo Nanni (Hg.). Rhythmus - Balance - Metrum. Formen raumzeitlicher Organisation (= Edition Kulturwissenschaft Band 30). Bielefeld: transcript 2014, 214 Seiten. Der Sammelband Rhythmus - Balance - Metrum, der auf eine internationale Tagung im Kontext des NFS eikones/ Bildkritik an der Universität Basel zurückgeht, denkt über den Rhythmus als einer raumzeitlichen Organisationsform in unterschiedlichen Kontexten, den Künsten, Philoso- Forum Modernes Theater, 28/ 2 (2013 [2018]), 206 - 208. Gunter Narr Verlag Tübingen 206 Rezensionen phie und Kulturgeschichte, nach. Acht Beiträge nehmen in interdisziplinären Perspektiven, vor allem zwischen der Bildtheorie und der Musikwissenschaft, die traditionsreiche Diskussion über den Rhythmus als transgressivem Phänomen und Untersuchungsinstrument wieder auf. Und dies geschieht durch eine spezifische theoretische Position. Die gängige und oft normative Unterscheidung von Rhythmus, aus dem griechischen ῥυθμός Fließen oder „ Prinzip der Bewegung “ im Sinne Platons, und Metrum - seit der Neuzeit oft gedacht als Messung und Teilung in regelmäßigen bis mechanischem (Takt-) Schlägen - wird hier revidiert und durch eine dritte Kategorie ergänzt: durch die Balance. Sie beschreibt eine „ nicht-beliebige Ordnung von Verhältnissen “ und die „ Organisation zeitlicher Gliederung und räumlicher Ausgewogenheit in geklärtem Verhältnis “ (S. 7). Die Balance dient den Herausgebern Christian Grüny und Matteo Nanni sowie den Beiträger*innen als ein „ vermittelnder Begriff “ zwischen Metrum und Rhythmus und stellt eine „ offene Frage der Ordnung, nach Konsistenz, Ausgewogenheit und Stimmigkeit “ , in die auch Momente des Prekären eingelassen sind (vgl. S. 9). Der Vorteil dieser Dreierkonstellation ist, dass sehr präzise und vom Inneren einer dynamischen (Mikro-) Struktur aus über Verhältnisse in Bewegung zwischen Sichtbarem und Hörbarem, zwischen Bild und Klang nachgedacht werden kann. Sie ermöglicht mit dem Rhythmus als Gefüge die Spuren einer Lessing ’ schen Trennung der Raum- und Zeitkünste zu überwinden und einer Zeitlichkeit des Bildes, wie sie Erwin Panofsky oder Gottfried Boehm für die Kunstgeschichte entwickelt haben, Rechnung zu tragen, ohne auf Begriffe und Konzepte wie Synästhesie oder Intermedialität zurückzugreifen. Die zentrale Referenz dieser konzeptuellen Entscheidung bilden die Schriften des US-amerikanischen Philosophen des Pragmatismus John Dewey, der bedeutenden Einfluss auf das Black Mountain College hatte und für den die Balance eine zentrale Figur innerhalb seines Denkens von Kunst als Erfahrung (1934) bildet. Sein „ energetisches Verständnis künstlerischer Gestaltung, das das Vorliegen von Verhältnissen nicht von der Erfahrung trennt “ (S. 8), löst die Trennung zwischen Produktion und Rezeption sowie zwischen alltäglichem und ästhetischem Bewusstsein auf und lässt Raum und Zeit als unterschiedliche Konstellationen denken. Vor dieser Folie lassen sich „ Intervalle und Richtungen auf Bildern und Distanzen und Umfänge in der Musik “ hörensehen (ebd.). Es lassen sich materialisierende, ephemere Ereignisse im „ Moment eines Auspendelns zwischen jeweiligen rhythmischen Gestalten “ identifizieren (vgl. den Beitrag von Steffen Schmidt, S. 10); und auch differenzierte Ereignisse und Wechselwirkung zwischen affektiven Zuständen und Milieus, also als (Dis-)Kontinuitäten (S. 11) denken. Den Band durchzieht vor diesem Hintergrund eine differenzierte Wiederaufnahme des Diskurses in seiner Relationalität, entlang besonderer historischer Schwellen. Von der kulturhistorischen Betrachtung rhythmischer Ordnungen im Mittelalter (bei Jean-Claude Schmidt) über die Entstehung des Akzentstufentakts im Barock und den daraus resultierenden musiktheoretischen Unterscheidungen, über die vielfach geladene Rhythmusemphase der Moderne und ihren Spuren im Film der Postmoderne (Stanley Kubricks 2001), analysiert von Steffen Schmidt, bis hin zu zeitgenössischer Klanginstallation (bei Inge Hinterwaldner), Komposition und Notation (Steffen Mahnkopff ) und Choreographie am Beispiel von Jonathan Burrows (Christian Grüny). Die Beiträge bilden je einzelne Momentaufnahmen des Rhythmus - Balance - Metrum-Gefüges, ohne eine Entwicklung oder Chronologie zu behaupten. Im Konkreten wird an einer theoretischen Bestimmung des „ Rhythmus als Erfahrung “ weitergearbeitet: Grüny schlägt mit Dewey eine Definition von Rhythmus als Erfahrungsmodus und Geste vor, als „ patterns of change “ und „ in sich gespannte Gestaltung von Zeitlichkeit “ , von der die wellenförmig gestaltete Regelmäßigkeit des Takts ein besonderer Fall sei (S. 90). Dieses Denken