eJournals Fachtagung für Prüfstandsbau und Prüfstandsbetrieb (TestRig) 1/1

Fachtagung für Prüfstandsbau und Prüfstandsbetrieb (TestRig)
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expert Verlag Tübingen
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2022
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Entwicklung von Funktionsprüfständen für aktive Fahrdynamiksysteme: Herausforderungen und Lösungen

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2022
Timo Jungblut
Luis Böhm
Michael Winter
Steffen Rödling
In modernen Fahrzeugen werden neben elektromechanischen Lenkungen immer häufiger auch aktive Fahrdynamiksysteme eingesetzt. Die Entwicklungsaufwände und Innovationen verlagern sich hierbei von den mechanischen Baugruppen in die Elektronik und Software. Für die Entwicklung solcher Systeme werden Prüfstände benötigt, die eine Charakterisierung und Absicherung des mechatronischen Gesamtsystems, bestehend aus Mechanik, elektrischem Antrieb, Elektronik und Software ermöglichen. Funktionsprüfstände für aktive Fahrdynamiksysteme beinhalten neben einer hochdynamischen mechanischen Belastungseinheit daher immer auch die Möglichkeit zur Ansteuerung der Prüflinge über eine Restbussimulation und eine elektrische Leistungsversorgung. Um solche Prüfsysteme in kleinen Stückzahlen und in kurzer Zeit wirtschaftlich realisieren zu können, setzt die IABG als Systemanbieter kundenindividueller Prüfsysteme unter anderem auf modulare Lösungen. Einen weiteren wichtigen Lösungsansatz stellt eine durchgehende modellbasierte Auslegung dar. Die genannten Lösungsstrategien werden beschrieben und mit Beispielen aus aktuellen Entwicklungsprojekten veranschaulicht.
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1. Fachtagung TestRig - Juni 2022 97 Entwicklung von Funktionsprüfständen für aktive Fahrdynamiksysteme: Herausforderungen und Lösungen Dr. Timo Jungblut, Luis Böhm, Dr. Michael Winter, Dr. Steffen Rödling IABG mbH, Ottobrunn, Deutschland Zusammenfassung In modernen Fahrzeugen werden neben elektromechanischen Lenkungen immer häufiger auch aktive Fahrdynamiksysteme eingesetzt. Die Entwicklungsaufwände und Innovationen verlagern sich hierbei von den mechanischen Baugruppen in die Elektronik und Software. Für die Entwicklung solcher Systeme werden Prüfstände benötigt, die eine Charakterisierung und Absicherung des mechatronischen Gesamtsystems, bestehend aus Mechanik, elektrischem Antrieb, Elektronik und Software ermöglichen. Funktionsprüfstände für aktive Fahrdynamiksysteme beinhalten neben einer hochdynamischen mechanischen Belastungseinheit daher immer auch die Möglichkeit zur Ansteuerung der Prüflinge über eine Restbussimulation und eine elektrische Leistungsversorgung. Um solche Prüfsysteme in kleinen Stückzahlen und in kurzer Zeit wirtschaftlich realisieren zu können, setzt die IABG als Systemanbieter kundenindividueller Prüfsysteme unter anderem auf modulare Lösungen. Einen weiteren wichtigen Lösungsansatz stellt eine durchgehende modellbasierte Auslegung dar. Die genannten Lösungsstrategien werden beschrieben und mit Beispielen aus aktuellen Entwicklungsprojekten veranschaulicht. 1. Einleitung Die zunehmende Digitalisierung führt aktuell zu tiefgreifenden Veränderungen in der Industrie. Neue Produkte, Dienstleistungen und Geschäftsmodelle entstehen, während etablierte, klassische Wertschöpfungsketten zunehmend in Frage zu stellen sind [1]. Die Automobilindustrie, die seit Jahrzehnten eine Schlüsselindustrie für Wohlstand, Innovation und Beschäftigung in Deutschland darstellt, ist von diesem Wandel in besonderer Weise betroffen. Auch aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung steht die Branche aktuell vor erheblichen Herausforderungen [2]. So waren bereits im Jahr 2014 in einem Fahrzeug der Mittelklasse mehr als 100 Steuergeräte und bis zu acht Kilometer Kabel verbaut [3]. Auf den Steuergeräten wurde schon zu diesem Zeitpunkt mehr Code ausgeführt, als in einem Passagierflugzeug [4]. Eine Untersuchung der Beratungsgesellschaft Invensity kam im gleichen Jahr zu dem Ergebnis, dass bereits damals 90 Prozent der automobilen Innovationen in den Bereichen Elektronik und Software lagen [3]. Während zu diesem Zeitpunkt, wie in Abbildung 1 dargestellt, durchschnittlich noch etwa 100 Millionen Zeilen Code pro Fahrzeug ausgeführt wurden, ist bis 2025 mit mehr als 600 Millionen Zeilen Code pro Fahrzeug zu rechnen [4]. Im Fall der Automobilindustrie kommt hinzu, dass die Branche aufgrund des Zusammenwirkens von vier Megatrends (alternative Antriebe, autonomes Fahren, vernetzte Fahrzeuge, neue Mobilitätsangebote) vor einem fundamentalen Wandel in den nächsten beiden Jahrzehnten und hiermit einhergehenden Herausforderungen steht [2]. Wie stark welcher dieser Trends zukünftige Entwicklungen beeinflussen wird, ist von verschiedenen Faktoren abhängig. Prognosen sind daher extrem ungenau. Wesentliche Faktoren für die weitere Entwicklung sind unter anderem zukünftige Gesetzgebungen, ein möglicher Wandel im Nachfrageverhalten sowie weitere technologische Entwicklungen [2]. Auch wenn genaue Prognosen zu den einzelnen Anteilen schwierig sind, scheint es doch sicher, dass die Bedeutung von Software und Elektronik im Fahrzeug schon infolge jedes einzelnen der vier Trends nochmals erheblich steigen wird. Der Anteil an Innovationen aus den Bereichen Elektronik und Software wird sich daher zukünftig wohl noch weiter erhöhen. Das bedeutet aber auch, dass der zu betreibende Aufwand für die Absicherung der Systeme und insbesondere der Software, noch weiter steigen wird. Dies setzt wiederum in hohem Grad automatisierte Testprozesse und Prüfsysteme voraus. 