eJournals

Italienisch
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2019
4181 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott
Inhalt Editorial: Come l’Italia pensa l’Europa (Michael Schwarze) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Schwerpunkt: Come l’Italia pensa l’Europa Gerhard Regn, Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Luigi Reitani, Italien, Deutschland, Europa: ein Kulturdreieck . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Massimo Fanfani, L’Europa nella Babele italiana . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Barbara Kuhn, «La nostra casa la portiamo con noi»: zum Widerstreit von Diaspora und Heterotopie in Madre piccola von Cristina Ali Farah und La mia casa è dove sono von Igiaba Scego . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Biblioteca poetica Torquato Tasso, Dal vostro sen qual fuggitivo audace (Rime amorose, Sonett 142) (Philip Stockbrugger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Zur Praxis des Italienischunterrichts Iulia Stegmüller, Sprachvarietäten im modernen Italienischunterricht . . . . . . . . . . 86 Buchbesprechung Katharina List: Pensiero, azione, parola. Ethik und Ästhetik bei Carlo Emilio Gadda (Martha Kleinhans) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Kurzrezensionen Emanuele Tesauro: La Tragedia (Luca Mendrino) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Dagmar Reichardt/ Lia Fava Guzzetta (Hrsg .): Verga innovatore. Innovative Verga (Maurizio Rebaudengo) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Sieglinde Borvitz (Hrsg .): Metabolismo e spazio simbolico. Paradigmi mediali della Sicilia contemporanea (Maria Giovanna Campobasso) . . . . . . . . . . . . . . . 114 Dagmar Reichardt/ Nora Moll (Hrsg .): Italia transculturale. Il sincretismo italofono come modello eterotopico (Martina Kollroß) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Tiberio Snaidero: Interkulturelles Lernen im Italienischunterricht. Eine Konzeption und Lernaufgaben für Italienisch als 3. Fremdsprache (Domenica Elisa Cicala) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Italienisch_81.indb 1 02.07.19 14: 05 Vorschau Italienisch Nr. 82 / Herbst 2019 Biblioteca poetica Eugenio Montale: Mottetto 9 «Il ramarro, se scocca» (Marc Föcking) Die Reihe «Sprachecke Italienisch» wird unter neuer Leitung von Prof Dr Daniela Pietrini (Universität Halle) weitergeführt Italienisch_81.indb 2 02.07.19 14: 05 1 Come l’Italia pensa l’Europa Wir leben in Zeiten, in denen europäische Krisen medial allgegenwärtig sind: Man denke an die Krise der Institutionen der Europäischen Gemeinschaft, die Auswirkungen politisch-ökonomischer Krisen in vielen Ländern Europas und das allgemeine Erstarken europhober Populismen . Gleichzeitig ist die eklatante Unfähigkeit zu beobachten, angesichts der Herausforderungen nationalen, europäischen und globalen Ausmaßes gemeinsame Positionen zu finden . Bei den mal emphatischen, mal verzagten, mal polemischen Wehklagen über die vielfältigen Reibungsflächen im heutigen Europa wird freilich allzu leicht vergessen, dass die Idee Europa spätestens seit dem späten Mittelalter in Anbetracht der Zerstrittenheit der europäischen Mächte und ihrer machtpolitischen Ansprüche häufig nicht viel mehr als eine Projektion war Gleichwohl - oder besser: gerade deshalb - sind Konzeptionalisierungen Europas nach wie vor Gegenstand geisteswissenschaftlicher Forschungen . Sie gehen davon aus, dass es historische Konstellationen, sprachliche Praktiken, philosophische Entwürfe sowie literarische und künstlerische Konstruktionen sind, mittels derer wir Lebenswirklichkeiten in erheblichem Maße überhaupt erst erzeugen . Die Geisteswissenschaften tragen zu den Diskussionen um Europa dabei derzeit vor allem im Kontext der Globalisierungsdebatten bei: Die einen halten an der Tradition eines emphatischen Europa-Begriffs mit dem Argument fest, der Rest der Welt eigne sich das kulturelle Erbe Europas, angefangen mit der klassischen Antike, bis heute an und forme es weiter . Europa sei damit auch in globaler Perspektive das eigentliche «Weltkulturerbe» (Hilmar Hoffmann) . Dem stehen kulturwissenschaftliche Ansätze gegenüber, die konsequent der Tatsache Rechnung tragen wollen, dass unser Kontinent seit dem Ende des 19 . Jahrhunderts sukzessive seine dominierende Position in der Welt eingebüßt hat . Anschließend an den Postkolonialismus und das Paradigma einer globalen Verflechtungsgeschichte verzichten sie auf kohärenzbildende Europa- Erzählungen und quittieren die «Provinzialisierung Europas» (Dipesh Chakrabarty) mit einer Revision der eurozentrischen «Selbstgeschichtsschreibung rückwärts bis zu ihren Anfängen» (Albrecht Koschorke) . Im Sinne einer Entwestlichung eines als marginal betrachteten Europa rücken dabei Logiken der De- und Exzentrierung oder Vergleiche von Fremd- und Selbstwahrnehmungen von Europa in das Zentrum des Interesses Die vier Aufsätze, die den Themenschwerpunkt dieses Faszikels bilden und die anlässlich des Italientags 2017 an der Universität Konstanz entstanden, gehen einen dritten Weg: Sie untersuchen Formen der innereuropäischen Selbstvergewisserung und fragen anhand von Einzelfallstudien danach, welche sprachlichen oder literarischen Entwürfe und welche politischen Diskurse in Italien dazu dienten und dienen, die komplexen Realitäten der penisola in ein Verhältnis zu einem Europa zu setzen, das vielfach als fern oder fremd, wenn nicht gar als inexistent wahrgenommen wurde . Das Thema «Wie Italien Europa denkt» trägt auf diese Weise zu einer Historisierung bei, welche die genannten Großnarrative von der weltkulturellen Einheit bzw . der provinziellen Marginalität Europas notwendigerweise ergänzt . Denn nur differenzierte Kenntnisse über spezifisch italienische Perspektiven auf Europa erlauben es, etwaige Unterschiede sachgerecht einzuordnen, anstatt sie a priori als störend auszublenden, polemisch zu dämonisieren oder gesellschaftspolitisch zu instrumentalisieren Michael Schwarze DOI 10. 23 57/ Ital-2019 - 0 0 01 Italienisch_81.indb 1 02.07.19 14: 05 2 Zur Überlagerung heterogener Subjektentwürfe und literarischer Codes A sentence is but a cheveril glove to a good wit: how quickly the wrong side may be turned outward! Twelfth Night) G E R H A R D R E G N Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia 1 Es ist nicht ohne Ironie, dass Petrarca als Vater des europäischen Lateinhumanismus in die Geschichte eingegangen ist, obschon sein Programm der renovatio litterarum nicht nur keine europäische Orientierung aufweist, sondern einer solchen regelrecht widerspricht Denn die Wiedergeburt der literarischen Kultur aus dem Geist der Rückbesinnung auf eine ‘wahre’ und damit postmittelalterliche romanitas fungiert bei Petrarca als Impetus für die Ausbildung eines frühneuzeitlichen Nationalismus, in dem Italien weniger Partner, denn Gegner seiner europäischen Nachbarn ist . 2 Dies tritt besonders deutlich dort in den Blick, wo Petrarcas literarisches Programm der Rom- Renaissance in die politische Wirklichkeit Italiens hineingespielt wird Ein prägnantes Beispiel dafür ist die große Italienkanzone, die der Poet in seinen Canzoniere integriert und so über den Status einer bloß situationsgebundenen Gelegenheitsdichtung hinausgehoben hat I. Konkreter Gegenstand von Italia mia ist der Konflikt um Parma, der Mitte der vierziger Jahre, genauer im Winter 1344/ 45, im Zentrum der lombardischen Auseinandersetzungen stand und dessen direkter Zeuge Petrarca war, denn er hielt sich damals im Einzugsbereich der umkämpften Stadt auf 3 - die Kanzone indiziert die Anwesenheit des Dichters am Schauplatz des Geschehens in Vers 6, wobei die Sprechsituation mit ihrer hic et nunc-Deixis den Eindruck erweckt, dass der emotional affizierte Poet unmittelbar aus der exi- 1 Der nachfolgende Beitrag ist die Weiterentwicklung von Überlegungen, die ich in dem Artikel Rome, Italy and the End of the History of Salvation 2017 skizziert habe Im Zentrum steht die Ausleuchtung der verdeckten Bezüge zwischen Italia mia und Petrarcas Haltung zu den Kaisern des Sacrum Romanum Imperium Ziel der Analyse ist ein vertieftes Verständnis jenes frühneuzeitlichen Nationalismus, dem Petrarca in seiner Italienkanzone erstmals Kontur verleiht 2 Vgl den knappen diesbezüglichen Hinweis bei Dotti: Vita 1987, S 278, mit Blick auf die antifranzösische Polemik Petrarcas: «Nasceva così una prima forma di nazionalismo intellettuale e culturale che si radicò energicamente nella cultura dell’umanesimo .» 3 Petrarca war im Dezember 1343 aus Neapel nach Parma gekommen, wo er ein Haus erwarb, in dem er sich bis zu seiner kriegsbedingten Flucht am 23 Februar 1345 aufhielt - in Parma setzte er vor allem die Arbeit an der Africa fort DOI 10. 23 57/ Ital-2019 - 0 0 02 Italienisch_81.indb 2 02.07.19 14: 05 3 Gerhard Regn Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia stentiell bedrohlichen Konfliktsituation spricht . 4 Es ist offenkundig, dass die affektisch aufgeladene Sprechsituation die Rhetorik des movere zu bestmöglicher Entfaltung bringen will Beim Streit um die signoria der Stadt (dessen Ursprung ein Vertragsbruch und eine ordentliche Summe Geld war) standen sich auf der einen Seite Guido da Correggio, Luchino Visconti und die Gonzaga, auf der anderen Azzo da Correggio, Òbizzo d’Este, Mastino della Scala und Taddeo Pepoli gegenüber . 5 Geführt wurde der Krieg unter Einsatz von Söldnerheeren, unter denen deutsche Truppen die zentrale Rolle spielten Petrarca belegt diese wahlweise mit den Epitheta barbarisch, deutsch oder bayerisch 6 - das letztgenannte Epitheton wird uns noch beschäftigen Der Autor von Italia mia nimmt zu diesem Konflikt in dichterischer Form Stellung, denn seine allseits anerkannte Autorität ist die des poeta laureatus; 7 und er tut es, indem er sich demonstrativ über die Parteien stellt Die Italienkanzone ist ein flammender Aufruf zum Frieden - sie endet mit dem pathetischen Lakonismus des triadischen «Pace, pace, pace» (128,122); gleichzeitig verbindet sie diesen Appell mit der Ermahnung zur Abgrenzung nach außen Denn der Gipfel des Verwerflichen sei, dass die Italiener aus kleinlichen Partikularinteressen selber die fremdländischen Söldner in ihr Land holten, wo sie so großes Unheil anrichteten 4 Vgl bes 129, 6: «[…] e ’l Po, dove doglioso et grave or seggio»: Wie man sieht, wird die Sprechsituation durch das Ineinandergreifen von Präsens («seggio»), deiktischem Adverb («or») und der beiden Adjektive mit ihrer emotiven Semantik («doglioso»/ «grave») aufgebaut Die Kanzone und alle anderen Gedichte des Canzoniere werden zitiert in der Ausgabe von Santagata: Petrarca: Canzoniere 1996, jeweils unter Angabe von Gedichtnummer und Verszahl(en) Der Kommentar von Santagata wird zitiert als ‘Santagata’ unter Hinzufügung von Gedichtnummer, Seitenzahl, sowie, wo angezeigt, Verszahl(en) 5 Zu den Details vgl Petronio: Storicità della lirica 1961, S 247-61, sowie Dotti: Vita 1987, S 130: «Alla morte di Simone [da Correggio] infatti, Azzo [da Correggio], che non intendeva cedere la signoria della città a Luchino Visconti secondo certi patti intercorsi tra loro nel 1341, la vendette ad Òbizzo d’Este per circa 60 .000 fiorini d’oro (24 Novembre 1344) Guido [da Correggio], che avrebbe preferito rimanere in accordo con i Visconti, si oppose e venne cacciato mentre al volere si sottomise Giovanni [da Correggio], il più giovane dei fratelli La città si trovò così al centro delle lotte in Lombardia […] Nel dicembre 1344 a Parma ebbe inizio un vero e proprio assedio .» 6 «barbarico sangue», 128,22; «tedesca rabbia», 128,35; «bavarico inganno», 128,66 7 Petrarca war 1341, also nur ein paar Jahre zuvor, auf dem römischen Kapitol zum Dichter gekrönt worden Die Ehrung brachte ihm nicht nur dichterischen Ruhm ein, sie war auch ein immenser Autoritätsgewinn für seine Rolle als public intellectual Dass die Ehrenbezeichnung des poeta laureatus von Petrarca auch für die Promotion seiner volkssprachlichen Dichtung in Dienst genommen wurde, bezeugt u .a der titulus, den Petrarca seinem Canzoniere gibt: «Francisci Petrarche laureati poete Rerum vulgarium fragmenta», vgl Vatasso: L’originale del Canzoniere 1905, S 8 Zur Dichterkrönung vgl Wilkins: The Making 1951, S 9-69 Italienisch_81.indb 3 02.07.19 14: 05 4 Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia Gerhard Regn Wenn Petrarca dabei gleich zu Beginn und vermittels einer impliziten Referenz auf Ovid, Her. 7,3-6, die Vergeblichkeit seiner Rede thematisiert («Italia mia, benché ’l parlar sia indarno», 128,1), so erfüllt dieses Eingeständnis eine gänzlich andere Funktion als im politischen Diskurs über das Sacrum Romanum Imperium, in dessen Rahmen der Petrarca der fünfziger und sechziger Jahre darlegen wird, was vom Kaiser des römischen Reiches zu erwarten ist In diesem später datierten Zusammenhang betont Petrarca, wie zuvor schon in der Italienkanzone, dass die Forderungen, die er erhebt, ohne Wirkung bleiben Dies geschieht in Fam. XXIII,1,1, und zwar eben unter Bezugnahme auf dieselbe Ovid-Stelle, die diesmal aber anders als in der Kanzone nicht bloß allusiv evoziert, sondern sogar direkt zitiert wird: 8 Im ersten Brief des 23 Buches der Epistolae familiares geht es um die gleiche Situation wie in Italia mia, nämlich die Verwüstung des Landes durch die fremden Söldnerheere . 9 In der Epistel ist die Klage darüber deshalb vergeblich, weil sie keinen handlungswilligen Adressaten findet, der dem schlimmen Treiben ein Ende setzen könnte, obschon unmissverständlich signalisiert wird, dass es jemanden gäbe, der dies eigentlich tun müsste, nämlich der aus dem Geschlecht der Luxemburger stammende Kaiser des römischen Imperiums . 10 An diesen, also Karl IV ., der zugleich König von Böhmen war und in Prag residierte, werden im weiteren Verlauf des 23 Buches dann acht namentlich adressierte Briefe gerichtet Von diesen besteht die Mehrzahl aus ungehört bleibenden Aufforderungen an den Herrscher, seines Amtes als 8 Das Motiv der Vergeblichkeit der eigenen Rede erhält in Fam. XXIII,1 nicht zuletzt dadurch scharfes Profil, dass es prominent am Beginn der Epistel platziert ist Der Brief beginnt folgendermaßen: «Loquor quia cogor; urget enim pietas ardentesque stimulos anxio figit in pectore, qui me tacere non sinunt; et scio me nequicquam loqui, neque ovidiano relevor solatio, quod scilicet ‘perdere verba leve est’ […] .» Die zitierte Ovid- Stelle findet sich in der Epistel Didos an Aeneas, wo sie direkt an Didos Eingeständnis anschließt, dass sie nicht glaube, mit ihrer Rede bei ihrem Adressaten etwas bewirken zu können Die Epistolae familiares werden zitiert in der Ausgabe von Rossi/ Bosco: Le Familiari 1997 9 Ohne ein ausgeprägtes Gespür für philologische Subtilitäten ist der Zusammenhang zwischen Italia mia und den Klagebriefen an Karl IV sicherlich nicht zu erfassen Petrarca freilich setzt idealiter einen Leser voraus, der über exakt eine solche Gabe verfügt 10 Dies macht nicht erst die genau kalkulierte Komposition des 23 und damit vorletzten Buches der Briefsammlung deutlich, sondern schon die als Schmähung konzipierte Überschrift von dessen erstem Brief: «Indignatio et querela contra illum, quisquis sit, qui deberet proterere has que dicuntur sotietates predonum, nunc Italiam pervagantes .» Dass der Adressat der Schmähung sine nomine bleibt, hängt mit der Beachtung des Dekorums zusammen und ist, wie eben schon vermerkt, kein Hindernis für die Referenzzuweisung: ille quisquis sit ist natürlich ein Verweis auf den Kaiser Italienisch_81.indb 4 02.07.19 14: 05 5 Gerhard Regn Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia Römischer Kaiser zu walten, 11 so dass die perpetuierte Erfolglosigkeit des Redners schlussendlich in dessen resignierte Ermattung umschlägt Warum seine Aufrufe nichts bewirken, gibt Petrarca ohne Wenn und Aber zu verstehen: Dem transalpinen Karl mangelt es an der nötigen Dosis römischer virtus . 12 In Italia mia ist die Situation dagegen eine andere Hier schwächt der Hinweis auf die Grenzen der eigenen Möglichkeiten die Position des Redners nicht, sondern spornt ihn im Gegenteil an, für das geschundene Land umso engagierter Partei zu ergreifen Dies ist so, weil für Petrarca die Adressaten, an die er sich wendet, von anderem Kaliber sind als der Luxemburger Sie sind Italiener und damit Abkömmlinge der Römer, und als solche sind sie potentiell Träger authentischer virtus - im Kontext der romanitas, den Petrarca an dieser Stelle explizit herstellt, hat virtus eine doppelte Bedeutung, nämlich sittliche Vorbildlichkeit und entschlossene Tatkraft im politischen wie militärischen Handeln Deshalb macht es für den Sprecher der Kanzone bei aller gebotenen Skepsis angesichts des bisherigen enttäuschenden Verhaltens der italienischen signori 13 sehr wohl Sinn, diese an ihre Verpflichtung zu erinnern Sie sollen die Interessen des Ganzen, also Italiens, über den kleinlichen Eigennutz miteinander rivalisierender Parteien stellen Die wichtigste Voraussetzung dafür wäre, so das Argument des Redners, dem Söldnerunwesen ein Ende zu bereiten Dass der Verzicht auf die aus der Fremde kommenden Söldnertruppen keine zureichende Bedingung für die Befriedung der konfliktreichen italienischen Staatenwelt ist, liegt auf der Hand, doch diesen politisch eigentlich entscheidenden Punkt übergeht Petrarca mit Stillschweigen Stattdessen fokussiert er die Söldnerproblematik, weil sie ein überaus dienliches rhetorisches Argument ist um seinem Friedensaufruf die größtmögliche Zustimmung zu sichern - die Söldnerplage steht in Italien allen vor Augen, und wenn man ihre Beseitigung fordert, darf man sich des Applauses aller Wohlmeinenden sicher sein . 14 Die Effizienz des Appells an die signori soll der Rekurs auf Topik des petrarkischen Romdiskurses gewährleisten, der seine markanteste Ausprägung in der Africa und in den Römerviten von De viris illustribus findet Deshalb werden den Machthabern Italiens in Italia mia die Exempel großer Römer 11 Von Belang sind insbes Fam XXIII,2; XXIII,3; XXIII,8; XXIII,9; XXIII,15 sowie XXIII,21 12 Zu Karl als Antityp des tugendhaften vir vere romanus vgl auch unten, S 12 13 Die formal korrekte Anrede an die Herrscher, also signori, platziert Petrarca effektvoll gegen Schluss in der letzten (regulären) Strophe vor dem commiato: «Signor», 128,97 14 Dass es für die Forderung nach Beseitigung der Söldnertruppen auch triftige Sachgründe gibt, liegt freilich ebenfalls auf der Hand: Die compagnie di ventura wirkten ohne Frage als Konfliktbeschleuniger Italienisch_81.indb 5 02.07.19 14: 05 6 Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia Gerhard Regn vor Augen gestellt, genauer die Taten von Gaius Marius (128, 44- 48) und Julius Caesar (129, 49-51) Worin liegt deren Vorbildlichkeit? Darin, dass sie die Germanen erfolgreich - will sagen mit Waffengewalt - in die Schranken gewiesen haben Gaius Marius hatte die Bedrohung durch die einfallenden Germanenstämme beseitigt und sich so den Ehrentitel eines pater patriae erworben - Petrarca greift aus den Feldzügen des Marius die Schlacht gegen die Teutonen bei Aquae Sextiae heraus, deren Beschreibung in der Römischen Geschichte von Florus ihm das archaische Motiv vom durststillenden Blut der Feinde liefert . 15 Entsprechendes gilt für Caesar, der den Einfall der Germanen ins römische Herrschaftsgebiet mit dem Schwert abwehrte - auch hier dient, wie schon zuvor, das vergossene Feindesblut der Illustration römischer virtus Der Blick in die Geschichte soll also lehren, was in der Gegenwart zu tun ist: Die Deutschen sind laut Petrarca eine Bedrohung für das gegenwärtige Italien, ganz so, wie dies einst die Germanen für das Rom der Antike gewesen waren Die Römer hatten damals das Richtige getan, als sie die Gefahr mit Tatkraft abwehrten Erst wenn die Italiener sich an ihnen ein Beispiel nehmen, statt fortzufahren, ihr Unheil auch noch durch eigenes Zutun, also durch den freiwilligen Import deutscher Söldnerhorden, aktiv zu befördern, 16 gibt es Hoffnung auf eine Befriedung der Heimat Überzeugungskraft schreibt der Sprecher der Kanzone seinem Rückgriff auf die großen exempla römischer Tugend nicht zuletzt deshalb zu, weil für ihn die zeitgenössischen Italiener Abkömmlinge der alten Römer sind: Beide sind eines Blutes, und dieses Blut ist von besonderer Qualität, wie die Wendung 15 Den Hinweis auf Florus I, 38, 9 gibt (wie vor ihm schon Carducci/ Ferrari in Le Rime, S 196) Santagata: Commento 128,45-48 S 619-0 Die Florus-Stelle lautet: «tanto ardore pugnatus est, ea caedes hostium fuit ut victor Romanus cruento flumine non plus aquae biberit quam sanguinis barbarorum .» Das Zitat zeigt sehr schön, dass die militärische Entschlossenheit, die der römische virtus-Begriff meint, eine Härte inkludiert, die vorzüglich durch Bilder archaischer Grausamkeit zum Ausdruck gebracht wird Den Gegensatz zu dieser «vertù» bildet der «furore» als bloße Raserei ohne Ethos, vgl 128,73 16 Das aktuelle Verhalten der signori ist also das glatte Gegenteil dessen, was einst die Römer getan hatten Dies ist Anlass für eine schroffe vituperatio, die mit sarkastischer Ironie fragt, ob die Herren Italiens die fremden Söldner deshalb ins Land gerufen hätten, damit die Heimaterde mit Barbarenblut getränkt werde: «[…] che fan qui tante pellegrine spade? / perché ’l verde terreno/ del barbarico sangue si depinga? », 128,20-1 Dies - so der Sinngehalt der Ironie - hatten einst die Römer mit ihrer Vernichtung der einfallenden Barbaren getan, während die signori im Unterschied dazu den Anlass geben, dass das Blut der Italiener den grünen italischen Boden rot einfärbt, dass also italienisches Leben (dafür steht die grüne Farbe) sich in Tod (symbolisiert durch das vergossene Italiener-Blut) verkehrt Die Schroffheit, mit der Petrarca die Mächtigen seiner Zeit tadelt, ist Ausdruck einer Furchtlosigkeit, die den Dichter selbst zum Träger wahrer römischer virtus macht Italienisch_81.indb 6 02.07.19 14: 05 7 Gerhard Regn Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia von «Latin sangue gentile» (128,74) zum Ausdruck bringt Deshalb kann nach Petrarcas Ansicht trotz der beklagenswerten Auswirkungen des ‘Dunklen Zeitalters’ 17 auch in den Italienern der Gegenwart der «antiquo valore» (128,95) - also die römische Tugend in ihrer doppelten Bedeutung von sittlicher Stärke und militärischer Tatkraft - noch nicht vollständig erloschen sein Wenn Petrarca solcherart zwei Viten großer Römer in die Argumentationskette seiner Italienkanzone einbaut, dann gibt er damit zugleich eine Anleitung, wie die Römer-Biographien von De viris illustribus gelesen werden sollen, die ja in ihrer letzten Fassung 18 nicht nur das Leben von Gaius Marius, sondern auch dasjenige Caesars enthalten Die Römer-Viten sind exempla, die unter Reflexion auf die spezifischen Umstände einer gegenüber der Antike veränderten Gegenwart für deren positive Gestaltung fruchtbar gemacht werden sollen . 19 Die Italiener sind mithin vom Stamm der Römer, und das Italien des Trecento selbst kann auf diese Weise als legitime Erbin des alten Rom erscheinen Im Umkehrschluss bedeutet dies freilich, dass Rom nicht mehr als das existiert, was es einmal war, sondern dass an seine Stelle Italien als ein politisches (und nicht mehr bloß geographisches) Gebilde getreten ist, das sich nicht mehr über seine Dependenz von Rom definiert und das, ungeachtet der Vielfältigkeit seiner Staatenwelt, auch mehr ist als eine bloß geographisch determinierte Größe: eben eine Nation Diese Verschiebung weg von Rom hin zu Italien gibt die Kanzone auf Schritt und Tritt zu erkennen Die das Gedicht eröffnende Apostrophe richtet sich an das personifizierte Italien Danach wird das Land über seine bekanntesten Flüsse evoziert («’l Tevero, 17 Mit dem Bild der tenebrae meint Petrarca die eigene Zeit, deren Dunkel zuvörderst durch die fehlende Besinnung auf die Werte authentischer romanitas bedingt ist Zum petrarkischen Konzept des dunklen Zeitalters (und dem daraus abgeleiteten Begriff des Mittelalters) vgl Mommsen: Petrarch’s Conception 1942, S 226-242 18 Die letzte Fassung entstand in Padua auf Wunsch von Francesco da Carrara, der auch die Dedikation des Werkes erbat Sie kehrt zum ursprünglichen Projektplan zurück, indem sie die zwischenzeitlich integrierten Biographien von zwölf biblischen und mythologischen Gestalten herausnimmt und sich wieder ganz auf die romanitas konzentriert Der ursprüngliche Projektplan mit der Vita Scipionis als Zentrum bildete zusammen mit dem Africa-Projekt die Grundlage für die Dichterkrönung Wie bekannt wurde Petrarca zu Ostern 1341 auf dem römischen Kapitol wegen seiner Romliteratur, die Zeichen der renovatio litterarum sein wollte, zum «poeta et historicus» gekrönt Vgl dazu Petrarcas Privilegium laureationis, 75 Kritische Ausgabe mit historischen Erläuterungen zur Dichterkrönung in: Mertens: Petrarcas ‘Privilegium laureationis’ 1988, S 225-247 19 Die exempla sind also nicht als Vorgaben für eine schlicht zu bewerkstelligende Nachahmung gedacht, sondern ihre wirkungsvolle Applikation setzt eine vorgängige hermeneutische Anstrengung voraus Vgl dazu grundsätzlich Keßler: Petrarca und die Geschichte 2004 Italienisch_81.indb 7 02.07.19 14: 05 8 Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia Gerhard Regn et l’Arno/ e’l Po», 128,5-6); die Abfolge der Namen scheint auf den ersten Blick hin geographisch motiviert, denn Petrarca schlägt einen Bogen vom Süden nach Norden Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass es dem Dichter um etwas anderes geht Er möchte den Fokus aus der Perspektive des Ich-Sprechers prozessual auf den aktuellen Schauplatz des Geschehens hinlenken, also auf Parma Denn auf diese Weise kann Petrarca einen diskreten Hinweis auf das Kriterium geben, welches die Selektion der Wasserläufe - Tiber, Arno, Po - steuert: Es ist die Biographie des Redners, die, so suggeriert es unser Gedicht, über die wichtigsten Orte von Petrarcas Lebens aufgerufen wird Arezzo, durch dessen Umland der Arno fließt, ist die Geburtsstadt des Dichters, Rom am Ufer des Tiber ist der Ort von Petrarcas größtem Erfolg, der in der Dichterkrönung besteht, 20 und Parma, wo sich das Drama italienischer Politik aktuell abspielt und wo Petrarca sich erst kurz zuvor ein Haus gekauft hatte, ist die nicht weit vom Po entfernt gelegene Stadt, die stellvertretend für die ersehnte (und wenig später, und zwar Ende 1347, endgültig vollzogene) 21 Heimkehr in die «patria» (128, 84) steht Dass Avignon, das ja zum Zeitpunkt der lombardischen Wirren noch immer der faktische Lebensmittelpunkt Petrarcas war, in dieser Aufzählung der biographischen Stationen außen vor bleibt, versteht sich von selbst Der südfranzösische Sitz der Kurie ist ein negativ besetzter Gegenpol zur Welt jenes Italien, das Petrarca in den dreißiger Jahren aus der Ferne, vom Gipfel des Mont Ventoux, an einem imaginären Horizont sehnsuchtsvoll als die heißgeliebte Heimat hatte aufscheinen sehen: «Suspiravi, fateor, ad italicum aerem animo potius quam oculis apparentem, atque inextimabilis me ardor invasit et amicum et patriam revidendi […] .» (Fam. IV,1,18) . 22 Die Markierung der biographischen Dimension ist deshalb wichtig, weil sie die Grundlage für die emotionale Aufladung der Rede bildet Dass 20 Wie wichtig Petrarca seine Krönung zum poeta et historicus zeitlebens nahm, belegt exemplarisch der Titel, unter dem er am Ende seines Lebens den Canzoniere in die Welt seiner künftigen Leser entließ: «Francisci petrarche laureati poete Rerum vulgarium fragmenta .» 21 1347 verlässt Petrarca (unter anderem wegen seiner offenen Parteinahme für Cola di Rienzo, der in Rom den Stadtadel und hier insbesondere die Colonna an die Wand gespielt hatte) die famiglia des Kardinals Giovanni Colonna und bricht im November nach Italien auf, wo er sich dann ab März 1348 zunächst in Parma häuslich einrichtet 22 Petrarca datiert den Aufstieg zum Mont Ventoux auf den 26 April 1336 Seit Billanovich besteht weithin Konsens, dass die Abfassung des Briefes sehr viel später zu datieren ist, wahrscheinlich auf die Zeit zwischen 1352-53 Die in der Epistel artikulierte Italiensehnsucht des jungen Mannes, den es in die Fremde verschlagen hat, ist somit zu allererst eine Rückprojektion des bereits in die patria zurückgekehrten Petrarca Vgl dazu Lokaj: Introduction 2006, S 29 u 155, unter bes Berücksichtigung des Konnexes von amicus und patria Italienisch_81.indb 8 02.07.19 14: 05 9 Gerhard Regn Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia Petrarca sich so vehement für Italien ins Zeug legt, will Ausdruck einer Liebe zum Heimatland 23 sein, die einem natürlichen Empfinden entspringt: «Italia mia» (128,1) . 24 Dieser Gedichtauftakt mit seinem Ineinandergreifen von affektischer Apostrophe, Personifikation und Possessivpronomen erste Person Singular setzt von Anfang die Tonlage, die im Folgenden moduliert wird: Italien ist die «patria», die Geborgenheit gibt (128,84), sie ist eine «madre benigna e pia» (128,85) ebenso wie der «nido/ ove nudrito fui sì dolcemente» (128,82-83) Die biologistische Bildlichkeit konnotiert, dass die emotionale Bindung an die Heimat der Natur des Menschen gemäß ist Konzeptionell wichtig ist dabei, dass Petrarca bei seiner affektiven Positivierung den kommunalen Partikularismus hinter sich lässt Wenn der Redner vom «terren ch’i’ toccai pria» (128,81) spricht, dann ist dies fraglos ein Verweis auf den Geburtsort des Dichters Doch die Deixis («non è questo il terren […]? », 128,81) 25 macht unmissverständlich klar, dass Arezzo nur pars pro toto des ganzen Landes ist - die wahre Heimat ist mithin nicht die toskanische Kommune, in der Petrarca das Licht der Welt erblickt hat, sondern Italien Über die Aufzählung der Flüsse, die der metonymischen Evokation von Italien als patria des Dichters dient, kommt auch Rom ins Spiel, aber eben nur mehr noch als eine Örtlichkeit unter anderen Als Zentrum Italiens wird es nicht profiliert, und von einer Rolle der urbs als «mundi […] caput» (Afr 8,856) 26 ist schon gar nicht die Rede Haupt der Welt war Rom in einer fernen Vergangenheit, die für Petrarca im Verlauf seines Lebens mehr und mehr zum nostalgischen Gegenstand einer literarischen Erinnerungskultur wird, welche nicht umhinkommt, die Vergänglichkeit der historischen Größe des antiken Rom melancholisch in Rechnung zu stellen . 27 Die Hoffnung auf 23 Ich vermeide an dieser Stelle den eigentlich nahe liegenden deutschen Begriff ‘Vaterlandsliebe’, weil dieser die Konnotationen, die Petrarca abrufen will, nicht nur tilgt, sondern sogar ins glatte Gegenteil verkehrt: Das italienische Äquivalent für das deutsche ‘Vaterland’ ist bekanntlich patria und damit weiblich Petrarca nutzt das grammatische Geschlecht, um die Aspekte des Mütterlichen, des Nährenden und des Umsorgenden herauszustreichen 24 Hervorhebung von mir 25 Durch seine doppelte Wiederholung in den darauf folgenden Versen («Non è questo il mio nido», 128,82, und «Non è questa la patria», 128,84) gewinnt das Verfahren, das mittels der hic-Deixis auf die Einrückung des Kommunalen in die Perspektive der Nation zielt, scharfe Kontur 26 Die Africa wird zitiert in der Ausgabe von Huss und Regn: Francesco Petrarca: Africa 2007 27 Dies bezeugt wider Erwarten insbesondere die Africa, und zwar in doppelter Weise Zum einen macht das Epos die Vergänglichkeit historischer Größe zum Fluchtpunkt der erzählten Geschichte, die zwar im Kern vom Aufstieg Roms zur Weltmacht handelt, aber ungeachtet dessen als faktischen Endpunkt der Narration den Niedergang des römischen Reiches setzt, vgl dazu Regn und Huss: History of the Africa 2009, hier Italienisch_81.indb 9 02.07.19 14: 05 10 Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia Gerhard Regn eine politische Erneuerung Roms, die auch eine zumindest symbolische Wiedergewinnung alter Größe hätte sein sollen, und die sich vor allem in der anfänglichen Sympathie für Cola di Rienzos politische Bemühung um die Restitution alter romanitas Bahn gebrochen hatte, 28 verlosch in dem Maße, in dem Petrarca sich aus unmittelbarer Nähe mit den politischen Realitäten Italiens konfrontiert sah Einen ersten entscheidenden Anstoß für diese Entwicklung gab die direkte Verwicklung des Dichters in die Wirren des Krieges um Parma In der Italien-Kanzone kann Rom mithin nicht mehr Dreh- und Angelpunkt einer Ideologie sein, deren prägnantester Ausdruck der Reichsgedanke ist Bei den alten Römern, die Petrarca als historische exempla ins Feld führt, stand der Krieg mit den germanischen (und anderen) Völkern im Dienst der Ausformung eines Weltreiches, dessen Grenzen sich weit über Italien hinaus erstreckten Insbesondere die Gestalt Caesars spricht hier Bände In der Italien-Kanzone liegen die Dinge dagegen genau umgekehrt Dort geht es um die Abwehr der Deutschen Statt Grenzerweiterung ist also Grenzziehung die Devise, und die damit verbundene Botschaft ist klar: Die geographisch vorgegebenen Grenzen, im gegebenen Fall die Alpen, sind ein Schutzschild gegen die Bedrohung von Außen, den es zu nutzen gilt Geschieht dies, ist der Boden bereitet für eine «vita serena» (128,105), in der die destruktiven kriegerischen Energien ins Produktive gekehrt werden können, «in qualche acto più degno/ o di mano o d’ingegno,/ […] in qualche honesto studio» (128,106- 110) Nicht zuletzt die Erwähnung der honesta studia macht dabei deutlich, dass die so ermöglichte kulturelle Blüte mehr meint als die Entfaltung der Künste in ihrer traditionellen Duplizität von artes mechanicae und artes S 99 Zum anderen präsentiert Petrarca in der großen Rom-Beschreibung anlässlich des Besuchs der karthagischen Verhandlungsdelegation in Afr 8,855-950 den Lesern des Epos das grandiose ‘Haupt der Welt’ unter dem unverkennbaren Signum der Musealisierung - das antike Rom wird auf diese Weise zum Ausstellungsstück einer protohumanistischen Erinnerungskultur Vgl dazu im Einzelnen Regn: Rome, Italy and the End of the History of Salvation, hier S 143-145 28 Zu Petrarca und Cola vgl u .a Dotti: Vita 1987, S 108-110 u S 176-190, sowie Miglio: Storie di Roma 2006, S 26-42; Ferraù: Petrarca, la politica, la storia 2006, S 16-52 Cola war für Petrarca nicht nur der ‘wahre Römer’ antiken Zuschnitts, der mittels der Neutralisierung des stadtrömischen Adels der urbs ihre angestammte libertas zurückgeben wollte, sondern der als vir vere romanus und unter Rekurs auf die von ihm wiederentdeckte Lex de Imperio Vespasiani vor allem auch die Befriedung und gleichzeitige Erneuerung Italiens anstrebte Bereits hier zeigt sich, dass Petrarca die Akzente anders setzt als der Tribun Die universalistisch-imperiale Dimension von Colas Handeln (vgl dazu Collins: Greater than Emperor 2002) war für ihn weit weniger wichtig als für diesen selbst Für Petrarca zählte stattdessen vor allem, dass die renovatio Romae aus republikanischem Geist zugleich als Instrument zur Befriedung Italiens konzipiert war Italienisch_81.indb 10 02.07.19 14: 05 11 Gerhard Regn Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia liberales Vielmehr wird auf diese Weise auch und vor allem das Konzept der renovatio studiorum ins Spiel gebracht, das im Zentrum von Petrarcas Renaissance-Diskurs steht . 