findet eine Entsprechung in den Begriffen, die Mahnkopff und Christopher Hasty aus je unterschiedlichen Perspektiven und Lektüren entwickeln: eine „ Abfolge von Dauern “ (Mahnkopff, S. 102) und ein „ course of events “ mit „ dauerhafter Aufmerksamkeit “ (Hasty, S. 155, 157). Und auch Erwähnungen und Lektüren der Rhythmustheorien von Henri Maldiney (S. 11) und Émile Benveniste (bei Inge Hinterwaldner) werden für das Gefüge-Denken noch 207 Rezensionen einmal neu gewendet. Besonders anregend wird hier die Argumentation mit und gegen Gilles Deleuzes vitalistisch geprägtes Konzept des „ Ritornells “ als kritischer Form gegen den Chaosmos (S. 31, 33) bei Alexander Jakobidze-Gitman; vor allem aber die kritische Re-Lektüre des Verhältnisses von Innen und Außen in Deleuzes Die Falte bezogen auf den musikalischen Rhythmus des Barock. Eine Theorie des Rhythmus, so die Herausgeber, „ müsste eine Theorie des Konkreten sein, in der sich das Verhältnis von Maß und Bewegung, von Kontinuität und Diskontinuität je spezifisch ausbalanciert “ (S. 12) und vor dem Hintergrund dieses Desiderats entfaltet sich auch der gelungene Band: Er stellt einen interdisziplinären Dialog her - zwischen der Bildtheorie, der Musikwissenschaft, Philosophie und Kulturgeschichte - und ist in seiner Anlage zum Gefüge-Denken anschlussfähig an Fragen der Theater- und Tanzwissenschaft. Er unterstreicht ein Denken von Verhältnissen, wie es beispielsweise auch Patrick Primavesi und Simone Mahrenholz in ihrem Band Geteilte Zeit. Zur Kritik des Rhythmus in den Künsten (2005) für die Performance Studies begonnen und gebündelt hatten. (Es wird empfohlen, die neue, digitale Fassung des Bandes bei transcript zu verwenden, die Fehler der gedruckten Fassung anpasst.) Düsseldorf M AREN B UTTE Eva Holling. Übertragung im Theater. Theorie und Praxis theatraler Wirkung. Berlin: Neofelis Verlag 2016, 350 Seiten. Theater zwischen Liebe und Ideologiekompetenz Übertragung geht aus der Begegnung zweier Subjekte hervor, genauer noch: Sie bestimmt ebendiese Zusammenkunft immer schon im Vornherein. Diese grundlegende Annahme aus der Psychoanalyse überträgt Eva Holling auf das Theater. Wenn Zuschauende auf eine Theatersituation treffen, ist dies in der Anlage nichts anderes als ein „ intersubjektiver Rapport “ , so die Gießener Theaterwissenschaftlerin. Er entfaltet seine Wirkung im Prozess und trägt wesentlich zur Subjektkonstitution und damit Identitätsbildung des Einzelnen bei. Theater als sozialer Katalysator also, als eine ästhetische Erfahrung, die im Zuschauenden eine zunächst imaginäre und dann symbolische Formierung eines Ichideals vornimmt. Die Struktur der Subjektbildung, die dabei wirksam ist, ist derjenigen der Liebe nicht unähnlich, wie Holling anhand von Lacans Begriff des Begehrens ausführt. Der Prozess der Übertragung ermöglicht hier „ das Sehen von etwas Wertvollem in jemand anderem “ (S. 122) und adelt so das Theater als der Liebe zumindest strukturell verwandt. Wie erhellt das hier vorgestellte Modell einer psychoanalytischen Gesprächssituation das Spannungsverhältnis von Publikum und Bühne? Welcher Erkenntnisgewinn ergibt sich mit dem Übertragungsbegriff für das Theater? Eva Holling beschreibt Theater als Vorgand, der dem Begehren der Subjekte Raum bietet und über komplexe Austauschprozesse der Innen- und Außenwahrnehmung (das Lacansche Spiegelstadium findet hier Anwendung) ein reflektiertes Ich hervorbringt. Sie unterscheidet dabei zwischen einer instrumentellen und einer experimentellen Ausprägung, die beide auf ihre Wirkungsmuster hin untersucht werden können. Über drei zentrale Kapitel arbeitet sie das Begehren (die agalma), die Machtkonstellation (das sujet-supposé-savoir) und die Übertragung (die maîtrises théâtrales) als Grundsituationen theatraler Modelle mit Lacans Begriffsvokabular heraus, welches sie immer wieder schärft, um andere Lektüren erweitert, auf den Gegenstand des Theaters zuspitzt und schließlich anschaulich an Beispielen vorführt. Zur Erläuterung des instrumentellen Modells zieht die Autorin die weinenden Gesichter der Ausstellungsbesucher*innen in Marina Abramovi ć s The Artist is present bei. Sie deutet sie als reüssierte Übertragungsprozesse von gezielt gesteuerten Affekten auf Ebene der Produktion, mit Abramovi ć als einem sogenannten sujetsupposé-savoir, einem „ Subjekt, dem unterstellt wird, wissend zu sein “ , wie Holling Lacans Grundbegriff übersetzt. Der Status der Performancekünstlerin und die institutionelle Rahmung verunmöglichen eine Situation auf Augen- Forum Modernes Theater, 28/ 2 (2013 [2018]), 208 - 210. Gunter Narr Verlag Tübingen 208 Rezensionen