98 1. Fachtagung TestRig - Juni 2022 Entwicklung von Funktionsprüfständen für aktive Fahrdynamiksysteme: Herausforderungen und Lösungen Abbildung 1: Prognostizierte zeitliche Entwicklung der mittleren Anzahl an Zeilen Code pro Fahrzeug [4] 2. Funktionsprüfstände für aktive Systeme Abbildung 2: Prinzipielle Funktionsgruppen eines Prüfstandes für aktive Fahrdynamiksysteme am Beispiel eines Funktionsprüfstandes für aktive Wankstabilisatoren Mit dem Ziel bestehende Zielkonflikte aufzulösen, weitere Freiheitsgrade für Optimierungen zu schaffen oder neue Funktionalitäten zu ermöglichen, werden in modernen Fahrzeugen immer häufiger aktive elektromechanische Systeme eingesetzt. So wurden beispielsweise Lenkungen mit hydraulischer Lenkkraftunterstützung weitestgehend durch elektromechanische Lenkungen substituiert. Ein Vorteil solcher EPS-Lenkungen (Electric Power Steering) besteht darin, dass das unterstützende Moment einfacher in Abhängigkeit von der Fahrzeuggeschwindigkeit allein durch die Software angepasst werden kann. Der klassische Zielkonflikt zwischen starker Lenkhilfe beim Einparken und geringer Lenkhilfe bei schneller Fahrt wird durch die adaptive Übersetzung aufgehoben. Zusätzlich wird es dem Fahrer durch Umschaltung der hinterlegten Parameter ermöglicht, die Charakteristik der Lenkung per Knopfdruck an einen gewünschten Fahrstil anzupassen. Weitere Vorteile ergeben sich bezüglich des Energieverbrauchs, da elektromechanische Stellaktuatoren im Gegensatz zu hydraulischen Stellern nur dann Energie verbrauchen, wenn Bedarf besteht [5]. Weitere neue Funktionen lassen sich mit EPS-Lenkungen realisieren, indem das Lenksystem auch aktuatorisch genutzt und mit weiteren Assistenzsystemen vernetzt wird. Beispiele hierfür sind das automatische Einparken, Lenkeingriffe durch den Spurhalteassistenten oder automatische Lenkeingriffe aus der Fahrdynamikregelung. Neben elektromechanischen Lenkungen werden immer häufiger auch aktive Hinterachslenkungen, aktive Wankstabilisatoren und elektromechanische Dämpfungssysteme eingesetzt. Auch diese mechatronischen Fahrdynamiksysteme - und insbesondere deren funktionale Vernetzung untereinander bieten sowohl neue Freiheitsgrade für Optimierungen, als auch die Möglichkeit neue Funktionen zu realisieren [5]. Wie in Abbildung 2 am Beispiel eines aktiven Wankstabilisators gezeigt, umfassen aktive elektromechanische Systeme neben den mechanischen Baugruppen und dem elektrischen Stellantrieb immer auch die für die Realisierung der gewünschten Funktionalitäten erforderliche Sensorik, Elektronik und Software. Da sich die Entwicklungsaufwände und Innovationen hierbei von den mechanischen Baugruppen in die Elektronik und Software verlagern, werden für die Entwicklung dieser Systeme geeignete Prüfstände benötigt, die eine Charakterisierung und Absicherung des mechatronischen Gesamtsystems, bestehend aus Mechanik, elektrischem Antrieb, Elektronik und Software ermöglichen. Prüfsysteme für aktive Fahrdynamiksysteme beinhalten neben mechanischen Belastungseinheiten daher immer auch eine Möglichkeit zur Ansteuerung der Prüflinge über eine Restbussimulation und eine elektrische Leistungsversorgung für die zu testenden Systeme. Hinzu kommt, dass häufig unterschiedliche Temperatur- und Klimabedingungen am Prüfling zu simulieren sind (vgl. Abbildung 2). Abbildung 3: Funktions- und Entwicklungsprüfstände für unterschiedliche Entwicklungsphasen und Teilsysteme Für eine mechanische, translatorische Belastung der Prüflinge kommen bei moderaten Anforderungen an die Dynamik vorwiegend Servomotoren mit Kugelgewindetrieb oder energieeffiziente hydrostatische Antriebe [6] zum Einsatz. Bei höheren Anforderungen an die Dynamik werden häufig noch servohydraulische Antriebe verwendet, die jedoch zunehmend von elektrischen Direktantrieben verdrängt werden. Letztere bieten insbesondere im Hinblick auf den Energieverbrauch, die Betriebs- und Wartungskosten, die Umsetzung von sicheren Betriebs- 1. Fachtagung TestRig - Juni 2022 99 Entwicklung von Funktionsprüfständen für aktive Fahrdynamiksysteme: Herausforderungen und Lösungen zuständen (beispielsweise zum Rüsten) sowie die benötigte Infrastruktur signifikante Vorteile. In Abhängigkeit der Lastfälle werden die Antriebe in Positionsund/ oder Kraftregelung betrieben. Für rotatorische Belastungen werden vorwiegend drehzahl- oder drehmomentgeregelte Synchronmaschinen eingesetzt. Für die Restbussimulation und Ansteuerung der Prüflinge sind Systeme von dSpace und Vector-Informatik stark verbreitet. Die für die Ansteuerung erforderlichen Restbusmodelle werden in der Regel von den Betreibern der Prüfstände zentral entwickelt und verwaltet. Da sowohl EPS-Lenkungen, als auch aktive Fahrdynamiksysteme im Fahrzeug mechanische Energie rekuperieren und in das Bordnetz zurückspeisen, erfolgt die Leistungsversorgung der Prüflinge im Prüfstand mittlerweile in der Regel mit bidirektionalen Leistungsnetzteilen. Neben klassischen Bordnetzen mit Spannungen von 12 bzw. 48 V ist aufgrund der fortschreitenden Elektrifizierung der Traktionsantriebe hierbei immer häufiger eine Simulation von Hochvolt-Bordnetzen mit Spannungen von bis zu 1000 V in der Prüfumgebung erforderlich. Insbesondere Lenkungsprüfstände sind inzwischen in der Regel zudem mit zwei redundanten Bordnetzen ausgestattet. Dies ist damit zu begründen, dass auf den Steuergeräten der Prüflinge zunehmend auch sicherheitsrelevante Funktionen ausgeführt werden. In Abhängigkeit der Anforderungen kann die Bordnetzsimulation um verschiedene Optionen wie beispielsweise eine externe Batteriesimulation, eine Leistungsmessung, eine