29 Doch zurück zur Geographie Wenn Petrarca die natürliche Grenze auch als Kulturgrenze ins Spiel bringt, dann tut er dies mit Blick auf die semantische Opposition von Kultur und Barbarei: «Ben provide Natura al nostro stato,/ quando de l’Alpi schermo/ pose fra noi et la tedesca rabbia» (128, 33-35) Auch in der Antike scheint das Motiv der Alpen als geographisch vorgegebene Zivilisationsgrenze auf, etwa bei Plinius oder Juvenal, 30 aber konstitutiv für den imperial ausgerichteten Romdiskurs ist es dort gerade nicht Im Gegenteil, die Expansion römischer Herrschaft war ja gerade an den Export römischer Kultur gekoppelt Dies wiederum bedeutet, dass nicht etwa die Welt jenseits der Grenzen Italiens für barbarisch gehalten wurde, sondern allein diejenige, die außerhalb der Grenzen des römischen Reiches lag Wie man sieht, nutzt Petrarca ein antik sanktioniertes Motiv, um gegen die tradierte Vorstellung vom römischen Reich als Kulturraum einer über Italien hinaus expandierten romanitas seinen ‘modernen’ Italiendiskurs in Stellung zu bringen Dieser begrenzt die aus der romanitas geborene Kultur demonstrativ auf Italien, weil sie allein dort als einheitsstiftender Faktor der Nation wirken kann - Nation deshalb, weil Petrarca Italien als ein Land sieht, dessen Eliten über ihre gemeinsame Abstammung vom «Latin sangue gentile» (128,74) miteinander verbunden sind . In der Italien-Kanzone bezieht Petrarca Stellung gegen den imperialen Rom-Gedanken Dass er dabei nicht nur dessen antike Variante im Auge hat, sondern auch die mittelalterliche Transformation, macht ein Blick auf die Geschichte des Motivs der «tedesca rabbia» (128,35) deutlich Die Rede von der teutonica rabies ist zwar antiken Ursprungs, doch seit dem 12 Jahrhundert gerinnt sie zu einem zentralen Topos der antikaiserlichen Propaganda der Guelfen . 31 Indem er sich dieses topisch gewordenen Motivs bedient, evoziert Petrarca zugleich den Horizont der italienischen Debatten um den mittelalterlichen Reichsgedanken Damit sind wir beim Dante-Bezug der Italienkanzone Denn wie ausgiebig Petrarca in Italia mia auch immer aus dem Repertoire der antiken Literatur schöpfen mag, so ist doch unübersehbar, dass die Kanzone vor allem die Auseinandersetzung mit dem Autor 29 Zu Petrarcas honesta studia vgl Stierle: Francesco Petrarca 2003, S 93-155 30 Die einschlägigen Quellenangaben finden sich in Le Rime, S 195 31 Vgl dazu den Kommentar von Santagata, 128,33-35, S 618, mit Verweis auf Monteverdi: Tedesca rabbia 1925, S 196-199: «le espressioni ‘germanica/ teutonica rabies’ o ‘teutonicus furor’, di origine classica […], ma diffuse nella letteratura mediolatina, divennero ‘nel secolo XII e nei secoli seguenti in tutta Europa espressioni proverbiali’ (Monteverdi), per evidente influsso della propaganda guelfa antiimperiale .» Italienisch_81.indb 11 02.07.19 14: 05 12 Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia Gerhard Regn der Commedia sucht, genauer mit der Italien-Invektive des Sordello-Gesangs aus dem Purgatorio . 32 Und wie immer, wenn bei Petrarca Dante ins Spiel kommt, geht es um Distanzierung, um Überwindung, um Neuausrichtung . 33 Dies signalisiert bereits der Auftakt der Kanzone Während Dante am Anfang seiner Italien-Apostrophe das personifizierte Land schmäht und auf affektische Dissoziierung setzt («Ahi serva Italia», Purg 6,76), beginnt Petrarca seine Anrede an die ebenfalls personifizierte patria mit einer Geste emotionaler Identifikation: «Italia mia» (128,1) . 34 II. Dantes Italien-Invektive, deren Thema die Klage über die inneritalienischen Kriege ist, ist konstitutiver Teil des Zusammenhangs, den die sechsten Gesänge der drei cantiche bilden . 35 Während der 6 Gesang des Inferno den unheilvollen Parteienstreit im kommunalen Florenz zum Gegenstand hat und der 6 Gesang des Paradiso die Geschichte des Imperiums zur Darstellung bringt, ist der Sordello-Gesang des Purgatorio, in dem es um Italien geht, das verbindende Zwischenstück, so dass sich eine Trias von Stadt, Land und Reich konstituiert Grundlage der Verfugung dieser drei politischen Einheiten ist das Konzept einer Heilsgeschichte, die in Rom ihren Dreh- und Angelpunkt hat Denn Dante richtet in der Nachfolge Vergils die Geschichte Roms auf die pax augusta zu, die den Rahmen für das Kommen des Erlösers bildet Doch nicht nur dies, auch die Sicherung des Heilswerkes Christi für die Welt bleibt auf Rom angewiesen, das nicht nur als Sitz des Nachfolgers Petri bestimmt ist, sondern das darüber hinaus ideelles Zentrum der politischen Ordnung bleibt Die weltliche Macht, für die der Kaiser steht, soll irdische Gerechtigkeit als Vorgriff auf und Vorbedingung für die Erlangung des himmlischen Friedens gewährleisten Das irdische Rom wird so zur anagogischen Figur des Gottesreiches, das Dante in signifikanter Umgestaltung des Topos vom Himmlischen Jerusalem als «quella Roma» benennt, «onde Cristo è romano» (Purg. 32,102) Rom wird auf diese Weise zum ideellen Mittelpunkt einer heilsgeschichtlich konzipierten Universalmonarchie . 36 Sinnfälliger Ausdruck dieser Idealität ist die Tatsache, dass Rom nicht nur 32 Purg 6, 76-151 Die Commedia wird zitiert in der Ausgabe von Chiavacci Leonardi: Dante Alighieri 1991-1997 33 Zum Verhältnis Petrarcas zu Dante vgl bes Baranski: Petrarch & Dante 2009 34 Hervorhebung von mir 35 Zum Zusammenhang der sechsten Gesänge vgl Noyer-Weidner: Symmetrie 1961 36 Rom wurde in christlicher Auslegung von Daniel 2,21 als das letzte der vier Weltreiche betrachtet Italienisch_81.indb 12 02.07.19 14: 05 13 Gerhard Regn Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia Sitz des Stellvertreters Christi ist, sondern zugleich Ort der Kaiserkrönung . 37 Dass das nachantike Rom nur ideeller und nicht zugleich auch realpolitischer Mittelpunkt des Imperiums ist, ergibt sich aus der translatio imperii, deren Resultat das Sacrum Romanum Imperium 38 mit seinen zunächst fränkischen, dann deutschen Kaisern ist Dass Dante genau wie das Gros seiner Zeitgenossen die translatio römisch-kaiserlicher Macht nach Norden nicht infrage stellte, bezeugt der 6 Gesang des Paradiso Dort erzählt Kaiser Justinian, nicht zuletzt in seiner Eigenschaft als prominenter Repräsentant römischen Rechtsdenkens, die Geschichte des Imperiums und akzentuiert dabei eine doppelte translatio Er beginnt seine Rede mit dem Hinweis, dass Konstantin den Sitz des Imperiums von Rom gen Osten, und zwar nach Byzanz, verlegt habe, wobei die Wahl der Worte, die Dante ihm in den Mund legt, suggeriert, dass dies eine fatale Entscheidung war: «contr’ al corso del ciel» (Par 6,2) habe sich Konstantin bewegt, im Gegensatz zu Aeneas, der als von Gott erwählter Urvater des Imperiums 39 dem Sonnenlauf gefolgt sei, als er von Troja kommend einen Weg einschlug, der in die Gründung Roms einmünden sollte Negativ konnotiert ist die von Konstantin bewirkte translatio vor allem deshalb, weil sie direkt mit der Donatio Constantini, 40 also der Übertragung weltlicher Macht an die Papstkirche, verknüpft wird Der erste römische Kaiser, den Justinian in seiner Reichserzählung nennt, ist wie gerade vermerkt Konstantin, der letzte dagegen ist Karl der Große, der über sein Handeln - er erweist sich als Schutzherr der «Santa Chiesa» (Par. 6,95) 41 - als gottgefälliger Herrscher präsentiert wird, und zwar direkt nach Titus, den Dante ebenfalls als einen Agenten der Heilsgeschichte auftreten lässt . 42 Indem Dante solcherart den in Aachen residierenden Karolinger, der 37 Die Kaiserkrönung vollzog im Mittelalter in der Regel der Papst oder sein Stellvertreter Für Dante hieß dies freilich nicht, dass das Papsttum auch als Autorisierungsinstanz anzusehen wäre, im Gegenteil: In der Monarchia begründet er, warum die kaiserliche Macht als gottunmittelbar und damit als unabhängig von Papst und Kirche gedacht werden müsse 38 Die Bezeichnung ist seit 1254 erstmals urkundlich belegt 39 «[…] ch’e’ [d .i Aeneas] fu de l’alma Roma e di suo impero/ ne l’empireo ciel per padre eletto», Inf 2, 20-21 40 Die Urkunde, in der den Päpsten durch Konstantin die Oberherrschaft über Rom, Italien und den Westen des Reichs übertragen wurde, wurde wahrscheinlich um das Jahr 800 herum in Umlauf gebracht, ihr Inhalt selbst war seit dem 11 Jahrhundert Teil des Kirchenrechtes, und zwar ungeachtet der Tatsache, dass bereits relativ früh Zweifel an der Echtheit des Dokuments zirkulierten 41 «E quando il dente langobardo morse/ la Santa Chiesa, sotto le sue ali/ Carlo Magno, vincendo, la soccorse .», Par 6,94-96 42 Agent der Heilsgeschichte ist Titus, weil er im Jahre 70 Jerusalem zerstörte, vgl Par 6,92-93, sowie den dazugehörigen Kommentar von Chiavacci Leonardi (Dante: Paradiso 1997, S 174): «Che la distruzione di Gerusalemme fosse stata una punizione divina per Italienisch_81.indb 13 02.07.19 14: 05 14 Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia Gerhard Regn im Jahr 800 in der urbs zum Kaiser des Römischen Reiches gekrönt wurde, bruchlos auf den Flavier folgen lässt, signalisiert er, dass die mittelalterliche translatio imperii nicht bloß rechtens ist, sondern auch und vor allem Teil von Gottes heilsgeschichtlichem Plan Das römische Reich wird bei Dante zur Chiffre einer christlichen Universalmonarchie, die ihren Sitz in Europa hat Im Rahmen dieser vom imperialen Rom-Gedanken bestimmten politischen Ordnung ist für Italien der Sonderstatus einer «donna di provincie» (Purg. 6,78) vorgesehen Italien steht damit hierarchisch über allen anderen Provinzen des Reiches Dass die von Dante gewählte Formulierung, also donna di provincie, direkt auf das justinianische Corpus Iuris Civilis zurückgeht, sei nur am Rande erwähnt . 43 Die sündhafte Störung der heilsgeschichtlichen Ordnung, die Dantes Commedia mit ihrer politischen Botschaft korrigieren will, besteht darin, dass die politisch Handelnden aus Partei-Interesse Italien um seine ihm zugedachte Rolle bringen und es in Unrecht, Streit und Krieg versinken lassen . 44 Denn als donna di provincie müsste Italien eigentlich der schöne Garten des Reichs sein . 45 Der «giardin de lo ’mperio», so Dante in Purg 6,105, ist jedoch la crocefissione di Cristo voluta dagli Ebrei era idea corrente in tutta la tradizione cristiana .» 43 Die einschlägige Formel des Corpus Iuris Civilis, also «Non provincia, sed domina provinciarum», ist eine Modifikation von Lam 1,1 («Quomodo sedit sola civitas plena populo/ facta est quasi vidua domina gentium,/ princeps provinciarum facta est sub tributo») und war im Mittelalter gängige Münze, vgl ., mit Verweis auf den prominenten Historiographen und Rhetoriklehrer Boncompagno da Signa, Tateo: Boncompagno da Signa 1970 44 Dante greift in Purg 6,106-111 zum einen die heftigen militärischen Konflikte von Guelfen und Ghibellinen in Nord- und Mittelitalien heraus und betont zum anderen (in Bezug auf die Vasallen des kaiserlichen Lehensherrn) die Rechtsverletzungen, die sich im Zug der Kriegswirren einstellten 45 In Monarchia wird Italien als edelste Gegend Europas bezeichnet - eine Bezeichnung, die weithin funktionsäquivalent zum Bild des schönen Reichsgartens ist: Schönheit und nobilitas gehören zusammen Im zweiten Buch der Monarchia begründet Dante den rechtmäßigen Anspruch des Volks von Rom auf das Imperium und damit die Universalmonarchie (in Beantwortung der Frage «utrum romanus populus de iure sibi asciverit Imperii dignitatem», Mon 2,2,1) Als zentrales Argument dient ihm dabei die nobilitas des Vaters des römischen Volkes, also von Aeneas («regem Eneam patrem romani populi», Mon 2,3,6), die sich darin manifestiere, dass infolge des Wirkens der göttlichen Providenz Aeneas das edelste Blut aus allen Teilen der Welt (Asien, Afrika und Europa) in seiner Person vereinigt habe («Aut quem in illo […] concursu sanguinis a qualibet mundi parte in unum virum predestinatio divina latebit? », Mon 2,3,17 .) Den letzten (und in Dantes Augen) wesentlichen Beitrag habe Aeneas’ dritte und letzte Frau Lavinia (nach Creusa, die für Asien, und Dido, die für Afrika steht) geleistet, die als «regis Latini filia» und spätere «Romanorum […] mater» (Mon 2,3,16) aus Italien und damit aus der edelsten Gegend Europas stamme: «Que ultima uxor de Ytalia fuit, Europe regione nobilissima .» (Mon 2,3,17) - die nobilitas von Aeneas wird, wie man Italienisch_81.indb 14 02.07.19 14: 05 15 Gerhard Regn Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia aufgrund des Versagens der Verantwortlichen verwüstet und verwaist Dante lässt nun keinen Zweifel, wen er für den Hauptschuldigen hält: den deutschen König Albrecht I von Habsburg (gewählt 1298), der Italien sich selbst überlässt, indem er die römische Kaiserkrönung ausschlägt, deshalb auch nie über die Alpen nach Süden zieht und damit in keiner Weise seiner Rolle als Herrscher des ganzen römischen Reichs einschließlich der Kernregion, also Italien, gerecht wird: «Oh Alberto tedesco ch’abbandoni/ costei [d .i Italien] ch’è fatta indomita e selvaggia» (Purg 6,97 f .) Die drängendvorwurfsvolle Ermahnung des Habsburgers, seine Handlungsabstinenz zu korrigieren (dies geschieht mittels einer vierfachen «vieni»-Anapher, Purg. 6,106; 109; 112; 115), ist denn auch das kompositorische Zentrum von Dantes Italien-Invektive . III. Erst wenn man Petrarcas Italienkanzone vor dem Hintergrund des Italien- Gesangs des Purgatorio liest, wird deutlich, wie sehr in Italia mia gerade diejenigen Aspekte ausgeblendet werden, die das Verhältnis von Italien zum Reich und dessen nomineller Kapitale, also Rom, betreffen Oder anders formuliert: Der Diskurs über Italien hat sich, anders als bei Dante, zur Gänze vom imperialen Rom-Diskurs gelöst, der kein positiver Referenzwert mehr ist Wenn Petrarca am Beginn seiner Kanzone Gott bittet, dieser möge sich seinem ins Unglück verstrickten «dilecto almo paese» (128,9) zuwenden, dann ist dies offensichtlich eine Variation von Dantes Frage an den Allmächtigen, ob dieser denn seine Augen von Italien ganz abgewendet habe . 46 Die Inszenierung des Nahverhältnisses zu Dante dient aber vor allem der Markierung dessen, was anders ist Gewiss, die von Petrarca gewählte Periphrase perspektiviert Italien als ein Gott gefälliges Land; der für den heilsgeschichtlichen Romdiskurs so zentrale Begriff des Imperiums, den Dante benutzt, fehlt jedoch Wir erinnern uns: Im Sordello-Gesang war Italien der «giardin de lo ’mperio», bei Petrarca ist es, ohne den Verweis auf den Reichsgedanken, ganz generisch «del mondo la più bella parte» (128,56) Doch nicht nur dies Für beide Texte, denjenigen Dantes wie denjenigen Petrarcas, ist der Rekurs auf die Apostrophe konstitutiv, sowohl bei Dante wie bei Petrarca finden wir Anrufungen Gottes, des personifizierten Landes, der Herrscher sieht, vornehmlich metonymisch über seine Familienbande und die damit verbundenen Herkunftsregionen begründet Die Monarchia wird zitiert in der Ausgabe von Sanguineti, Dante Alighieri: Monarchia 2011 46 «[…] o sommo Giove/ che fosti in terra per noi crucifisso,/ son li giusti occhi tuoi rivolti altrove? », Purg 6,118-120 Italienisch_81.indb 15 02.07.19 14: 05 16 Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia Gerhard Regn Während Dante im Einklang mit seiner heilsgeschichtlichen Orientierung den deutschen Herrscher anruft um ihn an seine Verpflichtung gegenüber Italien zu erinnern, richtet Petrarca seine Ermahnung an die signori Italiens Als eine Instanz, die es mit dem rhetorischen Pathos der Kanzone zum Positiven zu bewegen gälte, ist bei Petrarca der Kaiser absent Stattdessen scheint er im Hintergrund als eine Macht auf, die nur Negatives bewirken kann und die deshalb von Italien fernzuhalten ist Dies bringt uns zurück zum «bavarico inganno» (128,66), der eingangs ja schon kurz erwähnt wurde Mit besagter Wendung umschreibt Petrarca das unselige Wirken der süddeutschen Söldnertruppen, die vornehmlich aus Relikten der berüchtigten Grande compagnia des schwäbischen Herzogs Werner von Urslingen bestanden Die Männer des Urslingers waren nicht nur für ihre Grausamkeit bekannt, sondern zugleich für die Ruchlosigkeit, mit der sie entweder die Seiten wechselten oder aber anderweitig zum eigenen Vorteil handelten und dabei ihre Auftraggeber regelrecht austricksten 47 - darauf bezieht sich der petrarkische Vorwurf des «bavarico inganno/ ch’alzando il dito colla morte scherza» (128,67) . 48 Es steht außer Frage, dass dies Petrarcas primäre Referenz ist Die älteren Kommentatoren, insbesondere diejenigen der Renaissance, liegen somit sicherlich nicht richtig, wenn sie den bavarico inganno umstandslos und exklusiv auf den deutschen Kaiser beziehen, 49 der zur Zeit des Kampfes um Parma in Italien die Macht in Händen hielt, also auf Ludwig 47 Die Grande compagnia wurde 1342 gegründet, doch als Söldnerführer war der Urslinger schon in den dreißiger Jahren mit der Compagnia di San Giorgio in Italien zu Gange Zur Grande compagnia und Werner von Urslingen vgl Bronner: Abenteuerliche Geschichte 1828, sowie Vaglienti: Werner von Urslingen 1997 48 Damit ist gemeint, dass die Söldner oft einfach den direkten Kampf mit dem Gegner dann, wenn es zu riskant für sie wurde, abbrachen, indem sie flugs die Waffen streckten und so ihren Auftraggeber betrogen Vgl den Kommentar in Petrarca, Rime, S 198, «[…] a noi pare […] probabile ch’alzando il dito […] sia il tollere digitum che i latini dicevano per confessarsi vinto, per rendersi: tratto dai gladiatori, i quali vinti, con l’alzare il dito, domandavano grazia al popolo […] .» 49 Vgl etwa den Kommentar Daniellos: «SEGUITA in riprendere i Signori italiani, dicendo: Che per tante PROVE: per tante esperientie di tanto male di quanto era stato loro cagione Ludovico il Bavaro, venuto in Italia con titolo d’Imperio, da lui indebitamente usurpato; il quale sotto la fede fece miseramente morire non pur Galeazzo, Stephano e Marco fratelli Visconti, ma molti altri anchora con alzare il dito, dando loro la fede, e non l’osservando poi […]», Sonetti, Canzoni e Triomphi di Messer Francesco Petrarca con la spositione di Bernardino Daniello da Lucca, Venezia: Nicolini da Sabio 1541, f 30r Ähnlich zuvor bereits Gesualdo: «Dimostra egli [d .i Petrarca] qui anchora, che inescusabile errore è condurre gente Barbara venale, e senza fede, e nemico dello nome Italiano a guastare Italia, e non accorgersene per tante prove, e massimamente per lo ’nganno di Ludovico Bavaro Imperatore, quando con molto essercito vi discese a prender corona […]», Il Petrarcha colla spositione di Misser Giovanni Andrea Gesualdo, Venezia: Nicolini da Sabio 1533, f Zii r Italienisch_81.indb 16 02.07.19 14: 05 17 Gerhard Regn Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia den Bayern . 50 Gleichwohl greifen auch die modernen Kommentatoren zu kurz, wenn sie an dieser Stelle und damit für die Kanzone als Ganzes den deutschen Kaiser aus dem Hause Wittelsbach einfach außen vor lassen Denn auch, wenn der bavarico inganno gewiss nicht direkt auf Ludwig IV zu beziehen ist, so heißt das keineswegs, dass der Bayer in Italia mia keine Rolle spielen würde Im Gegenteil, er ist dort eine Macht, die, ohne selbst im Vordergrund präsent zu sein, ihren bedrohlichen Schatten auf das Geschehen wirft, welches Gegenstand der Kanzone ist Dies schon allein deshalb, weil das von Petrarca gegeißelte Söldnerunwesen damals aufs Engste mit der Person des Wittelsbachers in Verbindung gebracht wurde Denn es war ja gerade der Italienzug Ludwigs gewesen, in dessen Folge die deutschen compagnie di ventura jenen ungeahnten Aufschwung nehmen konnten, der dann in den frühen vierziger Jahren in der Gründung der Grande compagnia seinen Höhepunkt fand Die Klage über die deutschen Söldner des Urslingers ist deshalb immer auch eine Klage über den Kaiser, denn der Urslinger und der Bayer standen aus italienischer Sicht für das gleiche Übel: Der schwäbische condottiere konnte das, was er tat, nur deshalb tun, weil der deutsche Kaiser bayerischer Abstammung dafür die Voraussetzungen geschaffen hatte . 51 Doch Italia mia konnotiert den Kaiser nicht erst über den in der Kanzone repräsentierten Sachverhalt, sondern bereits über den Wortlaut der Repräsentation Denn wo während der Regentschaft Ludwigs IV im Kontext politischer Rede ‘bayerisch’ als Schmähwort fiel, war die Assoziation mit dem Kaiser fast unvermeidlich: Ludovicus bavarus war nämlich der Schimpfname, den der Papst in Umlauf gebracht hatte, um seinen kaiserlichen Widersacher ebenso gezielt wie effektvoll herabzusetzen Für den beklagenswerten Zustand Italiens war also in hohem Maße der Kaiser verantwortlich Der unausgesprochene Tadel, den Petrarca zwischen den Zeilen an Ludwig IV übt, bezieht sich primär auf dessen Rolle als Ursache für das starke Aufflammen des Söldnerunwesens während seiner Regentschaft Zu einer solchen Kritik konnte sich Petrarca nicht zuletzt deshalb ermuntert sehen, weil er die Person des Wittelsbachers, zu der er 50 Der Italienzug von Ludwig IV (gen der Bayer) erstreckte sich von 1327 bis 1330, die Kaiserkrönung wurde am 17 Januar 1328 in Rom von drei Bischöfen und unter der Akklamation des Volkes von Rom gegen den Willen des Papstes Johannes XXII (der den Bayern 1324 exkommuniziert und kurz vor der Krönung 1327 zudem noch als Häretiker verurteilt hatte) vorgenommen 51 Vgl Santagata: Commento zu 128, S 614: «Scopo principale della canzone è il deplorare l’uso da parte dei signori italiani di milizie mercenarie: iniziato con la spedizione di Ludovico il Bavaro, esso si incrementò dopo che, nel 1342, Guarnieri di Urslingen aveva fondato la cosidetta ‘Grande compagnia’ (i cui resti parteciparono alla guerra di Parma) .» Italienisch_81.indb 17 02.07.19 14: 05 18 Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia Gerhard Regn sich, soweit ich sehe, nie explizit äußert, wohl insgesamt höchst negativ eingeschätzt haben dürfte: Ludwigs Wahl zum deutschen König war rechtlich von zweifelhafter Legitimität; 52 er wurde vom Papst erst exkommuniziert 53 und in der Folge auch noch als Ketzer gebrandmarkt; 54 gegen Ludwig nahm kurz nach dessen Kaiserkrönung in Rom der mit Petrarca eng befreundete Giacomo Colonna in einer spektakulären Rede öffentlich Stellung, worauf unser Dichter im Sonett Gloriosa columna in cui s’appoggia allusiv Bezug nimmt; 55 und er besaß aus Petrarcas Sicht einen dubiosen kulturellen Leumund, wirkte er doch als potenter Beschützer und Förderer von Gelehrten, die der zutiefst verachteten Scholastik zuzuschlagen waren . 56 Ludwig der Bayer starb im Oktober 1347 und machte durch sein Ableben den Weg für die Krönung Karls IV zum deutschen König frei, 57 auf die, im Einvernehmen mit dem Papst, der Italienzug folgte, dessen Höhepunkt 52 Bei der Wahl zum deutschen König standen sich 1314 Ludwig und Friedrich der Schöne gegenüber, die jeweils von ihren Parteien gewählt wurden Erst in der Schlacht von Mühldorf 1322 konnte Ludwig seinen Habsburger Konkurrenten besiegen, doch Papst Johannes XXII verweigerte Ludwig die Anerkennung als rechtmäßiger König, was auch die Möglichkeit einer römischen Kaiserkrönung durch den Papst (oder einen durch ihn legitimierten Vertreter) ausschloss 53 Die Exkommunikation erfolgte 1324 und war die Antwort des Papstes auf Ludwigs reichspolitisches Agieren in Oberitalien, bei dem er den - aus päpstlicher Sicht widerrechtlich in Anspruch genommenen - Titel des Römischen Königs führte 54 Die Verurteilung als Ketzer erfolgte 1327 im Verlauf des Italienzuges, dessen Höhepunkt die Kaiserkrönung in Rom im Januar 1328 war Der Grund für diese Verurteilung war, dass Ludwig dem Papst förmlich das Recht abgesprochen hatte, über die Gültigkeit der deutschen Königswahl (und damit über den Anspruch auf die Kaiserkrone) zu befinden 55 Canz 10, 1-4: «Gloriosa columna […] ch’ ancor non torse del vero camino/ l’ira di Giove per ventosa pioggia .» Vgl dazu den Kommentar von Santagata, 10,3-4, S 49 «CH’ANCOR…CAMINO: allude alla clamorosa presa di posizione di Giacomo Colonna contro Lodovico il Bavaro del 22 aprile 1328, quando il giovane Colonna, incurante delle minacce imperiali, pronunciò nella piazza di San Marcello in Roma una famosa orazione contro l’imperatore destituito e scomunicato da Giovanni XXII .» 56 Neben Wilhelm von Ockham verdient in diesem Zusammenhang vornehmlich Marsilius von Padua Erwähnung, der als Autor des Defensor pacis (fertiggestellt 1324) zum antipapistischen Propagandisten des Kaisers aufstieg, zu dessen Gefolge er seit 1326 zählte und den er in hochoffizieller Mission auch auf dem Italienzug begleitete: 1327 wurde seitens der päpstlichen Kurie eine Reihe von Thesen des Defensor pacis als häretisch gebrandmarkt und das Buch auf den Index gesetzt Zu Ludwig und Marsilius vgl im Detail Godthardt: Marsilius 2011 Petrarcas negative Einschätzung des Bayern dürfte zudem durch dessen überaus gespanntes Verhältnis zum ‘protohumanistischen’ König Robert von Neapel befördert worden sein, den Petrarca in den vierziger Jahren als «decus atque evi gloria nostri» (Afr. 1,20) pries 57 Karl IV wurde bereits 1346 auf Betreiben des Papstes als Gegenkönig Ludwigs in Bonn gekrönt; nach dessen Ableben 1347 wurde die Krönung, nunmehr am richtigen Ort, also in Frankfurt am Main, im Jahre 1349 wiederholt Italienisch_81.indb 18 02.07.19 14: 05 19 Gerhard Regn Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia 1355 in Rom die Krönung zum Kaiser des Reiches war Mit dem neuen Herrscher trat Petrarca schon kurz nach dessen Wahl in einen brieflichen Kontakt, 58 der sich rasch intensivierte und auf den 1354 in Mantua die erste persönliche Begegnung mit dem Monarchen folgte 1356 schließlich weilte Petrarca im Auftrag der Visconti einen Monat lang in diplomatischer Mission am Hof des Kaisers in Prag, wo ihm bekanntlich der Rang eines Pfalzgrafen verliehen wurde 59 Exakt in jenem Jahr 1356 war Petrarca damit zugange, seine Italienkanzone in die geplante Sammlung seiner volkssprachlichen Lyrik zu integrieren: Italia mia zirkulierte ab diesem Zeitpunkt als Teil der Azzo da Correggio gewidmeten Correggio-Fassung des Canzoniere . 60 Selbst wenn man sich am Prager Hof für Petrarcas volkssprachliche Lyrik interessiert haben sollte und, was eher unwahrscheinlich ist, bereits zu diesem Zeitpunkt von der Italienkanzone Kenntnis bekommen hätte, so wäre dies für Petrarca sicherlich unproblematisch gewesen Denn die unterschwellige anti-imperiale Stoßrichtung des Gedichtes war ja personalisiert: Sie war ganz auf Ludwig den Bayern bezogen und damit auf den erbitterten Kontrahenten des neuen Herrschers Diese Entschärfung des der Kanzone innewohnenden Konfliktpotentials wurde zudem noch dadurch befördert, dass Petrarca in seiner Kommunikation mit Karl IV die politische Position, die er in Italia mia vertritt, und die am Prager Hof möglicherweise für Missfallen hätte sorgen können, auf den ersten Blick hin ins glatte Gegenteil zu verkehren scheint Die Briefe an den Luxemburger 61 sind in ihrer Mehrheit nämlich Aufforderungen an den Herrscher, nach Italien zu kommen, um von dort aus - und damit ist zuvörderst Rom gemeint - sein Imperium zu regieren, 62 natür- 58 Der erste Brief an den Kaiser ist Fam X,1 und ist auf das Jahr 1351 datiert 59 Zu den biographischen Details vgl Dotti: Vita 1987, S 227-229; 247-248; 301- 304; 313-317 60 Zur Genese des Canzoniere vgl neben dem ‘Klassiker’ von Wilkins: The Making 1951, bes Santagata: I frammenti 1992, S .143-190, die Ausführungen zur forma Correggio, die Santagata als erste Fassung des uns in Vat lat 3195 überlieferten Lyrikbuches einstuft: «Il primo Canzoniere» vgl ebd S 143 Näheres zur Verbreitung der Correggio-Fassung wissen wir nicht Vermerkt sei noch, dass die Italienkanzone auch in allen späteren Fassungen des Canzoniere enthalten sein wird Petrarca hat die Kanzone also sehr bewusst mit Blick auf ihre Rezeption durch ein breiteres Publikum in Umlauf gebracht, weil sie in seinen Augen nicht bloß einen lokal umgrenzten militärischen Konflikt zum Gegenstand hatte, sondern Symptom eines Problems war, das die politische Lage in Italien über Jahrzehnte hinweg bestimmte 61 Beginnend mit dem ersten Brief, also Fam X,1 62 So bereits im ersten Brief, also Fam X,1,7: «Non te transalpinarum solicitudo rerum, non te natalis soli dulcedo detineat; quotiens Germaniam respexeris, Italiam cogita Illic natus, hic nutritus; illic regnum, hic et regnum habes et imperium, et quod nationum ac terrarum omnium pace dixerim, cum ubique membra, hic ipsum caput invenies monarchie .» Im weiteren Verlauf des Briefs bringt die personifizierte Roma die Italienisch_81.indb 19 02.07.19 14: 05 20 Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia Gerhard Regn lich in der Erwartung, dass auf diese Weise auch Italien befriedet werde Wie eben schon vermerkt, steht diese Haltung in krassem Gegensatz zu der Position, die sich Petrarca in der Italienkanzone zu eigen gemacht hatte: Dort ging es darum, die Deutschen von Italien fernzuhalten und mit ihnen auch ihren Kaiser; hier jedoch wird der Kaiser als eine Ordnungsmacht herbeigebeten, die die Befriedung des Landes und damit auch die Ausmerzung des deutschen Söldnerunwesens bewerkstelligen soll . 63 Doch bei näherer Betrachtung zeigt sich rasch, dass der Gegensatz nur ein solcher an der Oberfläche ist und die Briefe an Karl IV ., so man sie nach Maßgabe ihrer zeitlichen Abfolge interpretiert, nichts anderes sind als eine seitenverkehrte Bekräftigung der Einschätzung, die der Dichter in Italia mia vertritt Denn je länger sich die Korrespondenz erstreckt, desto deutlicher wird, dass der Kaiser nicht tut, was er nach Petrarcas Ansicht tun müsste Und er tut es deshalb nicht, weil ihm die Eigenschaften eines vir vere romanus abgehen In anderen Worten, für die gute Ausfüllung seines Amtes als Herrscher des römischen Reichs gebricht es ihm, der sich Petrarca als großer Zauderer zeigt, schlicht an jener virtus, die die ruhmreichen Römer der Antike ausgezeichnet hatte Diesen Aspekt arbeitet Petrarca, freilich unter sorgfältiger Beachtung des Dekorums, vor allem im planvoll komponierten 23 Buch der Familiares heraus, das schwerpunktmäßig dem Gedankenaustausch mit dem Kaiser und seinem Prager Hof gewidmet ist, 64 und das mit einer letzten, gleichermaßen ermahnenden wie resignierten Aufforderung an Karl IV ausklingt, Rom und Italien die Rolle zu restituieren, die ihnen gebührt . 65 Das Geschichte des Imperiums zur Darstellung, unter erneuter Bekräftigung ihres Anspruchs auf die Rolle als caput mundi 63 Zur Ausmerzung des Söldnerunwesens, die der Kaiser zu leisten hätte, vgl bes Fam XXIII,1 64 Von den 23 Briefen richten sich 6 direkt und einer indirekt an den Kaiser, 5 dagegen an Johannes von Neumarkt, den Kanzler Karls IV Insgesamt ist also mit 12 Episteln die Mehrheit der Briefe des letzten ‘echten’ Briefbuches der Epistolae familiares an den Prager Hof adressiert 65 Fam XXIII,21: «Ad Cesarem, exhortatio ultima» Fam XXIII,1 eröffnet das Buch, indem es von Anfang an die Vergeblichkeit der eigenen Mahnrede akzentuiert und so den Tenor für die nachfolgenden Schreiben an den Kaiser vorgibt: In dieser ersten Epistel empört sich Petrarca in scharfem Ton über einen ungenannt bleibenden Adressaten, der Italien eigentlich von der Söldnerplage befreien müsste, dies aber unterlässt und deshalb aufs Schmerzlichste spürbar macht, wie sehr die großen Römer der Antike fehlen Wenn Petrarca in diesem Kontext einerseits die Formulierung von der transalpina rabies («transalpinam rabiem», Fam XXIII,1,2) gebraucht, um auf die deutschen compagnie di ventura zu verweisen, und andererseits unter den Vorbildern römischer virtus, denen gegenüber der ungenannt bleibende Adressat so krass abfällt, u .a Julius Caesar (Fam XXIII,1,6: «o Iuli Cesar») und Gaius Marius (Fam XXIII,1,3-4 «O Mari, ut compatriota tuus ait Cicero, rusticane vir sed vere vir, qui barbaros in Italiam irrumpentes […] superasti») erwähnt, dann ist dies ein nicht zu überlesender Rückverweis Italienisch_81.indb 20 02.07.19 14: 05 21 Gerhard Regn Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia 23 Buch der Familiares ist bekanntlich das letzte ‘echte’ Briefbuch der Sammlung Das abschließende 24 Buch besteht, abgesehen von den Rahmungsepisteln am Beginn und am Schluss, 66 aus fiktiven Briefen an die «antiquis illustrioribus» (Fam. XXIV,2,6) Mit dieser kompositorischen Gestaltung gibt Petrarca zu verstehen, dass nach den vielen wirkungslos gebliebenen Mahnungen samt der ungehört verhallenden exhortatio ultima sein Gesprächsbedarf mit den Lebenden erschöpft ist Deutlicher können die Enttäuschung des Mahners und seine Einsicht in die Vergeblichkeit der auf den Kaiser gerichteten Erwartungen nicht zum Ausdruck gebracht werden Vergeblich blieben Petrarcas Forderungen freilich vor allem deshalb, weil er sie unter ostentativer Missachtung der politischen Realitäten erhoben hatte Im Grunde erwartete Petrarca ja, dass das Reich nicht bloß nominell, sondern auch faktisch von Rom (und Italien) aus regiert würde, so dass die urbs wieder ihre angestammte Funktion als caput mundi restituiert erhalten hätte . 67 Petrarcas Ansinnen lief damit auf eine zumindest partielle Rückgängigmachung der translatio imperii hinaus, was gleichbedeutend war mit der Infragestellung der ‘Geschäftsgrundlage’, auf der das Heilige Römische Reich basierte Es ist bezeichnend, dass in der Korrespondenz zwischen Dichter und Kaiser letzterer seinen Briefpartner just auf diesen heiklen Punkt aufmerksam macht, wohingegen Petrarca das gewichtige kaiserliche Argument einfach dadurch aus der Welt schafft, dass er es in einem folgenreichen misreading zum Verschwinden bringt . 68 Während der Dante der Commedia auf die Italienkanzone Der «vir ingens, quem nominare non audeo» (Fam XIII,1,14) ist natürlich, wie schon oben, Anm 10, vermerkt, Karl IV Ungenannt bleibt der Luxemburger aus Gründen des Dekorums - dies ist eine weitere Analogie zur Italienkanzone, in der der Bayer ja ebenfalls nicht direkt genannt wird 66 Diese haben eine kompositorische Funktion Fam XXIV,1 und 2 sind an Philippe de Cabassole und Pulice aus Vicenza adressiert, Fam. XXIV,13 an den Freund Ludovicus Sanctus, an den übrigens auch der allererste Brief der Sammlung (Fam I,1) gerichtet ist, wodurch der Wille zur kompositorischen Rahmung zusätzlich akzentuiert wird 67 Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Fam XIX,12 (Juni 1355), wo Petrarca den Kaiser harsch dafür kritisiert, dass er, wie es ja der Vereinbarung mit dem Papst entsprach, kurz nach seiner Krönung Rom und Italien wieder verließ, um in seine «barbarica […] regna» (Fam XIX,12,2) jenseits der Alpen zurückzukehren Für Petrarca war dies ein deutliches Zeichen, dass sich an der von ihm kritisch gesehenen Verfassung des Reiches nichts ändern und sich seine Hoffnung auf eine Erneuerung des Imperiums aus dem Geist antiker romanitas (samt der damit verknüpften Erwartung auf eine Befriedung der italienischen Verhältnisse) nicht substantiieren würde 68 Fam XVIII,1 (vom Juni 1353) ist Petrarcas Antwort auf den Brief, den Karl IV 1351 an den Dichter (als Antwort auf dessen ersten Brief vom Februar 1351) gerichtet hatte und der diesen erst mit großer Verzögerung erreichte In seiner Epistel Laureata tua gratanter führt der Kaiser Gründe an, warum es für ihn schwierig sei, die Erwartungen Petrarcas zu erfüllen Dies hänge unter anderem mit dem Tatbestand der successio zusammen Was der Kaiser damit meint, ist klar: Er verweist mit dem Begriff der Italienisch_81.indb 21 02.07.19 14: 05 22 Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia Gerhard Regn die translatio imperii noch ganz explizit als Richtschnur für die Neujustierung des Verhältnisses von Italien zum Reich akzeptiert, 69 erhebt Petrarca gegenüber Karl IV Forderungen, die in ihrer Unerfüllbarkeit letztlich auf jene Abkoppelung Italiens vom Sacrum Imperium zulaufen mussten, die der Dichter ja bereits in seiner Italienkanzone in den Raum gestellt hatte Denn auch wenn, anders als im Fall des Bayern, der Luxemburger nicht Urheber der Missstände war, unter denen Italien zu leiden hatte, so gilt doch auch für ihn, dass er sie weder beseitigen wollte noch konnte So bleibt als unausgesprochenes Fazit, was schon im Krieg um Parma während der Herrschaft des Bayern gegolten hatte, nämlich dass die modernen Italiener als Abkömmlinge der alten Römer ihr Geschick in die eigene Hand nehmen müssen . 