Ruhestrommessung oder Möglichkeiten zur Fehlersimulation erweitert werden (siehe auch Abschnitt 5.1). Für die Temperierung bzw. Klimatisierung der Prüflinge können meistens an die jeweilige Aufgabe angepasste Standardlösungen zum Einsatz kommen. Hierfür bedarf es jedoch sowohl geeigneter Lösungen für die Durchführungen der mechanischen Belastungseinheiten in den Prüfraum, als auch geeigneter Lösungen, um sensible Messtechnik innerhalb des temperierten Bereiches betreiben zu können. Herausfordernd ist häufig auch die geometrische Gestaltung des Prüfraums. Hierbei gilt es einen Kompromiss zwischen guter Zugänglichkeit für Rüstvorgänge und unterschiedlichsten Geometrien der Prüflinge einerseits, und möglichst kleinem Volumen und damit einhergehenden kurzen Aufheizbzw. Abkühlzeiten andererseits abzustimmen. Da es sich um aktive Prüflinge handelt, ist deren Verlustleistung bei der Auslegung der Temperierung bzw. Klimatisierung ebenfalls zu berücksichtigen. Bei der Entwicklung und Realisierung von Funktionsprüfständen für mechatronische Systeme stellen die Systemintegration und Automatisierung zentrale Aufgaben dar. Dies betrifft sowohl die gemeinsame Bedienung und Ansteuerung der einzelnen zuvor genannten Teilsysteme des Prüfstandes und des Prüflings über eine übergeordnete Testautomatisierung, als auch die Einbindung des Prüfstandes in bestehende Prozesse und Werkzeugketten [7,8,9]. Im Sinne einer automatisierten und effizienten Prüfung ist es weiterhin erforderlich die verschiedenen mechanischen und elektrischen Messgrößen sowie die Steuergeräte- und Diagnosedaten zeitsynchron in einem System zu erfassen (vgl. auch Abbildung 2). Das typische Einsatzgebiet der Prüfsysteme erstreckt sich von entwicklungsbegleitenden Untersuchungen (z.B. zur Körperschallanalyse oder der Optimierung der Regelkreise) über Performance-Tests (z.B. Bestimmung von Wirkungsgraden und Reibkräften) bis hin zur funktionalen Absicherung des Systems inkl. der Simulation elektrischer Fehler (z.B. Kurzschluss oder Busabriss). Automatisierte Freigabeprüfungen von Softwareversionen und Dauerlauferprobungen stellen weitere Einsatzschwerpunkte dar. Die IABG als Systemanbieter kundenindividueller Prüfsysteme realisiert neben Funktions- und Entwicklungsprüfständen für aktive elektromechanische Systeme bestehend aus Steuergerät, elektrischem Stellantrieb und den mechanischen Baugruppen auch Prüfsysteme für die Entwicklung der in diesen Systemen eingesetzten elektrischen Stellantriebe. Diese Prüfsysteme verfügen über identische Module für die Bordnetz- und Restbussimulation und häufig auch über eine Möglichkeit zur Temperierung der Prüflinge. Die mechanische Schnittstelle vereinfacht sich bei diesen Prüfsystemen jedoch auf einen rotatorischen Servoantrieb. HiL- und Parameterprüfsysteme dienen der Entwicklung und Absicherung der Steuergeräte und verfügen daher nur über die hierfür erforderlichen elektrischen Schnittstellen für die Bordnetz- und Restbussimulation (Abbildung 3). Synergien zwischen der Absicherung des Steuergerätes, des elektrischen Antriebssystems und des Gesamtsystems können so genutzt werden. 3. Herausforderungen und Lösungsstrategien Im folgenden Abschnitt werden zunächst typische Herausforderungen, die bei der Entwicklung und Auslegung von Funktionsprüfständen für aktive elektromechanische Systeme bestehen, beschrieben. Anschließend werden Herangehensweisen vorgestellt, die dazu beitragen, die Komplexität mit effizientem Zeit- und Mitteleinsatz zu beherrschen. 3.1 Anforderungen Wie bereits beschrieben wurde, werden die Prüflinge in der Regel anhand sehr unterschiedlicher Lastfälle charakterisiert, die sich von Tests im blockierten Zustand über sehr langsame Bewegungen mit konstanter Geschwindigkeit (z.B. zur Reibkraftmessung), Nachfahrsignalen aus Fahrbetriebsmessungen bis hin zu hochdynamischen Tests (z.B. Ermittlung von Sprungantworten zur Reglerabstimmung) erstrecken. Einige dieser Tests (z.B. Ermittlung der Reibkräfte oder Bestimmung der dynamischen Steifigkeit) werden am passiven Prüfling durchgeführt, während die meisten Tests mit aktivem, geregeltem Prüfling erfol- 100 1. Fachtagung TestRig - Juni 2022 Entwicklung von Funktionsprüfständen für aktive Fahrdynamiksysteme: Herausforderungen und Lösungen gen. Zu den bereits hieraus resultierenden Zielkonflikten kommt erschwerend hinzu, dass auf einem Prüfstand in der Regel Prüflinge mit sehr unterschiedlichen mechanischen Eigenschaften zu charakterisieren sind. Beispiele hierfür sind Bauteilsteifigkeiten, Übersetzungen, unterschiedlichste Geometrien und verschiedenste Einbaulagen. Aus den unterschiedlichen Lastfällen und den stark variierenden Eigenschaften der Prüflinge resultieren sehr unterschiedliche Anforderungen an die Aktuatorik und die Regelung des Prüfstandes. Im Fall aktiver Prüflinge stellen die Wechselwirkungen zwischen der Regelung des Prüfstandes und den Regelkreisen der Prüflinge eine weitere Herausforderung dar. Auch hierbei gilt es zu berücksichtigen, dass das dynamische Verhalten der Prüflinge in Abhängigkeit der Betriebsmodi und des aufgespielten Softwarestandes stark variieren kann. Iterative Ansätze, die an Prüfständen für konventionelle, passive Prüflinge zur Verbesserung der Regelgüte eingesetzt werden, sind für die Funktionserprobung elektromechanischer Systeme auch aufgrund des stark zeitvarianten Verhaltens der aktiven Prüflinge ungeeignet. Neubeschaffungen von Prüfsystemen sind häufig aufgrund von Entwicklungsvorhaben des Endkunden erforderlich. Da die Konzeptionierung und Auslegung der Prüfsysteme hierbei in der Regel bereits in frühen Entwicklungsphasen des späteren Prüflings beginnen muss, sind die Anforderungen an die Funktionsprüfstände zu Beginn der Prüfstandsentwicklung oft noch unklar oder ändern sich im Laufe des Projektes. Erschwerend kommt auch hinzu, dass aufgrund der hohen Investitionen ausreichende Leistungsreserven für zukünftige Produktgenerationen mit noch unbekannten Eigenschaften vorgehalten werden müssen. Weitere technische Herausforderungen ergeben sich aus der Einbindung des Prüfsystems in bereits vorhandene kundenspezifische Prozesse und Werkzeuge zur Testautomatisierung. Hierfür sind geeignete Funktionsarchitekturen und Schnittstellen kundenindividuell ab-zustimmen und zu entwickeln [7,8,9]. Wie andere Prüfstände auch, müssen die Funktionsprüfstände deutlich performanter als die Prüflinge sein. Dies betrifft beispielsweise die Anforderungen an die Dynamik, die Messgenauigkeit, die Steifigkeit und das strukturdynamische Verhalten. Die Auslegung steifer Strukturen wird häufig wiederum durch große Rüst- und Verstellbereiche erschwert, die erforderlich sind, um eine große Variantenvielfalt an Geometrien und Einbaulagen der Prüflinge zu ermöglichen. Ein weiterer Zielkonflikt, der sich insbesondere dann zuspitzt, wenn hohe Querkräfte außerhalb des temperierten Prüfraums aufgenommen werden müssen, besteht zwischen der Steifigkeit und den bewegten Massen der Belastungseinheiten. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die bewegten Massen wiederum die erzielbare Dynamik beziehungsweise die erforderlichen Aktorkräfte beeinflussen. 3.2 Lösungsstrategien Um unter den gegebenen technischen Herausforderungen komplexe Prüfsysteme in kleinen Stückzahlen und in kurzer Zeit wirtschaftlich realisieren zu können, setzt die IABG als Systemanbieter kundenindividueller Prüfsysteme unter anderem auf: Abbildung 4: Durchgängige modellbasierte Auslegung 1. Fachtagung TestRig - Juni 2022 101 Entwicklung von Funktionsprüfständen für aktive Fahrdynamiksysteme: Herausforderungen und Lösungen Eine partnerschaftliche, vertrauensvolle und enge Zusammenarbeit mit Kunden und Lieferanten. Modulare Lösungen. Grundlage des Baukastens sind standardisierte und flexibel anpassbare Hard- und Softwarearchitekturen, die eine Entwicklung und Applikation von Modulen für wiederkehrende Aufgaben ermöglichen. Eine durchgehend modellbasierte Auslegung zur schnellen und effizienten Realisierung bedarfsgerechter Lösungen. Ausgehend von der Motivation und den hieraus resultierenden Anforderungen wird die Umsetzung einer durchgehenden, entwicklungsbegleitenden Systemsimulation im folgenden Abschnitt 4 ausführlicher beschrieben. Wie modulare Lösungen zu kundenindividuellen und dennoch wirtschaftlichen Lösungen beitragen können, ist Inhalt des Abschnitts 5. Bezüglich der partnerschaftlichen Zusammenarbeit wird exemplarisch auf [8,9] verwiesen. 4. Modellbasierte Entwicklung Wie in Abbildung 4 dargestellt, beginnt der Einsatz der entwicklungsbegleitenden Systemsimulation bereits im Rahmen erster Machbarkeitsanalysen in der Angebotsphase. In dieser Phase wird die Systemsimulation unter anderem dafür genutzt, Anforderungen zu präzisieren und mit den Auftraggebern zu klären. Zielkonflikte können hierbei aufgezeigt und mit den späteren Betreibern abgestimmt werden. Während der weiteren Konzeptionierung und Entwicklung des Prüfsystems erstreckt sich der Einsatz der entwicklungsbegleitenden Systemsimulation über die vergleichende Bewertung von Lösungsansätzen und die Ermittlung von Anforderungen an Komponenten und Teilsysteme (z.B. an die Aktuatorik) bis zu deren Auslegung und Optimierung. Die Entwicklung von geeigneten Regelungsalgorithmen beginnt in einer frühen Projektphase anhand einfacher, zumeist noch linearer Modelle des Prüfstandes und des Prüflings. Mit fortschreitender Konkretisierung des Systems werden die entwickelten Algorithmen im Laufe des Projektes dann an einem detaillierteren, zumeist nichtlinearen Systemmodell weiterentwickelt, erprobt und optimiert. Im Allgemeinen erstreckt sich der Einsatz des Systemmodells hierbei von der Entwicklung geeigneter Regelungsalgorithmen und deren Absicherung am Modell (SiL), über den Test der entwickelten Algorithmen auf der Zielhardware (HiL), bis hin zur Ermittlung von initialen Parametersätzen für die Inbetriebnahme des Prüfsystems (siehe Abbildung 4) [10]. Abbildung 5: Zunehmende Detaillierung im Laufe des Entwicklungsprozesses Wie in Abbildung 5 dargestellt ist, wird der Detaillierungsgrad des Systemmodells im Laufe des Entwicklungsprozesses sukzessive erhöht. Insbesondere die in späten Projektphasen vorliegenden Systemmodelle sind hierbei häufig zu detailliert und rechenintensiv, um im Rahmen von HiL-Simulationen auf Echtzeitsystemen für die Erprobung der Echtzeitfunktionen verwendet werden zu können. Für den Test der entwickelten Algorithmen auf der Zielhardware (HiL) werden daher häufig vereinfachte, echtzeitfähige Modelle aus dem Systemmodell abgeleitet (vgl. auch Abbildung 5). Nach der Inbetriebnahme des Prüfsystems steht ein mit Messdaten abgeglichenes Systemmodell zur Verfügung. Dieses kann auch nach der Auslieferung dafür genutzt werden, die Einsatzgrenzen des Prüfstandes bei neu hinzugekommenen, zuvor nicht spezifizierten Eigenschaften der Prüflinge oder weiteren, ursprünglich nicht vorgesehenen Testfällen zu ermitteln, beziehungsweise geeignete Parameter für diese festzulegen. Weiterhin kann das abgeglichene Systemmodell auch im Sinne eines „Trouble-Shootings“ dazu verwendet werden, im Betrieb auftretende Phänomene nachzuvollziehen und bei Bedarf zu beheben. Dass das beschriebene Vorgehen bei Erfüllung einiger notwendiger Voraussetzungen und Bedingungen