70 successio auf die Zwänge, welche sich im Sacrum Romanum Imperium aus der translatio imperii ergäben, und die die Antike, die Petrarca ihm als Modell vor Augen stelle, in dieser Form ja noch nicht gekannt habe Dies ist in der Tat ein kapitales Argument, das schwer zu entkräften ist Doch Petrarca gelingt dies, indem er es in ein leicht zu widerlegendes verwandelt, und zwar durch eine Fehllektüre, von der letztlich offenbleiben muss, ob sie absichtsvoll ist oder ein bloßes Versehen Wo im kaiserlichen Brief von successio die Rede ist, liest Petrarca nämlich secessio («Addis autem - stupor auditu! - nesciam tunc secessionis Italiam .», Fam XVIII,1,37) Dadurch entsteht ein gänzlich anderer Argumentationszusammenhang Petrarca geht nun davon aus, dass der Kaiser behaupte, von seinem Italienzug wegen der dortigen politischen Konfliktsituation (die das Phänomen der secessio paradigmatisch repräsentiert) Abstand zu nehmen, und dass eine derartige Lage in der für vorbildlich erachteten Antike noch gar nicht existiert habe Petrarca weist die Stichhaltigkeit dieses vermeintlichen kaiserlichen Arguments zurück, indem er Karl belehrt, dass die politische Sezession in der Antike durchaus existent, ja sogar allgegenwärtig gewesen sei, und dass die alten Römer gerade aufgrund ihrer virtus damit fertig geworden seien - wenn der Kaiser sich ein Beispiel an den Römern nähme, dann dürften Tatbestände wie die secessio seinem Italienzug also gerade nicht im Wege stehen Vgl dazu auch Ferraù: Petrarca 2006, S 48 und ebd ., Anm 1, wo das misreading Petrarcas beiläufig erwähnt wird Der Brief Karls IV ist abgedruckt in Piur: Petrarcas 1933, S 12-16 69 Deutliches Indiz ist die positive Bewertung, die Karl der Große bei Dante erfährt Petrarca dagegen wird in Fam I,4 Karl dem Großen seinen Ehrentitel bestreiten, ihn moralisch herabsetzen und seine Residenz Aachen als übelriechendes Sumpfland schmähen, um auf diese Weise suggestiv die durch den Karolinger bewerkstelligte translatio imperii als illegitimen geschichtlichen Irrtum zu denunzieren Vgl dazu auch Stierle: Petrarca 2003, S 273 70 Symptomatisch für diese Erkenntnis dürfte auch der Misserfolg von Petrarcas diplomatischer Mission in Prag gewesen sein Dort musste Petrarca die Erfahrung machen, dass der Kaiser in Hinblick auf die Beilegung der oberitalienischen Konflikte nichts ausrichten konnte Vgl dazu Dotti: Vita 1987, S 317, mit Bezug auf die Prager Mission und die oberitalienischen Auseinandersetzungen: «Tali vicende mostrano la scarsa influenza che l’imperatore poteva esercitare dalla lontana Boemia […] e convincono che il risultato della missione praghese di Petrarca fu essenzialmente quello di un successo in senso strettamente personale» - der Kaiser erhob den in der Sache erfolglosen Diplomaten bekanntlich in den Rang eines Pfalzgrafen Italienisch_81.indb 22 02.07.19 14: 05 23 Gerhard Regn Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia IV. Sowohl die Italienkanzone des Canzoniere wie der Italiengesang der Commedia operieren mit der Apostrophe Gottes, auf dass dieser sein Augenmerk dem gequälten Land zuwende Dante beginnt mit einer Klage, aber er tut dies dergestalt, dass diese sich sofort auf den Horizont der Heilsgewissheit öffnet Fundament dieser Gewissheit ist der Glaube an eine Weltordnung, die heilsgeschichtlich bestimmt und damit letztendlich auf ein gutes Ende zugerichtet ist Wie desolat die aktuelle Situation Italiens auch sein mag, in Gottes Ratschluss («consiglio», Purg. 6,122) kann sie nur «preparazion […] per alcun bene» (Purg. 6,121 f .) sein Wenn Dante seine Apostrophe Gottes im Duktus prophetischer Rede beginnt, dann ist damit schon vorgegeben, wohin der Ratschluss Gottes zielt: auf nichts weniger als auf die Erwählung des Dichters der Commedia zum Propheten, der als Agent der Heilsgeschichte seine Zeitgenossen auf den rechten Weg zurückbringen soll Nichts dergleichen finden wir bei Petrarca Es gibt keine Spur von providentieller Heilsgewissheit hinsichtlich des Laufs der Welt, stattdessen regiert die schiere Kontingenz Der weltliche Regent, den Dante im Italiengesang der Commedia adressiert, ist der Kaiser, und dieser ist eine Instanz, die ihre Investitur direkt von Gott hat Die weltlichen Herrscher, an die sich Petrarca wendet, sind dagegen die signori der italienischen Staatenwelt, die ihre Macht nicht Gott, sondern Fortuna verdanken Was ist Fortuna bei Petrarca? Nichts anderes als eine Allegorie der Kontingenz In vielen seiner Schriften, insbesondere in De Remediis utriusque fortunae, ist zur Kontingenzbewältigung die Tugend das Mittel der Wahl . 71 Deshalb führt Petrarca, wie zu sehen war, in der Italienkanzone den signori Italiens Beispiele römischer virtus vor Augen um sie zum rechten Handeln zu bewegen Doch die Art und Weise, wie er dies tut, zeugt nicht von einem ungebrochenen Tugendoptimismus Die Kanzone beginnt ja mit einer Reflexion auf die Vergeblichkeit der eigenen Rede, und sie endet, indem das Schicksal der Kanzone unter das Signum des Glücks - mit anderen Worten: der Fortuna - gestellt wird: «Proverai tua ventura» (128,119) Doch nicht nur dies In der Italienkanzone macht Petrarca zudem unmissverständlich klar, dass sein Aufruf zum tugendhaften Handeln nur dann von Erfolg gekrönt sein werde, wenn Gott in seiner Gnade dies wolle Deshalb ist der Ermahnung der signori das Gebet vorgeschaltet Dort, im Gebet, bittet der Sprecher darum, dass Gott die Herzen der italienischen Herrscher öffnen und erweichen möge und dass er so mittels der Rede des Dichters seiner, also Gottes, Wahrheit Gehör verschaffen 71 Zum Verhältnis von Tugend und Fortuna vgl die noch immer wegweisende Arbeit von Heitmann: Fortuna und Virtus 1958 Italienisch_81.indb 23 02.07.19 14: 05 24 Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia Gerhard Regn wolle Petrarca stellt damit das göttliche Gnadenwirken zentral, dessen Korrelat seitens der Menschen die demütige Innigkeit des Gottesbezugs ist Petrarca bringt dies sehr schön zum Ausdruck, indem er die ternäre Gottesapostrophe mit einem förmlichen «Rettor del cielo» (128,7) beginnt und über ein stilistisch abgesenktes «Segnor cortese» (128,10) zum affektivinnigen «Padre» (128,14) hinlenkt, um abschließend noch die eigene Demut zu thematisieren: «qual io mi sia» (128,16) Etwas plakativ könnte man sagen, dass der Gott der Italienkanzone ein augustinischer ist, der für die civitas terrena keine Heilsgewissheit offeriert Was dem Menschen bleibt ist dies: in demütiger Gottergebenheit sein Bestes zu versuchen . 72 Zu diesem Besten gehört für Petrarca die Besinnung auf die römische virtus Doch inwiefern die Wiederaneignung römischer Tugend auch zum Erfolg führt, steht in den Sternen Aber selbst ihre letztendliche Vergeblichkeit kann den Wert der Bemühung aus menschlicher Sicht nicht mindern Und so verliert trotz allem die aus dem Geist römischer Exemplarik geborene Bemühung um ein besseres Italien nichts von ihrem Belang, und zwar auch - oder vielleicht besser: gerade - dann nicht, wenn dieses Italien aus dem Zusammenhang der heilsgeschichtlichen Ordnung des Sacrum Romanum Imperium entlassen ist Italien ist nicht mehr der Garten des römischen Reichs und auch nicht mehr die domina provinciarum, es gewinnt vielmehr Kontur als eine frühneuzeitliche Nation, die sich vom römischen Reich deutscher Nation ebenso abgrenzt wie von Frankreich . 73 Identitätsbildend für dieses Italien ist freilich weniger eine einheitliche Staatlichkeit als vielmehr eine gemeinsame Kultur, in der das Erbe des untergegangenen Rom fortlebt: Italien wird für Petrarca zum Träger einer kulturellen romanitas, deren vornehmster Ausdruck die fortdauernde Prägekraft römischer virtus ist Abstract. Italia mia è la più politica fra tutte le poesie del Canzoniere, dove il padre dell’umanesimo europeo promuove un nazionalismo prettamente premoderno la cui base è la convinzione che l’auspicata rinascita possa trovare il suo terreno idoneo solo nell’Italia erede dei veri valori dell’antichità romana Il tema concreto della canzone è l’assedio di Parma insieme con la polemica contro l’uso delle compagnie di ventura da parte dei Signori 72 Zu Petrarcas Augustinismus, der die Verpflichtung des erbsündigen Menschen auf das rechte Wollen als integralen Bestandteil der Gnadenlehre des Bischofs von Hippo begreift, vgl u .a Huss/ Regn: Pluralisierung 2013, S 499 und S 512-523 73 Das Dokument dieser Abgrenzung von Frankreich ist die an Jean de Hesdin gerichtete Invective contra eum qui maledixit Italie Italienisch_81.indb 24 02.07.19 14: 05 25 Gerhard Regn Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia italiani in lotta fra di loro causando così la rovina del Paese e ostacolando la fioritura culturale altrimenti possibile Ma dietro la scena particolare si apre un panorama politico molto più vasto: i mercenari ‘bavaresi’ simboleggiano l’imperatore che, pur rimanendo dietro le quinte, evoca il grande conflitto fra l’Italia e gli imperatori ‘tedeschi’ la cui soluzione dovrebbe consistere, per il Petrarca, nella la correzione del grande errore storico che è per lui la translatio imperii, simbolo di un mondo medievale ormai passato Bibliographie Baranski, Zygmunt/ Cachey, Theodore J .: Petrarch & Dante. Anti-Dantism, Metaphysics, Tradition, Notre Dame: University of Notre Dame Press 2009 Bronner, Franz Xaver: Abenteuerliche Geschichte Herzog Werners von Urslingen, Anführer eines großen Räuberheeres in Italien um die Mitte des 14. Jhdts, nebst einer Übersicht der Geschichte der Herzoge von Urslingen am Rande des Schwarzwaldes, Aarau: Heinrich Remigius Sauerländer 1828 Collins, Amanda: Greater than Emperor. Cola di Rienzo (ca. 1313-1354) and the World of Fourteenth Century Rome, Ann Arbor: University of Michigan Press 2002 Daniello, Bernardino: Sonetti, Canzoni e Triomphi di Messer Francesco Petrarca, Venezia: Nicolini da Sabio 1541 Dante Alighieri: Commedia, a cura di Anna Maria Chiavacci Leonardi, Milano: Mondadori 1991-1997 (t 1: Inferno, 1991, t 2 Purgatorio, 1994, t 3 Paradiso 1997) Dante Alighieri: Monarchia, a cura di Francesco Sanguineti, Milano: Garzanti 4 2011 Dotti, Ugo: Vita di Petrarca, Roma/ Bari: Laterza 1987 Ferraù, Giacomo: Petrarca, la politica, la storia, Messina: Centro interdipartimentale di studi umanistici 2006 Gesualdo, Giovanni Andrea: Il Petrarcha, Venezia: Nicolini da Sabio 1533 Godthardt, Frank: Marsilius von Padua und der Romzug Ludwigs des Bayern, Göttingen: V&R Unipress 2011 Heitmann, Klaus: Fortuna und Virtus. Eine Studie zu Petrarcas Lebensweisheit, Köln: Böhlau 1958 Petrarca, Francesco: Africa, 2 Bde ., herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Bernhard Huss und Gerhard Regn, Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung 2007 Huss, Bernhard/ Regn, Gerhard: «The History of the Africa and the Renaissance Project», in: Modern Languague Notes Italian Issue 124/ 1, 2009, S 86-102 Huss, Bernhard/ Regn, Gerhard (Hrsg .): «Pluralisierung von Wahrheit im Individuum», in: Francesco Petrarca, Secretum meum Lateinisch-Deutsch, Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung ²2013, S 493-541 Keßler, Eckhard: Petrarca und die Geschichte. Geschichtsschreibung, Rhetorik, Philosophie im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, München: Fink 2 2004 Lokaj, Rodney (Hrsg .): «Introduction», Petrarch’s Ascent of the Mount Ventoux. The Familiaris IV, 1. New Commented Edition, Roma: Edizioni dell’Ateneo 2006, S 13-85 Italienisch_81.indb 25 02.07.19 14: 05 26 Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia Gerhard Regn Mertens, Dieter: «Petrarcas ‘Privilegium laureationis’», in: Borgolte, Michael/ Spilling, Herrad (Hrsg .): Litterae Medii Aevi. Festschrift für Johanne Autenrieth zu ihrem 65. Geburtstag, Sigmaringen: Jan Thorbecke 1988, S 225-247 Miglio, Massimo: «1304-1374: Storie di Roma», in: Petrarca e Roma. Atti del convegno di studi (Roma 2-3-4 dicembre 2004), a cura di Maria Grazia Blasio, Anna Morisi e Francesca Niutta, Roma: Roma nel Rinascimento 2006, S 26-42 Mommsen, Theodor E .: «Petrarch’s Conception of the ‘Dark Ages’», in: Speculum 17, 1942, S 226-242 Monteverdi, Angelo: «La ‘tedesca rabbia’», GSLI 86, 1925, S 196-199 Noyer-Weidner, Alfred: Symmetrie und Steigerung als stilistisches Gesetz der Divina Commedia, Krefeld: Scherpe 1961 Petrarca, Francesco: Le Rime, a cura di Giosuè Carducci e Severino Ferrari, Firenze: Sansoni 1978 Petrarca, Francesco: Canzoniere, a cura di Marco Santagata, Milano: Mondadori 1996 Petrarca, Francesco: Le Familiari, a cura di Vittorio Rossi e Umberto Bosco, 4 tomi, Firenze: Le Lettere ³1997 Petronio, Giuseppe: «Storicità della lirica politica di Petrarca», in: Studi petrarcheschi 7, 1961, S 247-261 Piur, Paul (Hrsg .): Petrarcas Briefwechsel mit deutschen Zeitgenossen, Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1933 Regn, Gerhard: «Rome, Italy and the End of the History of Salvation Petrarch’s Italia mia», in: Nichols, Stephen G ./ Küpper, Joachim/ Kablitz, Andreas (Hrsg .): Spectral Sea. Mediterranean Palimsests in European Culture, New York: Lang 2017, S 143-156 Santagata, Marco: I frammenti dell’anima. Storia e racconto nel Canzoniere del Petrarca, Bologna: Il Mulino 1992 Stierle, Karlheinz: Francesco Petrarca. Ein Intellektueller im Europa des 14. Jahrhunderts, Hanser: München 2003 Tateo, Francesco: «Boncompagno da Signa», in: Enciclopedia dantesca, a cura di Umberto Bosco, t 1, Roma: Istituto dell’Enciclopedia italiana 1970 Vaglienti, Francesca Maria: «Werner von Urslingen (gest 1353)», in: Lexikon des Mittelalters, Bd 8, München: LexMA Verlag 1997 Vatasso, Marco (Hrsg .): L’originale del Canzoniere di Francesco Petrarca Codice Vaticano Latino 3195, Milano: Hoepli 1905 Wilkins, Ernest Hatch: The Making of the ‘Canzoniere’ and other Petrarchan Studies, Roma: Edizioni di Storia e Letteratura 1951, S 9-69 Italienisch_81.indb 26 02.07.19 14: 05 27 L U I G I R E I TA N I Italien, Deutschland, Europa: ein Kulturdreieck Kein anderes Land hat auf die deutsche Kultur einen so nachhaltigen Einfluss gehabt wie Italien In einer kaum übersehbaren Reihe von deutschen Werken, Berichten und Dokumenten gilt Italien als Ort der Entdeckung eines substantiellen kulturellen Erbes, als unentbehrliches Bildungsmoment, als wesentliche ästhetische Sinnerfahrung und oft als existentieller Wendepunkt, der das Leben des Erfahrenden entscheidend verändert hat . 1 Kontinuität und Relevanz dieser kollektiven und individuellen Wahrnehmung sind erstaunlich Mindestens seit der Goethezeit ist im deutschsprachigen Raum ein Italienbild entstanden, das trotz aller historischen Brüche und Wandlungen bis in unsere Gegenwart hineinreicht Italienische Kunstwerke, Menschen, Städte und Landschaften wurden zur Schule einer ästhetischen und sinnlichen Erziehung, deren Wert für die Deutschen identitätsstiftend war und ist . 2 So schien die italienische Reise - oder zumindest die geistige Annäherung an Italien - fast eine Voraussetzung für die Entwicklung und Reifung des deutschen Bildungsbürgertums zu sein Das Land, «wo die Zitronen blühn», wurde zum idealisierten Ort einer Wiedergeburt Biographisch erhielt der Aufenthalt in Italien den rituellen Wert einer Einweihung in die Kunst Auch unter neuen historischen Umständen behält diese Vorstellung seine Aktualität Zwar ist sie nicht mehr unantastbar und läuft Gefahr, als passé rubriziert zu werden; sie ist jedoch immer noch im gesellschaftlichen Diskurs präsent Insofern lässt sich die These aufstellen, dass das Italienbild zu den konstitutiven Merkmalen der deutschen Kultur gehört und ihre Identität wirksam mitbestimmt Solch eine kulturgeschichtliche Konstruktion hat weniger mit der Bedeutung von bestimmten Werken italienischer Künstler, Autoren oder Komponisten zu tun als mit einer Gesamtwahrnehmung des Landes Gewiss wurde Dante in Deutschland hinreichend rezipiert Der umfangreiche Kommentar zur Göttlichen Komödie, den König Johann von Sachsen, genannt Philalethes, verfasste, gehört zu den vorzüglichsten seiner Art Und lang ist die Reihe der illustren Übersetzer, die sich - von August Wilhelm Schlegel über den erwähnten Philalethes und Stefan George bis zu Rudolf Borchardt - mit diesem Meilenstein der italienischen Literatur auseinandergesetzt 1 Vgl hierzu insbesondere die zahlreichen Arbeiten von Italo Michele Battafarano Als summarische Einführung mit bibliographischen Angaben ist hilfreich: Battafarano: L’Italia 2009, S 392-399 2 Vgl Reitani: Italien in der österreichischen Literatur 2011, S 9-10 DOI 10. 23 57/ Ital-2019 - 0 0 0 3 Italienisch_81.indb 27 02.07.19 14: 05 28 Italien, Deutschland, Europa: ein Kulturdreieck Luigi Reitani haben . 3 Trotzdem konnte Dante in Deutschland nie einen größeren Lesekreis erreichen Verglichen mit Shakespeare erscheint seine Wirkung auf Eliten beschränkt Vor allem konnte sich seine Dichtung als brauchbares Denk- und Formmodell für die deutschsprachige Literatur nicht durchsetzen Anders steht es allerdings mit Petrarca und seiner Reimkunst, die in verschiedenen Zeiten nachgeahmt wurde und Eingang in die deutsche Lyrik fand 4 Aber das deutsche Sonett blieb seinem romanischen Ursprung verhaftet und wurde stets als fremde Form wahrgenommen, während der englische Blankvers und sogar der antike Hexameter kennzeichnend für die deutsche Verskunst wurden Wenn es italienische Dichter gibt, die in der deutschen Kultur tiefe Spuren hinterlassen haben, dann sind dies vielleicht Ariost und Tasso, also epische Dichter, die zwar auch aufgrund ihrer Form, der oft nachgeahmten Ottava rima, aber vor allem wegen ihrer kraftvollen Figuren und ihrer spannenden Handlungsstränge einen wichtigen Resonanzraum fanden, 5 ebenso wie Boccaccio Manzoni und Leopardi hingegen, Fixsterne im italienischen Literaturkanon, blieben trotz der Bewunderung Goethes beziehungsweise Nietzsches Außenseiter; nicht sie, sondern französische und russische Dichter des 19 Jahrhunderts errangen einen festen Platz in den deutschen Bibliotheken Und was die literarische Moderne anbelangt, so hat keiner der sonst geschätzten Autoren des 20 Jahrhunderts - von Svevo bis Gadda, von Pirandello bis zu Ungaretti - den Kultstatus eines Joyce oder eines Proust erreicht Muss also die ästhetische Anziehungskraft Italiens für die deutsche Kultur in anderen Bereichen der Kunst gesucht werden? Vielleicht in der Musik oder in der bildenden Kunst? Das wäre naheliegend Jahrhundertelang hat das Musiktheater in Europa italienisch gesprochen Kaum eine deutsche Residenzstadt, an deren Opernhaus keine italienischen Komponisten, Librettisten, Sänger oder Musiker berufen wurden Antonio Salieri und Pietro Metastasio haben in Wien gelebt Mozart, der schon als Kind Italien bereiste und manche Briefe auf Italienisch verfasste, arbeitete bekanntlich mit dem Librettisten Lorenzo Da Ponte zusammen Der Neapolitaner Niccolò Jommelli (1714-1774), der als berühmtester Komponist seiner Zeit galt, war fünfzehn Jahre lang in Stuttgart tätig Ohne ihn und seine Opera seria wäre die Entwicklung der deutschen Musik anders verlaufen Bearbeitete Johann Sebastian Bach die Konzerte des von ihm so geschätzten Vivaldi, so war selbst Richard Wagner ein profunder Kenner des italienischen Melodramas, wie u .a sein Jugendwerk Das Liebesverbot oder Die Novize von Palermo (1836 in Magdeburg uraufgeführt) belegt Übrigens lohnt es sich, 3 Vgl Behler: Dante in Germany 2000, S 262-269 4 Vgl Aurnhammer: Francesco Petrarca in Deutschland 2006 5 Vgl Aurnhammer: Torquato Tasso in Deutschland 1995 Italienisch_81.indb 28 02.07.19 14: 05 29 Luigi Reitani Italien, Deutschland, Europa: ein Kulturdreieck einen kurzen Blick auf diese komische Oper des damals 23-jährigen Komponisten zu werfen, der auch das Libretto verfasste Die Handlung spielt in Palermo zur Zeit des Karnevals, und das südländische Volk in Italien rebelliert gegen einen Erlass des deutschen Statthalters, Liebesexzesse unter Strafe zu stellen Die Revolution gegen die strenge deutsche Moral und für die Freiheit der Liebe lässt Melodien ertönen, die an Donizetti, Bellini und Rossini erinnern Freilich hat sich der Komponist später von seiner, wie er sie nannte, «Jugendsünde» distanziert und in Theorie und Praxis gerade jene fremde Operntradition bekämpft, der er sich als junger Deutscher ohne Bedenken angeschlossen hatte . 6 Die kulturgeschichtliche Signifikanz eines solchen musikalischen Bühnenwerks liegt jedoch auf der Hand Man könnte kaum ein schöneres Beispiel für die Bedeutung der italienischen Musik in Deutschland finden - und für die mit ihr verbundenen Themen Noch bedeutender ist die Rolle, welche die italienische bildende Kunst in der deutschen Kultur gespielt hat Es war zweifellos Johann Joachim Winckelmann, der Italien als Ort der Antike kanonisierte und einen Bogen zwischen italienischer Renaissance und griechischer Kunst schlug Aber schon vor ihm reisten deutsche Künstler nach Italien, um hier die Meisterwerke der venezianischen, römischen und Florentiner Schule zu studieren Dies gilt auch für Albrecht Dürer, den deutschen Maler schlechthin Ebenfalls bemühten sich die Mächtigen in Deutschland, italienische Künstler an ihre Höfe zu holen Giambattista Tiepolo war vielleicht der letzte bedeutende italienische Maler, der mit seiner Werkstatt nach Deutschland kam, um die Residenz eines Fürsten mit seinen Fresken zu gestalten So war Würzburg neben Venedig, Udine, Mailand und Madrid eine der wichtigsten Stationen seines Lebens und Schaffens Nicht wenige deutsche Städte verweisen auf die Hand italienischer Baumeister, so z .B Dresden, wo u .a Giovanni Chiaveri und Giuseppe Galli da Bibiena tätig waren Durch die Veduten von Canaletto prägte sich ein Bild Dresdens ein, das dieser Stadt ein italienisches Flair verlieh Wie stark der Einfluss italienischer Architektur im gesamten südlichen deutschsprachigen Raum war, lässt sich auch in Konstanz feststellen, wo das ehemalige Haus der Patrizierzunft zur Katz nach dem Vorbild des Palazzo Vecchio in Florenz gebaut wurde Wenn es den deutschen Fürsten nicht gelang, italienische Künstler für sich zu gewinnen, kauften sie italienische Kunstwerke für ihre Sammlungen In ganz Deutschland findet sich eine Vielzahl an italienischen Gemälden, Statuen, Kunstobjekten, die durch systematische Recherchen von begeisterten deutschen Sammlern erworben wurden Dabei spielten Vermittler eine 6 Vgl Wapnewski: Anfänge 1986, S 226-232 Wagner veröffentlichte 1837 einen Essay über Bellini; im selben Jahr dirigierte er die Norma in Riga Italienisch_81.indb 29 02.07.19 14: 05 30 Italien, Deutschland, Europa: ein Kulturdreieck Luigi Reitani entscheidende Rolle Sie waren allerdings keine Kaufleute, sondern Kunstkenner und Gelehrte wie der Populärphilosoph Francesco Algarotti, der in Dresden und Berlin im Dienste deutscher Herrscher arbeitete Das Sammeln entsprang einem genauen ästhetischen und politischen Programm, das die Einführung italienischer Kunst auf deutschem Boden als notwendige Erziehung zur Kultur betrachtete Der Kultstatus, den in Deutschland kein italienischer Dichter erlangen konnte, war vielen italienischen Künstlern oft vorbehaltlos vergönnt Insbesondere Raffael wurde in der Goethezeit verehrt Kaum ein anderes Gemälde hat die Phantasie deutscher Schriftsteller mehr entfacht als die sogenannte Sixtinische Madonna in Dresden Was von Winckelmann in klassizistischer Absicht bewundert wurde, erwies sich für die Romantiker als ästhetische Offenbarung Ohne die Diskussion über dieses Bild wäre der philosophischästhetische Diskurs in Deutschland weitaus ärmer gewesen . 7 Musik und bildende Kunst waren also die treibenden Kräfte, welche das ästhetische Interesse der Deutschen für Italien entscheidend prägten und erregten Lässt sich aber der Stellenwert des deutschen Italienbildes allein dadurch erklären? So sehr die italienische Kunst auch Anerkennung fand, so beschränkte sich eine solche doch im Wesentlichen auf die Zeit der Renaissance Dass einzelne italienische Maler eine zentrale Rolle im literarischen und ästhetischen Diskurs spielten, hat sicher zu einer Vertrautheit mit dem Land beigetragen, aber nicht mit einer Wertschätzung per se Zu Recht wurde zwischen dem Werk, dem Künstler und der Epoche der italienischen Malerei differenziert und keine homogene Kontinuität vorausgesetzt Das Beispiel der frühen Oper Wagners zeigt, dass die Anlehnung an die künstlerische Tradition Italiens eng mit einer Darstellung des vermeintlichen Charakters seiner Einwohner zusammenhängt Was jenseits jedes kritischen Urteils auffällt, ist die nahezu grenzenlose Mythisierung des Landes, die sogar über Religionsverschiedenheiten hinweggeht und den Katholizismus Italiens in Kauf nimmt In der Tat gründet das deutsche Italienbild nicht, oder - besser gesagt - nicht nur auf der italienischen Literatur, Musik oder den bildenden Künsten, sondern auch auf der italienischen Landschaft und auf deren Beziehung zu den Künsten und den Menschen, die sie erleben und bewohnen Das Besondere an dieser Landschaft liegt darin begründet, dass sie nicht als Natur, sondern als Kultur wahrgenommen wird, d .h als Natur, die durch die Arbeit und die Kunst der Menschen zur Kultur geworden ist Es ist dieser außerordentliche Zusammenhang, der das deutsche Italienbild prägt . 8 Es 7 Vgl Osterkamp: Der Kulturheiland 2015, S 42-61 8 Vgl Seta: L’Italia del Grand Tour 1998; Settis: Paesaggio 2010 Italienisch_81.indb 30 02.07.19 14: 05 31 Luigi Reitani Italien, Deutschland, Europa: ein Kulturdreieck wird dadurch lebendig, indem es immer wieder durch subjektive Wahrnehmungen aktualisiert wird Wissen und Geschichte lassen sich erlernen, eine zur Kultur gewordene Landschaft lässt sich nur erfahren Goethes Italienische Reise ist in dieser Hinsicht ein Werk, das noch immer paradigmatisch ist, nicht weil es das erste war, das Italien in die deutsche Kultur einführte - man denke, um nur ein Beispiel zu nennen, an Heinses Ardinghello - sondern weil es eben die Subjektivität der Wahrnehmung ins Zentrum stellte Als Zeugnis einer unentbehrlichen ästhetischen Erfahrung tradiert, ja sogar als eigentümlicher Reiseführer missverstanden, hat dieses Buch die Geschichte einer kollektiven Sehnsucht nach einem Land begleitet, das dank seiner Landschaft und seiner Kunst der Wirklichkeit enthoben und das ewige Ideale zu verkörpern schien Mit und nach Goethe wurde Italien nicht nur zum obligaten Reiseziel des deutschen Bildungsbürgertums, sondern auch zum ersehnten Gipfelpunkt einer deutschen Lebensauffassung Noch bevor Italien und Deutschland eine politische Einheit erlangen konnten und als staatliche Gebilde miteinander in Beziehung traten, wurden sie durch die Literatur miteinander verknüpft: Keine deutsche Bildung ohne Italienerfahrung Das war etwas gänzlich anderes als die in der Tradition der aristokratischen Grand Tour vorgeschriebene Erweiterung der Erkenntnisse mittels der direkten Besichtigung von historisch und künstlerisch signifikanten fremden Städten und Orten . 9 Es war vielmehr die Idealisierung eines Landes und seine Beanspruchung für die Konstitution der eigenen Identität Als hätte Deutschland Italien gebraucht, um sich selbst zu entdecken In der Kulturgeschichte Europas steht ein solcher Komplex als emblematisches Paradigma da: Ein Land erhält eine fundamentale Bedeutung für die Kultur eines zweiten Landes, welches darauf seine eigene Geschichte baut Alles dieses ist hinlänglich bekannt und bedürfte gewiss etlicher Differenzierungen Denn deutsche Reisende sind nicht nur mit Goethe nach Italien gefahren; sie haben sich auch gegen ihn gewandt Seine Ästhetik und seine Bildungsideale wurden parodiert, in Frage gestellt, vehement angegriffen Gerade die Vielfalt an polemischen Reaktionen verrät indes die erstaunliche Wirkungskraft des Modells Wovon aber sprechen wir, wenn wir von der Italienischen Reise Goethes sprechen? Gewöhnlich wird dieses Buch als Zeugnis eines authentischen Reiseerlebnisses betrachtet, das Johann Wolfgang Goethe zwischen 1786 und 1788 auf der Halbinsel gehabt hat Der Text der Italienischen Reise wird mithin mit der Italienreise seines Autors identifiziert, die Literatur als treue Wiedergabe des Lebens wahrgenommen Dabei wird oft übersehen, dass Goethe seinen Reisebericht sehr 9 Vgl Seta: Vedutisti e viaggiatori 2010 Italienisch_81.indb 31 02.07.19 14: 05 32 Italien, Deutschland, Europa: ein Kulturdreieck Luigi Reitani viel später veröffentlichte Nahezu 30 Jahre nach der Rückkehr nach Weimar waren vergangen, als 1816 der erste Band dieses Werks erschien, als erster Teil der zweiten Abteilung der Autobiographie Aus meinem Leben 1817 kam dann der zweite Teil heraus; 1829 folgte schließlich der dritte und letzte Teil, der den endgültigen Titel Italienische Reise trug Zwischen dem Erlebnis und seiner literarischen Formulierung lagen Jahrzehnte, die den europäischen Kontinent grundlegend verändert hatten Die Französische Revolution, Napoleon und der Wiener Kongress hatten eine neue Welt hervorgebracht Das Italien, das Goethe bereist hatte, war weder in seiner politischen Konfiguration noch in seiner sozialen und wirtschaftlichen Dynamik das Italien der Restauration Und Goethe selbst war nicht mehr der Autor, der während seines italienischen Aufenthaltes vor allem als Verfasser des Werther wahrgenommen wurde Vielmehr galt er in ganz Europa als Dichterfürst, als Autor eines enzyklopädischen und mannigfaltigen Œuvres, das zuletzt mit den Divan-Gedichten auf den Orient schaute Warum also diese späte literarische Umsetzung einer alten Reiseerfahrung? Das Erzählen einer Welt, welche von der Geschichte überholt worden war? Wozu das Insistieren auf ästhetischen Prinzipien des Neoklassizismus, die auf die neue Generation deutscher und damals in Rom lebender Künstler veraltet und befremdend wirkten? In der Tat war die Italienische Reise bei ihrem Erscheinen fast eine Provokation, ein Buch, das gerade deshalb hervorstach, weil es unzeitgemäß war Bezeichnend ist diesbezüglich die Reaktion des preußischen Gesandten in Rom Barthold Georg Niebuhr, der in einem Brief schrieb: «Es ist unbegreiflich, wie Goethe dergleichen hat drucken lassen […] Unsre Kunst scheint auf einem sehr schönen Wege zu sein, und unsre Künstler» - gemeint sind hier die Nazarenen - «übersehen Goethens damaligen Standpunkt bei weitem und verwerfen ihn mit Recht als falsch» . 10 Wenn sich aber die Italienische Reise im Laufe der Jahre als unumgängliches Modell eines europäischen Kulturtransfers durchsetzen konnte, hat dies weniger mit den darin vertretenen ästhetischen Positionen zu tun, als mit der Thematisierung von subjektiven Kunsterfahrungen, die hier als «Wiedergeburt» vorgestellt werden, als Ausgang einer tief empfundenen persönlichen Krise Denn was Goethe in der komplexen Bearbeitung seiner früheren Tagebuchaufzeichnungen und Briefe aus der italienischen Zeit gelingt, ist die durchdachte Komposition eines neuartigen autobiographischen Romans, der die innere Entwicklung des Helden durch seine ästhetischen Erlebnisse in einem fremden Land zeigt Wie zu Recht betont wurde, ist die Italienische Reise «ein autobiographisches Werk, dessen primäre 10 Goethe: «Barthold Georg Niebuhr an Dorothea Hensler, Rom, 7 Februar 1817» 1992, S 719 Italienisch_81.indb 32 02.07.19 14: 05 3 3 Luigi Reitani Italien, Deutschland, Europa: ein Kulturdreieck Intention die Darstellung der Erfahrung des Reisenden, nicht der Bericht über das bereiste Land ist» . 11 In dieser Hinsicht spielt es keine große Rolle, welche Kunstwerke auf den Reisenden wirken, sondern wie sie auf ihn wirken Goethes Buch zielt nicht auf Vollständigkeit Dass der Dichter in seiner Erzählung viel außer Acht lässt, was in den Reiseführern der Zeit stand, und sogar manches, was er doch gesehen hatte, gehört zu einem kühnen Kalkül Es ist gerade die Einseitigkeit der Erfahrung, die dargestellt wird Damit kann sich das erzählende Ich von dem Ich distanzieren, das die Reise erlebt hatte Es ist Goethe oft vorgeworfen worden, dass er kein Auge für die Kunst des Mittelalters und des Barocks hatte In Assisi lässt er ostentativ die Basilika mit den Giotto-Fresken links liegen, um den klassischen Bau eines bescheidenen alten Tempels zu bewundern Selbst in Florenz bleibt er nur drei Stunden und versäumt es, die großen Meisterwerke der Renaissance zu sehen, weil er so bald wie möglich nach Rom kommen möchte, das von Anfang an das erklärte Ziel seiner Sehnsucht ist Aber eben auf diesem Rausch der subjektiven Aufnahme von Kunstwerken und Landschaften liegt der Akzent einer solch außerordentlichen literarischen Darstellung Geschildert werden die Ungeduld, die Erwartungen, die Freuden und wohl auch die Enttäuschungen eines Reisenden, der sich auf die Flucht vor seiner Existenz am Hof und auf die Suche nach sich selbst begibt Nur zuweilen findet man in der Italienischen Reise jene grandiose Kunst der Ekphrasis, der detaillierten Beschreibung eines Bildes, die Goethe anderswo in seinem Werk anwendet . 12 Im Gegenteil wird der Leser oft mit der vermeintlichen Unsagbarkeit einer Landschaft oder eines Kunstwerks konfrontiert In Taormina vermerkt Goethe lapidar: «Gott sei Dank, dass alles, was wir heute gesehen, schon genugsam beschrieben ist» . 13 Um diesen autobiographischen Roman zu gestalten, bedient sich Goethe der authentischen Materialien der fern zurückliegenden Reise, vor allem der Briefe an seine Weimarer Freunde und seines Tagebuchs der italienischen Reise für Charlotte von Stein Sein Umgang mit den Quellen aber ist rücksichtslos Insbesondere die Briefe, die er für den ersten Teil der Veröffentlichung verwendet, zeigen eindeutige Spuren der Bearbeitung Der Literaturwissenschaftler Erich Schmidt, der diese Briefe für die Weimarer Werkausgabe edierte, notierte: Goethe «hat diese Blätter, zum größten Teil Botschaften der Liebe, als Rohmaterial für ein zu schreibendes Buch behandelt, sie auseinandergerissen und manchmal in Streifen zerschnitten, über der 11 Wild: Italienische Reise 1997, S 345-346 12 Vgl Osterkamp: Im Buchstabenbilde 1991 13 Goethe: Italienische Reise 1992, S 363 Italienisch_81.indb 33 02.07.19 14: 05 3 4 Italien, Deutschland, Europa: ein Kulturdreieck Luigi Reitani Zeile mit Stift oder Feder Änderungen eingetragen, fast alle Seiten diagonal durchstrichen und, mit diesem Zeichen der Erledigung oder Ausscheidung nicht zufrieden, sehr oft Zeile für Zeile ausgemerzt» . 