in erheblicher Weise zu einer effizienten Entwicklung und Realisierung komplexer Prüfsysteme beiträgt, liegt auf der Hand. So können unter anderem unterschiedliche Konzepte und Lösungen schnell bewertet und verglichen, Parameter variiert und optimiert sowie Funktionen am Modell abgesichert werden. Dynamische Effekte und Wechselwirkungen werden bei der Auslegung konsequent berücksichtigt. Hinzu kommt, dass die Inbetriebnahme durch Vorwissen vereinfacht wird. 102 1. Fachtagung TestRig - Juni 2022 Entwicklung von Funktionsprüfständen für aktive Fahrdynamiksysteme: Herausforderungen und Lösungen Abbildung 6: Allgemeine Modellstruktur Aber auch das Projekt- & Risikomanagement profitiert von diesem Vorgehen, da technische Risiken minimiert, Entscheidungen abgesichert und Anforderungen effizient anhand von Simulationsergebnissen gemeinsam mit dem Kunden präzisiert und abgestimmt werden. Hinzu kommen einige positive Nebeneffekte für die interne Zusammenarbeit. So kann das Vorgehen durch die Verwendung von Modellbibliotheken einen wesentlichen Beitrag zur Dokumentation von Wissen leisten, den Aufbau eines Systemverständnisses erleichtern, eine schnelle Einarbeitung neuer Mitarbeiter ermöglichen und dazu beitragen, dass wiederkehrende Aufgaben effizient bearbeitet werden können. Hinzu kommt, dass die Kommunikation und Abstimmung im Projektteam erfahrungsgemäß profitiert. Für eine effiziente und belastbare modellbasierte Auslegung und auch um alle Vorteile des beschriebenen Vorgehens nutzen zu können, sind jedoch einige Voraussetzungen zu erfüllen. Diese werden im folgenden Abschnitt beschrieben. 4.1 Anforderungen Aus dem beschriebenen Vorgehen resultieren sowohl Anforderungen an die verwendeten Simulationsumgebungen und Werkzeugketten als auch an die Modellierungsstrategie. Die verwendete Simulationsumgebung sollte leicht erlernbar und intuitiv bedienbar sein. Weiterhin sollte sie den Aufbau und die Einbindung eigener Modellbibliotheken unterstützen. Wichtig ist auch, dass eine Automatisierung der Simulation und die Einbindung von Pre- und Post-Processing-Skripten leicht möglich ist. Für wiederkehrende Aufgaben, wie beispielsweise die Auslegung von Regelkreisen, Parameteroptimierungen oder Analysen im Frequenzbereich, sollte die Simulationsumgebung leistungsfähige Funktionen zur Verfügung stellen. Für das beschriebene Vorgehen ist es weiterhin essentiell, dass die entwickelten Funktionen schnell und einfach kompiliert und auf die Zielhardware übertragen werden können. Matlab in Kombination mit der Simulationsumgebung Matlab-Simulink bietet zahlreiche leistungsfähige Toolboxen (z.B. control system toolbox, optimization toolbox) und ist leicht erlernbar. Aufgrund der großen Verbreitung sind zudem auch viele neue Mitarbeiter bereits mit dem System vertraut. Über den Simulink-Coder können die entwickelten Modelle und Funktionen in C-Code kompiliert und auf alle gängigen Hardware-Plattformen (z.B. dSpace, NI-PXI, Beckhoff) übertragen werden, sodass die benötigte Durchgängigkeit für die Entwicklung der Echtzeitfunktionen gegeben ist. Eine weitere Grundvoraussetzung für das vorgestellte Vorgehen ist, dass der Detaillierungsgrad des Systemmodells einfach und schnell an die jeweiligen Aufgabenstellungen angepasst werden kann. Dies wird über einen geeigneten Modellierungsansatz und die Verwendung von Modellbibliotheken ermöglicht. Hierfür werden wiederum ein standardisierter und hierarchischer Modellaufbau sowie geeignete und validierte Teilmodelle unterschiedlichen Detaillierungsgrades benötigt. Damit der Detaillierungsgrad des Modells einfach angepasst werden kann, müssen alle in der Modellbibliothek abgelegten Teilmodelle zudem über definierte Schnittstellen verfügen. Die für die modellbasierte Auslegung von Funktionsprüfständen verwendete Modellierungsstrategie basiert auf den Überlegungen in [11,12] und wird im Folgenden vorgestellt. 4.2 Modellierungsstrategie Abbildung 6 zeigt die allgemeine Modellstruktur der verwendeten Systemmodelle. Auf der obersten Ebene wird zwischen der Nachbildung der Physik des Prüfstandes einschließlich Prüfling und den Funktionen unterschieden, die später auf dem Echtzeitsystem ausgeführt werden (Markierung 1 in Abbildung 6). Das Modell des Prüfstandes wird auf oberster Ebene in dem Teilsystem (PHY) zusammengefasst, während das Teilsystem (DSP) alle Echtzeitfunktionen beinhaltet. Diese Unterscheidung bietet einige Vorteile: Zwischen den beiden Teilsystemen werden nur die Mess- und Stellsignale ausgetauscht, die auch am späteren Prüfstand vorhanden sind. Der Block für die digitale Signalverarbeitung kann somit direkt kompiliert und auf die Zielhardware übertragen werden (3). Hinzu kommt, dass die beiden Teilsysteme mit unterschiedlichen Zeitschrittweiten simuliert werden können, sodass Diskretisierungseffekte im Modell berücksichtigt und untersucht werden können. 1. Fachtagung TestRig - Juni 2022 103 Entwicklung von Funktionsprüfständen für aktive Fahrdynamiksysteme: Herausforderungen und Lösungen Abbildung 7: Detaillierung des Antriebsstrangmodells eines Funktionsprüfstandes für elektrische Stellantriebe Innerhalb des physikalischen Teilsystems wird bei allen Modellen einheitlich in der zweiten Modellebene zwischen drei weiteren Teilsystemen unterschieden (4). Das Teilsystem (MEC) beinhaltet die mechanischen Umfänge des Prüfstandes einschließlich geeigneter Modelle zur Beschreibung des dynamischen Verhaltens der passiven und aktiven Prüflinge. Eingangsgrößen für dieses Teilmodell sind die von der Aktuatorik des Prüfstandes eingeleiteten Kräfte und Momente. Diese werden in einem weiteren Teilmodell für die Aktuatorik (ACT) auf Basis der im zeitdiskreten Teilsystem (DSP) berechneten Stellgrößen und des aktuellen Bewegungszustandes der mechanischen Elemente berechnet. Das dritte Teilsystem auf dieser Ebene dient dazu, die Messgrößen für die Signalverarbeitung zu berechnen. Hierzu werden dem Teilsystem (SEN) zunächst alle im Modell berechneten Signale zur Verfügung gestellt. Innerhalb des Teilsystems erfolgt dann die Auswahl, welche Signale als Messgrößen an die Signalverarbeitung übertragen werden. Weiterhin besteht hier die Möglichkeit, die Signale bei Bedarf mit Modellen zur Nachbildung des dynamischen Verhaltens der Sensoren zu filtern oder Messungenauigkeiten und Rauschen zu überlagern. In Abhängigkeit der konkreten Aufgabenstellung können anschließend beliebig viele weitere Modellebenen eingeführt werden. Die Anzahl der weiteren Modellebenen orientiert sich zumeist an den Baugruppen des Prüfsystems und nimmt mit fortschreitender Detaillierung des Systems und des Modells zu. Auf der jeweils untersten Modellebene werden dann jedoch nur noch standardisierte und getestete Teilmodelle aus der Modellbibliothek verwendet (5). Hierfür stellt diese elementare Teilmodelle unterschiedlicher Detaillierung für mechanische, hydraulische, pneumatische und elektrische Effekte und Komponenten zur Verfügung. Beispiele für mechanische Teilmodelle sind unter anderem Starrkörper, sowie lineare und nichtlineare Steifigkeitsmodelle für eindimensionale, ebene und räumliche Bewegungen, verschiedene 104 1. Fachtagung TestRig - Juni 2022 Entwicklung von Funktionsprüfständen für aktive Fahrdynamiksysteme: Herausforderungen und Lösungen Reibkraftmodelle, sowie Modelle zur Beschreibung von Spiel. Die innerhalb eines Teilmodells berechneten Größen werden in einem Datenbus zusammengefasst und über einen zusätzlichen Ausgang (Data_ACT) zur Verfügung gestellt. In jeder Modellebene werden diese Signale dann in einem gemeinsamen Datenbus zusammengefasst und an die nächst höhere Ebene übergeben (siehe auch Abbildung 6). Hierdurch entsteht ein hierarchisch organisierter Datenbus, dessen Struktur der des Systemmodells entspricht (6). Hierdurch lässt sich ein effizientes und automatisiertes Post-Processing erheblich vereinfachen. 4.3 Schnittstellenkonvention Um die verschiedenen Teilmodelle einfach einbinden beziehungsweise austauschen zu können, müssen die Ein- und Ausgangsgrößen aller in der Modellbibliothek hinterlegten Teilmodelle eindeutig festgelegt sein. Hierfür wird der in [11,12] vorgeschlagene Modellierungsansatz genutzt. Dieser sieht im Wechsel angeordnete Admittanz- und Impedanzformulierungen zur Beschreibung des Systems vor. Durch eine Impedanzformulierung werden aus physikalischen Flussgrößen (wie mechanischen Geschwindigkeitsdifferenzen, hydraulischen Volumenströmen oder elektrischen Strömen) Potentialgrößen, also mechanische Kräfte bzw. Momente, hydraulische Drücke oder elektrische Spannungen berechnet. Teilmodelle in einer Admittanzformulierung ermitteln entsprechend Flussgrößen aus Potentialgrößen. Die Ausgänge eines Teilmodells in Impedanzformulierung sind dann wiederum die Eingänge eines Modells in Admittanzformulierung. In der mechanischen Dömäne wird für Teilsysteme, die mindestens einen mechanischen Freiheitsgrad aufweisen (wie z.B. Starrkörper), eine Admittanzbeschreibung gewählt. Teilmodelle von Elementen, die solche Elemente untereinander verbinden (wie z.B. Steifigkeiten), werden entsprechend in einer Impedanzdarstellung formuliert. Folgend werden hydraulische Volumina beispielsweise in einer Admittanzformulierung beschrieben und untereinander über hydraulische Widerstände in Impedanzformulierung gekoppelt. Die hieraus resultierende Netzwerkformulierung ermöglicht in Kombination mit der zuvor vorgestellten hierarchischen Organisation des Modells einen schnellen und effizienten Modellaufbau aus standardisierten Teilmodellen bei leichter Erweiterbarkeit zur Detaillierung im Laufe des Projektes. Dies wird exemplarisch am Beispiel eines Antriebsstrangmodells eines Entwicklungsprüfstandes für elektrische Stellantriebe in Abbildung 7 illustriert. Die obere Darstellung zeigt ein noch wenig detailliertes Modell aus einer frühen Projektphase. Dieses beinhaltet die Trägheiten der Belastungsmaschine und des Prüflings in Admittanzformulierung, die über die Steifigkeit der Messwelle in Impedanzformulierung gekoppelt sind. Auf die Trägheit der Lastmaschine wirkt ein Antriebsmoment, welches aus der aktuellen Drehzahl und einer im Teilsystem DSP berechneten Stellgröße mittels eines einfachen phänomenologischen Modells im Teilsystem der Aktorik (ACT) ermittelt wird. Die untere Darstellung zeigt ein detaillierteres Systemmodell aus einer späteren Projektphase. Hierzu wurde der Antriebsstrang in einem ersten Schritt um Teilmodelle zur Beschreibung des dynamischen Verhaltens der Wellenkupplungen erweitert. In einem zweiten Schritt wurde das Modell einer zusätzlichen Schwungmasse integriert. Das einfache phänomenologische Modell der Lastmaschine wurde zudem durch eine komplexere Beschreibung ersetzt, die nun auch das Verhalten der Leistungselektronik berücksichtigt. Hierbei sind sowohl alle zuvor eingeführten Schnittstellen, als auch die ersten beiden Ebenen der Modellstruktur erhalten geblieben. 