14 Die Materialien für den zweiten und dritten Band hat der Dichter sogar nach deren Verwendung vernichtet Weit entfernt von einer treuen Wiedergabe dessen, was der Dichter zum Zeitpunkt der Reise schrieb, ist die Italienische Reise damit eine geschickte Form von literarischer Montage, welche Authentisches mit Fiktivem durchmischt Zwar simuliert die Erzählung mit dieser Technik die Frische des Erlebten, das literarische Verfahren zielt aber auf eine bewusste Selbststilisierung Auch wenn der Text die Wahrnehmungsfähigkeit des Subjekts ins Zentrum stellt, so bleibt die Italienische Reise dennoch ein Buch über Italien, das zu dessen Mythos beiträgt Hauptmerkmal des besuchten Landes ist die enge Verbindung zwischen Natur und Kunst, welche in ihren Erscheinungsformen zutage tritt Die Antike ist für Goethe die Epiphanie der ewigen Naturgesetze, die sich in den klassischen Baugestalten offenbaren Der Reisende, der sich in Sizilien auf die Spuren von Mineralien und Pflanzen begibt, ist derselbe, der die antiken Skulpturen Roms studiert Zwischen botanischer und künstlerischer Welt scheint eine Kontinuität der Formen zu bestehen, die dem Beobachter die Einheit der Welt näher bringen Das lateinische Motto, das dem Text in den ersten zwei Teilen voransteht, soll diese glückliche Situation des Reisenden auf den Punkt bringen: Et in Arcadia ego! («Auch ich war in Arkadien! ») Allerdings ist eine subtilere Interpretation dieses berühmten Satzes möglich Denn er ist als Grabinschrift in einem Bild von Poussin erkennbar, das Goethe bekannt war So ist das Subjekt, das sich in Arkadien befindet, nicht der Reisende, sondern der Tod, der die Schönheit der Natur und Kunst als vergänglich erscheinen lässt . 15 Und in der Tat hat die Italienische Reise oft einen unverkennbar elegischen Charakter, der in den sie abschließenden Versen Ovids offenkundig wird Nicht mit eigenen Worten, sondern mit einem Zitat des ins Exil vertriebenen römischen Dichters lässt Goethe seine autobiographische Erzählung an ihr Ende kommen Das Leben in Arkadien kann nur provisorisch sein, wie die Existenz selbst prekär ist Dabei ist das Italien, von dem Goethe berichtet, nicht nur ein arkadisches Paradies Da gibt es Begegnungen und Gespräche mit Menschen, Ärgernisse, differenzierte Beobachtungen über die Formen des Zusammenlebens und über die ökonomischen Verhältnisse Da gibt es die 14 Goethes Werke, hrsg im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen (Weimarer Ausgabe), Abt IV, Bd 9, München: DTV 1987, S 384 15 Vgl Panofsky: «Et in Arcadia Ego» 1975, S 351-377 Italienisch_81.indb 34 02.07.19 14: 05 35 Luigi Reitani Italien, Deutschland, Europa: ein Kulturdreieck Faszination für die Volksfeste, die den Jahresrhythmus skandieren . 16 Der Erzähler Goethe, der die Aufzeichnungen des Reisenden Goethe redigiert, lässt erahnen, dass Italien viel mehr ist, als es in seinen einseitigen Wahrnehmungen erscheint Vergeblich würde man in der italienischen Literatur ein Pendant zu Goethes Italienischer Reise suchen Aurelio De’ Giorgi Bertolas Reise auf dem Rhein und in seine Umgebung (1795) hat bei weitem nicht die Wirkung erreicht, die Goethe mit seinem Werk erzielte Vor allem fehlt in diesem Buch der enge Zusammenhang zwischen Natur und Kunst, der für die Darstellung der italienischen Landschaft symptomatisch ist Ob man überhaupt von einem italienischen Deutschlandbild sprechen kann, das für die italienische Kultur konstitutiv ist, ist fraglich Die zwölf Jahre des Naziregimes überschatten im öffentlichen Diskurs noch immer die Wahrnehmung eines Landes, das seit 1949 nicht nur über ein solides demokratisches System verfügt, sondern auch eine illustre Kulturtradition aufzuweisen hat . 17 Und dennoch spielte diese Tradition gerade in Italien eine große Rolle In der Debatte um eine neue italienische Literatur, die nach dem Wiener Kongress entsteht und sich mit dem Problem einer politischen Einheit Italiens konfrontiert sieht, ist der Bezug auf die deutsche Literatur offensichtlich In seiner Lettera semiseria di Grisostomo al suo figliuolo, welche zu den drei berühmten «Manifesten» des italienischen Romanticismo im Jahre 1816 zählt, erwähnt Giovanni Berchet im selben Atemzug Schiller, Goethe und Bürger als die bedeutendsten deutschen Lyriker der «modernen Schule», von denen die italienischen Dichter zu lernen hätten . 18 Solch ein Bezug auf Goethe als Kronzeuge einer dezidiert programmatischen Stellungnahme, die als Gründungsakt der romantischen literarischen Bewegung in Italien gilt, kann nur überraschen, wenn man von der kanonisierten literaturgeschichtlichen Perspektive ausgeht, die zwischen der Romantik und Goethe streng unterscheidet und Italien als Land betrachtet, in dem der deutsche Dichter zu seiner endgültigen klassischen Form gelang Tatsächlich aber sind die literarischen Verflechtungen zwischen Italien und Deutschland in dieser Zeit vielfältiger, als die herkömmlichen Muster zu erfassen vermögen, und Goethe für die romantische Entwicklung in Italien wichtiger, als man zunächst vermuten könnte Noch lange bevor der Begriff des Romanticismo in einem gegen die Tendenzen der Restauration gerichteten polemischen Ton ostentativ verwendet wurde, zirkulierten in Italien Topoi, Motive, und poetologische Vorstel- 16 Vgl Reitani: Ékphrasis 2014, S 7-61 17 Vgl Reitani: Germania europea 2014 18 Berchet: Sul «Cacciatore feroce» 1964, S 272 Italienisch_81.indb 35 02.07.19 14: 05 36 Italien, Deutschland, Europa: ein Kulturdreieck Luigi Reitani lungen, die in einer direkten oder indirekten Verbindung mit der deutschen und englischen Romantik standen Dabei spielte die Rezeption der Werke Goethes eine nicht zu unterschätzende Rolle Vor allem ist hier der Werther zu nennen, der zunächst auf Französisch gelesen wurde Vom 1782 bis 1803 erschienen vier unterschiedliche italienische Übersetzungen des Romans, die zum Teil auf französischen Vorlagen gründeten und für die Zensur gefährliche Stellen unterdrückten . 19 Interessant ist auch eine Bearbeitung für die Bühne (1800), die von Antonio Simone Sografi verfasst wurde . 20 Entscheidend ist jedoch, dass der Werther als Modell für die Ultime lettere di Jacopo Ortis (1798) Foscolos diente, mit dem in Italien dem Roman als Genre endgültig der Durchbruch gelang . 21 Durch diese intensive Aufnahme verbreiteten sich in der italienischen Literatur romantische Topoi und Motive, die bis zu Leopardi und Manzoni eine signifikante strukturelle Funktion erhielten Nicht zuletzt wurde die romantische Lektüre des Werthers aufgrund der im Roman eingegliederten Gesänge Ossians verstärkt, der in Italien dank der europaweiten bahnbrechenden Übersetzungen Cesarottis schon zum Kult-Dichter geworden war Reflexionen über den Werther finden sich schließlich im Zibaldone Leopardis In diesem skizzierten romantischen Rahmen steht auch die Rezeption von Goethes Faust, der wiederum durch die französische Vermittlung (in der berühmten Übersetzung von Gérard de Nerval) nach Italien kam . 22 Welche Bedeutung dieses Werk für die italienische Kultur hatte, zeigt Giuseppe Mazzini, der sich damit intensiv auseinandersetzte Mit der 1835 erschienenen Übersetzung des ersten Teils durch Giovita Scalvini wurde Faust ein wesentlicher Bestandteil der italienischen Kultur Wenn dann derselbe Mazzini Schiller und Byron gegen Goethe ausspielte, und damit ein verbreitetes Schema initiierte, das das romantische Potential des deutschen Dichters für den entstehenden Nationalgedanken relativierte oder sogar in Frage stellte, so wirkte der romantische Goethe trotzdem noch lange in der italienischen Kultur fort Man denke z .B an Autoren wie Prati, Thovez oder Graf, die in der Mitte oder in der zweiten Hälfte des 19 Jahrhunderts lebten und sich explizit auf eine romantische Matrix beriefen Auch in der italienischen romantischen Musik lassen sich Goethes Spuren wiederfinden Verdi komponierte eine Romanze auf Gretchen am Spinnrad und Boito hielt sich im Libretto für seine Oper Mefistofele streng an die Vorlage des Faust Eine 19 Vgl Biagi: Il caso «Werther-Ortis» 2015, S 143-162 20 Vgl Polledri: Von Verter bis Pulcinella 2019 21 Vgl Harmat: Goethes «Werther» und Foscolos «Jacopo Ortis» 2002, S 44-50 22 Vgl Reitani: Faust in Italien 1992, S 191-211 Italienisch_81.indb 36 02.07.19 14: 05 37 Luigi Reitani Italien, Deutschland, Europa: ein Kulturdreieck besondere und relevante Rolle spielte Goethe für Alessandro Manzoni, der mit dem deutschen Dichter einen tiefen geistigen Austausch pflegte . 23 Diese Rezeption wurde zum großen Teil durch französische Quellen vermittelt Entscheidend für die Kenntnis der deutschsprachigen Kultur in Italien waren De Stäels De la littérature considerée dans ses rapports avec les institutions sociales (1800) und vor allem ihr De l’Allemagne (1814) Ihr ins Italienische übersetzter Aufsatz Sull’utilità e la maniera delle traduzioni (1816) steht am Anfang einer langen Debatte, die schließlich zur Gegenüberstellung zweier Fronten (Klassiker gegen Romantiker) führte So wurde das italienische Bild Goethes nicht zuletzt von dem Porträt geprägt, das Madame de Stäel von ihm zeichnete Es ist deshalb nicht übertrieben, Goethe unter die geistigen Väter des italienischen Romanticismo zu zählen, wie immer man diesen problematischen Begriff auch verstehen will: als Programm einer literarischen Gruppe, als identifikationsstiftende Poetik oder als funktional einzusetzendes Repertoire von Topoi und Motiven . 24 Goethe selbst hatte aber eine teils direkte, teils vermittelte Kenntnis des italienischen Romanticismo Ab 1820 beschäftigte er sich andauernd mit Alessandro Manzoni, den er ausdrücklich lobte und dessen Werke er besprach Seine Übersetzung von Il cinque maggio ist in seinem Werk das einzige Beispiel einer Nachdichtung von einem italienischen zeitgenössischen Dichter Er schätzte die Zeitschrift L’Eco, giornale di scienze lettere arti commercio e teatri, welche wiederum manche seiner Gedichte in italienischer Übersetzung veröffentlichte . 25 Schließlich griff Goethe in die Polemik zwischen italienischen Klassikern und Romantikern ein: 1821 veröffentlichte er in Kunst und Altertum diesbezüglich einen kurzen Aufsatz (Klassiker und Romantiker in Italien, sich heftig bekämpfend), der nicht nur wegen der Bezüge auf die italienische literarische Szene, sondern auch wegen des Versuchs, das allgemeine Problem der Romantik neu zu fassen, interessant wirkt . 26 Eine Teilübersetzung dieses Aufsatzes erschien drei Jahre später in der Antologia von Vieusseux in Florenz Auch für Giuseppe De Sanctis war Goethe neben Hegel die wichtigste Referenzfigur Seine Geschichte der italienischen Literatur steht programmatisch für den Versuch, einen Nationalcharakter Italiens zu umreißen Interessant ist dabei, dass De Sanctis Goethes Faust als Antwort auf die Göttliche 23 Vgl Girardi: Goethe e Manzoni 1992 24 Vgl hierzu Birus: Konzept einer europäischen Romantik 2017, S 93-126; Matuschek: Romantiker 2017, S 127-146 25 Vgl Catalano: Weltliterarisches Panoptikum 2016, S 119-128 26 In: Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens 1994, S 258-266 Italienisch_81.indb 37 02.07.19 14: 05 3 8 Italien, Deutschland, Europa: ein Kulturdreieck Luigi Reitani Komödie Dantes interpretiert . 27 Der Bezug auf die deutsche Kultur ist für den Literaturkritiker nichts anderes als die Wiederentdeckung des Eigenen im Fremden De Sanctis war auch der Erste, der versuchte, den zweiten Teil des Faust ins Italienische zu übertragen 1851, im Gefängnis, fing er an, den Monolog des ersten Akts zu übersetzen Drei Jahre später erschien seine Übersetzung - immerhin mehr als 1000 Verse - in der Florentiner Zeitschrift Polimazia Stilistisch ist diese Nachdichtung insofern relevant, als De Sanctis hauptsächlich die zwei wichtigsten Metren der italienischen Lyrik verwendet: den Endecasillabo und den Settenario, die oft durch Reime verbunden werden Damit wird auf den Text eine uniformierende Patina gelegt, welche die bewegte Vielseitigkeit der Szenen verbirgt Ferner erinnert die von vielen Enjambements geprägte Phrasierung sehr stark an Leopardi, dessen Vokabular ebenfalls deutlich zu erkennen ist Auffällig sind Zitate aus der italienischen Literatur Wenn z .B de Sanctis die Verse Ariels «Die ihr dies Haupt umschwebt im luft’gen Kreise / Erzeigt euch hier nach edler Elfen Weise» so übersetzt: «Voi che intorno aleggiate al capo stanco / Qui si paia la vostra nobilitate», dann übernimmt er fast wortwörtlich einen berühmten Vers aus Dantes Inferno (II, 6), und zwar: «qui si parrà la tua nobilitate» . 28 Dass die Kulturgeschichte Deutschlands mit jener Italiens eng verbunden ist, scheint eine Binsenwahrheit zu sein, die nur deswegen in Erinnerung gerufen werden muss, weil sie neuerdings von Nationalismen der schlimmsten Art wieder in Frage gestellt wird Tatsächlich aber existiert keine Kultur, deren Identität nicht aus der ständigen Auseinandersetzung mit anderen Kulturen hervorgegangen wäre Was wir Europa nennen ist eben dieser ständige Kulturtransfer, ohne den wir nur die narzisstische Bestätigung unserer Täuschungen besäßen In diesem Sinne sei es erlaubt, diesen kursorischen Umriss, der keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, mit den prophetischen Worten Nietzsches zu schließen: «Dank der krankhaften Entfremdung, welche der Nationalitäts-Wahnsinn zwischen die Völker Europa’s gelegt hat und noch legt, Dank ebenfalls den Politikern des kurzen Blicks und der raschen Hand, die heute mit seiner Hülfe obenauf sind und gar nicht ahnen, wie sehr die auseinanderlösende Politik, welche sie treiben, nothwendig nur Zwischenakts-Politik sein kann, - Dank Alledem und manchem heute ganz Unaussprechbaren werden jetzt die unzwei- 27 Vgl De Sanctis: Storia della letteratura 1968, S 831-832 28 De Sanctis: Il «Faust» di Goethe 1972, S 65-66 Italienisch_81.indb 38 02.07.19 14: 05 39 Luigi Reitani Italien, Deutschland, Europa: ein Kulturdreieck deutigsten Anzeichen übersehn oder willkürlich und lügenhaft umgedeutet, in denen sich ausspricht, dass Europa Eins werden will» . 29 Abstract. Nelle sue molteplici declinazioni l’esperienza italiana appare un tratto costitutivo della stessa identità culturale tedesca A questo contribuisce certo l’intesa ricezione di opere musicali, artistiche e letterarie nel mondo di lingua tedesca, ma ancor di più un’idealizzazione del paesaggio italiano come ricomposizione di civiltà e natura, come orizzonte estetico in cui ritrovare la propria identità in un percorso iniziatico In questa storia il Viaggio in Italia di Goethe ha senz’altro un ruolo essenziale, testimoniato anche dal suo rovesciamento polemico o parodistico D’altra parte, anche la letteratura tedesca, e in particolare quella romantica, ha svolto una funzione importante per la cultura italiana, che si richiama in questo proprio a Goethe Summary. With its manifold modes, the Italian experience appears to be a constitutional part of German cultural identity .- This is certainly due to the intensive reception of Italian music, art and literature within the Germanspeaking world, but even more so due to the idealisation of the Italian landscape as a place of restored civility and nature, the aesthetic horizon, a place where one may find one’s proper identity during an initiation journey In this context, on the one hand, Goethe’s Viaggio in Italia plays without doubt an exceptional role, also due to its polemic and parodistic reversal On the other hand, German literature, and in particular Romantic literature, has played an important role for the Italian culture, based, in fact, on Goethe 29 Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse 1999, S 201 Italienisch_81.indb 39 02.07.19 14: 05 4 0 Italien, Deutschland, Europa: ein Kulturdreieck Luigi Reitani Bibliographie Aurnhammer, Achim (Hrsg .): Francesco Petrarca in Deutschland. Seine Wirkung in Literatur, Kunst und Musik, Tübingen: Niemeyer 2006 Aurnhammer, Achim (Hrsg .): Torquato Tasso in Deutschland. Seine Wirkung in Literatur, Kunst und Musik seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, Berlin/ New York: de Gruyter 1995 Battafarano, Italo Michele: Die im Chaos blühenden Zitronen. Identität und Alterität in Goethes Italienischer Reise, Bern/ Berlin/ Frankfurt a .M ./ New York/ Paris/ Wien: Lang 1999 Battafarano, Italo Michele: Mit Luther oder Goethe in Italien. 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Von den Rhein- und Mayn-Gegenden zur Weltliteratur, Göttingen: Göttinger Verlag der Kunst 2016, S 119-128 De Sanctis, Francesco: Storia della letteratura italiana, a cura di Gianfranco Contini, Torino: Utet 1968 De Sanctis: «Il ‘Faust’ di Goethe Parte seconda Saggio di traduzione italiana», in: id: Opere, a cura di Carlo Muscetta, t 4, La crisi del romanticismo. Scritti dal carcere e primi saggi critici, a cura di Maria Teresa Lanza, Torino: Einaudi 1972, S 65-66 De Seta, Cesare: L’Italia del Grand Tour da Montaigne a Goethe, Milano: Electa 1998 De Seta, Cesare: Vedutisti e viaggiatori in Italia tra Settecento e Ottocento, Torino: Bollati Boringhieri 2010 Di Benedetto, Arnaldo: Fra Germania e Italia. Studi e flashes letterari, Firenze: Olschki 2008 Goethe, Johann Wolfgang: Werke (Weimarer Ausgabe), hrsg im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, Abt IV, Bd 9, München: DTV 1987 Goethe, Johann Wolfgang: «Barthold Georg Niebuhr an Dorothea Hensler, Rom, 7 Februar 1817», in: Karl Richter/ Herbert Göpfert/ Norbert Miller/ Gerhard Sauder/ Edith Zehm (Hrsg .): Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, München: Hanser 2 1992, Bd 15 Italienisch_81.indb 40 02.07.19 14: 05 41 Luigi Reitani Italien, Deutschland, Europa: ein Kulturdreieck Goethe, Johann Wolfgang: Italienische Reise, hrsg von Andreas Beyer/ Norbert Miller/ Christof Thoenes, München, Wien: Hanser 1992 Girardi, Enzo Noè (Hrsg .): Goethe e Manzoni. Rapporti tra Italia e Germania intorno al 1800, Firenze: Olschki 1992 Harmat, Márta/ Lázàr, Emöke: «Goethes Werther und Foscolos Jacopo Ortis », in: Italienisch, 48/ 2002, S 44-50 Matuschek, Stefan: «Romantiker, die keine sind - und umgekehrt Die Pluralität der europäischen Romantiker», in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, 2017, S 127-146 Miller, Norbert: Der Wanderer. Goethe in Italien, München/ Wien: Hanser 2002 Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse, in id .: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg von Giorgio Colli/ Mazzino Montinari, Bd 5, München: DTV 1999 Osterkamp, Ernst: «Der Kulturheiland Raffael in der deutschen Literatur der Goethezeit», in: Thimann, Michael/ Hübner, Christine (Hrsg .): Sterbliche Götter. Raffael und Dürer in der Kunst der deutschen Romantik, Petersberg: Imhof 2015, S 42-61 Osterkamp, Ernst: Im Buchstabenbilde. 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gli euroscettici c’erano anche allora ma si contavano sulla punta delle dita; dell’euro si parlava già ma non si sapeva come fosse fatto; l’economia, pur scricchiolando, sembrava filare a gonfie vele Tanto che si tendeva a non vedere le differenze fra la vecchia Europa che gli italiani avevano idealizzato nel passato e la nuova Europa tecnocratica che si andava costituendo a Bruxelles Oggi, invece, un simile tema in classe, ammesso che ci sia ancora uno sgobbone in grado di svolgerlo, sarebbe scivoloso, non garantirebbe un buon voto e non avrebbe prezzo Nelle condizioni in cui attualmente versa l’Italia non è facile pensare l’Europa e parlare d’Europa Non solo perché sta via via crescendo uno spirito ‘sovranista’ e antieuropeo che contagia anche molti di coloro che un tempo erano europeisti convinti, ma anche perché il discorso sull’Europa non appassiona più Nonostante che di fronte ai gravi problemi del presente - contrasti internazionali, migrazioni, terrorismo, crisi commerciali e finanziarie - in Italia si continui a ripetere il ritornello che si DOI 10. 23 57/ Ital-2019 - 0 0 0 4 Italienisch_81.indb 42 02.07.19 14: 05 4 3 Massimo Fanfani L’Europa nella Babele italiana tratta di questioni europee da risolvere in comune, si è consapevoli che l’Unione Europea, così com’è congegnata, non fornirà le risposte agognate e che non si potrà contare nemmeno sull’aiuto di quegli Stati che un tempo si sentivano più fraternamente vicini Così verso l’Europa va crescendo uno sconfortante disamore, come se un sogno a lungo accarezzato si fosse infranto prima di poter aprire gli occhi: ciò che si era immaginato va svanendo davanti a istituzioni politicoburocratiche sempre più distanti Tanto che quella che un tempo era detta la ‘casa comune europea’ (un’espressione finita purtroppo nel dimenticatoio), per molti è diventata una ‘gabbia’ senza via d’uscita Ma la difficoltà italiana di pensare all’Europa non nasce solo perché il quadro dell’Unione Europea si è fatto più oscuro e problematico con il troppo rapido allargamento a nuovi membri, una costituzione rimasta in sospeso, un apparato di disposizioni sempre più stringenti, una crisi economica che ha messo in ginocchio i più deboli, la fuoriuscita del Regno Unito, la riemersione di interessi localistici, lo sfilacciarsi dell’originaria spinta ideale Nasce anzitutto perché è l’Italia a ritrovarsi disorientata e senza bussola al suo interno, in una realtà che è burrascosa ed enigmatica: l’Europa è un problema, perché è l’Italia a essere un problema a sé stessa e a non riconoscersi più Una nazione sempre più fragile e incerta, quella italiana, che non sa fare i conti con la storia e guardare senza infingimenti alle sue responsabilità presenti; che non si fonda su una libera e coesa comunità di cittadini, ma su un coacervo di fazioni e corporazioni contrapposte, incapaci di collaborare fra loro e di dialogare in concordia con le altre nazioni La questione è complessa e richiederebbe un attento esame delle cause e dei vari aspetti che entrano in gioco prima di formulare un giudizio Tuttavia la consapevolezza di tale complessità non deve precludere delle pur circoscritte riflessioni preliminari Nella grossa e arruffata matassa qualche gugliata ognuno è in grado di dipanarla secondo le sue competenze, qualche ipotesi può esser formulata, qualche segno si riesce a coglierlo per capire dove la via si è interrotta . * Qui mi limiterò ad accennare a certi risvolti linguistici di questa particolare fase della vicenda italiana in rapporto con la realtà europea, cercando di mostrare come una lingua nazionale risponda alle sfide e agli stimoli che giungono dalla comunità plurilingue di cui fa parte La lingua, del resto, è sempre inestricabilmente legata alle vicende politico-sociali e alla storia degli uomini Lo si vede appunto in quest’ultimo ventennio così denso di fatti che hanno toccato nel vivo anche gli italiani, i quali, fra le altre cose, si sono Italienisch_81.indb 43 02.07.19 14: 05 4 4 L’Europa nella Babele italiana Massimo Fanfani trovati a sperimentare una nuova ‘Babele’ linguistica, originata sia dal processo di unificazione europea, sia da quella ‘tempesta delle lingue’ che accompagna la globalizzazione Per la verità una certa ‘Babele’ c’era sempre stata in Italia Basti pensare ai tanti dialetti che in passato avevano pur avuto una loro funzione negli usi civili e letterari e permangono tuttora vitali in vaste aree del Paese O alle lingue minoritarie di antico insediamento (il francoprovenzale in Valle d’Aosta, il tedesco e il ladino nell’Alto Adige, lo sloveno al confine orientale, il catalano ad Alghero, ecc .) A un secolo e mezzo dall’Unità d’Italia, non si può tuttavia negare che la lingua comune si sia ormai saldamente radicata nell’uso Di conseguenza si potrebbe guardare con serenità anche all’attuale ‘Babele’ E invece la si teme come una ferale minaccia Da una parte si crede che l’italiano sia sotto scacco e, addirittura, in pericolo di soccombere per le più diverse cause, a cominciare da una sconsiderata apertura alle influenze straniere; dall’altra si ha l’impressione che gli italiani parlino e scrivano male, non riuscendo più a maneggiare correttamente quella lingua comune che li aveva affratellati da secoli E mentre ci si preoccupa molto della ‘salvaguardia’ della lingua (come fosse in via di estinzione), si ha sempre meno coraggio di usarla in modo franco e libero per ragionare di cose serie e importanti, per comprendere i pensieri e agli affetti degli altri, per affermare idee veritiere Non basta ‘salvare’ la lingua, se poi la si spreca per confondere e confondersi nel chiacchiericcio, per ripetere menzogne o mezze verità, per ingannare o denigrare L’attuale babelica confusione riguarda anzitutto, com’è naturale, la parte della lingua più facilmente riplasmabile e impressionabile, ovvero la polpa della semantica e la crosta esterna delle parole Parole e significati che, se del caso, si possono censurare, rivedere, sparigliare, ricreare, talora in modo subdolo e prevaricatorio È questo il settore su cui interveniva il solerte occhio inquisitore del Grande Fratello orwelliano, come oggi intervengono, nei gangli del sistema comunicativo, i tentacoli del potente censore collettivo, pronti a soffocare ciò che non è opportuno o è politicamente scorretto Ma certi sommovimenti finiscono per toccare anche il meccanismo più profondo della lingua, quello che è il suo nocciolo duro, la fonetica e la morfologia: un settore ancor più sfuggente per il parlante comune Qui mi soffermerò su un piccolo caso morfologico in qualche modo legato ai contraccolpi che l’unificazione europea ha avuto sull’italiano Si tratta di un episodio avvenuto anch’esso una ventina d’anni fa, quando si decise d’introdurre la moneta unica, l’‘euro’ Per comprenderne la portata, conviene tuttavia fare un passo indietro Italienisch_81.indb 44 02.07.19 14: 05 4 5 Massimo Fanfani L’Europa nella Babele italiana Fin da quando si cominciò a parlare di unificazione europea - già nel secolo XIX e poi fra le due guerre e soprattutto nel secondo dopoguerra - si prefigurò anche una possibile integrazione fra le lingue d’Europa Si arrivò fino a immaginare che l’unità politica dell’Europa, con il tempo, avrebbe portato alla fusione dei vari idiomi in un’unica lingua Ora è indubbio che sia in atto un processo di convergenza fra le lingue d’Europa, processo già avviato del resto nei secoli passati Addirittura, quando la sponda delle lingue europee a livello colto era il latino (per la religione, il diritto, le scienze, l’insegnamento), tale convergenza ebbe effetti significativi Ma pur avvicinandosi fra loro, le lingue europee non si sono mai fuse insieme, mantenendo invece una loro ben distinta individualità, in particolare per quel che riguarda le strutture fonetiche e morfologiche Se, ad esempio, il latino contribuì a creare dei sistemi terminologici univoci, quando un latinismo penetrava in una lingua moderna, si adattava sempre a quelle sue strutture fono-morfologiche Veniamo così al nostro caso Nel gennaio 2002 fu messa in circolazione la nuova moneta europea, ma della cosa, com’è noto, si parlava da tempo e il nome euro era stato già proposto nel 1995 dal ministro tedesco delle finanze Theo Waigel Quel nome così semplice e icastico andava bene per le diverse lingue, ma sorse subito la questione del plurale, perché ciascuna aveva un diverso modo di formarlo, pur partendo da un singolare, euro, identico per tutte Così, mentre sulle banconote fu deciso di stampare il nome invariato (in caratteri latini e greci), la Commissione europea per gli Affari economici emanò nel 1998 una raccomandazione per regolarizzare il plurale nelle varie lingue: per alcune si ammetteva il plurale che esse normalmente prevedevano, per altre (e fra queste l’italiana) si prescriveva l’invariabilità del nome della moneta Dappertutto, nonostante tali raccomandazioni ufficiali, non si ebbero scrupoli nell’adottare nell’uso i plurali normali (e così in Spagna si dice ‘los euros’, in Germania ‘die Euros’, in Francia ‘les euros’, ecc .) Solo in Italia le disposizioni della Commissione europea furono prese alla lettera, lasciando invariata la parola anche se si sarebbe dovuto dire gli euri, come si dice dollari, franchi, rubli Com’è potuta avvenire una simile forzatura? Prima dell’introduzione della nuova moneta, a preoccuparsi in Italia del suo plurale erano solo politici e funzionari che avevano sposato la linea dell’invariabilità raccomandata dalla Commissione europea: un plurale invariato e unico per tutte le lingue avrebbe ribadito il sentimento di coesione europea e la forza unificante della nuova moneta E in Italia, allora, si teneva molto alla coesione monetaria rappresentata dall’euro, nel quale si riponevano grandi speranze Tuttavia l’invariabilità contrastava con l’uso comune: come i maschili che terminano Italienisch_81.indb 45 02.07.19 14: 05 4 6 L’Europa nella Babele italiana Massimo Fanfani in -o hanno un plurale in -i, anche quello di euro sarebbe dovuto essere euri Avvisaglie della tendenza a declinare la parola al plurale non mancarono, ma si preferì non prenderle in considerazione, quasi fossero manifestazioni di antieuropeismo Va poi aggiunto che uno dei maggiori sostenitori dell’invariabilità della parola euro, Carlo Azeglio Ciampi, non solo era stato insieme a Romano Prodi un fautore della moneta unica, ma dopo esser stato Capo del governo e Ministro del Tesoro, era allora Presidente della Repubblica E pareva irriguardoso contraddirlo Così, quando la moneta stava per entrare in circolazione, la massima autorità linguistica del Paese, l’Accademia della Crusca, che fino a quel momento aveva sospeso prudentemente il giudizio, si espresse con decisione a favore dell’invariabilità, gettando la sua spada sul piatto vincente In questo modo l’Italia - o, per esser precisi, l’élite politico-economica italiana - si dimostrò ultraeuropeista, pur a prezzo di una forzatura della grammatica e del sentimento linguistico popolare Forse anche per questa scelta la gente comune non accolse con gran simpatia l’euro che, nonostante i suoi indubbi vantaggi, continua ad esser poco familiare, tanto che si continuano a sentire oscillazioni nel plurale . * Ma vediamo qualche altro aspetto dell’attuale situazione linguistica Abbiamo accennato al timore di molti per le influenze alloglotte che minaccerebbero l’italiano E nel mondo globalizzato di oggi la minaccia che appare più grossa è quella dell’angloamericano In effetti la valanga di anglicismi è massiccia e inarrestabile e le prese di posizione per arginare il fenomeno sono all’ordine del giorno, mentre la lingua inglese è sempre più pervasiva anche in Italia Così il fronte difensivo non riguarda solo il contrasto nei confronti dei tanti prestiti angloamericani che entrano di continuo in circolazione, ma anche il presidio dei varchi in cui s’insinua l’uso della lingua inglese A questo proposito va detto che in molte università italiane, in modo analogo a quanto avviene all’estero, interi corsi di studio in discipline tecnico-scientifiche o economico-sociali sono tenuti in inglese E anche nelle scuole secondarie il Ministero della pubblica istruzione ha introdotto l’insegnamento in inglese di discipline come la matematica, le scienze, la geografia, la storia, ecc ., con un’iniziativa denominata CLIL (Content and Language Integrated Learning) Anche le pubblicazioni scientifiche sono ormai redatte prevalentemente in inglese, una lingua che del resto continua ad essere la principale ‘lingua di lavoro’ presso le istituzioni europee, anche adesso che la Gran Bretagna non farà più parte dell’Unione Italienisch_81.indb 46 02.07.19 14: 05 47 Massimo Fanfani L’Europa nella Babele italiana Questa situazione, com’è comprensibile, preoccupa e disorienta molti E dispiace che l’Italia, come la gran parte dei Paesi europei, nonostante i proclami favorevoli al plurilinguismo, abbia ripiegato sull’inglese in settori rilevanti della cultura scientifica e dell’insegnamento superiore Ma va considerato che ciò non comporta necessariamente un danno per la lingua comune e tantomeno la sua scomparsa Nella millenaria evoluzione della civiltà europea c’è sempre stato libero gioco fra lingue e culture diverse che sono state capaci di confrontarsi, di arricchirsi mutuamente, di crescere insieme Talora, nelle varie epoche, l’una poteva eccellere sulle altre, per poi cedere il posto Anche da questo scambio ininterrotto si è formata l’amalgama della cultura europea, mentre ogni singola lingua è venuta acquistando dei tratti comuni, pur mantenendo il suo inconfondibile volto Di conseguenza non si dovrebbero temere esiti catastrofici dall’attuale influenza dell’inglese, ma semmai trarne stimolo per rafforzare la lingua materna, affinandola e adattandola alle esigenze della contemporaneità Le battaglie puristiche o postpuristiche contro l’inglese nelle università o all’interno dei palazzi dell’Unione Europea forse sul momento qualche risultato lo ottengono, ma sono quasi sempre vittorie di Pirro, perché non si può contrastare una delle primarie necessità della comunicazione e della vita culturale Sempre, fin dall’antichità, c’è stata qualche lingua che ha fatto da ponte, che ha facilitato la trasmissione del sapere e i traffici commerciali Nel Medioevo e nell’età moderna ci si servì del latino; dal secolo XVIII la lingua della diplomazia e della cultura fu il francese; nei porti del mediterraneo si parlò a lungo una lingua franca basata sull’italiano; fra l’Otto e il Novecento per studiare certe discipline, dalla storia dell’arte alla chimica, occorreva sapere il tedesco Oggi ci serve soprattutto l’inglese e domani potrà essere un’altra lingua: dipenderà non dalle nostre piccole battaglie ma da ciò che la storia vorrà riservarci . * Un altro problema di un certo rilievo, specie in prospettiva futura, è costituito dalle comunità di immigrati di varia provenienza che, giunti in percentuali crescenti nell’ultimo ventennio, non sono linguisticamente integrati o lo sono in modo imperfetto Mentre gli alloglotti ‘storici’ (due milioni e mezzo su circa sessanta milioni di abitanti), sono concentrati in zone circoscritte e sono bilingui, gli alloglotti di nuova immigrazione sono una quantità ragguardevole (ormai più dell’8% della popolazione), si trovano distribuiti in modo disomogeneo sul territorio e nelle aree urbane, e le loro lingue materne sono le più diverse Il fenomeno della nuova immigrazione è avvenuto in modo così improvviso e intenso che le iniziative per un’adeguata acculturazione linguistica sono state tardive e insufficienti Così, se la scuola Italienisch_81.indb 47 02.07.19 14: 05 4 8 L’Europa nella Babele italiana Massimo Fanfani ha cercato in qualche modo di supplire