4.4 Nutzung von Bibliotheken Die Nutzung von Bibliotheken ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für eine effiziente und zuverlässige modellbasierte Auslegung und die Dokumentation von Wissen. Wie in Abbildung 8 dargestellt ist, werden hierfür drei unterschiedliche Bibliotheken genutzt. Eine Bibliothek enthält bereits erarbeitete, getestete und dokumentierte Teilmodelle für die physikalische Modellierung des Prüfsystems. Falls im Rahmen eines Projektes neue Modelle zu entwickeln sind, werden diese über die Modellbibliothek nachfolgenden Projekten zur Verfügung gestellt. Abbildung 8: Aufgebaute und verwendete Bibliotheken Eine weitere Bibliothek beinhaltet alle Echtzeitfunktionen. Beispiele hierfür sind bereits entwickelte und erprobte Regelungsalgorithmen und Signalgeneratoren. Auf diese Weise können diese Funktionen zentral gepflegt und weiterentwickelt werden. 1. Fachtagung TestRig - Juni 2022 105 Entwicklung von Funktionsprüfständen für aktive Fahrdynamiksysteme: Herausforderungen und Lösungen Abbildung 9: Mechanisches und hydraulisches Ersatzschaltbild eines Funktionsprüfstandes für Wankstabilisatoren Die dritte Bibliothek umfasst Funktionen, die für eine effiziente und automatisierte Vorbereitung, Durchführung oder Aufbereitung der Simulationen benötigt werden. Beispiele für Pre-Processing-Funktionen sind Routinen zur automatisierten Parametrierung des Modells, die automatisierte Erstellung des Data-Akqui-sitionsbusses oder ein Tool zum Einlesen grafischer Kennlinien. Für die Durchführung der Simulationen stehen Funktionen zur automatisierten Variation von Modellparametern oder der Ableitung von linearen Modellen im Frequenzbereich aus den im Zeitbereich modellierten Systemmodellen zur Verfügung. Das Post-Processing wird unter anderem durch Funktionen zur Animation von räumlichen Bewegungen, Funktionen für Frequenzbereichsanalysen und eine automatisierte Erstellung von Simulationsberichten erleichtert. 4.5 Beispiel Abbildung 9 zeigt exemplarisch das mechanische und hydraulische Ersatzschaltbild eines servohydraulischen Funktionsprüfstandes für aktive Wankstabilisatoren. Die von Teilmodellen in Admittanzformulierung berechneten Flussgrößen sind mit roten Pfeilen gekennzeichnet. Die von den Koppelelementen in Impedanzformulierung ermittelten Potentialgrößen sind in orange eingezeichnet. Beide Ersatzschaltbilder können somit direkt in die zuvor beschriebene Netzwerkstruktur überführt und aus standardisierten Teilmodellen für die mechanischen und hydraulischen Elemente aufgebaut werden. Die Kopplung zwischen dem mechanischen und hydraulischen Teilmodell erfolgt über die im hydraulischen Teilsystem berechneten hydraulischen Kräfte. Hierfür werden die im mechanischen Teilsystem berechneten Bewegungszustände der Kolbenstangen zurückgeführt. Die beiden Teilmodelle wurden in Kombination mit einem weiteren Teilmodell zur Berechnung des vom aktiven Prüfling gestellten Momentes sowie eines Modells der Prüfstandsregelung unter anderem dafür genutzt, die erforderlichen Aktorkräfte und resultierende Querkräfte für unterschiedliche Lastfälle in Abhängigkeit verschiedener Parameter des Prüflings wie Geometrie, Steifigkeit und Pfeilung zu ermitteln. Weiterhin wurde das Modell unter anderem für die Dimensionierung der Servoventile, die Optimierung der Speichervolumina, eine Optimierung der Regelung unter Berücksichtigung der Eigenfrequenzen sowie die Ermittlung der erforderlichen Ölmengen verwendet. 5. Module Insbesondere komplexe Funktionsprüfstände für aktive elektromechanische Systeme sind in der Regel individuelle Lösungen, die für spezifische Bedarfe entwickelt werden. Dies betrifft unter anderem die genutzten Automatisierungslösungen, die Schnittstellen zu vorhandenen oder übergeordneten Systemen, die zu realisierenden Rüstbereiche, die Leistungsdaten der Aktuatorik sowie die erforderlichen Funktionsumfänge. Hinzu kommt, dass die meisten Kunden im Rahmen ihrer Standardisierungsbestrebungen spezielle Komponenten und Lieferanten bevorzugen bzw. vorschreiben. Die elektrische, hydraulische und sicherheitstechnische Ausführung des Prüfsystems, sowie Form und Umfang der erforderlichen Dokumentation werden in der Regel über kundenspezifische technische Liefervorschriften geregelt. Wie in Abschnitt 2 beschrieben wurde, gibt es dennoch einige Funktionen, die in nahezu jedem Entwicklungs- und Funktionsprüfstand in ähnlicher Form und Ausführung zu realisieren sind. Beispiele hierfür sind die Versorgung der Prüflinge mit elektrischer Leistung, die Messung von Kräften und Momenten innerhalb eines großen Temperaturbereiches oder die Einleitung der mechanischen Belastungen. 106 1. Fachtagung TestRig - Juni 2022 Entwicklung von Funktionsprüfständen für aktive Fahrdynamiksysteme: Herausforderungen und Lösungen Ein weiterer wichtiger Ansatz für eine schnelle und wirtschaftliche Realisierung der Prüfsysteme besteht daher darin, für wiederkehrende Aufgaben Module zu entwickeln und zu applizieren. Dieses Vorgehen ist insbesondere dann wirkungsvoll, wenn unter dem Begriff Modul mehr verstanden wird, als eine Baugruppe oder eine einzelne Softwarefunktion für eine bestimmte Aufgabe. Vielmehr empfiehlt es sich auch hier, den vollständigen Prozess von der Angebotserstellung über die Entwicklung und Inbetriebnahme bis hin zum späteren Betrieb des Prüfstandes zu berücksichtigen. Ein Modul beinhaltet daher auch Angebotsbausteine sowie Beschaffungslisten und Mengengerüste für eine effiziente Angebotserstellung. Die Abstimmung mit dem Kunden kann während der Angebotsphase und zu Beginn des Projektes durch vorgefertigte Konzeptpräsentationen erleichtert werden. Für die Auslegung beinhaltet ein Modul die erforderlichen Auslegungsdokumente und -methoden, sowie die für die entwicklungsbegleitende Systemsimulation benötigten Parameter. Die Projektierung des Prüfstandes wird beispielsweise durch EPlan-Makros, standardisierte Frontplattenlayouts und HowTos beschleunigt. Weiterhin beinhaltet ein Modul die für die Ansteuerung der Komponenten erforderlichen Softwarebausteine. Für die Inbetriebnahme werden Inbetriebnahme- und Kalibrierungsanweisungen sowie Parametersätze bereitgestellt. Die Dokumentation kann beispielsweise durch Textbausteine für die Bedienungsanleitung und den Wartungsplan erleichtert werden. Um den jeweiligen Kundenwünschen und Anforderungen gerecht zu werden, bietet es sich an, für jedes Modul eine Grundversion vorzuhalten, die bedarfsgerecht um verschiedene Optionen erweitert werden kann. Weiterhin empfiehlt es sich, für wichtige Komponenten zwei bis drei Vorzugstypen unterschiedlicher Lieferanten vorzuhalten. Diese werden so gewählt, dass die Vorzugslisten und technischen Liefervorschriften wichtiger Kunden abgedeckt sind. Aus den Modulen resultiert somit auch eine eigene Vorzugsliste, die bereits in der Angebotsphase schnell mit den Vorzugslisten der Kunden abgeglichen und abgestimmt werden kann. 5.1 Beispiel: Bordnetzsimulation Abbildung 10 zeigt exemplarisch einen Ausschnitt aus der Konzeptpräsentation für das Modul Bordnetzsimulation. Die Grundversion (1) umfasst die Leistungsversorgung mit einem bidirektionalen Netzteil, eine Strom- und Spannungsmessung, ein Leistungsschütz und eine Frontplatte mit geeigneten Steck- oder Klemmverbindungen. Hierbei besteht eine Auswahl zwischen zwei häufig verwendeten Netzteilen mit ähnlichen Leistungsdaten. Das Modul ist in der Grundversion für 12 und 48V-Bordnetzte nahezu identisch aufgebaut. Für den Fall, dass die Leistungsversorgung der Prüflinge über ein 48V-Bordnetz erfolgt, wird die Bordnetzsimulation um eine optionale Logikversorgung erweitert (2). Weiterhin besteht die Möglichkeit, SuperCaps zur Spannungsstabilisierung für dynamische Lastfälle zu ergänzen (3). Weitere Optionen sind beispielsweise eine Anschlussmöglichkeit für externe Batteriesimulatoren oder Netzteile (4), die Integration eines Leistungsmessgerätes (5) oder eine um eine Ruhestrommessung erweiterte Messtechnik (6). Abbildung 10: Modul Bordnetzsimulation (Konzeptdokument) 1. Fachtagung TestRig - Juni 2022 107 Entwicklung von Funktionsprüfständen für aktive Fahrdynamiksysteme: Herausforderungen und Lösungen 6. Zusammenfassung Elektronik und Software beherrschen heutige und zukünftige Innovationen im Automobilbereich. Hierdurch steigt auch der Aufwand, mechatronische Systeme mit großen Softwareanteilen gegen Fehler abzusichern. Funktionsprüfstände für aktive Systeme dienen der Entwicklung und Absicherung von Hard- und Software im Verbund, meist unter Umweltbedingungen. Herausforderungen bei der Entwicklung und Auslegung dieser Prüfsysteme resultieren unter anderem aus Wechselwirkungen zwischen dem Prüfstand und den Regelkreisen des aktiven Prüflings, der großen Variantenvielfalt, der erhöhten Komplexität und den benötigten Automatisierungsgraden. Um unter den gegebenen technischen Herausforderungen komplexe Prüfsysteme in kleinen Stückzahlen und in kurzer Zeit wirtschaftlich realisieren zu können, setzt die IABG als Systemanbieter kundenindividueller Prüfsysteme unter anderem auf eine partnerschaftliche und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Kunden und Lieferanten, eine modellbasierte Auslegung anhand einer durchgehenden Systemsimulation sowie die Entwicklung und Applikation von Modulen für wiederkehrende Aufgaben. Literaturverzeichnis [1] Picot, A.; Hopf, S.; Sedlmeir, J.: Digitalisierung als Herausforderung für die Industrie - Das Beispiel der Automotive Branche. In: Burr, W., Stephan, M. (eds) Technologie, Strategie und Organisation. Springer Gabler, Wiesbaden, 2017 [2] Ifo-Studie im Auftrag der bayrischen Industrie- und Handelskammer: Fahrzeugbau - Wie verändert sich die Wertschöpfungskette. https: / / www.bihk. de/ bihk/ downloads/ bihk/ bihk_ifo-studie_fahrzeugbau_final.pdf, 06.01.2021 [3] Brülinghaus, C.: Elektronik und Software beherrschen Innovation im Auto. https: / / www.springerprofessional.de/ automobilelektronik---software/ antriebsstrang/ elektronik-und-software-beherrschen-innovationen-im-auto/ 6561802, 06.01.2021 [4] McOuat, R.: Cars are made of code. https: / / www. nxp.com/ company/ blog/ cars-are-made-of-code: BL-CARS-MADE-CODE, 06.01.2021 [5] Kraus,M.: Fahrwerksysteme-Schaefflerkannmehrals Lager. In: Schaeffler Kolloquium 2010, https: / / www. schaeffler.de/ content.schaeffler.de/ de/ news_medien/ mediathek/ downloadcenter-detail-page.jsp? id= 3378395, 07.01.2021 [6] Hoffmann, S.; Rödling, S.: Energieeffziente Prüfung von Federn und Stabilisatoren mit variablen Amplituden und Frequenzen. In: DVM Workshop Prüfmethodik in der Betriebsfestigkeitsversuche in der Fahrzeugindustrie, Ottobrunn, 2017 [7] Winter, M.; Glauer, S.; Jungblut, T.; Rödling, S.: Modulare Funktionsarchitekturen für mechatronische Prüfsysteme. In: TAE TestRig, Ostfildern, 2021 [8] Koch, C.; Jungblut, T.: Modulare Prüftechnik für die Funktionserprobung von aktiven Wankstabilisatoren. DVM Workshop Prüfmethodik für Betriebsfestigkeitsversuche in der Fahrzeugindustrie, Ulm, 2019 [9] Winter, M.; Bultmann, S.: Automatisierung eines Funktionsprüfstands für elektrische Wankstabilisatoren mit NI VeriStand. NI VIP, Fürstenfeldbruck, 2018. [10] VDI-Richtlinie 2206: Entwurfsmethodik für mechatronische Systeme. VDI-Verlag, Düsseldorf, 2014 [11] Herold, S.; Jungblut, T.; Kurch, M.: A systematic approach to simulate active mechanical structures. NAFEMS - Seminar: Multidisciplinary Simulations - The Future of Virtual Product Development. Wiesbaden, 2009 [12] Jungblut, T.; Kraus, R.; Millitzer, J.; Herold, S.; Hanselka, H.: Modellbasierte Entwicklung einer aktiven elastischen Lagerung für Aggregate. In: Konstruktion, Nr. 9 (2012)