a tale carenza, quale sarà l’apporto delle lingue dei nuovi cittadini di provenienza extraeuropea all’italiano di domani resta una questione densa d’incognite Anche il terreno delle minoranze linguistiche e degli idiomi dialettali oggi si è fatto accidentato e fa emergere di continuo rivendicazioni identitarie e localistiche È di questi mesi un pronunciamento dei politici altoatesini per la cancellazione delle denominazioni toponomastiche italianizzate dopo la Grande Guerra; mentre nel 2016 il Consiglio regionale della Lombardia ha approvato una legge per la «Salvaguardia della lingua lombarda», volendo così assegnare al dialetto il rango di lingua Simili pretese a favore delle lingue di minoranza e di alcuni dialetti si sono infittite anche in seguito a una serie di disposizioni legislative a tutela delle minoranze linguistiche, a partire dalla legge 482 del 1999 D’altra parte tali disposizioni legislative, e le conseguenti prese di posizione localistiche, si appoggiano su ciò che era stato tratteggiato dalla Carta europea delle lingue regionali o minoritarie approvata nel 1992 dal Consiglio d’Europa Che uno Stato, o una comunità di Stati, consideri con particolare riguardo e sostenga le lingue minoritarie in un contesto plurilingue è certamente nobile e meritorio Tuttavia queste disposizioni, calate anch’esse dall’alto delle istituzioni europee, alla fine hanno creato in Italia una serie di problemi aggiuntivi Innanzitutto non sempre è facile identificare quali varietà minoritarie siano oggetto di tutela e quali no; come non sempre può essere accettato il criterio dell’autoidentificazione E poi c’è il rischio di omologare varietà linguistiche di diverso tipo che non possono esser messe sullo stesso piano, o di creare entità arbitrarie, come la ‘lingua lombarda’ in una regione dove invece si parlano diversi dialetti locali Un altro punto critico dell’attuale Babele è costituito dal riverberarsi sulla lingua di questioni ideologiche, come quella del ‘politicamente corretto’ o quella delle motivazioni di genere Basti considerare il settore delle innovazioni morfo-lessicali legate ai nomi delle professioni femminili che si è trasformato in un campo minato Da una parte si scarta la funzione indistinta del maschile come genere non marcato; dall’altra si rinuncia a impiegare i suffissi femminili tradizionali perché sentiti troppo antiquati o troppo ironici per le nuove professioni E si discute perfino sull’impiego della desinenza -a, tipica dei sostantivi femminili, con indicazioni altalenanti e che non fanno intravedere alcun auspicabile assestamento * Gli aspetti della Babele italiana a cui si è fatto cenno, per quanto problematici, non devono tuttavia sconcertarci Il momento che stiamo attraversando Italienisch_81.indb 48 02.07.19 14: 05 4 9 Massimo Fanfani L’Europa nella Babele italiana è certo difficile e l’italiano sembra in balia di tendenze contrapposte e senza un chiaro orientamento Per di più i nuovi modelli sono veicolati da mezzi e tecnologie di comunicazione sociale che velocizzano e moltiplicano le tendenze innovative Le difficoltà del presente possono però apparirci in una luce diversa, se ripensiamo al carattere dell’Europa e alla sua storia: una storia di cui anche quella italiana è parte L’Europa, infatti, è un continente del tutto speciale che si regge quasi solo sulla sua storia e sulle sue tradizioni di libertà e di amore per la varietà Non da un territorio geograficamente definito e compatto nasce l’Europa, ma dalla mente dei greci che le dettero il nome e ne idearono un’origine mitologica; e finché i greci si espansero essa si allargò alle coste del Mediterraneo a Est e a Ovest I romani proseguirono l’opera dei greci e pur dando concretezza di Stato a quella che per i greci era solo qualcosa di mitico e ideale, lasciarono libertà ai vari popoli e non soffocarono le loro lingue e le loro culture Tant’è che quando cadde il loro impero, le diverse lingue poterono svilupparsi, differenziandosi l’una dall’altra È vero che la libera dialettica delle lingue europee più di una volta ha subito battute d’arresto, ma mai è venuta meno, come non verrà meno nel futuro, almeno finché gli europei si ricorderanno chi sono e quali sono i legami e i conflitti che li uniscono Lo aveva ben intuito, giusto cento anni fa, nel momento più buio della Prima guerra mondiale, quando sembrava che la civiltà e l’intera Europa venisse meno, uno scrittore sensibile ai rivolgimenti della storia, Stefan Zweig, che ebbe la giusta intuizione di intendere la vicenda della Torre di Babele non come una maledizione divina, ma come un ostacolo risolutivo che tuttavia era stato trasformato in una provvidenziale opportunità dagli europei: «un monumento alla fratellanza e alla solidarietà» in cui era confluito quanto di buono lo spirito umano e le diverse lingue avevano realizzato nei secoli Ed ecco che inattesa e improvvisa la terribile guerra fratricida aveva fatto crollare quel monumento ideale all’unità spirituale europea, come veniva crollando l’Impero austro-ungarico, anch’esso una ‘Torre’ di lingue e culture che fino a quel momento avevano potuto convivere in armonia e reciproca tolleranza La prospettiva che allora additava lo scrittore austriaco può essere la stessa anche per noi: pur nelle difficoltà del presente, non dobbiamo perderci d’animo Mai abbandonare il proprio settore nell’edificazione di una più grande torre, mai dimenticare la propria particolare famiglia, il proprio sapere, la propria lingua! Se tutti insieme opereremo con l’ardore con cui fu creata l’Europa di ieri, potremo ancora realizzare qualcosa di nobile e ammirevole, dove uomini di nazioni diverse si sentiranno liberi e fratelli, a casa loro In particolare è auspicabile che in questo processo di rinascita europea - rinascita di un’Europa di persone e popoli distinti, di un’Europa memore Italienisch_81.indb 49 02.07.19 14: 05 50 L’Europa nella Babele italiana Massimo Fanfani della sua anima antica - anche l’Italia dalle tante lingue ritrovi il coraggio e la speranza Abstract. Der vor 20 Jahren noch existierende europäische Enthusiasmus ist heute nicht mehr zu beobachten, wofür eine Reihe von Faktoren (ökonomische, bürokratische, politische) verantwortlich gemacht werden können Dieser Artikel beschäftigt sich primär mit den linguistischen Folgen einer Nationalsprache und den Auswirkungen eines mehrsprachigen Umfeldes wie jenem der EU Eine gewisse «Babele italiana» gab es bereits mit den diversen Dialekten, was auch in den anderen Minderheitensprachen der Randgebiete der Republik deutlich wird Durch digitalisierte Inhalte angewandte Zensur bedroht die Integrität der Sprache; dies betrifft besonders die beiden Kerngebiete Phonologie und Morphologie Anhand dreier Problemfelder soll dies exemplifiziert werden: Erstens die Währungsbezeichnung So heißt es im Italienischen im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Sprachen euro im Plural, obwohl es eigentlich gli euri heißen müsste Zweitens: Der zunehmende Gebrauch des Englischen, der die italienische Sprache aus der Wissenskultur (Fachzeitschriften) und dem Bildungssektor (Unterricht) verdrängt Drittens: Die Migrationsbewegungen, deren sprachliche Integration zu spät und insuffizient einsetzte Die Vielfalt der europäischen Gemeinschaft sollte ihre Stärke sein und damit auch zur Bewahrung der Nationalsprachen befähigen Summary These days, we do not observe the enthusiasm for Europe that existed 20 years ago for various reasons (economical, bureaucratic, and political ones) This article deals primarily with the linguistic consequences of a national language and the effects of a plurilinguistic context such as the EU presents There has always been a certain «Italian Babel» because of the various dialects, also in the case of other minority languages at the margins of the Italian Republic Censorship by way of digitalised contents is threatening the integrity of language, especially in the major fields of phonology and morphology This phenomenon is exemplified with three issues: First, the name of the European money In Italian, as opposed to many other European languages, the plural of euro is euro, although it should really be gli euri Second: the more frequent use of English, which displaces the Italian language from the culture of knowledge (Scientific Journals) and education (special fields of study) Third: the linguistic integration of the movements of migration has been started too late and insufficiently The variety of the European Union should be its force and support the stability of the national languages Italienisch_81.indb 50 02.07.19 14: 05 51 B A R B A R A K U H N «La nostra casa la portiamo con noi»: zum Widerstreit von Diaspora und Heterotopie in Madre piccola von Cristina Ali Farah und La mia casa è dove sono von Igiaba Scego Die Frage, wie Italien Europa denkt, macht sich in den letzten Jahren und in zahlreichen Gesprächen immer wieder an der komplementären Frage fest, wie sich das restliche Europa Italien gegenüber verhält - insbesondere im Blick auf das sogenannte Dublin-Abkommen und seit in den europäischen Ländern und vor allem, aufgrund seiner Lage am Mittelmeer, in Italien vermehrt Menschen aus anderen Kontinenten ankommen Bei nicht wenigen Europäerinnen und Europäern lösen solche Migrationsbewegungen geradezu Identitätskrisen aus, in denen oft unreflektiert wirkende, gelegentlich gar an Zeiten des Kolonialismus erinnernde Vorstellungen eines vermeintlich einheitlich christlichen Abendlands evoziert werden, das es zu bewahren gelte Gleichzeitig werden eben jene Zeiten des Kolonialismus, in denen sowohl europäischer Reichtum als auch europäische Verantwortung für viel Armut andernorts wurzeln, gern aus den Beschwörungen des abgeschlossen zu erhaltenden Europa ausgeblendet: Das gilt in Teilen ähnlich für das Denken Europas in Deutschland wie in Italien Auch Italien besitzt bekanntlich eine zwar relativ spät beginnende, aber dennoch einschneidende und bis in die Gegenwart wirkende kolonialistische Vergangenheit, die gern vergessen oder gar beschönigt wird, wie Scego in dem gemeinsam mit Rino Bianchi veröffentlichten Band Roma negata berichtet, 1 so dass die Frage, ‘wie Italien Europa denkt’, auch in dieser Hin- 1 Bis in die Gegenwart werde sie mit dem Schweigen einerseits, mit dem Mythos der «Italiani brava gente» andererseits konfrontiert, selbst beim Warten an einer Bushaltestelle, als eine «signora marchigiana» ihr ihre Version der Kolonial- und Postkolonialgeschichte Somalias und Italiens darlegt, gemäß der die Italiener ebenso als Heilsbringer präsentiert werden wie die Somalier als unfähig, all das von diesen empfangene Gute zu bewahren: vgl Bianchi/ Scego: Roma negata 2014, u .a S 19 f Der Text des Buches ist von Scego verfasst, die Photographien stammen von Bianchi Vgl in diesem Kontext auch in Scegos Text La mia casa è dove sono das Eingeständnis der Ich-Erzählerin, die sich vor anderen Diaspora-Somaliern dafür rechtfertigen muss, ausgerechnet in Italien zu leben: «Però su un cosa avevano ragione: l’Italia si era dimenticata del suo passato coloniale Aveva dimenticato di aver fatto subire l’inferno a somali, eritrei, libici ed etiopi Aveva cancellato quella storia con un facile colpo di spugna Questo non significa che gli italiani siano stati peggio di altri popoli colonizzatori Ma erano come gli altri […] Hanno fatto come gli inglesi, i francesi, i belgi, i tedeschi, gli americani, gli spagnoli, i portoghesi Ma in molti di questi paesi dopo la fine della Seconda guerra mondiale c’è stata una discussione, ci si è accapigliati, gli scambi di vedute sono stati DOI 10. 23 57/ Ital-2019 - 0 0 0 5 Italienisch_81.indb 51 02.07.19 14: 05 52 «La nostra casa la portiamo con noi» Barbara Kuhn sicht differenziert werden muss: «Come l’Italia pensa l’Europa» hängt durchaus auch von der jeweiligen persönlichen Situation und der individuellen wie kollektiven Geschichte der Italienerinnen und Italiener ab Entsprechend soll im vorliegenden Beitrag der Versuch unternommen werden, den Blicken derjenigen zu folgen, die von anderswo nach Europa und speziell nach Italien gekommen sind: von Somalia im konkreten Fall - eben als einer ehemaligen italienischen Kolonie Dabei ist die eine der beiden Autorinnen, um deren Texte es im Folgenden gehen soll, Igiaba Scego, bereits in Italien aufgewachsen und hat immer dort gelebt, da bereits die Eltern nach Italien geflohen waren, während die andere, Cristina Ali Farah, zwar ebenfalls in Italien geboren wurde, aber von ihrem 3 bis zu ihrem 18 .- Lebensjahr in Mogadischu lebte, bevor sie sich nach einigen Jahren diasporischen Lebens in Rom niederließ, wo sie, ebenso wie Scego, heute lebt Beide Texte zeigen die andere Perspektive dieser Italienerinnen zum einen auf eine ‘Festung Europa’, wie es in Madre piccola heißt, zu der sie selbst und ihre Geschichten nie ganz gehören, auch wenn sie hier geboren sind, und zum anderen auf ein Italien als Beispiel für Europa, in dem so viele Somalierinnen und Somalier in der Diaspora leben, mit anderen Worten, als ein Beispiel für eine einstige Kolonialmacht, die diese Geschichte Europas bis in die Gegenwart oft verleugnet oder zumindest banalisiert und marginalisiert, wie gerade Somalia eindringlich vor Augen stellt Bis heute leidet das Land unter Bürgerkrieg und islamistischer Bedrohung, und die dortigen Lebensumstände bewirken, dass mehr Somalierinnen und Somalier in der Diaspora als in ihrem eigenen Land leben und dass sie trotz all der Gefahren, die die Flucht mit sich bringt, und trotz des Wissens um die Gewaltverbrechen, denen insbesondere Frauen auf der Flucht ausgesetzt sind, diese dem Leben im eigenen Land mit seinen noch größeren Gefährdungen für Leib und Seele vorziehen Die Geschichte der einstigen (unter anderem) italienischen Kolonie hat Konsequenzen nicht zuletzt für die italienische Gegenwart, die damit zugleich paradigmatisch für die Gegenwart in vielen Ländern Europas steht, denn in einem gemeinsam bewohnten ‘diasporischen Raum’ steht nicht nur die Identität jener, die migrieren, auf dem Spiel, wie es im Klappentext eines der im Folgenden näher betrachteten Romane heißt: «L’identità in gioco non è solo quella di chi migra» . 2 Vielmehr werfen gerade Metropolen wie Rom, in denen Menaspri e impetuosi […] In Italia invece silenzio Come se nulla fosse stato .» Scego: La mia casa 2012, S 20 Die Seitenzahlen werden in der Folge mit der Sigle Lmc unmittelbar nach den Zitaten angegeben und beziehen sich auf diese zweite, mit umfangreichem Zusatzmaterial ausgestattete Ausgabe (vgl die «Intrecci di lettura Materiali e suggerimenti», Lmc 165-252) 2 Ali Farah: Madre piccola 2007, Nota editoria Die Seitenzahlen werden in der Folge Italienisch_81.indb 52 02.07.19 14: 05 53 Barbara Kuhn «La nostra casa la portiamo con noi» schen unterschiedlichster Herkunft zusammentreffen, die Frage auf, wie «Europa» in dieser Situation gedacht werden kann oder gedacht wird: Exemplarisch macht dies schon der Titel eines 2006 erschienenen Romans des italienisch schreibenden Algeriers Amara Lakhous 3 deutlich, der - zehn Jahre nach Samuel Huntingtons Buch und seiner berühmt gewordenen Formel - ironisch auf den «clash of civilizations» in einem Mehrfamilienhaus an der römischen Piazza Vittorio anspielt: Scontro di civiltà per un ascensore a Piazza Vittorio, und in der Tat firmiert die englische Übersetzung des Buches, das zahlreiche Varianten eines solchen ‘Zusammenpralls’ erzählt, unter dem Titel: Clash of Civilizations Over an Elevator in Piazza Vittorio Im Folgenden stehen hingegen Texte zweier Autorinnen im Fokus, die beide in Italien geboren wurden, jedoch ein oder zwei somalische Elternteile haben: Cristina Ali Farah, die eine italienische Mutter und einen somalischen Vater hat, wurde 1973 in Verona geboren, aber von 1976 bis 1991 war Mogadischu ihre Heimat, bis sie das Land des Bürgerkriegs wegen verlassen musste Inzwischen lebt sie in Rom, ebenso wie die 1974 geborene Igiaba Scego, deren Eltern beide Somalier sind Sie waren bereits vor der Geburt der Tochter wegen der - nach der am 1 .-Juli 1960 erklärten Unabhängigkeit Somalias entstandenen - Diktatur aus ihrem Land nach Italien geflohen: in der Hoffnung und der Annahme, nach dem Ende der Diktatur zurückkehren zu können Beide Autorinnen zählen mithin zu jener somalischen Diaspora, mit der Sigle Mp unmittelbar nach den Zitaten angegeben Zum Konzept des «diaspora space» im Unterschied zur Diaspora selbst vgl Brah: Cartographies 1996, S 208 f .: «Diaspora space is the point at which boundaries of inclusion and exclusion, of belonging and otherness, of ‘us’ and ‘them’, are contested My argument is that diaspora space as a conceptual category is ‘inhabited’, not only by those who have migrated and their descendants, but equally by those who are constructed and represented as indigenous In other words, the concept of diaspora space (as opposed to that of diaspora) includes the entanglement, the intertwining of the genealogies of dispersion with those of ‘staying put’» Brah: Cartographies 1996, S 208 f Komplementär zu dieser Unterscheidung von «diaspora» und «diaspora space» vgl ferner die gleichermaßen konstitutive von «home» und «homeland» bzw Migration und Diaspora, die mit der weiter unten analysierten Kategorie der «casa» in ihren unterschiedlichen Bedeutungen korreliert: «what constitutes a diaspora, in opposition to any other community marked by dispersion, such as for example transnational or migrant communities, is the shift operated by distinguishing the homeland from the home In second, or most generally third generation migrants, the process of diasporization occurs when the transnational communities of migrants are no longer bound to the homeland primarily by a firsthand account experience of displacement, but rather by a generational distance to it […]; durable diasporas correspond to the moment when ‘home [becomes] the country of residence while the land of origin is only recognized as the land of ancestors’ [Khachig Tölölyan]» Chatta: Mutations 2015, S 53 f Zur wechselseitigen Veränderung beider Identitäten bzw Kulturen vgl Lavagno: Kreolisierung 2015, S 230-232 3 Lakhous: Scontro di civiltà 2006 Italienisch_81.indb 53 02.07.19 14: 05 5 4 «La nostra casa la portiamo con noi» Barbara Kuhn die über die ganze Welt verstreut lebt 4 und die sie mit ihren jeweiligen Figuren und deren fiktiven Leben auch in ihren Texten anschaulich werden lassen Im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen der 2007 erschienene erste Roman von Ali Farah, Madre piccola, der 2008 mit dem Premio Elio Vittorini ausgezeichnet wurde, und der ebenfalls preisgekrönte 5 Text La mia casa è dove sono von Scego aus dem Jahr 2010, der als der vierte Roman der Autorin bezeichnet wird, aber auch stark autobiographische Züge trägt, zumal die Figur in dem in erster Person erzählten Text von sich selbst als Igiaba Scego und als Schriftstellerin spricht . 6 Das Konzept der Diaspora hat sich in den vergangenen Jahren als überaus hilfreich, aber zugleich als ungenügend erwiesen, um die komplexen Realitäten zu fassen und zu erfassen, die aus den unterschiedlichen Migrationsbewegungen und aus der Begegnung disparater Kulturen entstehen Auch in den genannten Texten prägt zwar das ‘diasporische Leben’ den Alltag der Figuren entscheidend, aber zugleich sind diverse Phänomene einer ‘Heterotopisierung’ zu beobachten, so dass sich Zerstreuung und Abschließung 7 in einem Widerstreit zu befinden scheinen Die hier mit Hilfe dieser literarischen Texte eingegangene Wette besteht folglich darin, das allzuoft pauschal eingesetzte Konzept, wie im Titel des Beitrags angekündigt, zu nuancieren, indem es mit dem Begriff der Heterotopie kombiniert wird, der dem Diaspora-Gedanken auf den ersten Blick sogar entgegengesetzt zu sein scheint Gemeinsam ist beiden Konzepten hingegen der Umstand, dass sie teilweise geradezu inflationär verwendet werden Das Ziel besteht daher nicht darin, gleich zwei gerade en vogue scheinenden Begriffen einmal mehr zu längst nicht mehr erforderlichen Ehren zu verhelfen oder gar sie irgendwelchen Texten überzustülpen; das Ziel liegt vielmehr darin, in diesem Experiment einer zunächst paradox anmutenden Kombination den Spuren der Texte zu folgen, mithin gerade umgekehrt von den Texten selbst auszugehen, 4 Vgl aus der inzwischen sehr umfangreich gewordenen Literatur zum Thema insbesondere die Monographie von Laura Lori, die italienisch- und englischsprachige Texte berücksichtigt: Lori: Inchiostro d’Africa 2013 5 Der Text wurde 2011 mit dem Premio Mondello ausgezeichnet 6 Auf diese Weise wird folglich mit dem Lesepublikum ein autobiographischer Pakt im Sinne Lejeunes geschlossen, so dass auch die Forschungsliteratur den Titel gemäß beider lois du genre betrachtet; zudem wäre die Variante der Autofiktion im Sinne Doubrovskys in Erwägung zu ziehen Wichtiger jedoch als die Rubrizierung scheint die Wahrnehmung des ‘amphibischen’ Charakters und mehr noch, auch wenn das Buch in Italien publiziert wurde, der Verzicht auf die (vermeintlichen) Gattungsgrenzen westeuropäischer Literatur 7 Foucault spricht von einem «système d’ouverture et de fermeture» in allen Heterotopien, «qui, à la fois, les isole et les rend pénétrables» Foucault: Des espaces autres 2001, S 1579 Italienisch_81.indb 54 02.07.19 14: 05 55 Barbara Kuhn «La nostra casa la portiamo con noi» um im Idealfall auf der einen Seite die Begriffe nicht nur zu wiederholen, sondern zu spezifizieren, und auf der anderen Seite das Spiel der Texte samt den von ihnen aufgeworfenen und über sie hinausweisenden Fragen besser zu verstehen und zu beschreiben als ohne diese Begrifflichkeiten: nicht zuletzt die Frage, wie Europa in Italien auch gedacht, imaginiert, modelliert werden kann In diesem Sinn konstituiert sich der Leitfaden der hier vorgeschlagenen Lektüre aus drei in den Texten präsenten Konzepten oder auch Metaphern - sie haben an beidem Anteil -, die alle mit der Modellierung des Raums und mehr noch mit der Relation von Raum und Subjekt aufs engste verknüpft sind: Ausgangspunkt ist (erstens) das Konzept der Diaspora, das sich (zweitens) in den Texten in spezifischer Weise verbindet mit dem der Karte (im Sinn von Landkarte oder Stadtplan, aber auch im Sinn einer - hier nicht nur auf den Raum bezogenen - kognitiven Karte, einer mental map 8 ) Auf dieser doppelten Basis soll (drittens) das metaphorisch-metonymische Bild der «casa», des Hauses, in seinen vielfältigen Facetten ausgelotet werden, das - von Scegos Buchtitel La mia casa è dovo sono an - in beiden Texten, vor allem aber in Ali Farahs Roman in der Rede aller drei Figuren immer wiederkehrt und, wie die Texte zeigen, mit der Diaspora-Erfahrung in Korrelation gesehen werden muss . 9 I Ali Farahs Roman Madre piccola, der sich in neun, von drei unterschiedlichen Figuren in je unterschiedlichen schriftlichen und mündlichen Situationen erzählte Kapitel gliedert, setzt ein mit einem der Hauptfigur, Domenica Axad, zugewiesenen «Preludio», das mit einem im Glossar am Ende des Buches übersetzten Zitat in somalischer Sprache 10 und mit folgenden Worten beginnt: 8 Zu diesem Konzept, das auf individueller wie auf kollektiver Ebene Anwendung findet, und zu seiner Verknüpfung sowohl mit der Erinnerung als auch mit der Zukunft vgl Damir-Geilsdorf/ Hendrich: Orientierungsleistungen 2005, S 25-48, vor allem S 38-42 9 In Anbetracht der Tatsache, dass nicht nur zu Heterotopie und Diaspora, sondern ebenso zu den Konzepten der Kartographie, der «map» und des «mapping» etc wie auch zur Frage des «home», «being at home», «homing» etc eine Fülle von Forschungsliteratur aus unterschiedlichsten Disziplinen vorliegt, sollen die Anmerkungen des Beitrags nicht mit einer möglichst erschöpfenden Bibliographie überlastet werden; es werden nur sehr selektiv die konkret verwendeten Titel angegeben, die ihrerseits in aller Regel zu ihrem je spezifischen Gegenstand weitere Literatur nennen 10 Zur Funktion eines solchen, im Rahmen von «Writing Back» und «Kanonkritik» verorteten «Einblenden[s] unübersetzter Wörter in Texte, die bereits durch ihr Themenfeld von Exil und Diaspora aus dem herkömmlichen europäischen Motivspektrum ausbrechen», cf Bachmann-Medick: Cultural Turns 2010, S 193 f In allen Texten der Italienisch_81.indb 55 02.07.19 14: 05 56 «La nostra casa la portiamo con noi» Barbara Kuhn «Soomaali baan ahay, come la mia metà che è intera Sono il filo sottile, così sottile che si infila e si tende, prolungandosi Così sottile che non si spezza E il groviglio dei fili si allarga e mostra, chiari e ben stretti, i nodi, pur distanti l’uno dall’altro, che non si sciolgono Sono una traccia in quel groviglio e il mio principio appartiene a quello multiplo .» (Mp 1) Die nach dem Gedichtzitat eingeführte Isotopie des Knäuels, der Knoten und der Fäden kehrt mehrfach im Roman wieder: etwa im Erzählfaden (Mp 20, 54, 223) oder im dichten Gewebe aus Gründen, die zu einer Entscheidung führen (Mp 35), in den Knotenpunkten, an denen viele sich treffen (Mp 112), den zu lösenden Knoten im undurchdringlichen Gewirr der traumatischen Lebensgeschichte (Mp 263) und den zu knüpfenden Knoten, die dem Leben oder den Beziehungen Festigkeit geben (Mp 261), im Knäuel als Metapher für verwickelte Beziehungen (Mp 255) oder für das unentrinnbare beiden Autorinnen, aber insbesondere in Madre piccola, tauchen somalische Wörter oder, wie hier, ganze Zitate auf Das Spektrum der Funktionen ist dabei noch ungleich größer als das von Bachmann-Medick angesprochene, wie nicht nur das Wechselspiel mit den aus dem Italienischen ins Somalische übernommenen Wörtern zeigt - etwa Draddorio (trattoria), Fasoleeti (fazzoletto), Kabushini (cappuccino) und andere Wörter des alltäglichen Lebens, aber auch Bariimo luuliyoo (primo luglio) für den Tag der Unabhängigkeit Somalias -, zu denen Ali Farah im Gespräch mit Daniele Comberiati anmerkt: «ho utilizzato varianti somale di parole italiane, tentando di capovolgere i rapporti interni al binomio lingua-potere» (in: Comberiati: Nodi 2011, S 61) Besonders aussagekräftig in diesem Kontext sind die Zitate, die im «Preludio» aus einem Gedicht von 1977 stammen, im «Interludio» aus der somalischen Nationalhymne und im «Epilogo» aus einem Theaterstück von 1998, mithin in allen drei Fällen aus für die Geschichte Somalias und damit der Figuren des Romans entscheidenden Phasen (vgl das «Glossario», Mp 269-272) Ali Farah macht im erwähnten Gespräch selbst auf diesen Aspekt aufmerksam: «La narrazione […] ruota intorno a tre momenti chiave della storia contemporanea somala: la degenerazione della dittatura di Siad Barre, la guerra civile e la successiva diaspora. […] In tre capitoli del libro […] ho utilizzato testi di canzoni somale famose legati a momenti storici precisi» (ebd ., S 60 f .) Vgl hierzu ferner die «Introduction» von Alessandra Di Maio zur amerikanischen Ausgabe des Romans, in: Ali Farah: Little Mother 2011, S 20 Zur Vielfalt der Formen und Funktionen von Mehrsprachigkeit vgl die sehr umfassende Darstellung von Helmich: Ästhetik der Mehrsprachigkeit 2016, vor allem, auch wenn die hier besprochenen Beispiele nicht in allen Punkten vergleichbar scheinen, die interessante Parallelen bietenden Analysen auf den Seiten 135-151 und 168-178 Nicht zufällig trägt ein Roman Scegos (der nicht nur neben Somalia und Italien andere Weltregionen und deren politisch-gesellschaftliche Situationen ins Spiel bringt, sondern auch andere Sprachen hinzufügt) den Titel Oltre Babilonia (Roma: Donzelli 2008) Doch auch für Madre piccola wäre der Aspekt des Sprachendialogs in einer eigenen Abhandlung zu untersuchen Italienisch_81.indb 56 02.07.19 14: 05 57 Barbara Kuhn «La nostra casa la portiamo con noi» Gedankengewirr (Mp 263) . 11 Hier als Incipit des Romans lässt der «groviglio» sich lesen als Bild für die unüberschaubare Situation des Ich mit seiner gleichsam diasporischen Identität, eines Ich, das sich selbst als Teil eines Fadengewirrs beschreibt, als halb und ganz zugleich, so wie der - hier noch nicht genannte - doppelte Name auf eine doppelte Identität deutet, halb italienisch und halb somalisch, ohne dass eine der Hälften unvollständig wäre Kaum wahrnehmbar ist der einzelne Faden, teils zum Zerreißen gespannt, doch er reißt nicht, weil er Teil des Fadengewirrs mit seinen unauflöslichen Knoten ist, die halten, auch wenn in diesem Gewirr keine Orientierung möglich scheint Beispiele für die in dieser Weise erlebte Diaspora wird der Text in der Folge entfalten, wenn die Figuren von ihrem Dasein an vielerlei Orten, in Amerika, in England, in Italien und anderswo, erzählen, ohne je diese Orte zu erzählen: «Quello che non riesco a fare è descrivere i luoghi» (Mp 112) . 12 In solch sprechendem Schweigen deuten sie bereits auf zentrale Aspekte des diasporischen Daseins, wie sie in den beiden folgenden Teilen mit dem Blick auf «mappa» und «casa» ausgefaltet werden Dank der Vielzahl von Figuren, Stimmen und Episoden einerseits, der fehlenden ‘Verortung’-andererseits wirkt auch für die Leser und Leserinnen des Romans diese somalische Diaspora im Text wie ein unentwirrbares Knäuel aus vielerlei Fäden, Figuren, Orten und Geschichten, in dem sich erst nach und nach, manchmal über große Distanzen hinweg, Knoten und Verbindungslinien zwischen ihnen zu erkennen geben Dann aber wird auch die Realität des Textes, statt nur als jene Vielzahl zusammenhangloser Fragmente, als die sie zunächst erscheint, als - wenngleich schwer zu durchdringender - «groviglio di relazioni» 13 wahrnehmbar Weit weniger bildhaft, vielmehr nahezu explizit entwirft demgegenüber Scegos zwischen Roman und Autobiographie oszillierender Text ebenfalls gleich in seinem ersten Kapitel unter der Überschrift «Il disegno ovvero la terra che non c’è» die Situation einer Familie, die in ihren einzelnen Mit- 11 Für den Hinweis auf die Bedeutung des «groviglio» bei Carlo Emilio Gadda danke ich Gerhard Regn; vgl hierzu insbesondere das Kapitel «Die Realität als unentwirrbarer ‘groviglio di relazioni’», in: List: Pensiero, azione, parola 2017, S 152-155 Mit den vielerlei Erzählfäden spielt freilich bereits der raffinierte Erzähler des Orlando furioso - «varie fila a varie tele | uopo mi son» (II-xx, 5 f .) -, und er inszeniert die Verknotung der Fäden zusätzlich ironisch im Bild des sich am Ende des zehnten Gesangs im Zaumzeug seines geflügelten Pferdes verheddernden Ruggiero (X- cxiv, 1-cxv, 4), der, von seinem Trieb getrieben, sobald ihm gelingt, einen Riemen zu lösen, zwei neue verknotet, wie es im vierten Vers der letzten Strophe heißt: «[…] s’un laccio sciogliea, dui n’annodava» (vgl Ariosto: Orlando furioso 1992, S 35 und 258 f .) 12 Zu diesem Zitat in seinem Kontext vgl den folgenden zweiten Teil, in dem die «mappa» und das «rimappare» im Zentrum stehen 13 Vgl Anm .- 11 Italienisch_81.indb 57 02.07.19 14: 05 5 8 «La nostra casa la portiamo con noi» Barbara Kuhn gliedern das diasporische Leben geradezu inkarniert, und auch hier wird die Außenwelt allein durch die Nennung des Ortsnamens eingeblendet, nicht durch descriptio oder narratio: Das Ich des Textes, Igiaba, befindet sich mit einem Cousin, ihrem Bruder und dessen kleinem Sohn nach dem von der Schwägerin zubereiteten Abendessen in einer Küche in Manchester, wo diese «esiliati dalla propria madre terra» fern von Somalia einander Geschichten erzählen, ‘Erinnerungen an das einstige, das nunmehr ferne, nunmehr verlorene Land’: 14 «Eravamo riuniti intorno a un tavolo di legno Davanti a noi una tazza fumante di tè speziato Intorno a noi i fili di nostri viaggi e delle nostre nuove appartenenze Facevamo parte della stessa famiglia, ma nessuno aveva avuto un percorso comune all’altro In tasca ognuno di noi aveva una diversa cittadinanza occidentale Nel cuore invece avevamo il dolore della stessa perdita Piangevamo la Somalia persa per una guerra che stentavamo a capire Una guerra cominciata nel 1991 e di cui nessuno intravedeva la fine Eravamo un po’ come quelle vecchie barzellette Ci sono un inglese, un italiano, un finlandese e…» (Lmc 16) Wichtig erscheint demnach nicht das konkrete Außen; wichtig sind die «fili di nostri viaggi» und die «percors[i]», die alten Familienbande und die neuen Zugehörigkeiten Alle drei haben ihre Wege und ihre Erfahrungen gemacht, sind in verschiedenen Ländern untergekommen oder wollen sie wieder verlassen, doch, wie im Folgenden ausgeführt wird, nur die Italienerin aus dem (scheinbaren) Witz, die «italiana della barzelletta» (Lmc 19), muss sich für ihre Entscheidung rechtfertigen, wird von anderen Somaliern angegriffen, weil sie im Land der einstigen Kolonisatoren lebe, in jenem Italien, das dennoch, wie sie für sich fortfährt, trotz all seiner Mängel ihr Land ist, so wie auch und zugleich Somalia mit seinen zahlreichen Mängeln ihr Land ist (vgl Lmc 19 f .) In dieser Ausgangskonstellation sind in knapper Form bereits zahlreiche Aspekte der Diaspora-Erfahrung angesprochen: nicht nur das Leben im Exil und die daraus resultierende Gespaltenheit zwischen mindestens zwei unterschiedlichen Welten, sondern auch die Vereinzelung einerseits, die Ver- 14 «Ed è dopo quel pollo che le storie si sono incontrate e abbracciate Con le pancie piene ci lasciammo andare ai ricordi della nostra vecchia terra, ormai lontana, ormai smarrita […] Ed è in questa saudade di esiliati dalla propria madre terra che ha uno dei suoi inizi questa storia» (Lmc 15) Italienisch_81.indb 58 02.07.19 14: 05 59 Barbara Kuhn «La nostra casa la portiamo con noi» netzung 15 und das Wissen um die Gemeinschaft auch über große Entfernungen hinweg andererseits; die Mythisierung des in Geschichten und Erinnerungen vergegenwärtigten, aber gleichwohl der Vergangenheit angehörenden Herkunftsortes, die Trauer um den Verlust, die Ungewissheit einer Rückkehr und die Notwendigkeit, sich anderswo Zugehörigkeiten zu schaffen oder zu erfinden, um in der ‘neuen Welt’, am neuen Ort zu überleben, wie auch die Hauptfigur in Ali Farahs Roman formuliert: «la verità, sebbene triste, è che tutti nei momenti difficili ci inventiamo appartenenze» (Mp 111) Damit entspricht die dargestellte Konstellation jener Minimaldefinition von Diaspora, wie sie beispielsweise Ruth Mayer in ihrer ‘kritischen Begriffsbestimmung’ der dann folgenden ausführlichen, nach Raum und Zeit differenzierenden Darstellung zugrundelegt: Diaspora wird hier verstanden als «eine Gemeinschaft, die sich - durch Vertreibung oder Emigration - von einem ursprünglichen (oder imaginären ursprünglichen) Zentrum an mindestens zwei periphere Orte verteilte Daneben spielt die mythisierende Komponente […] eine wichtige Rolle […] Auch wo keine Utopie einer letztlichen Rückkehr gegeben ist […], zeichnen sich diasporische Gemeinschaften durch die Vorstellung eines gemeinsamen Ursprungs oder eines gemeinsamen Ziels aus .» 16 Wenngleich Igiaba im Unterschied zu Bruder und Cousin, die noch in Mogadischu geboren wurden, erst das Licht der Welt erblickt, als ihre Eltern bereits im italienischen Exil leben, prägt doch auch sie die gemeinsame somalische Herkunft und damit das Leben in Italien als ein Leben in der Diaspora Mehr noch erlebt die italo-somalische Figur Domenica Axad in 15 Vgl Bachmann-Medick: Cultural Turns 2010, S 295 f ., die sich insbesondere auf Arjun Appadurai und dessen Konzept der global ethnoscapes bezieht: vgl Appadurai: Global Ethnoscapes 2000, S 48-65 16 Mayer: Diaspora 2005, S 13 Kläger und Stierstorfer resümieren die aktuelle Debatte und die derzeit gängigen Diaspora-Konzepte in der Einleitung zu ihrem bereits oben genannten Band, in der sie vor allem ein statisch geprägtes Konzept - «a model of victimization that regards members of diaspora groups as uprooted individuals bereft of their identities and ‘oppressed by an alien ruling class’» - einem dynamischen gegenüberstellen, das «no longer focuses on the idea of a return to a concrete geographical place called home […] Engaged in an ongoing process of negotiation, diasporic identities are no longer constituted as subjects of nation states but as powerful agents in various cultural exchanges Thus, the diasporic experience […] is not defined by essence or purity, but by the recognition of a necessary heterogeneity and diversity; by a conception of ‘identity’ which lives with and through, not despite, difference; by hybridity» Kläger/ Stierstorfer: Introduction 2015, S 2 Italienisch_81.indb 59 02.07.19 14: 05 6 0 «La nostra casa la portiamo con noi» Barbara Kuhn Madre piccola diese Situation, weil sie nicht nur teilweise in Italien und teilweise in Somalia lebte, sondern nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs, bevor sie wieder nach Rom zurückkehrt, selbst in zahlreichen Ländern Zuflucht sucht, immer provisorisch und ohne je in einem Fuß zu fassen: weder in den Niederlanden noch in Finnland, weder in den USA noch in Deutschland noch in Großbritannien, wohl wissend, dass sie mit ihrem italienischen Pass in einer privilegierten Situation ist, weil für sie mit ihrem «lasciapassare» oder Passierschein die Festung Europa, die «roccaforte» (Mp 133), offen steht, während andere - nicht zuletzt der Vater ihres Kindes, den sie in Amerika kennenlernt - keine Möglichkeit oder zumindest keine Gewähr haben, dorthin zu kommen Dennoch lebt auch sie im Modus des Provisorischen und zugleich im Wissen, dass dieser Modus längst zu lange währt, um noch als provisorisch bezeichnet werden zu können: «Quanta gente ho incontrato negli anni provvisoria in un paese da molto, troppo tempo per dire provvisoriamente» (Mp 113) In diesem Sinne ist der Begriff der Diaspora keineswegs ausschließlich als räumlicher zu verstehen, sondern als Chronotopos, weil sich mit der Zerstreuung in viele Länder zugleich eine bestimmte Zeitperspektive verknüpft, die den Blick zurück, den Blick in die Zukunft, aber eben auch entscheidend die Gegenwart bestimmt, die Art, in der aus dem auf der Karte verzeichneten Ort ein ‘praktizierter’, ein gelebter Raum wird, um in de Certeaus Kategorien zu sprechen . 17 Gerade aus Somalia, das unter mehreren Kolonialherren gelitten hatte und in dem auf die Unabhängigkeit die Diktatur und auf die Diktatur ein nicht enden wollender Bürgerkrieg der mit aller nur denkbaren Gewalt um die Herrschaft ringenden Clans folgte, flohen und fliehen die Menschen, und die Auswirkungen der traumatischen Erfahrungen prägen noch das Zusammenleben derer, die überall auf der Welt ihre ‘Zugehörigkeiten’ suchen und zu finden hoffen, wie etwa Domenicas Cousine Barni erzählt: Sie wurde, weil der eine Clan dem anderen zu viel angetan habe, sogar noch in Rom von ihrem somalischen Mann angeblich auf Druck von dessen Familie verlassen; ebenfalls in Rom lernt sie eine ihrerseits aus Mogadischu geflüchtete Frau kennen und kann allein aus der Tatsache, dass sie erst zwei Jahre später als sie selbst die Stadt verlassen musste, schließen, dass diese Frau wiederum jenem Clan angehörte, der seinerzeit sie und ihre Angehörigen überfallen und ins Exil getrieben hatte (vgl Mp 166-171) . 18 17 Certeau: L’invention du quotidien 1990, S 172-175 18 In diesem Kontext steht auch die Frage nach den mehrfach im Text evozierten «genealogie», deren so groß gewordene Bedeutung Barni esplizit beklagt und, wie die geschilderten, am eigenen Leib erfahrenen Episoden zeigen, implizit verkörpert: «Gli anziani conoscono a memoria il loro albero genealogico fino alle origini, almeno così dicono Ma […] è una ragione di conflitto radicata nella gente […] A mio parere sono Italienisch_81.indb 60 02.07.19 14: 05 61 Barbara Kuhn «La nostra casa la portiamo con noi» Die Ankunft am neuen Ort bedeutet mithin nicht einfach Befreiung aus der bedrohlichen Situation; die erlebte Geschichte reist mit und prägt die Figuren, selbst wenn ihnen die Flucht gelungen ist und die unmittelbare Kriegs- und Todesgefahr gebannt scheint - anders als bei jenen dreizehn Somaliern, die bei ihrer Überfahrt nach Lampedusa umgekommen waren und auf deren offizielle Trauerfeier im Oktober 2003 beide Texte ebenso eingehen wie auf die Reaktionen auf dieses tragische Ende, das erstmals den Blick vieler Italiener italienischer Herkunft auf die Situation in Somalia lenkte Auch verwandelt sich der auf der Karte verzeichnete Ort nicht unmittelbar und wie von selbst, allein durch die Ankunft und die Anwesenheit, in den praktizierten Raum Vielmehr wird auch hier eine Nuancierung erforderlich, wie wiederum in unterschiedlicher Weise beide Texte exemplarisch vorführen, indem sie mit der Metapher der Karte 19 jonglieren, die es ihrerseits näher zu betrachten gilt . II Wiederum führt Scegos Erzähl-Ich die Karte explizit als ihren Text fundierendes Element ein, insofern in der beschriebenen Situation der Diaspora- Somalier in der Küche in Manchester, aus den erzählten Geschichten und den widersprüchlichen Erinnerungen das Bedürfnis entsteht, gemeinsam eine Karte von Mogadischu zu zeichnen, um die völlig zerstörte Stadt, die tote Stadt zumindest im Gedächtnis und auf dem Papier zu bewahren: «Avevamo bisogno di quel disegno, di quella città di carta per sopravvivere» (Lmc 24) Die Vervollständigung der Karte wird zu einer Art Gesellschaftsspiel von Bruder, Schwester und Cousin; es werden Listen der Namen von Straßen, Kinos, Restaurants, Krankenhäusern und vielem mehr angelegt, die alle ihren Ort und ihre Farben finden, so dass eine «mappa […] bellissima» entsteht, die den kleinen Jungen fragen lässt: «Esiste questa città, mamma? » (Lmc 31) Die Erwachsenen schweigen betreten, weil sie um die vom Krieg zurückgelassenen Trümmer wissen, haben nicht den Mut, dem Kind zu sagen, dass nichts von alledem mehr existiere, bis sich die Mutter der Ich-Erzählerin tutte congetture, le genealogie, gli alberi, le radici» (Mp 14); «sono tutti ossessionati dalle genealogie» (Mp 265) Vgl Mp 121 f .; 163; 166 19 Zu den vielfältigen Bedeutungen und Funktionen der Karte vgl vor allem Mitchell: Cartographic Strategies of Postmodernity 2008 sowie Guglielmi/ Iacoli: Piani sul mondo 2012 In etwas anderer Bedeutung, aber dennoch mit vielfältigen Bezügen zu den hier verhandelten Themen vgl auch: Brah: Cartographies of Diaspora 1996, insbesondere die beiden Kapitel «Re-framing Europe: gendered racisms, ethnicities and nationalisms in contemporary Western Europe» und «Diaspora, border and transnational identities», S 152-210 Italienisch_81.indb 61 02.07.19 14: 05 62 «La nostra casa la portiamo con noi» Barbara Kuhn einmischt und einfach sagt: «Esiste […] Si chiama Mogadiscio» (Lmc 31) Auf die Frage, ob es die Stadt der Tante Igiaba sei, antwortet die Mutter jedoch, die Karte genüge so; in gewisser Weise sei es Igiabas Stadt, in anderer aber sei sie es auch nicht: «Devi completare la mappa Manchi tu lì dentro» (Lmc 33) Erst Monate später versteht die Tochter, die die zunächst unverständlich bleibenden Worte der Mutter in Identitätszweifel gestürzt hatten, und sie nimmt die Karte wieder vor Auf ihr findet sie die Erinnerungen und Geschichten der anderen wieder, sie nimmt die Gerüche der Stadt wahr, auch stellenweise sich selbst - aber eben nur zum Teil Mit Hilfe von bunten Post-it-Zettelchen, auf die sie die Namen römischer Viertel, Plätze, Denkmäler, Gebäude schreibt und die sie rund um ihr papiernes Mogadischu klebt, sowie mit gezeichneten Linien und Figuren, mit Zeitungsausschnitten und Schildern vervollständigt sie die Karte einer imaginären Stadt, die nun wirklich zu ihrer eigenen geworden ist (vgl Lmc 37), insofern sie als eine Art aus Rom und Mogadischu zusammengesetztes Hybrid geradezu die «kulturelle […] Mehrfachzugehörigkeit» 20 der Figur und Erzählerin sinnfällig werden lässt Eben jenen Prozess einer imaginären Ausgestaltung der Karte, einer identitätskonkretisierenden und identitätsstabilisierenden Anverwandlung der Stadt entfaltet der Text erzählenderweise nach diesem einleitenden Teil: Alle weiteren Kapitel sind mit den zuvor genannten Namen wie «Teatro Sistina», «Stazione Termini», «Trastevere» etc überschrieben, und jedes Kapitel beginnt mit einer beinahe an Reiseführer erinnernden Beschreibung der Lokalität in Kursivdruck, die mit dem Element endet, das jeweils auf die Karte gezeichnet wird und das überleitet zur mit dem jeweiligen Ort verbun- 20 Bachmann-Medick: Cultural Turns 2010, S 200 Die Autorin erläutert anhand dieser Vorstellung einer produktiv gemachten mehrfachen Zugehörigkeit, durch die ein traditionell dichotomisches Denken aufgebrochen wird, nicht nur Homi K Bhabhas Konzept der Hybridität, sondern auch die Kritik an dessen Theoriegebäude Auch wenn diese Kritik (vgl ebd ., S 200 f .), die sich in diesem Fall an Bhabha selbst richtet, aber im Grunde implizit zugleich gegenüber den literarischen Texten und deren Autorinnen und Autoren ausgesprochen wird, in mancher Hinsicht plausibel ist, unterschlägt sie doch, dass Autorinnen wie Ali Farah und Scego (und selbstredend Bhabha analog), trotz all des auch ihnen durch die späten Folgen der Kolonialisierung widerfahrenen Leids, (auch) in der italienischen Sprache gleichsam beheimatet sind und es kein ‘Mangel an Authentizität’ o .ä ist, wenn sie zusätzlich zu ihren leidvollen Erfahrungen Theoriebildungen, Denkrichtungen und Begriffe kennen und für ihre Texte und deren Bildlichkeit ebenso fruchtbar machen wie für das Verstehen solcher Texte Vielmehr scheint eben der Vorwurf selbst dann doch wieder im binären Denken zu verharren, indem bestimmten Autorinnen und Autoren die Teilhabe an und Reflexion von aktuellen Debatten verwehrt bleiben soll (zumindest sollen diese keine Auswirkung auf ihre literarischen oder anderen künstlerischen Werke haben) und ihnen allenfalls die Rolle sogenannter ‘Zeitzeugen’ zugestanden wird Vgl auch Anm .- 22 Italienisch_81.indb 62 02.07.19 14: 05 6 3 Barbara Kuhn «La nostra casa la portiamo con noi» denen Erinnerung: zunächst eine Episode aus dem Leben des Vaters, dann der Mutter, einiger Verwandter und schließlich auch manche eigenen Erlebnisse, die sich mit den ausgewählten Orten verknüpft, so dass kaleidoskopartig eine viele Zeiten und Orte einschließende Geschichte der schreibenden und erzählenden Igiaba und ihrer Familie entsteht Die Karte, um die es in diesem Text geht und die dank der Klebezettel «qualcosa di provvisorio e scomponibile» (Lmc 36) bleibt, provisorisch und wieder zerlegbar, ist demnach ein ebensolches Kompositum, wie das erzählende Ich sich selbst wahrnimmt, das ebenfalls nicht in einer eindeutigen Zuschreibung aufgeht, sondern alle von außen zukommenden Beschreibungen mit Fragezeichen versieht: «afroitaliana? Italoafricana? Seconda generazione? Incerta generazione? Meel kale? Un fastidio? Negra saracena? Sporca negra? » (Lmc 33) Sie sieht sich als Kreuzung, als Brücke, als Seiltänzerin und als all das nicht: «Alla fine sono solo la mia storia», schreibt sie am Anfang (Lmc 34), und am Ende, als sie auf die erzählten Fetzen ihrer Geschichte zurückblickt, die dem zerbrochenen Spiegel, der das Gedächtnis ist, entsprechen: «la mia mappa è lo specchio di questi anni di cambiamenti Non è una mappa coerente È centro, ma anche periferia È Roma, ma anche Mogadiscio È Igiaba, ma siete anche voi» (Lmc 161) Die Karte ist das Ich, aber die erzählte Karte ist auch der Text; der Text, die Erzählung ist selbst die Karte, so wie das Ich sich selbst mit der Karte wie mit seiner Geschichte identifiziert: fragmentarisch, bunt, nicht eindeutig zuzuordnen und zu klassifizieren, offen für anderes und andere, für Erinnerungen und Zukünfte Mit de Certeau und gegen de Certeau könnte man also sagen, das erzählte Anfertigen der Karte zu Beginn sowie das Erzählen selbst als das metaphorische Anfertigen einer Karte macht aus den beiden Orten Rom und Mogadischu Räume; diese Karte ist gerade nicht bloße Definition von Punkten, Kolonisierung des Raums, totalisierende Planierung oder gar Festschreibung, sondern sie ist selbst eine ‘Kunst des Handelns’ . 21 Aber die provisorische und fragmentarische Karte versammelt nicht nur das ganze bisherige Leben; sie verwandelt ihre zahllosen Details aus den unterschiedlichen Welten nicht nur in ein erzähltes Bild dieses Lebens; vielmehr ist die Karte auf einer anderen Ebene zugleich Bild für den Blick auf 21 De Certeau setzt das Erzählen von Geschichten - als einer Form der Organisation des Raums - der Karte als einem «système de lieux géographiques», aus dem im Laufe der Geschichte der «parcours» und damit der Mensch verschwunden ist, entgegen: Die moderne Karte ist «une mise à plat totalisant des observations»; eine solche Karte «colonise l’espace; elle élimine peu à peu les figurations picturales des pratiques qui la produisent» und wird zu einem «ensemble formel de lieux abstraits» Vgl Certeau: L’invention du quotidien 1990, S 176-179 Unter dem Titel Kunst des Handelns (Berlin: Merve 1988) erschien die deutsche Übersetzung Italienisch_81.indb 63 02.07.19 14: 05 6 4 «La nostra casa la portiamo con noi» Barbara Kuhn das Leben: auf ein Leben, dessen Karte allererst gezeichnet werden muss, weil die Koordinaten verloren gegangen sind, ein Leben, das sich selbst mühsam ‘verorten’ muss, weil es nicht einfach ‘seinen Ort’ hat, sondern sich seinen eigenen Raum allererst schaffen muss Auf diese Bedeutung des Lebensentwurfs und der notwendigen ‘Orientierung’ weist nicht nur die Aufforderung der Mutter, die Karte zu vervollständigen, hin; mehr noch ist dieser Aspekt der metaphorischen Karte in dem Kapitel präsent, in dem die Ich-Erzählerin von ihrer Mutter erzählt, die als Nomadin aufgewachsen war und lebte, bis sie diesem Leben entrissen und zur Sesshaftigkeit gezwungen wurde, dann aber auch aus Somalia weggerissen wurde und wiederum ein neues Leben führen, sich neu erfinden, ihre Karte nicht nur vervollständigen, sondern neu entwerfen musste: «Prima di essere strappata dalla Somalia, qualcuno l’aveva strappata dalla boscaglia Da nomade è stata costretta a diventare sedentaria E ogni volta si è dovuta reinventare, ha dovuto ridisegnare la sua mappa» (Lmc 60) Dreimal, fährt sie wenig später fort und wiederholt dabei ihrerseits dreimal die gewählte Metapher, dreimal musste die Mutter «rimappare la sua vita Sì, rimappare Non ricostruire, non rinnovare, ma rimappare Tracciare una sua nuova personale geografia Doveva tracciare nuove linee, nuovi margini, nuove parabole» (Lmc 62 f .) Wie die insistierenden Epanalepsen, Polyptota, die Enumerationes und elliptischen Sätze emphatisch und empathisch unterstreichen, handelt es sich um einen mühsamen Prozess Jedes Mal musste die Mutter, der ihr vertrautes Lebensumfeld genommen wurde, neue Linien, neue Ränder, neue Kurven einzeichnen, das eigene Leben vollständig ‘umkartieren’: So ließe sich das «rimappare», das hier eher als an de Certeaus Opposition von parcours und carte an den Begriff des Re-mapping aus der Theoriebildung der postkolonialen Studien anschließt, vielleicht wenigstens annähernd übersetzen Dennoch verweist es - schon durch die Verbform und durch den Bezug auf das einzelne Subjekt, auf «la sua vita» statt auf eine abstrakte und für alle gleichermaßen gültige, eine gleich-gültige Karte - seinerseits auf den implizierten Aspekt der Praktik und damit wiederum auf eine ‘Kunst des Handelns’ Karte in diesem Sinn also ist nicht nur Materialisierung der - kollektiven wie individuellen - Erinnerung, wie es zu Beginn des Textes scheinen könnte, und auch nicht nur Visualisierung kultureller Mehrfachzugehörigkeit in der Heterogenität und Inkongruenz der einzelnen Elemente, die auf der «mappa» der Erzählerin dominieren Das Anfertigen oder ‘Neu-Anlegen’ einer Karte meint einmal mehr die Verwandlung von Ort in gelebten Raum und damit die Verknüpfung des Raums mit der Zeit . 22 22 Auch für den Begriff der Karte, ebenso wie für lieu und espace oder home und belonging, gilt, dass Autorinnen und Autoren - zumal wenn sie in Europa oder Nord- Italienisch_81.indb 64 02.07.19 14: 05 6 5 Barbara Kuhn «La nostra casa la portiamo con noi» Wie sehr diese Auffassung von Karte mit dem diasporischen Leben verknüpft ist, wieviel beide miteinander zu tun haben, wird insbesondere in Madre piccola thematisch, wenn auch hier das Bildfeld der «mappa» von den Erzählstimmen in teils metonymischer, teils metaphorischer Bedeutung eingeführt wird Schon die frühe Kindheitserfahrung, nachdem die Mutter beschlossen hatte, mit ihrem neunjährigen Kind Somalia, den Vater und die Verwandten zu verlassen und nach Italien zurückzukehren, wird als Verlust der Landkarte beschrieben, als eine Art Vergessen, um zu überleben: «Ho cancellato il somalo, rapidamente Rimuovere, la nostra mente fa questo, chiude dentro gli armadi Vicina a mia madre, lontana da mio padre Dovevo disambienamerika leben, vielleicht sogar aufgewachsen sind, und an europäischen oder nordamerikanischen Universitäten studiert haben, vor allem aber, wenn sie diese ihre Situation nicht einfach als gegeben hinnehmen, sondern reflektieren - mit solcher Begrifflichkeit selbstredend vertraut sein können und dass durch solche potentiellen Kenntnisse weder die Texte selbst noch deren Lektüren in Frage gestellt werden Keineswegs handelt es sich, wie gern suggeriert wird, um einen bloßen Zirkel, der zu eben jenem Schluss gelangen müsse, der schon der Ausgangspunkt gewesen war, da Resultat und Prämissen identisch seien Sowohl das Beispiel des Re-mapping als auch die mögliche Kenntnis der Arbeiten de Certeaus und anderer seitens der Autorinnen unterstreicht vielmehr die bekannte Tatsache, dass in literarische Texte alles Denkbare, alles Gelesene und anderweitig Erfahrene eingehen kann und dass daraus im Lesen und Schreiben (und ggf Wiederlesen) anderes wird Es versteht sich von selbst, dass das Wissen und die Erfahrungen von Autorinnen und Autoren auch in literarischen Texten zum Tragen kommen - und ebenso, dass diese dadurch weder entwertet noch vorhersehbar werden, so dass sich jede literatur- und kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung damit erübrige Nur am Rande sei erwähnt, dass - wiederum selbstverständlich - auch weitere intertextuelle Bezüge, die hier nicht erschöpfend darzulegen sind, teils explizit, teils implizit wichtige Rollen spielen: Genannt sei exemplarisch nur der bekannteste somalische Autor, Nuruddin Farah, der in englischer Sprache publiziert und aus dessen Text Rifugiati (bzw im Original: Yesterday, Tomorrow. Voices from the Somali Diaspora, 2000) beiden hier im Zentrum stehenden Texten ein Motto vorangestellt ist Nuruddin Farahs Roman Maps (it Mappa, 2003) erschien bereits 1986, der Roman Knots (it Nodi, 2008) 2007, also im selben Jahr wie Ali Farahs Madre piccola und drei Jahre vor Scegos La mia casa è dove sono Ob das Bild der Landkarte sich primär Nuruddin Farahs Roman oder postkolonialer oder anderer Theoriebildung oder aber unmittelbarer Evidenz, spontaner Eingebung etc oder all diesen und noch weiteren ‘Quellen’ verdankt, ist letztlich (mindestens) zweitrangig gegenüber dem, was die Texte in ihrem intra- und intertextuellen Spiel daraus entstehen lassen Eher als von einer Invalidierung der Texte und ihrer Lektüren zeugen die Bilder - unter anderem - von besagter ‘Mehrfachzugehörigkeit’ ihrer Autorinnen, die in unterschiedlicher Weise eine somalische Herkunft haben, die Diaspora und die global ethnoscapes aus unmittelbarer Erfahrung kennen, die in Italien leben, studieren, arbeiten, schreiben und gleichzeitig innerhalb der somalischen Gemeinschaft dort oder auch weltweit eine Art von Zuhause haben (vgl Teil III) Italienisch_81.indb 65 02.07.19 14: 05 66 «La nostra casa la portiamo con noi» Barbara Kuhn tarmi 23 rapidamente Cancellare un territorio della memoria e costruirmene uno nuovo Coordinate che mi mancavano .» (Mp 98) Wenn dieser Versuch eines «rimappare» aufgrund der erfolgreichen Verdrängung zunächst zu glücken scheint, wiederholt sich doch die Erfahrung gleich mehrfach nach dem traumatischen Erlebnis des Flugs nach Mogadischu, wo gerade der Bürgerkrieg ausgebrochen war, und der Rückkehr nach Rom nur drei Tage später mit dem letzten Linienflug wie ein ungeöffnet an den Absender zurückgeschicktes Paket: «Mi sentivo come un pacco idiota che non viene neppure aperto, ma rispedito al mittente solo un po’ più sporco e pieghettato» (Mp 250) Auf diese Rückkehr, nach der sie die Mutter nicht mehr wiedersehen möchte, folgt die «Vita di diaspora», folgen «peregrinazioni senza destino» (Mp 98), zehn Jahre als «profuga di guerra» (Mp 251), ohne Pläne und ohne Ziele zwischen Europa und Amerika umherirrend (vgl Mp 251f .), zehn Jahre, in denen sie nur noch Axad ist, nicht mehr Domenica, und in denen ihr nun der von der Mutter gewählte Name manchmal ebenso fehlt (vgl Mp 128) wie wiederum die Koordinaten auf den jeweiligen Karten Denn selbst das Rom, in das sie wie im Delirium zurückkehrt, ist eine völlig neue Stadt, eine «città tutta nuova», die nichts mehr mit jener Sicherheit vermittelnden Provinz gemein zu haben scheint, in der sie zuvor gelebt hatte, vor jener Zäsur, jenem blind machenden Blitz der Kriegstage in Mogadischu, 24 der alles, die gesamte Wahrnehmung, das ganze Sein grundlegend verändert und die Fortsetzung des bisherigen Lebens unmöglich gemacht hatte, ohne eine andere Möglichkeit an dessen Stelle zu setzen: «è in questo delirio che mi dipanavo a Roma, città tutta nuova dove ora sono tornata Tanto diversa dalla provincia che avevo vissuto Provincia di tante certezze Questa città invece mi lasciava perdere Senza orari, senza luoghi Vagavo, e i nomi delle vie non significavano nulla […] Cosa ne era della mia vita, del suo significato, ora? » (Mp 99) Es ist eine Stadt, in der sie sich fehl am Platz fühlt, «fuori posto», eine Stadt, in der sie sich verliert, eine Stadt ohne Zeiten, ohne Orte, in der sich mit den 23 Auch hier handelt es sich, wie bei «rimappare», um ein nicht lexikalisiertes, eigens gebildetes Verb, das vom Adjektiv «disambientato», unvertraut, fremd, abgeleitet ist und ungleich mehr Konnotationen enthält als das im Deutschen durchaus gängige ‘entwöhnen’ oder ‘entfremden’ 24 «Lampo che ti acceca, cesura: per me, Domenica, vivere un giorno di guerra a Mogadiscio significava nascere di nuovo Cambiare pelle, reincarnarmi Potevo tornare a vivere come prima? Vivere nella città di provincia, con il mio fidanzato e i pranzi domenicali? Sposarmi, fare figli, nella pace della monotonia? » (Mp 99) Italienisch_81.indb 66 02.07.19 14: 05 67 Barbara Kuhn «La nostra casa la portiamo con noi» Namen der Straßen keine Bedeutung für dieses desorientierte Ich verknüpft, weil durch die traumatische Erfahrung erneut alles zuvor ins Gedächtnis Eingeschriebene wie gelöscht scheint Und ebenso erlebt sie New York, noch nach über einem halben Jahr, als ‘leere Karte’, die kein Gefühl weckt, wie ihr dort gefundener Mann und Vater ihres Kindes seiner ersten Frau am Telefon berichtet: «Questa città, per lei, è come una mappa vuota, senza sentimento» (Mp 79) Das Leben im Provisorium, in dem sie ihr ‘Somalisch und die atavistische Gewohnheit des Nomadimus exhumiert’, ist ein Leben, in dem alle Fäden erst wieder neu aufgenommen und verknüpft werden müssen (vgl Mp 252), ein Leben, in dem die - wiederum gleich-gültigen - Orte kein Gesicht haben und in dem die Karte immer wieder neu konstruiert werden muss, damit das Ich wie in einer Luftblase zu überleben vermag: «Quello che non riesco a fare è descrivere i luoghi Era tutto un movimento interno da una casa all’altra Essere, potevi ovunque Per me, per noi tutti, era indifferente Ti dovevi solo abituare alle insegne diverse, i prezzi diversi, e ricostruire la mappa: mappa dei legami con gli altri e i luoghi-snodi dove incontrarsi, dove telefonare, dove comprare, come perennemente trasportati nella bolla d’aria e dentro la bolla il nostro suono, il nostro odore Suoni e odori così pungenti da coprire tutti gli altri Alienandoci, vivevamo .» (Mp 112) Trotz der wieder zusammengefügten Fäden und trotz der Handlungen an den verschiedenen «luoghi-snodi» lassen die Orte auf dieser je neu entstehenden Karte keinen Raum für das Ich entstehen, nur eine Luftblase, die von Ort zu Ort weiterschwebt, ohne die Orte zu mehr als Durchgangsstationen werden zu lassen Denn selbst wo zeitweise solche ‘Knotenpunkte, an denen man sich treffen, telefonieren, einkaufen konnte’, entstehen, bleiben sie prekär, wandeln sie sich, wie selbst der in vielen Texten als zentraler Ort der somalischen Gemeinde in Rom thematisierte Bahnhof, die Stazione Termini, belegt, die nach der Rückkehr für Domenica zu einem «coagulo di dolore», einer «anticamera dell’oblio» (Mp 100) geworden ist Sie vermögen allenfalls zeitweise zur Orientierung in der je neuen Welt zu verhelfen, bleiben aber stets frag-würdige Orte, wie sogar in Scegos Darstellung, ungeachtet der weitestgehend positiven Schilderung des Bahnhofs und der mit ihm verknüpften Emotionen und Erinnerungen, das zögernde ‘Vielleicht’ unterstreicht: «Allora forse la mia casa era la stazione Termini» (Lmc 106): 25 25 Vgl die Analyse von Kleinhans, die unter anderem die zentrale Rolle des Bahnhofs und seine Verwandlung, so ihre These, in einen anthropologischen Ort diskutiert: Kleinhans: Endstation Rom 2013, S 178 f In diesem Punkt unterscheidet sich die interes- Italienisch_81.indb 67 02.07.19 14: 05 6 8 «La nostra casa la portiamo con noi» Barbara Kuhn Eher als eine nicht in Zweifel gezogene «casa» signalisiert der Bahnhof samt seinen vielfältigen Funktionen für die Diaspora-Gemeinschaften 26 so gerade das Fehlen, den Verlust einer ‘Heimat’- in ihrer Selbstverständlichkeit ohne jedes ‘Vielleicht’ Konstitutiv hingegen, und komplementär zu den beiden Konzepten der Diaspora und der nie fertigen, geschweige denn vorgefertigten, vielmehr stets neu anzufertigenden Karte, ist eben das dritte, hier bereits erwähnte Bild und Konzept, das sich dank seiner Rekurrenz seinerseits mit so vielen anderen Stellen des Textes verbindet, dass es detaillierterer Betrachtung bedarf: die «casa» . III Die Bewegung von Haus zu Haus, ohne die Außenwelt mehr als nötig wahrzunehmen, wie die Erzählerin im vorigen Zitat ihrer Cousine die «[v]ita di diaspora» (Mp 98) schildert, ein Leben wie in einer Luftblase, in dem Klänge und Gerüche dieselben bleiben, unabhängig davon, wo sich die Luftblase gerade befindet: All dies sind nicht nur unmittelbare Konsequenzen eines Lebens in der Diaspora, in dem, wie die Texte formulieren, stets neue Karten sante und detailreiche Analyse von der hier vorgeschlagenen Lektüre, auch wenn der These durchaus zuzustimmen ist, dass, wie Augé in Artikeln und auch im Nachwort zur deutschen Neuausgabe der Non-Lieux darlegt, es «keine ‘Nicht-Orte’ im absoluten Sinne gibt», vielmehr aus einem Nicht-Ort für einige ein anthropologischer Ort werden kann, auch wenn andere darin «weiterhin nur einen Nicht-Ort erblicken» (Augé: Nachwort zur Neuausgabe 2012, S 124) Sprechend in diesem Sinn sind nicht nur Barnis Worte in Madre piccola (vgl Mp 27-29), sondern insbesondere das «Stazione Termini» überschriebene Kapitel in Scegos Text (vgl Lmc 96-112), in dem der Bahnhof als «[l]’unico luogo che a Roma potevamo chiamare davvero casa» (Lmc 102) bezeichnet wird, als der Ort, an dem, wie in einer mexikanischen Legende, die Nabelschnur der Erzählerin begraben liegt (vgl Lmc 106), den sie aber zugleich als «ghetto» (Lmc 104) wahrnimmt, so wie auch Barni den Wandel von der vibrierenden Atmosphäre vor neun Jahren, als alle noch an eine glückliche Rückkehr binnen kurzem glaubten, zu jener «[stazione] Termini […] piena di dolore» (Mp 29) konstatiert, in der sich auch sonst vieles verändert hat: «Ora molte cose sono cambiate: la galleria centrale restaurata con sgargianti negozi, Benetton, Nike, Intimissimi, Levi’s, Sisley, fast food, call center, bagni pubblici con monetina, biglietterie automatiche, scale mobili, megaschermi pubblicitari, tabelloni aggiornati Veramente una stazione moderna» (Mp 28 f .) Auch wenn der Bahnhof immer noch jener Pol ist, um den «[i] nostri luoghi, vecchi e nuovi» kreisen, treffen sich dort nur mehr wenige, vor allem jene, die «nessun luogo dove andare» (Mp 29) haben In diesem Sinn scheint die Funktion des Bahnhofs sich doch von der jener «casa» zu unterscheiden, die im folgenden dritten Teil erläutert werden soll 26 «Molte diaspore, quella somala in testa, hanno fatto di questa zona di Roma il loro campo base» (Lmc 107) Auch die Metaphorik des Basis- oder Versorgungslagers erinnert eher an Hochgebirgsexpeditionen denn an einen anthropologischen Ort, trotz «l’essenza di casa che questa zona emanava» (Lmc 108) Italienisch_81.indb 68 02.07.19 14: 05 69 Barbara Kuhn «La nostra casa la portiamo con noi» angelegt werden müssen, um sich orientieren zu können; es sind zugleich Charakteristika dessen, was häufig mit dem eher negativ konnotierten Begriff der «Parallelgesellschaft» oder auch als «Indigenisierung» bezeichnet wird, verstanden als «die Orientierung am Eigenen und die Ablehnung des Anderen als entschieden verschieden»; eine Haltung, die sich «sowohl unter zugewanderten Gruppen als auch unter der lokalen Bevölkerung» findet . 27 In der Tat erscheint auch das Bild der «casa» in den Texten der beiden Autorinnen in unterschiedlicher Bedeutung und wird so, wie bereits die Verbindung mit der Stazione Termini zeigt, zu einer ambivalenten Vorstellung . 28 Besonders deutlich wird dies in der Novelle mit dem sprechenden Titel Dismatria von Igiaba Scego, 29 in der «casa» geradezu zu einem Tabu-Wort wird: Die Familie lebt nur aus Koffern, in der ständigen Erwartung der Rückkehr nach Somalia - und im gleichzeitigen Wissen, dass das vertraute Somalia «morta, defunta, finita» (D 12) ist und das heutige Somalia nur mehr aus einem «ammasso informe di warlords, corruzione, fame» besteht Dennoch bedeuten Worte wie Haus, Kleiderschrank und andere (vgl D 10) für die Mutter den Verzicht auf diesen Traum der Rückkehr, sie bedeuten den Alptraum einer «dismatria», das Durchtrennen der Nabelschnur, die sie noch mit dem Mutterland verbindet (vgl D 11) - zum Leidwesen der Tochter, die als Ich-Erzählerin fungiert und die sich nach einem wenn auch kleinen Haus und Kleiderschrank, einem wenn auch kurzen Leben sehnt, nach einer «ridicola realtà» (D 12), nach Sicherheit und Stabilität - ebenfalls Tabu-Worte für die Mutter und die Familie, während für die Tochter jene die Vorläufigkeit des Lebens signalisierenden Koffer nur die Angst verbergen, die Furcht vor dem Eingeständnis, dass es kein «dopo», kein ‘Nachher’ mehr geben könne und die Rückkehr nie mehr erfolgen werde . 30 27 Strasser: Bewegte Zugehörigkeiten 2012, S 133 f Vgl ausführlicher auch die gleichnamige Monographie der Autorin, die 2009 bei Turia und Kant in Wien erschienen ist Die Sozialanthropologin Strasser, die als Fallbeispiel für ihren Beitrag die «sozialen Spannungen in Österreich» wählt und sich dabei «speziell für Personen interessiert, die selbst aus der Türkei zugewandert sind» (ebd ., S 135 f .), beruft sich für die oben zitierte Definition der Indigenisierung auf Jonathan Friedman 28 Die Ambivalenz des «being-at-home» entfaltet insbesondere Ahmed in dem Kapitel Home and away 2000, S 77-94 29 Scego: Dismatria 2015, S 5-21 (die Seitenzahlen werden in der Folge mit der Sigle D unmittelbar nach den Zitaten angegeben) Die Wortschöpfung «dismatria» wird im Text selbst erläutert und dem vermeintlich korrekten «espatriare» entgegengesetzt (vgl D 11) 30 Die Pointe am Ende des Textes, als die Tochter darauf insistiert, sich ein Haus zu kaufen, besteht darin, dass der fünfte Koffer der Mutter, dessen Inhalt sie nie verraten hatte und den sie nun von der Tochter öffnen lässt, mit lauter Erinnerungsstücken an Rom gefüllt war, das sie umgekehrt, hätte sie zurückkehren können, ebenfalls nicht mehr vergessen wollte, mit anderen Worten: Sie hatten es nicht gewusst, aber sie hatten Italienisch_81.indb 69 02.07.19 14: 05 70 «La nostra casa la portiamo con noi» Barbara Kuhn Ähnlich äußert in Madre piccola auch Taageere seinen «desiderio di casa» (Mp 95), seine Sehnsucht danach, ein Haus zu haben, während jenes ‘Haus’ im vorigen Zitat gerade nicht das eine, Stabilität gewährende Haus an einem Ort meint, auch nicht die in Somalia zurückgelassene und verlorene Heimat; die «case somale», die somalischen Häuser, von denen Axad erzählt, sind gerade die «global ethnoscapes» im Sinne Appadurais, 31 die überall auf der Welt verstreuten Behausungen der diasporisch lebenden Somalierinnen und Somalier, die zwar miteinander über alle Grenzen hinweg vernetzt sind, in denen sie aber unter sich bleiben, nur das Nötigste lernen und das Außen nicht wahrnehmen, nicht die Umgebung und nicht einmal die Lufttemperatur: «alla fine, in tanta parte del mondo vissuto è sempre così Dentro le nostre case somale, in tutto e per tutto Potevi anche non vederlo il contorno Ignorare la temperatura dell’aria, non ascoltare le altre voci, vivere solo tra di noi, imparare lo stretto necessario .» (Mp 97) Wie eine Seifenblase vom Wind, «bolla di sapone trasportata dal vento» (Mp 97), habe sie anfangs versucht, sich vom Zufall treiben zu lassen und so ihren Weg zu finden Wenn es keine Heimat mehr gibt, ist das Heim jeweils dort, wo, wie etwa in London, die «volti di casa» (Mp 115) wiedergefunden werden, die vertrauten oder ‘heimischen Gesichter’, die ‘Gesichter von Zuhause’, ließe sich vielleicht übersetzen Dieses Verständnis des Wortes, diese ‘Praktik’ des Hauses, scheint in der Tat dem erwähnten Begriff der Indigenisierung oder der Parallelgesellschaft zu entsprechen (ohne freilich die Indigenisierung der anderen Seite, der lokalen Bevölkerung, zu thematisieren, da gänzlich aus der diasporischen Perspektive erzählt wird) . 32 Doch ist dies, das Leben in nahezu völliger längst auch eine andere matria, lebten längst ihre ‘mehrfachen Zugehörigkeiten’: «Sorriso globale» (D 21), heißt es am Ende in schöner Mehrdeutigkeit 31 Vgl Anm .- 15 32 Die andere Seite, die Ausschließung durch die ‘indigene’ Bevölkerung, und mehr noch das Ausgeschlossensein selbst, erzählt am ehesten Scego in La mia casa è dove sono, wo sie von ihrem Bruder spricht, der erst mit 16- Jahren von Somalia nach Rom kommt und sich dort eine neue Existenz erfinden muss, «reinventarsi un’esistenza […], inserirsi in una realtà nuova» (Lmc 109), dies zwar, abgesehen von seinem Desinteresse an der Schule, gut meistert, aber «non aveva fatto i conti con il servizio militare […] Immaginate di essere l’unico nero in una caserma Pensate al primo giorno, alle cattiverie dei nonni» Doch während sie beide dank ihres italienischen Passes privilegiert sind, sieht dies, wie die Erzählerin ausführt, für die nicht in Italien Geborenen, selbst wenn sie als Säugling ankamen, anders aus; sie bleiben möglicherweise auf Dauer Ausgeschlossene: «Vivi come un estraneo nel paese che hai sempre considerato tuo […], Italienisch_81.indb 70 02.07.19 14: 05 71 Barbara Kuhn «La nostra casa la portiamo con noi» Abschottung, nur die eine Seite der «casa», wenngleich für diese «pellegrinaggi del pianeta» eine zumindest in manchen Phasen unermesslich wichtige Ungleich wichtiger aber als das Reisen wie in einer Blase, als die paradoxe, den Häusern quasi inhärent bleibende Bewegung von Land zu Land und von Kontinent zu Kontinent, die kein Außen kennt, sind andere Aspekte der «casa», wie sie nicht nur Scegos Buchtitel, La mia casa è dove sono, suggeriert, sondern mehr noch die Beschreibung der «case somale» durch die beiden Cousinen Domenica und Barni in Madre piccola Das provisorische, umherirrende oder verirrte Leben «dalla casa di un parente a quella di un altro», mit immer nur halb ausgepackter Tasche, ist kein ‘vivere’, sondern ein ‘vivacchiare’ (vgl Mp 252), kein Leben, sondern allenfalls ein mühsames Sein-Leben-Fristen, auch wenn die wie unter Nomaden gepflegte Gastfreundschaft, von der Barni spricht, ein kostbares Gut ist: «In tutti i paesi che ho visitato sono stata accolta come nella stessa mia casa» (Mp 262), und ebenso öffnet sie ihr eigenes Haus für alle, die kommen und wieder gegangen sind - nach London, nach Ohio oder nach Australien -, und für Feste, bei denen sich alle versammeln und sich wohlfühlen können (vgl Mp 27) . 33 Das Haus hingegen, das Barni am Ende skizziert und das sie gemeinsam mit Domenica und deren neugeborenem Sohn bewohnen will, ist weder das über den Globus verstreute, ‘entortete’ oder ‘enträumlichte’ 34 Haus der magari non hai mai messo piede nel paese d’origine» Viele der «cosiddetta seconda generazione vivono da stranieri nella loro nazione Hanno vite bloccate», weil ihnen die Staatsbürgerschaft fehlt, und dies «nel paese che è tuo da tutta una vita» (Lmc 110 f ) 33 Zugleich jedoch beschreibt sie ihre Wohnung in Rom nicht nur als einen Ort, an dem es nicht viel braucht, nur einige wenige Dinge, die sich mit anderen teilen und leicht ersetzen lassen, sondern auch mit der ambivalenten Metapher des ‘Taubenschlags’: «La mia casa è un porto di mare» (Mp 26), ein Bild, das im Nuovo Zingarelli paraphrasiert wird als: «luogo chiassoso e disordinato, pieno di gente d’ogni tipo che va e viene» (Zingarelli: Vocabolario 1994, S 1385) 34 Bhabha spricht - vor allem in Verbindung mit der Frage nach der Identität - mehrfach von «Entortung», beispielsweise vom «zerklüftete[n] Charakter der kolonialen Entortung, ihre[r] De-plazierung von Zeit und Person, ihre[r] Schändung von Kultur und Territorium» (Bhabha: Die Verortung der Kultur 2000, S 60) Appadurai verwendet demgegenüber den - bei ihm weiter gefassten - Terminus «Enträumlichung», den er jedoch u .a auch auf diasporische Situationen bezieht: «Die Enträumlichung […] verändert nicht nur die traditionellen Loyalitäten innerhalb der Gruppen (vor allem im Kontext komplexer Diasporaformen), sondern auch durch transnationale Interaktionen die Wechselkurse, führt zu anderen Formen des Reichtums und Investitionsmustern, er beeinflusst die Strategien von Staaten Diese Lockerung der bisher festen Verbindung zwischen Völkern, Reichtum und Territorien verwandelt radikal die Basis kultureller Identität Enträumlichung ist daher eine der zentralen Kräfte der Moderne» (Appadurai: Globale ethnische Räume 1998, S 13) Während die Begriffe im Deutschen sehr ähnlich klingen, zugleich aber an die Relation von Ort und Raum zu erinnern scheinen, unterscheiden sie sich in ihren englischen Originalen erheblich: In dem oben zitierten, Italienisch_81.indb 71 02.07.19 14: 05 72 «La nostra casa la portiamo con noi» Barbara Kuhn Luftblase ohne Verbindung mit dem konkreten Außen noch das Haus derer, die sich vor allem Fremden abschotten, gleich welcher Gruppe sie angehören Vielmehr gilt es für diese «casa» als lebbare Alternative, als der vielzitierte ‘Dritte Raum’, im Sinne Homi K Bhabhas, 35 jene Knoten im diasporischen Fadengewirr zu knüpfen, die nicht einengen, nicht einschnüren oder gar erwürgen, sondern stützen: «stringere nodi che sostengono senza strozzare» (Mp 261), aber zugleich die immobilisierende Maske abzulegen, sich von jener Hülle zu befreien, innerhalb derer alles so vertraut scheint, jenen Film zu zerreißen, der von den anderen Menschen, unter denen sie doch leben, isoliert, wie Barnis Epilog in einer raschen Folge von Bildern postuliert Es gilt, statt ‘indigenisiert’ in einer vermeintlich Sicherheit vermittelnden nicht völlig identisch ins Deutsche übersetzten Aufsatz aus seinem Buch verwendet Appadurai den Begriff «deterritorialization» (ebd ., S 49); das englische Wort bei Bhabha lautet «dislocation» (vgl Bhabha: The Location of Culture 1994, S 41) Da jedoch beide Autoren ihr jeweiliges Konzept zumindest auch im Zusammenhang mit der Frage nach individueller und kollektiver Identität einsetzen, ist, ungeachtet der unterschiedlichen Kontexte und ihrer Implikationen, der Unterschied zwischen beiden im vorliegenden Fall wenig relevant und sollte er insbesondere nicht vorschnell mit der space and place-Debatte in Verbindung gebracht werden Avtar Brah verweist ferner darauf, dass der Begriff Deterritorialisierung zuerst von Deleuze und Guattari verwendet wurde, die damit die der kanonisierten Literatur gegenübergestellte «littérature mineure» charakterisierten (vgl Deleuze/ Guattari: Kafka 1975, S 29-50): «The concept of deterritorialisation is understood as describing the displacement and dislocation of identities, persons and meanings, with the moment of alienation and exile located in language and literature» Zugleich warnt sie jedoch vor einer Verallgemeinerung und breiten Anwendung des Begriffs: «The concept of ‘territory’ as well as its signifieds and significations is a contested site in diaspora and border positionalities, where the issue of territorialisation, deterritorialisation or reterritorialisation is a matter of political struggle .» Brah: Cartographies of Diaspora 1996, S 203 f Zur - bislang zu wenig beachteten und, nicht zuletzt aufgrund von Übersetzungsproblemen, teilweise zu reduktiv rezipierten - Schlüsselposition des Begriffs «dislocation» in Bhabhas Theoriebildung sowie zur Doppelbedeutung des englischen Verbs to dislocate als to put out of position und to put out of order vgl auch Lavagno: Kreolisierung 2015, S 233-235 35 D .h jener «Zwischenraum», in dem «zu wohnen [auch] heißt, […] an einer re-visionären Zeit teilzuhaben, an einer Rückkehr zur Gegenwart, um unsere kulturelle Gleichzeitigkeit neu zu beschreiben; um unsere menschliche, geschichtliche Gemeinsamkeit neu einzuschreiben; die Zukunft auf der uns zugewandten Seite zu berühren In diesem Sinne wird also der Zwischenraum zu einem Raum der Erfindung und Intervention» Und auch die Vergangenheit erscheint hier «neu als angrenzende[r] ‘Zwischen’- Raum […], der die konkrete Realisierung der Gegenwart innoviert und unterbricht» und in dem die «Relation ‘Vergangenheit-Gegenwart‘ […] zu einem notwendigen, keinem nostalgischen Teil des Lebens» wird (Bhabha: Die Verortung der Kultur 2000, S 10 f .) Vgl ferner auch hier Bachmann-Medick: Cultural Turns 2010, die Bhabhas Konzept ebenfalls (und u .a .) neben Foucaults Begriff der Heterotopie stellt: insbesondere die Abschnitte «Dritter Raum», S 203-206, und «Thirdspace» (nach Edward Soja), S 297-299; hier auch zu den «global ethnoscapes» von Appadurai Italienisch_81.indb 72 02.07.19 14: 05 73 Barbara Kuhn «La nostra casa la portiamo con noi» Luftblase oder ‘Parallelgesellschaft’ zu leben, gerade die eigenen Sicherheiten ins Wanken geraten zu lassen, nicht immer sich selbst gleich zu sein und dabei unheilbar getrennt von allem Umgebenden zu bleiben; 36 mit anderen Worten: Es gilt, diesen Zwischenraum der «casa» fruchtbar zu machen für die «konkrete[…] Realisierung von Identität», für eine «Neuschaffung des Selbst» . 37 Dieses Haus, das sicher auf den eigenen Fundamenten errichtet ist, um seinen Bewohnern im alltäglichen Kampf Trost und Schutz zu bieten, ohne sie zu isolieren (vgl Mp 263), mag wie eine Utopie erscheinen; vor allem aber ist es, so wie Barni es definiert und die Figuren beginnen, es zu leben, eine positiv konnotierte Heterotopie und in eins ein neues Modell von Sozialität: 38 «La nostra casa la portiamo con noi, la nostra casa può viaggiare Non sono le pareti rigide che fanno del luogo in cui viviamo una casa» (Mp 263) Ebenso wie im Buchtitel La mia casa è dove sono ist folglich auch hier die «casa», entgegen einer spontanen Assoziation oder einer traditionellen, möglicherweise ‘alteuropäischen’ Vorstellung, als etwas Nicht-Statisches imaginiert, kann doch aus jedem «luogo», sofern darin gelebt wird, eine «casa» werden, und dies auch ohne die Errichtung fester Mauern Die «casa» in diesem Sinn charakterisiert sich durch Beweglichkeit und Prozesshaftigkeit; sie entsteht durch die Verbindungen zwischen dem Ich oder Wir und der dieses umgebenden Lebenswirklichkeit, so dass auch hier, wie bei der stets erforderlichen Neukartierung des eigenen Lebens, eine ‘Kunst des Handelns’ verlangt ist: Denn trotz der mit der «casa» verknüpften affektiven Bindung, die sie vom bloßen «luogo» unterscheidet, reduziert sich ein solches Verständnis weder auf die passive Nostalgie, die mit «casa» lediglich den Blick zurück, das unwiederbringlich Verlorene einer Vergangenheit und eines Anderswo assoziiert, noch auf die gleichermaßen passive Assimilation an die 36 «Se smetteremo questa maschera immobilizzante, se ci libereremo dall’involucro in cui tutto è familiare, se strapperemo la pellicola che ci isola dalla gente tra cui viviamo; se ci lasceremo scalfire, qualcosa si rinvigorirà dentro Siamo stanchi di combattere la nostra guerra personale, stanchi di essere sempre uguali a noi stessi, irremediabilmente separati dal contesto» (Mp 261 f .) 37 Bhabha: Die Verortung der Kultur 2000, S 13 38 Diesen Aspekt des Foucault’schen Konzepts stellt Hetherington ins Zentrum: «Heterotopia, like the Palais Royal during the French Revolution, were not only sites of resistance and transgression but also sites that provided the model of alternative modes of social ordering They produced new modes of social interaction and discourse, or more broadly, a new sociality We could say that the model had utopian intentions even though it did not conceive of the Palais Royal as a utopia itself The concept of heterotopia […] can be seen as an important concept in understanding how space, within modernity, has been used as a means of attempting to create new modes of social ordering that are utopian in intent .» Hetherington: The Badlands of Modernity 1997, S 53 Italienisch_81.indb 73 02.07.19 14: 05 74 «La nostra casa la portiamo con noi» Barbara Kuhn ‘indigenen’ Vorstellungen am neuen Ort, auf jene Mimikry, wie sie die Mutter in Dismatria fürchtet und wie Domenica Axad in Madre piccola sie zeitweise lebt: «Ho vissuto mimetizzandomi» (Mp 98) Das hier - freilich nur als Projekt und Imagination - entfaltete Konzept von «casa» impliziert vielmehr Offenheit, Mobilität und Aktivität, ohne auf Affektivität und Erinnerung, auf individuelles und kollektives Gedächtnis zu verzichten, 39 wie zum einen das Zusammenleben in - wenn auch unkonventionellen 40 - Familienstrukturen unterstreicht, zum anderen die Geschichte des neugeborenen Sohnes von Domenica Axad: Seine Geburt stellt auf der einen Seite einen Neubeginn dar, der, wie Barni hofft, helfen kann, das zu Beginn evozierte Knäuel der Gedanken und der oft schmerzhaften Erinnerungen zu entwirren: «Se penso a tutti i pensieri ingarbugliati di Domenica Axad Per fortuna con la nascita del bambino è migliorata 39 Zum Aspekt der Affektivität und Prozessualität ebenso wie zur unerlässlichen Verbindung der in der Gegenwart neu erbauten «casa» mit Vergangenheit und Zukunft, aber auch zur Infragestellung der vermeintlich «universal definitions of home defined in terms of the white middle-class patriarchal family», der «terms of home which delimit it as an accomplished site of belonging and governance», vgl ferner: «Homes are always made and remade as grounds and conditions (of work, of family, of political climate, etc .) change ‘Homing’ entails processes of home-building […], whether ‘at home’ or in migration Making home is about the (re)creation of […] ’soils of significance’ […], in which the affective qualities of home, and the work of memory in their making cannot be divorced from the more concrete materialities of rooms, objects, rituals, borders and forms of transport that are bound up in so many processes of uprooting and regrounding Homing, then, depends on the reclaiming and reprocessing of habits, objects, names and histories that have been uprooted - in migration, displacement or colonization Inherent to the project of home-building here and now, is the gathering of ‘intimations’ of home, ‘fragments which are imagined to be traces of an equally imagined homely whole, the imagined past ‘home’ of another time and another space’ […] In this respect, being at home and the work of home-building is intimately bound up with the idea of home: the idea of a place (or places) in the past, and of this place in the future Making home is about creating both pasts and futures through inhabiting the grounds of the present» So die Herausgeberinnen in ihrer gleichnamigen Einleitung zu dem Band: Ahmed: Uprootings/ Regroundings 2003, S 9 (dort auch die Nachweise für die Zitate im Zitat) 40 Unkonventionell, gemessen am auch in Europa zunehmend in seiner universellen Gültigkeit in Frage gestellten Familienbild; unkonventionell aber auch, weil das postkoloniale und diasporische Leben andere Modalitäten nicht nur hervorbringt, sondern geradezu erfordert, wie Barni in ihrem Epilog formuliert: «Dentro la nostra casa io, Domenica Axad e il piccolo Taariikh troviamo conforto e riparo, piantiamo le nostre fondamenta per avere la forza di combattere quotidianamente Rimanere isolati non è più possibile, cerchiamo di adattarci e di ricostruire il nostro percorso Convivendo, gran parte del dolore si compatisce Una madre sola non basta ai propri figli, chi lo può sapere meglio di me e di Domenica Axad? Le nostre madri erano malate di troppe solitudini Insieme ne verremo a capo, i figli si crescono in comunione Solo così le molte assenze saranno irrilevanti» (Mp 263 f .) Italienisch_81.indb 74 02.07.19 14: 05 75 Barbara Kuhn «La nostra casa la portiamo con noi» Rischiava di farlo andare in corto circuito altrimenti, il suo povero cervello […] Alla fine, se ci penso, abbiamo tutti il cervello congestionato» (Mp 263) Zugleich jedoch inkarniert das Kind, das den Namen seines Großvaters trägt, auf der anderen Seite in seiner unhintergehbaren Präsenz den Blick in die - lange tabuisierte - Vergangenheit, auf den Verlust des im Guerillakrieg verschollenen Vaters, und in eins den Blick in die Zukunft, weil mit dem Kind nicht nur der Name weiterlebt, sondern die abgeschnitten geglaubte Geschichte, das Leben selbst, weitergeht: «Taariikh si perse nella guerriglia Ho sognato per molti anni il suo ritorno, ho persino sperato nella voce di qualcuno che ne avesse sepolto il corpo, ma ciò non è mai accaduto Mio padre è rimasto a lungo un tabù Aleggiava su di noi, ma ne io né Libeen riuscivamo a pronunciarne il nome Mi è rimasto dentro come un tarlo, non me ne sono mai liberata […] Non volevo che la morte di Taariikh fosse dichiarata […] Ora che è nato mio figlio ho finalmente riempito il vuoto Il bambino si chiama Taariikh, come mio padre, perché la storia si rinnovi Sarà di buon auspicio .» (Mp 256 f .) In diesem Sinn erweist sich das Haus, das - «risalendo» (Mp 262) und «ridescendendo» (Mp 267) mit den Figuren - reisen kann, das Haus, das sie durch unterschiedliche Zeiten und Räume hindurch mit sich tragen, als jener Raum, von dem aus der Blick zurück nicht mehr gescheut werden muss und der Blick nach vorn gelingen kann, der Versuch des «ricostruire il nostro percorso» (Mp 263), den parcours im Certeau’schen Sinn, die eigene Wegstrecke Denn dieses mit sich getragene Haus, wie es der Text entwirft, soll kein Schneckenhaus sein; es dient gerade nicht der Abschottung und fungiert somit weder als Illusionsheterotopie, die ihren Bewohnern in Italien oder anderswo vorgaukelt, im Grunde immer noch in Somalia zu leben, und sie in einer Art säkularisierter Naherwartung zwar nicht der Wiederkunft, aber doch der imminenten Rückkehr verharren lässt, noch als Krisen- oder gar Abweichungsheterotopie, die die somalische oder auch jede andere Diaspora ghettoisiert Es ist aber auch kein Haus, wie es die Mutter in der Novelle Dismatria gerade fürchtet: ein Haus, das gemäß manchen Vorstellungen von ‘europäischer Identität’, im Namen sogenannter Integration, die Preisgabe aller eigenen Identität, die Preisgabe der eigenen Fundamente erforderte, mit anderen Worten, das kein ‘risalire’- und ‘ridiscendere’ im Fluss der eigenen Geschichte erlaubte Italienisch_81.indb 75 02.07.19 14: 05 76 «La nostra casa la portiamo con noi» Barbara Kuhn Das Haus, in dem es, wie nach Domenicas Rückkehr nach Italien, gelingt, alle Teile ihrer Geschichte und ihres Ich wieder zusammenzusetzen, «[di] rimettere insieme tutti i pezzi» (Mp 252), ist ein ‘anderer Ort’ oder «espace autre» in dem Sinn, dass er «un lieu sans lieu» ist, ohne ein Nicht- Ort zu sein; ein Ort, der sich nicht an einer Stelle fixieren lässt, wie ein Schiff, jene «hétérotopie par excellence», «la plus grande réserve d’imagination», 41 von der Foucault am Ende seines berühmt gewordenen Aufsatzes «Des espaces autres» spricht Ein solches Haus begnügt sich nicht mit bisherigen Dichotomien; es rückt gerade nicht «die Abgrenzung ins Zentrum», wie dies etwa durch das Wort «Parallelgesellschaft» geschieht, das «verkennt, dass es immer auch - egal wie abgeschottet eine Gemeinschaft leben mag - eine Interaktion mit der umgebenden Lebensrealität gibt» . 42 Die vieldeutige «casa» in den betrachteten Texten vermag somit, unterschiedliche Konzeptualisierungen des ‘Lebensmodells Diaspora’, das für viele Bewohner des Planeten zur unhintergehbaren Realität geworden ist, zu beleuchten Eine Variante ist, wie die Mutter zu Beginn der Novelle Dismatria die «casa» abzulehnen, weil die Einrichtung einer «casa» im fremden Land das Eingeständnis des zerbrochenen Traums einer Rückkehr wäre Eine andere ‹Lösung›, die die Texte gleichfalls vorführen ohne sie zu propagieren, bestünde darin, die «casa» als Isolationsraum zu leben, der die diasporische Gemeinschaft so weit wie möglich von jedem Kontakt mit der umgebenden Welt fernhält und versucht, in der Fremde die Tradition möglichst lückenlos zu bewahren Dem setzen die Figuren in den Texten andere Häuser entgegen, die interessante Antworten auf die von Konzepten wie Migration und Integration aufgeworfenen Fragen geben, die «zwar Bewegungen [erfassen], […] aber völlig einseitig [bleiben]»: 43 Als eine Antwort auf solche Einseitigkeit konzipieren die Texte auf der Ebene der Figuren und der Handlung eine solche, den unterschiedlichen Seiten Rechnung tragende «casa» als einen heterotopischen ‘Ort ohne Ort’, der weder bloßes Provisorium noch starre Mauer ist, sondern, wie das Schiff, ein Raum, der die «bewegten Zugehörig- 41 Foucault: Des espaces autres 2001, S 1581 42 Charim: Einleitung 2012, S 11 43 Charim: Einleitung 2012, ebd Vgl auch Kokots knappe Darstellung zu «Diaspora und Lokalität», die aus ethnologischer Perspektive neben der Mobilität auch Lokalität und Sesshaftigkeit innerhalb von Diaspora-Gemeinschaften konstatiert und empfiehlt, zwischen beiden Seiten, dem «Modell […] einer permanent gefährdeten Identität fern der Heimat» und den Aussagen von Individuen, die «die Gemeinsamkeiten und das alltägliche Zusammenleben mit ihrer Residenzgesellschaft» hervorheben, als «zwei sich gegenseitig bedingende […] und beeinflussende […] Prozesse […] von Ortsbezogenheit zu unterscheiden» Kokot: Diaspora 2002, S 105 Italienisch_81.indb 76 02.07.19 14: 05 77 Barbara Kuhn «La nostra casa la portiamo con noi» keiten» zu leben gestattet, 44 ein Raum, der es erlaubt, Habitus und Improvisation im Sinne Appadurais 45 in einem Gleichgewicht zu halten, statt der einen oder der anderen Seite ausschließliches Bleiberecht oder zumindest die eindeutige Dominanz zuzugestehen . 46 Zugleich sind die Texte, wie Scegos Titel deutlich macht, selbst «casa», insofern das Erzählen der Geschichte, das Sich-Selbst-Verorten innerhalb der großen Weltkarte der Diaspora ebenso wie auf der aus den übereinandergelegten ‘Heimatstädten’ Rom und Mogadischu entstandenen kleinen selbstgefertigten Karte, zwar, wie die Erzählstruktur der Texte deutlich macht, ebenso fragmentarisch bleibt wie die Geschichten selbst, aber dennoch als ein zu bewohnendes Haus mit Fundamenten und ohne starre Mauern begriffen werden kann: 47 «Alla fine sono solo la mia storia» In diesem Sinne wäre 44 Die Frage der «bewegten Zugehörigkeiten» wird insbesondere bei der Erziehung des Kindes virulent bzw im Text manifest: zum einen im Blick auf die Rolle der Sprache - Domenica Axad beschließt, mit ihrem Kind zunächst ausschließlich italienisch zu sprechen, «perché non ve n’è nessuna [lingua] che parlo con altrettanta disinvoltura» (Mp 259), und ihm, gemeinsam mit Barni, erst etwas später auch somalisch beizubringen -, zum anderen hinsichtlich der unterschiedlichen Traditionen, Riten etc .: So fällt sie die Entscheidung, den Jungen - gegen den Rat des italienischen Kinderarztes - beschneiden zu lassen, «per non impedire a mio figlio di appartenere» (Mp 258), denn «in Somalia la circoncisione […] è una cerimonia collettiva con una funzione sociale, un rito che dichiara l’appartenenza di un individuo a un gruppo» (Mp 257 f .) 45 Appadurai bezieht sich damit selbstverständlich auf die Bourdieu’schen Begriffe von Habitus und Improvisation, merkt dazu aber an: «Improvisation findet nicht mehr länger innerhalb einer relativ festgelegten Menge von denkbaren Haltungen statt, sondern ist allgegenwärtig und allesdurchdringend, angetrieben von den in massenmedialen Meistererzählungen verbreiteten imaginierten Bildern Eine allgemeine Veränderung hat sich in den globalen Bedingungen der Lebenswelten vollzogen: vereinfacht gesagt, während die Improvisation früher von dem erstarrten Habitus befreit werden mußte, muß jetzt der Habitus sorgfältigst gestärkt werden angesichts von Lebenswelten, die oft genug im Fluß sind .» Appadurai: Globale ethnische Räume 1998, S 25 46 Völlig vom Habitus des Lebens einer ‘typischen somalischen Frau’ bestimmt, lebt Domenica Axad die ersten Jahre nach ihrer Flucht aus Mogadischu und der Trennung von ihrer italienischen Mutter, als sie sich gänzlich in die Abhängigkeit ihres Cousins Libeen begibt, mit dem sie in den Niederlanden zusammenlebt: So lange sie bei ihm lebe, müsse sie nicht arbeiten, erklärt er; er bestimmt ihre Kleidung und ihren Lebensstil und stempelt sie, wo sie seinem traditionsbestimmten Bild der Frau nicht entspricht, sofort als gaal, als Nicht-Muslima und Weiße, ab (vgl Mp 102-108) Demgegenüber verfällt sie, nachdem er sie verstoßen hat, ins andere Extrem, indem sie sich, wie oben zitiert, wie eine Seifenblase nun von einem anderen Wind treiben lässt: «Come profuga seguii il fluire di una diaspora che mi riguardava solo marginalmente, interiorizzandone le modalità, l’assenza di progettualità, la mancanza di mete» (Mp 251) - kurz, die Improvisation wird zum Lebensprinzip 47 In vergleichbarer Weise, aber aus anthropologischer Perspektive, sprechen auch Nigel Rapport und Andrew Dawson von den «‘moving homes’ of various kinds, behavioural and ideational, that individuals construct and enact Here are routine practices Italienisch_81.indb 77 02.07.19 14: 05 78 «La nostra casa la portiamo con noi» Barbara Kuhn möglicherweise der Widerstreit von Diaspora, verstanden als vereinzelnde Zerstreuung, und Heterotopie, verstanden als bloße Abschottung, fruchtbar zu machen, wenn es gelingt, das Miteinander von Diaspora und Heterotopie im Sinne der «bewegten Zugehörigkeiten» zu denken, wie sie nicht zuletzt in diesen italophonen Texten samt den somalischen Einsprengseln nicht nur vielfach thematisiert werden, sondern schon durch ihre Sprache zum Ausdruck kommen und so sinnfällig werden Und ebenfalls möglicherweise wäre in diese Richtung auch die Frage nach der Denkbarkeit Europas weiter zu verfolgen, die Frage nach dem ‘Haus Europa’, das von solchen Häusern mit Fundamenten und ohne starre Mauern, wie es diese Texte sind, manches zu lernen haben könnte Abstract. Benché da alcuni anni il concetto di diaspora si sia rivelato uno strumento utile e irrinunciabile per descrivere la realtà - ad esempio dei tanti somali che vivono fuori della loro patria, dispersi in tanti Paesi del mondo intero - sembra tuttavia non essere adeguato per descrivere e intendere pienamente il carattere complesso di questa realtà Partendo da una lettura dettagliata dei due testi, in parte autobiografici, di Ali Farah e Scego menzionati nel titolo, il presente contributo si propone di sfaccettare il concetto combinandolo con quello di eterotopia, sebbene a prima vista questi sembrino escludersi a vicenda Seguendo le tracce dei testi, anche in questa sede si fa ricorso alle metafore e metonimie della carta e della casa, ambedue presenti in svariati modi nei testi delle due autrici In un mondo che sempre di nuovo bisogna «rimappare», la «casa» può trovarsi dappertutto, e questa «casa» non ha «pareti rigide» (cioè non funziona come immagine per descrivere le cosiddette ‘società parallele’, isolate all’interno di una società e chiuse and narrations that do not merely tell of home, but represent it: serve, perhaps, as cognitive homes in themselves» Ihr Movens, in dem Band die Brauchbarkeit des Konzepts ‘home’ als analytisches Konstrukt zu diskutieren, ist die Erkenntnis der «expressive deficiencies of traditional classifications of identity, such as locality, ethnicity, religiosity and nationality First, none of these terms conveys the universally affective power of home […] Secondly, and as importantly, in a situation where traditional classifications of identity often fail to provide adequate understandings of proximate behaviours - adequate appreciations of individual actors’ world-views and their drives to new (often multiple and paradoxical) sites and levels of association, of incorporation and exclusion - ‘home’ may be of use […] ‘Home’ brings together memory and longing, the ideational, the affective and the physical, the spatial and the temporal, the local and the global, the positively evaluated and the negatively As Simmel sums it up, ‘home’ involves a ‘unique synthesis’: ‘an aspect of life and at the same time a special way of forming, reflecting and interrelating the totality of life’» Rapport/ Dawson: The Topic and the Book 1998, S 8 Italienisch_81.indb 78 02.07.19 14: 05 79 Barbara Kuhn «La nostra casa la portiamo con noi» in se stesse) In conseguenza - è questa la tesi del contributo - è piuttosto un modello per pensare un’Europa che non solo crea o ammette delle comunità diasporiche e le loro eterotopie, ma che conosce e apprezza le «bewegten Zugehörigkeiten», le ‘appartenenze in movimento’ dei suoi abitanti Summary. Although, lately, the concept of diaspora has proven to be a helpful and indispensable instrument for describing reality - for example of the many Somalians that live outside of their home country, scattered across many different countries around the world - it still does not succeed to describe adequately or grasp completely the complex character of said reality The article intends to shed light on this concept by combining it with that of heterotopia Even though at first sight the two concepts seem mutually exclusive, combining them is made possible by a detailed reading of two texts, partly autobiographical, by Cristina Ali Farah and Igiaba Scego Both texts make use of metaphors and metonymies of maps and houses, presented in different ways In a world constantly redefined, «home» may be found everywhere, when this ‘home’ has no ‘firm walls’ (i e it doesn‘t function as an image of the so-called ‘parallel societies’, isolated inside a society and closed in themselves), it may rather serve as a model - thus the thesis of this essay - for a concept of Europe as something which does not only create or allow diasporic communities and their heterotopia, but also knows and appreciates its habitants and their ‘flexible senses of belonging’ Bibliographie Ahmed, Sara: «Home and away Narratives of migration and estrangement», in: dies .: Strange encounters. 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Aus eurer Brust, wie ein kühner Flüchtling war mein Herz zum duftenden Ausgang gelaufen, als unter süßen spiriti und süßem Saft ein Kuss den fliehenden Gefangenen anzog Einen Teil nur zog er an, weil hartnäckig die alte Liebe einen Teil in Euch behielt zwischen dem Honig der einen und der anderen Blume mit dem sie seinen unwiderstehlichen Leim produziert Ein weiterer Kuss gar teilte dann noch einmal den schon abgetrennten Teil; kostete er den ihm gefälligeren Teil; der andere schmachtet unglücklich in Euch Ach, könnt’ ich es doch wiederbekommen, und zwar auch mit [dieser Kunst, und mit meiner Seele an einem einzigen Ort lassen, wie die Biene im Stechen das Leben lässt? Das Sonett «Dal vostro sen, qual fuggitivo audace» ist zweifellos eines der komplexesten Gedichte der Rime amorose Torquato Tassos Die 1591 in Mantua erschienene Osanna-Ausgabe dieser Rime ist mit einem von Tasso selbst verfassten Kommentar versehen, und gerade im Falle dieses Sonetts scheint ein Kommentar unentbehrlich zu sein Tassos Kommentar erhellt jedoch leider keineswegs die Deutungszweifel des Sonetts, das weiterhin nur mit Mühe interpretierbar scheint, nicht zuletzt aufgrund der dem geliebten Vergil entnommenen Allegorie, worauf sich der ganze Duktus des Gedichts stützt Die erste Quartine zeigt schon eine ‘anatomische Verbindung’ zwischen dem vostro - gemeint ist damit die Geliebte - und dem core des lyrischen Ichs Gemäß einem üblichen Topos gehört das Herz des Dichters der gehuldigten Dame, sie trägt es in ihrer Brust (sen), doch schon die ersten Verse zeigen eine Flucht (fuggitivo) des Herzens nach außen, zum Munde der Geliebten (varco odorato) Ein Kuss (bacio) zieht dann das Herz an, dargestellt diesmal nicht als ein tapferer Flüchtling (audace), sondern eher als ein fluchtliebender Gefangener Tasso notiert in seinem Kommentar «l’amore non parea volontario» («die Liebe schien unfreiwillig»), und diese Tatsache DOI 10. 23 57/ Ital-2019 - 0 0 0 6 Italienisch_81.indb 82 02.07.19 14: 05 8 3 Philip Stockbrugger Torquato Tasso: Dal vostro sen qual fuggitivo audace zeigt deutlich, dass es sich um eine sinnliche Liebe handelt, da nur diese keine Übereinstimmung mit der erhabeneren Vernunft genießen kann, aus der ausschließlich die wahre Freiwilligkeit stammt Die zweite Quartine stellt die Zweiteilung der Liebe dar Ein Teil (parte) des Herzens wird vom bacio angezogen, doch ein anderer Teil bleibt zurück, immer noch gefesselt von der alten, hartnäckigen (tenace) Liebe (antico amore), scheinbar unwiderruflich (inestricabil) verstrickt im Honig (mel) zweier Blumen (l’uno e l’altro fiore) Die folgende Terzine erzählt von einem neuen (novo) Kuss, der das schon gespaltene (tronca) Herz abermals aufteilt (ritroncando), den besseren Teil (la più gradita) schmeckt, und den unglücklichen (languendo ... misera) Rest in der Brust der Geliebten zurücklässt Die zweite Terzine äußert den etwas pathetischen Wunsch des Ichs (deh, fia mai), erstens, mittels eines Kusses (e con quest’arte), auch den letzten Teil des eigenen core wiederzugewinnen, und zweitens, das wiedergewonnene (wieder zusammengestückelte) Herz zusammen mit der eigenen Seele an einem einzigen Ort zu lassen (un sol loco), so wie die Biene im Stechen (d .h mittels der Auslassung des Stachels) auch ihr Leben verliert Dieses letzte Bild entlehnt Tasso aus Vergil (Georg IV, 238), wie auch im Selbstkommentar deutlich gemacht wird Die Nähe dieses Sonetts zu einer Gruppe von Gedichten der Rime amorose, in der eine zweifache Liebe thematisiert wird, hat manche Interpreten zu der Behauptung geführt, Tasso habe hier einen Kuss zwischen zwei Damen inszeniert (wie zum Beispiel Gerhard Regn, Tassos zyklische Liebeslyrik und die petrarkistische Tradition. Studien zur ‘parte prima’ der ‘Rime’, Tübingen 1987) Die erste Geliebte des Ichs werde zweimal von der neuen Geliebten des Dichters geküsst Ein letzter - nur gewünschter - Kuss, diesmal zwischen dem Ich und der alten Geliebten, würde eine komplette Befreiung des Herzens bedeuten, das nun, zusammen mit der Seele, sich der neuen Liebe hingeben kann Das Bündnis Herz-Seele, zusammen mit der scheinbaren Freiwilligkeit der Flucht (und der Unfreiwilligkeit des antico amore), könnte implizit bedeuten, dass die zweite Liebe nicht nur bevorzugt, sondern vom Dichter vielleicht sogar als moralisch erhabener betrachtet wird Ein anderes Sonett, das nicht in die definitive Ausgabe der Rime aufgenommen wurde - wahrscheinlich, weil etwas zu gewagt -, inszeniert eindeutig einen Damenkuss («Di nettare amoroso ebro la mente»): Tasso hatte ein solches Bild also schon thematisiert, wir würden uns nicht vor einem unicum befinden Doch wie gesagt, ist diese Deutung hauptsächlich veranlasst durch die Position des vorliegenden Textes innerhalb der Rime, die eine späte (Re) Organisation der lyrischen Produktion des Dichters darstellt Das Sonett war Italienisch_81.indb 83 02.07.19 14: 05 8 4 Torquato Tasso: Dal vostro sen qual fuggitivo audace Philip Stockbrugger schon einige Jahre vorher konzipiert und verfasst worden, war vor 1591 dementsprechend nicht in diesem Kontext les- und deutbar Wenn man sich also nur dem Text widmet, muss man zugeben, dass nicht direkt von due amori die Rede ist, sondern von zwei fiori (Blumen), zwischen denen das Herz des Dichters, die ape (Biene), verstrickt bleibt Die ‘absolute’ Interpretation des Textes, die also, die vom Canzoniere-Kontext gelöst ist, wirkt viel einfacher und deutlicher Der neue (novo) Kuss ist kein Damenkuss, sondern ein neuer Kuss, zwischen der neuen Blume und dem Ich selbst Das Herz ist zwischen drei Personen zerstückelt, und nichts Lieberes will das Ich, als sich selbst im novo fiore zu verlieren Es handelt sich also nicht um eine perfekte trianguläre Inszenierung wie im schon erwähnten, extravaganten Sonett «Di nettare amoroso ebro la mente» - in dem das Dreieck mit den beiden küssenden Damen geschlossen wird -, sondern eher um ein unvollkommenes triangolo, das sich nur mittels des zweimal geküssten Ichs realisiert, und nicht im höfischen ‘Kurzschluss’ des bacio zwischen zwei Damen Diese zweite Interpretation hat den großen Vorteil, für alle Elemente des Sonetts eine passende Rolle in der Allegorie zu finden, doch kann man trotzdem nicht von einer abschließend befriedigenden Deutung reden Warum hätte Tasso die zwei Blumen erwähnen sollen, noch bevor der neue Kuss - also die zweite Liebe - seinen ersten Auftritt hat? Die Position, an der die zwei fiori erwähnt werden, könnte sogar zu der Annahme führen, dass diese lediglich Attribute der donna seien Wäre das aber wiederum der Fall, so würde die Struktur der Allegorie nicht mehr den gesamten Text umfassen, denn das Herz - die Biene - wäre nicht zwischen zwei Lieben geteilt, sondern wünscht nur mittels eines dritten Kusses die Seele zu verlassen (zu sterben): eindeutig eine lectio facilior - von triangulärer Beziehung wäre somit keine Rede mehr, Ich und Dame wären die einzigen personaggi -, doch auf Kosten der Deutbarkeit der Verse 7 und 8 Grundsätzlicher noch befänden wir uns in diesem Falle in der paradoxen Situation, dass das Ich sich nur mittels dreier Küsse von einer nicht (mehr) gewünschten Liebe befreien könnte Keine der erwähnten Deutungen dieses Sonetts ist völlig kohärent Die Rubrik der Osanna-Ausgabe lautet ancora sul soggetto de’ baci, doch die Gedichte davor erwähnen nur die doppelte Leidenschaft des Ichs, und Küsse werden keineswegs thematisiert Der Kommentar zum Gedicht gibt uns einen vagen Hinweis zum Thema (racconta la divisione del cuore, prima in due parti, e poi due altre con un nuovo bacio, in guisa, che l’ultima, e la minore ritenuta da l’antico amore restò ne la usata prigione), doch abermals steht nur der antico amore fest, von einem novo amore ist nirgends explizit die Rede Italienisch_81.indb 84 02.07.19 14: 05 85 Philip Stockbrugger Torquato Tasso: Dal vostro sen qual fuggitivo audace Man mag im petrarkistischen Rahmen der Dichtung Tassos über die Kuss-Thematik erstaunt sein, doch vergäße man dabei, dass es sich in diesem Falle, wie gesagt, um eine sinnliche Liebe handelt: Tasso widmet einzelne Gedichte seiner Rime amorose nicht nur seiner eigenen Laura, sondern auch anderen Damen, eine Vielfalt der Leidenschaften ist also durchaus möglich (Dante mit seinen Rime könnte als illustres Beispiel dienen) Antico kann natürlich auch eine doppelte Deutung zulassen: Man könnte es als ‘alt’, im Sinne einer schon verwelkten Liebe gegenüber einer neuen verstehen, aber auch ein neutraleres ‘schon lange wirkende’ wäre durchaus vertretbar Der dritte - erhoffte - Kuss ist ein gewünschter Abschied - in dem das Ich sein eigenes Herz wiedererobert und mit der Seele endlich wieder in Verbindung bringt (in un sol loco), natürlich mit der Wehmut einer schwindenden, wenn auch ethisch inakzeptablen Leidenschaft, was auch das letzte vergilianische Bild äußerst pathetisch ausdrückt Übersetzung und Kommentar: Philip Stockbrugger Bibliographischer Hinweis: Torquato Tasso: Rime Prima Parte - Tomo II: Rime d’amore con l’esposizione dello stesso Autore (secondo la stampa di Mantova, Osanna, 1591), Ed critica a cura di Vania de Maldé, Edizione Nazionale delle Opere di Torquato Tasso IV, I, 2, Alessandria: Edizioni dell’Orso 2016 vertrieb@onde.de Onde e.V. - Italien erleben onde_ev www.onde.de Jetzt bestellen onde Das italienische Kulturmagazin Italien ohne Klischees Italienisch_81.indb 85 02.07.19 14: 05 86 I U L I A ST E G MÜL L E R Sprachvarietäten im modernen Italienischunterricht Stellenwert der Sprachvarietäten in den Lehrplänen deutscher Bundesländer Die Themen ‘regionale Sprachvarietäten’ und ‘Jugendsprache’ sind für das Fach Italienisch am Gymnasium in den meisten Lehrplänen der deutschen Bundesländer enthalten, wobei sie unterschiedlich gewichtet sind Beispielsweise sieht der hessische Lehrplan das «Kennenlernen regionaler Sprechgewohnheiten» in der Sekundarstufe I vor, und in der gymnasialen Oberstufe sollen die Schüler*innen sich mit dem Thema «Regionalbewusstsein - identitätsbildende Elemente» beschäftigen In Nordrhein-Westfalen heißt es im Kernlehrplan für die Sekundarstufe II: «Ein stärkeres Bewusstsein hinsichtlich der im Italienischen verwendeten Sprachregister, der Unterschiede zwischen lingua scritta und lingua parlata sowie exemplarischer regionaler Besonderheiten der sich wandelnden italienischen Sprache (Sprachbewusstheit) setzt einen oberstufengemäßen Akzent im Bereich der Sprachbeherrschung und fördert die interkulturelle Handlungsfähigkeit», und der Lehrplan Thüringens sieht vor, dass die Lernenden in Klassenstufe 12 «Sprachebenen und Sprachvarietäten erkennen und adressatengerecht sowie situationsangemessen bewusst anwenden, z B umgangssprachliche Wendungen, Jugendsprache, Jargon, Standardsprache als Unterrichtssprache » Aufwertung der Beschäftigung mit Sprachvarietäten im bayerischen Lehrplan PLUS In Bayern verleiht der kompetenzorientierte Lehrplan PLUS, der seit 2017/ 2018 schrittweise in Kraft tritt, der Beschäftigung mit Sprachvarietäten im Italienischunterricht mehr Gewicht und sieht eine viel differenziertere Behandlung als bislang vor Im auslaufenden Lehrplan (Italienisch am Gymnasium, 3 Fremdsprache) ist die Behandlung von Sprachvarietäten nur in den Rubriken «Sprachreflexion» und «Hörverstehen» vorgesehen . 1 1 Im Hinblick auf die «Sprachreflexion» soll erreicht werden, dass die Schüler*innen der 10 Jahrgangsstufe «unterschiedliche sprachliche Register und regionale Varietäten kennen .» In den Jahrgangsstufen 11 und 12 heißt es im Bereich «Hörverstehen»: Die Schüler*innen sollen «Hörtexte auch unter realistischen Bedingungen (u a regionale Varianten) global und im Detail verstehen» sowie «regionale und soziale Varietäten erkennen » DOI 10. 23 57/ Ital-2019 - 0 0 07 Italienisch_81.indb 86 02.07.19 14: 05 87 Iulia Stegmüller Sprachvarietäten im modernen Italienischunterricht Im Lehrplan PLUS steht nun unter «Themengebiete» für die 10 Klasse (3 Fremdsprache): Schüler*innen erhalten «erste Einblicke in regionale Varietäten (z .B fiorentino, napoletano, piemontese, siciliano) und deren Bedeutung im Alltagsleben» und kennen «grundsätzliche Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache sowie Umgangssprache und Standardsprache» In der 11 Jahrgangsstufe heißt es in der gleichen Rubrik: Die Jugendlichen sollen «Einblick in die Rolle von Minderheitssprachen in Italien (z .B Sardisch, Deutsch) und des Italienischen in der Schweiz und in Istrien» erhalten Außerdem erfahren sie mehr über «autonome Regionen (u .a Südtirol, eine Insel)» In der 12 Jahrgangsstufe sollen sie sich mit der «Vielfalt von Sprache (u .a Jugendsprache, Register, Soziolekte)» beschäftigen, und sie erhalten «Einblicke in die Entstehung des Italienischen als Nationalsprache» Was das Hörverstehen anbelangt, so soll sich die Kompetenz vom Verständnis von Hör- und Hörsehtexten zu bekannten Themen mit «ggf geringer regionaler oder umgangssprachlicher Färbung» hin zum Verständnis von Hörtexten zu komplexen bzw abstrakten Themen, die «ggf eine regionale oder umgangssprachliche Färbung» haben, entwickeln Rechtfertigung einer gründlicheren Behandlung von Sprachvarietäten im Unterricht Vermittlung wichtiger Bildungs- und Lernziele Es gibt viele Gründe, weshalb eine eingehendere Beschäftigung mit Varietäten im modernen Fremdsprachenunterricht sinnvoll ist So können dadurch z .B viele wichtige Bildungs- und Lernziele erreicht werden Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen (GER), der vom Europarat veröffentlicht wurde, dient als gemeinsame Basis «für die Entwicklung von zielsprachlichen Lehrplänen, curricularen Richtlinien, Prüfungen, Lehrwerken usw in ganz Europa» Er macht Sprachenlernen und -lehren somit länderübergreifend vergleichbar Ein wichtiges Prinzip, das dem GER zugrunde liegt, besteht darin, «dass das reiche Erbe der Vielfalt der Sprachen und Kulturen in Europa ein wertvoller gemeinsamer Schatz ist, den es zu schützen und entwickeln gilt» (GER) Es geht also um die Wertschätzung sprachlicher und kultureller Vielfalt und damit auch um die Überwindung von Vorurteilen und Diskriminierung Toleranz soll sich nicht nur auf eine positive Haltung im Hinblick auf Nationalsprachen beschränken, sondern gilt auch für Varietäten So heißt es explizit: Ein Gesamtziel besteht darin, «durch vermehrte Kenntnis nationaler und regionaler Sprachen - auch solcher, die nicht so häufig gelehrt werden - den Reichtum und die Vielfalt des kulturellen Lebens in Europa zu erhalten und weiterzuentwickeln» (GER) Dies ist ganz im Sinne eines Bildungsverständnisses, das über die bloße Wis- Italienisch_81.indb 87 02.07.19 14: 05 8 8 Sprachvarietäten im modernen Italienischunterricht Iulia Stegmüller sensvermittlung hinausgeht und die Persönlichkeitsbildung des Menschen im Blick hat Toleranz gegenüber Sprache bedeutet auch Toleranz gegenüber dem Sprecher Denn Personen werden nicht zuletzt nach der Art und Weise, wie sie sprechen, eingeschätzt (vgl Devereaux 2015, 26) Wenn beispielsweise regionale Sprachvarietäten gegenüber der Hochsprache als minderwertig angesehen werden, so hat dies zur Folge, dass ihre Sprecher ebenfalls negativ attribuiert werden Andersartigkeit nicht als Defizit zu verstehen, ist ein wichtiger Aspekt interkultureller Kompetenz So Devereaux: «What if we could help students appreciate that difference does not mean deficit? » (2015, 27) und: «[…] we must teach students about language (i .e ., grammar, style, vocabulary, etc .), but we must also include language ideologies» (2015, 26) Ein weiteres zentrales Ziel des modernen Fremdsprachenunterrichts ist die kommunikative Kompetenz Im GER wird diese beschrieben als eine «kommunikative Kompetenz, zu der alle Sprachkenntnisse und Spracherfahrungen beitragen und in der die Sprachen miteinander in Beziehung stehen und interagieren» (GER) Das heißt, dass jegliche Art der Spracherfahrung, also u .a auch die Wahrnehmung verschiedener Dialekte und Jargons, zur kommunikativen Kompetenz einer Person beiträgt Laut GER ermöglicht Mehrsprachigkeit, dass «Gesprächspartner von einer Sprache oder einem Dialekt zu einer oder einem anderen wechseln und dadurch alle Möglichkeiten der jeweiligen Sprache oder Varietät ausschöpfen, indem sie sich z .B in einer Sprache ausdrücken und den Partner in der anderen verstehen» (GER) Dies kann folgendermaßen erweitert werden: Die Schüler*innen drücken sich standardsprachlich aus und verstehen einen Gesprächspartner, der eine Nonstandardvarietät (z .B Dialekt) spricht (vgl Studer 2002) Durch die Darbietung authentischer Hör- und Hörsehtexte mit zunächst geringer regionaler Färbung können sie allmählich eine gewisse «Wahrnehmungstoleranz gegenüber Varietäten» aufbauen Dies ist «die Voraussetzung dafür, dass sich die Lernenden in verschiedenen Situationen (beim interaktiven Sprechen ebenso wie beim Hör- und Hörsehverstehen) so verhalten können, dass sie nicht irritiert sind» (Studer 2002, 119) Die Schüler*innen sollen also (wie dies beispielsweise im bayerischen Lehrplan PLUS ab der 10 Jahrgangsstufe, Italienisch 3 Fremdsprache vorgesehen ist) eine rezeptive Kompetenz entwickeln, Hör- und Hörsehtexte geringer regionaler oder umgangssprachlicher Färbung zu verstehen Außerdem ist es wichtig, dass sie allgemein ein «Bewusstsein für soziokulturelle Besonderheiten» (z .B das Verhältnis von Standard- und Nonstandardvarietäten und die damit verbundenen Einstellungen) entwickeln (Studer 2002, 121) Italienisch_81.indb 88 02.07.19 14: 05 8 9 Iulia Stegmüller Sprachvarietäten im modernen Italienischunterricht Stellenwert regionaler Sprachvarietäten im heutigen Italien Bei der Überlegung, ob es gerechtfertigt ist, regionale Sprachvarietäten im Unterricht gründlicher zu behandeln, stellt sich unweigerlich die Frage, ob Dialekte in Italien überhaupt noch bedeutsam sind Nach der Auswertung der Ergebnisse einer nationalen Umfrage von Istat (Istituto Nazionale di Statistica) aus dem Jahre 2006 kommt Massimo Cerruti jedoch zu folgendem Schluss: «Il dialetto, in conclusione, non mostra segnali evidenti di imminente estinzione, si mantiene anzi stabilmente, soprattutto in alcune regioni, presso certe classi di parlanti e domini d’uso»; «risulta funzionale e vitale come varietà aggiuntiva, parallela alla lingua nazionale» (Cerruti 2011) Die regionalen Sprachvarietäten sind demnach nicht vom Aussterben bedroht (dies trifft für bestimmte Regionen, Sprecherschichten und Verwendungsbereiche besonders zu) und scheinen parallel zur Nationalsprache bestehen zu bleiben, wobei Sprecher (sogar in ein und derselben Kommunikationssituation) häufig Dialekt und Hochsprache alternierend oder gemischt verwenden «Proprio l’uso alternato con l’italiano nello stesso evento comunicativo rappresenta una delle principali tendenze della situazione sociolinguistica contemporanea […]» (Cerruti 2011) Laut Cerruti werden regionale Varietäten eher in der Familie oder im Gespräch mit Freunden verwendet als in der Konversation mit weniger vertrauten Personen; und besonders im Süden, auf den Inseln und im Nordosten (v .a im Veneto) halten sie sich recht beständig Was den einzelnen Sprecher anbelangt, so fällt die Kategorisierung wesentlich schwerer: «Sono infatti moltissime le variabili che spingono l’individuo a servirsi nella sua pratica quotidiana solo dell’italiano o ad affiancare ad esso l’uso attivo del dialetto, almeno nelle situazioni comunicative più informali e familiari» (D’Agostino 2007, 62) Die Anzahl der reinen Dialektsprecher hat in Italien stark abgenommen und immerhin sprechen laut einer Umfrage von Istat aus dem Jahre 2015 mittlerweile 45,9% der Befragten sogar innerhalb der Familie ausschließlich Italienisch Allerdings hat sich dieser Prozentsatz in den letzten Jahren nicht so erheblich verändert, wie erwartet (44% im Jahr 2000; 45% im Jahr 2006) (vgl D’Agostino 2007, 59) «Siamo dunque ben lontani da quel tracollo dei dialetti che, secondo alcune analisi, avrebbe preceduto di qualche decennio la loro sostanziale scomparsa» (D’Agostino 2007, 194) Während regionale Varietäten in der Vergangenheit oft abgewertet wurden: «Il dialetto è stato, infatti, visto frequentemente come ostacolo principale all’apprendimento dell’italiano, come una deviazione dalla norma corretta, una lingua inferiore […]» (D’Agostino 2007, 229), werden sie heute Italienisch_81.indb 89 02.07.19 14: 05 9 0 Sprachvarietäten im modernen Italienischunterricht Iulia Stegmüller vielmehr als «patrimonio culturale da tutelarsi» (D’Agostino 2007, 210) und somit als wertvoll und als Bereicherung angesehen «Sapere e usare il dialetto, oggi, è spesso valutato positivamente; rappresenta una risorsa comunicativa in più nel repertorio individuale, a disposizione accanto all’italiano, di cui servirsi quando occorre […]» (Cerruti 2011) Offenbar geht die Verbreitung der Standardsprache mit einer Wiederbelebung sprachlicher Varietäten einher, die nun v .a in expressiver Funktion, beispielsweise als Zeichen der Vertrautheit und zum Ausdruck von Gefühlen, verwendet werden - und zwar auch von Sprechern, die die Hochsprache gut beherrschen: «non più marca d’inferiorità socioculturale, ma segnale di familiarità, affettività, ironia nell’uso di persone che dominano bene la norma dell’italiano» (Antonelli 2010) Somit dienen Sprachvarietäten u .a als Quelle sprachlicher Mittel für verschiedene Kommunikationssituationen Regionale Varietäten finden auch in den neuen Medien Verwendung: «Negli ultimi tempi, certi indizi emersi dalla produzione linguistica permettono di avanzare l’ipotesi di una rivalorizzazione sociale dei dialetti in seguito alla rivoluzione dei nuovi media: essa si manifesta nella scrittura informale, familiare e veloce dei messaggini, ma anche in quella diametralmente opposta della scrittura enciclopedica sotto forma delle diverse Wikipedie in dialetto» (Krefeld 2016, 262) Zum einen gibt es zahlreiche Webseiten, die Texte im Dialekt enthalten oder sogar vollständig darin abgefasst sind (obwohl diese in der Regel überwiegend mündlich gebraucht werden): «Infatti, esistono parecchie versioni di Wikipedia in diversi dialetti come anche in idiomi tutelati dalla legge 482, e il numero degli utenti registrati giustifica pienamente la considerazione di tale tendenza come collettiva, che mira proprio ad una elaborazione dei dialetti […]» (Krefeld 2016, 270) Bei der schriftlichen Fixierung z .B in Wikipedia-Einträgen sind Varietäten nicht einfach graphisch wiedergegeben, sondern beispielsweise in den Bereichen Syntax und Lexik ausgebaut: «[…] non sono semplicemente resi sotto forma grafica, ma subiscono anche inevitabili adattamenti alle esigenze del linguaggio scritto (sintassi complessa, lessico differenziato ecc .)» (Krefeld 2016, 270) Es gibt außerdem zahlreiche Internetseiten, auf denen Sprichwörter, Rezepte, Gedichte, etc in Mundart gesammelt werden In solchen Fällen werden die Dialekte meist nicht spontan verwendet, sondern eher «konserviert», was bei Fiorentino in Anlehnung an Berruto als «funzione museogra- Italienisch_81.indb 90 02.07.19 14: 05 91 Iulia Stegmüller Sprachvarietäten im modernen Italienischunterricht fica» bezeichnet wird (vgl Fiorentino 2006, 114) Davon abgesehen gibt es in den neuen Medien aber zum anderen zahlreiche Beispiele spontaner Verwendung der Dialekte oder dialektaler Elemente: «In merito alle funzioni comunicative per cui vengono usati i dialetti, oltre a quella museografica, più volte evocata, si osserva spesso un uso ‘ludico’ dei dialetti, e lo si osserva soprattutto nelle chat (dove peraltro un comportamento e una finalità genericamente e globalmente ludici sono piuttosto comuni)» (Fiorentino 2006, 129) In dieser expressiv-spielerischen Form verwenden auch viele Jugendliche regionale Varietäten z B in Chats und in der Kommunikation per SMS Häufig werden in Gesprächen, die überwiegend in der Hochsprache geführt werden, dialektale Elemente eingestreut, «[…] dando luogo a interessanti fenomeni di code-switching» (Fiorentino 2006, 111) Ausdrücke in Mundart werden dabei oft absichtlich und zu rhetorischen Zwecken, wie beispielsweise zur Hervorhebung oder zum Ausdruck von Ironie und Komik, verwendet (vgl Grimaldi 2004, 125, und Grimaldi 2007) Soziale Netzwerke bilden einen informellen Rahmen, in dem Verstöße gegen die Sprachnorm in der Regel nicht moniert werden und häufig steht weniger der Inhalt von Aussagen im Vordergrund als vielmehr der Ausdruck von Stimmungslagen und Gefühlen, was auch in der Verwendung von Emoticons deutlich wird Es überwiegen die «forme di orale scritto» (D’Agostino 2007, 198) und damit eine «mimesi del parlato» (Grimaldi 2007), worin auch Mundart ihren Platz findet Viele Jugendliche verwenden heute nicht nur auf sozialen Plattformen dialektale Elemente, sondern diese sind allgemein ein Bestandteil ihrer Jargons: «[…] nelle interazioni fra pari emerge un uso controllato del dialetto […]» (D’Agostino 2007, 105) Solche Jugendjargons haben eine identitätsstiftende Funktion und dienen dazu, das Zugehörigkeitsgefühl zu stärken und sich von Erwachsenen und anderen Gruppen abzugrenzen: «Le parole dialettali vengono adoperate un pò come le parole straniere - con lo scopo ludico, espressivo ed emotivo in generale - e svolgono anche la funzione identitaria, che ricollega quei giovani non all’interno del gruppo generazionale, ma alla comunità locale» (Bartkowiak-Lerch 2016, 217) Teils ändert sich die ursprüngliche Bedeutung dialektaler Begriffe im Rahmen der Jargons und teils verbreiten sich solche Begriffe beispielsweise durch TV- Sendungen und Lieder auf nationaler Ebene (vgl Bartkowiak-Lerch 2016, Italienisch_81.indb 91 02.07.19 14: 05 92 Sprachvarietäten im modernen Italienischunterricht Iulia Stegmüller 219) Die Vielzahl von Kontexten, in denen regionale Varietäten heute (auch zweckmäßig) verwendet werden, reicht von Werbung bis hin zur Kommunikation in sozialen Netzwerken - «Da più parti è stato segnalato, infatti, l’emergere di ‘una nuova dialettalità’ […]» (D’Agostino 2007, 195) Insofern gibt es auch einen reichen Fundus authentischer Materialien, dessen sich Lehrkräfte bedienen können, um Sprachvarietäten im Unterricht zu thematisieren Praktische Ideen für die Beschäftigung mit Sprachvarietäten im Italienischunterricht Reflexion über regionale Sprachvarietäten Wie anfangs erwähnt, ist in einigen deutschen Lehrplänen vorgesehen, dass Schüler*innen sich mit regionaler Sprachvielfalt beschäftigen Laut Lehrplan PLUS sollen Schüler*innen in Bayern ab der 10 Klasse (3 Fremdsprache) «erste Einblicke in regionale Varietäten […] und ihre Bedeutung im Alltagsleben» (Lehrplan PLUS) erhalten Bilder (z .B das Cover einer Mundartausgabe von Asterix oder Screenshots zu Serien und Filmen wie Dahoam is Dahoam oder Sauerkrautkoma und Wer früher stirbt ist länger tot) regen eine Diskussion über die Bedeutung von Mundart in Deutschland an Um den Stellenwert regionaler Varietäten im Alltag jedes einzelnen zu thematisieren, könnten die Lernenden zunächst einen Fragebogen in Stillarbeit ausfüllen (z .B «Parli dialetto? Con chi? Quando? Qual è secondo te la differenza tra lingua e dialetto? …») und dann im Anschluss ihre Ergebnisse mit denen der Mitschüler*innen vergleichen Unter anderem bieten Blogs die Möglichkeit einer Auseinandersetzung mit dem Stellenwert regionaler Varietäten im Leben italienischer Jugendlicher Im Blog «dialetti sì o no» auf www .skuola net äußern italienische Teenager ihre Meinung zur Frage, ob Dialekte als Schulfächer unterrichtet werden sollten Die Schüler*innen könnten die jeweiligen Argumente heraussuchen und darüber debattieren Falls es eine italienische Partnerschule gibt, wäre es auch möglich, dieses Thema auf «Edmodo», einer interaktiven Plattform für Schüler*innen, diskutieren zu lassen Einblicke in verschiedene Dialekte und Jugendjargons Es gibt zahlreiche Quellen, um den Schüler*innen erste Einblicke in regionale Sprachvarietäten zu ermöglichen Einen Überblick über verschiedene Dialekte bietet der akustische Sprachatlas VIVALDI, der im Internet abgerufen werden kann (Vivaio Acustico delle Lingue e dei Dialetti d’Italia) Dabei können die Schüler*innen ausprobieren, wie z .B das Wort «l’acqua» an verschiedenen Orten Italiens ausgesprochen wird Um einen raschen Ein- Italienisch_81.indb 92 02.07.19 14: 05 93 Iulia Stegmüller Sprachvarietäten im modernen Italienischunterricht druck sprachlicher Vielfalt zu erhalten, eignen sich auch Clips von «Dialektkünstlern» auf Youtube (z .-B Edoardo Mecca: «Tutti i dialetti italiani in 2 minuti») Mundart wird u .a gezielt in der Werbung eingesetzt (man denke nur an «Seitenbacher Müsli» oder den Slogan «Mia san mia» des FC Bayern) In einem Werbefilm für Nutella, der unter dem Titel «Nutella Dialetti - I nonni d’Italia! » auf Youtube zu finden ist, stellen sich drei italienische Senioren in Mundart (romanesco, milanese, napoletano) vor In dieser unmittelbaren Abfolge ist es gut möglich, die Unterschiede zwischen verschiedenen Dialekten wahrzunehmen Im Anschluss könnten die Schüler*innen darüber diskutieren, warum für manche (v .a regionale) Produkte im Dialekt geworben wird In der Musik wird ebenfalls experimentierfreudig mit dialektalen Elementen umgegangen Als Einstieg wäre ein Gespräch über die aus Übersee am Chiemsee stammende Gruppe LaBrassBanda möglich, die für fetzige Reggae-Ska-Rythmen bekannt ist und unter anderem das bayerische Lied «Nackert» herausgebracht hat In der Neuen Volksmusik bzw Volxmusik/ Tradimix 2 werden häufig traditionelle und zeitgenössische Musik gemischt Das Lied «Er traffico de Roma» (Album Occhio, 2004) der Reggae- und Ska-Band Radici nel Cemento ist in römischer Mundart gesungen Es handelt von den Verkehrsproblemen in Rom und ist daher (in Übersetzung) auch für eine inhaltliche Analyse geeignet Auch die apulische Band Sud Sound System singt im Dialekt, z .B «Sciamu a ballare» (Album Acqua pé sta terra, 2005) Schüler*innen könnten darüber diskutieren, welche Wirkung der Gesang in Mundart auf die Hörer hat Reggae wird normalerweise in englischen Sprachvarietäten (v .a Jamaican Patois) gesungen und ist oft gesellschaftskritisch Natürlich spielen regionale Sprachvarietäten auch in der Literatur eine wichtige Rolle Das Buch Il libro degli errori des italienischen Autors Gianni Rodari enthält die Geschichten «Il biglietto perduto» (worin es um venezianische Mundart geht) und «In Sardegna» (worin das Sardische thematisiert wird) In vielen literarischen Texten wird Mundart auch gezielt im Wechsel mit Hochsprache verwendet Im Beitrag «Sizilianisches in den Romanen von Andrea Camilleri» (vgl Bologna 2009) sind einige Funktionen der Verwendung von Dialekten in literarischen Texten aufgeführt Auch der Film Benvenuti al Sud (2010) von Luca Miniero eignet sich gut, um den Schüler*innen Einblicke in verschiedene Dialekte zu ermöglichen Der Film handelt von dem Postangestellten Alberto Colombo, der - 2 Unter Volxmusik/ Tradimix versteht man eine Mischung aus Elementen der Volksmusik mit anderen Musikstilen wie Hip-Hop, Jazz etc Italienisch_81.indb 93 02.07.19 14: 05 9 4 Sprachvarietäten im modernen Italienischunterricht Iulia Stegmüller anstatt wie gewünscht nach Mailand - in eine Filiale im italienischen Süden, nämlich nach Castellabate versetzt wird Colombo hat - nicht zuletzt wegen seiner vielen Vorurteile - anfänglich mit einigen Schwierigkeiten zu kämpfen Diese sind zum Teil auch sprachlicher Natur, wie besonders von Min 22- Min 44 deutlich wird Zum Teil müssen Colombos Kollegen ihm übersetzen, was die Kunden wünschen und einige sprachliche Unterschiede werden sogar explizit thematisiert Die Schüler*innen sollen sich mit der «Vielfalt von Sprache» (u a Jugendsprache) auseinandersetzen Da sie selbst Jugendjargon sprechen, ist dieses Thema für sie wahrscheinlich besonders interessant Zunächst könnten ein paar Begriffe gesammelt werden, die deutsche Jugendliche gern verwenden - Ausdrücke wie «Oida» und «Digga» sind z .B aus regionalen Sprachvarietäten entlehnt Dass auch italienische Jugendliche sich in ihren Jargons dialektaler Elemente bedienen, wird u .a im Film Scialla! (Stai sereno) von Francesco Bruni aus dem Jahr 2011 (zu dem es auch den Soundtrack Scialla! von Amir Issaa und einen gleichnamigen Roman von Giacomo Bendotti gibt) deutlich In dem Film geht es um einen lässigen, ‘schulfaulen’ Teenager namens Luca und dessen Beziehung zu seinem Vater Es bietet sich an, nur einzelne Szenen aus Scialla! zu wählen, da Luca einen römischen Jugendjargon spricht Die Schüler*innen könnten z .B Vater und Sohn charakterisieren und dabei deren Sprache miteinbeziehen Auf www .adgblog .it sind unter «esercizi sul linguaggio giovanile» einige Formulierungen aus Jugendjargons aufgeführt, die den standardsprachlichen Entsprechungen zugeordnet werden sollen (z B che sfiga! = che ragazza brutta/ che sfortuna) Die Schüler*innen könnten diese und ähnliche Ausdrücke im Online-Wörterbuch Slangopedia (http: / / temi .repubblica .it/ espresso-slangopedia) nachschlagen, um auf die richtigen Lösungen zu kommen Anschließend wäre es möglich, dass sie im Rahmen von Rollenspielen (ein Gespräch unter Jugendlichen oder eine Diskussion mit den Eltern) ein paar dieser Ausdrücke verwenden, damit ihr Bewusstsein für verschiedene Register und die Unterschiede zwischen Jugend- und Standardsprache geschärft wird Daran könnte sich eine Mediation zur Sprache im deutschen Kinoerfolg Fack ju Göhte anschließen Auf www .adgblog .it gibt es auch einen kurzen TG3-Beitrag zu den Jugendjargons, «Generazione 20 parole: una video-comprensione sul gergo giovanile», in dem gezeigt wird, dass Erwachsene zum Teil eine Übersetzung von Begriffen der Jugendjargons benötigen Es gibt zahlreiche Artikel zu diesem Thema (z .B auf la Repubblica.it und L’Espresso) Die Beschäftigung mit Jugendjargons lohnt sich auch für Lehrkräfte - damit man Bella prof! (=Ciao prof! ) nicht für ein Kompliment hält Italienisch_81.indb 94 02.07.19 14: 05 95 Iulia Stegmüller Sprachvarietäten im modernen Italienischunterricht Beschäftigung mit autonomen Regionen und der Entstehung der Nationalsprache Ein Clip von Rai, «Spot Rai per l’unità d’Italia» (auf Youtube zu finden) zeigt, wie schwierig sich die Kommunikation in Italien ohne die Standardisierung der Sprache (u .a gefördert durch das Fernsehen) gestalten würde Ein Abriss über die Entstehung der Nationalsprache würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, aber es gibt im Internet eine sehr gute Übersicht von online .scuola .zanichelli .it: «Percorso D - La lingua italiana: storia e attualità» Das Material verdeutlicht, dass der Standard aus einem Dialekt hervorgegangen ist und es sich dabei somit, salopp ausgedrückt, um einen «dialetto che ha fatto carriera» handelt Es wird auch klar, dass es nach der nationalen Einheit im Jahre 1861 sehr lange gedauert hat, bis sich die Nationalsprache durchsetzen konnte Neben zahlreichen Dialekten gibt es im heutigen Italien einige Minderheitensprachen, die größtenteils gesetzlich geschützt sind: «Lo strumento più importante, a livello nazionale, è la legge 482 del 1999, su ‘Norme in materia di tutela delle minoranze linguistiche storiche’» (Krefeld 2016, 269) Für die fünf autonomen Regionen (Sicilia, Sardegna, Valle d’Aosta, Trentino-Alto Adige, Friuli-Venezia Giulia) gibt es auf nationaler und regionaler Ebene weitere die Sprachen betreffende Gesetze Im Rahmen der Behandlung autonomer Regionen bietet es sich an, mit den Lernenden Auszüge aus dem Roman Eva dorme (2010) von Francesca Melandri zu lesen Insbesondere in dem Kapitel «1925-1961» beleuchtet die Erzählerin rückblickend die Geschichte ihrer deutschsprachigen Familie in Südtirol und die Schwierigkeiten, die mit politischen Ereignissen (wie z B der Option) und ihren Folgen verbunden waren Im Roman sind vereinzelt immer wieder deutsche Ausdrücke enthalten (etwa in Kapitel «Km 0» 3 ) Die Schüler*innen könnten beispielsweise analysieren, ob diese Begriffe bestimmten Bereichen zugeordnet werden können und warum sie auf Deutsch verwendet werden Außerdem ist der Roman ein guter Ausgangspunkt für Diskussionen über Sprachpolitik, den Zusammenhang von Sprache und Identität und das Deutsche als Minderheitensprache in Italien Minderheitensprachen und «Dialekte muss man als in sich vollständige und funktionsfähige Sprachsysteme ansehen» (Krefeld 2010, 60) Dass sie eine Bereicherung sind, werden Schüler*innen durch die reflektierte Beschäftigung mit Sprachvarietäten erkennen 3 In diesem Kapitel sind deutsche Wörter kursiv gedruckt: «Patin», «Stube», «dirndl» (S 14), «Watten» (S 15) Italienisch_81.indb 95 02.07.19 14: 05 9 6 Sprachvarietäten im modernen Italienischunterricht Iulia Stegmüller Abstract. L’obiettivo di questo saggio è di dimostrare i motivi per cui è utile e importante trattare l’argomento delle varietà linguistiche (p .es dialetti e linguaggi giovanili) nelle lezioni d’italiano come lingua straniera All’inizio si analizza l’importanza delle varietà secondo alcuni programmi di studio tedeschi e il Quadro comune europeo di riferimento per la conoscenza delle lingue e si esamina l’uso dei dialetti nell’Italia di oggi Inoltre sono offerte alcune fonti di materiale didattico e idee per lezioni che mirano a far apprezzare le varietà linguistiche dagli studenti Summary. The aim of this paper is to show the reasons why it is useful and important to deal with language varieties (e .g dialects and youth language) in teaching Italian as a foreign language First, the importance of such varieties according to a selection of German school curricula as well as the Common European Framework of Reference for Languages is analysed, then the significance of dialects in today’s modern Italian society is discussed In addition, some sources for didactic material and ideas for lessons intended to make students appreciate language varieties are presented Bibliographie Primärliteratur Bendotti, Giacomo: Scialla! (Stai sereno) Milano: Arnoldo Mondadori Editore 2011 Melandri, Francesca: Eva dorme Milano: Arnoldo Mondadori Editore 2014 ( 1 2010) Filme Benvenuti al Sud (Willkommen im Süden) Regie: Luca Miniero, 2010 DVD Scialla! (Stai sereno) Regie: Francesco Bruni, 2011 DVD Lehrpläne Lehrplan des Gymnasiums (gültig für Jgst 7 bis 12) (Bayern) (https: / / www .isb bayern .de/ gymnasium/ lehrplan/ gymnasium/ [Stand: 21 .09 .2018]) LehrplanPLUS des Gymnasiums (Bayern) (https: / / www .lehrplanplus .bayern .de/ [Stand: 21 .09 .2018]) Lehrplan Italienisch Gymnasialer Bildungsgang Jahrgangsstufen 8G bis 9G 2010 (Hessen) (https: / / kultusministerium .hessen .de/ sites/ default/ files/ media/ g8italienisch .pdf [Stand: 16 .03 .2019]) Lehrplan Italienisch Gymnasialer Bildungsgang Gymnasiale Oberstufe 2010 (Hessen) (https: / / kultusministerium .hessen .de/ sites/ default/ files/ media/ go-italienisch .pdf [Stand: 16 .03 .2019]) Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium/ Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen Italienisch 2014 (Nordrhein-Westfalen) (https: / / www .schulentwicklung nrw .de/ lehrplaene/ lehrplan/ 126/ KLP_GOSt_Italienisch .pdf [Stand: 16 .03 .2019]) Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur Lehrplan für den Erwerb der allgemeinen Hochschulreife Italienisch 2011 (Thüringen) (https: / / www schulportal-thueringen .de/ media/ detail? tspi=1400 [Stand: 16 .03 .2019]) Italienisch_81.indb 96 02.07.19 14: 05 97 Iulia Stegmüller Sprachvarietäten im modernen Italienischunterricht Sekundärliteratur Antonelli, Giuseppe: «Il dialetto non è più un delitto», in: Enciclopedia dell’Italiano Treccani 2010 (http: / / www .treccani .it/ lingua_italiana/ speciali/ italiano_ narrativa/ antonelli .html [Stand: 21 .09 .2018]) Bartkowiak-Lerch, Magdalena: «Il fermo e il mobile: uno sguardo sui dialettismi nel linguaggio giovanile italiano a cavallo dei millenni», in: Romanica Cracoviensia 16 (4)/ 2016, S 215-225 Bologna, Anna: «Sizilianisches in den Romanen von Andrea Camilleri», in: Zibaldone. Zeitschrift für italienische Kultur der Gegenwart 48/ 2009, S 125-137 Cerruti, Massimo: «Italiano e dialetto oggi in Italia», in: Enciclopedia dell’Italiano Treccani 2011 (http: / / www .treccani .it/ magazine/ lingua_italiana/ speciali/ italiano_dialetti/ Cerruti .html [Stand: 21 .09 .2018]) D’Agostino, Mari: Sociolinguistica dell’Italia contemporanea Seconda edizione, Bologna: Il Mulino 2007 Devereaux, Michelle D .: Teaching about dialect variations and language in secondary English classrooms. Power, Prestige and Prejudice, New York (u .a .): Routledge 2015 Fiorentino, Giuliana: «Dialetti in rete», in: Rivista italiana di dialettologia 29/ 2006, S 111-147 Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: Lernen, lehren, beurteilen. 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Ja, aber… Konturen eines Konzepts für den Aufbau einer rezeptiven Varietätenkompetenz», in: Linguistik Online 10(1)/ 2002, S 113-131 (https: / / bop .unibe .ch/ linguistik-online/ article/ view/ 927/ 1619 > [Stand: 16 .03 .2019]) Italienisch_81.indb 97 02.07.19 14: 05 9 8 Buchbesprechung Katharina List: Pensiero, azione, parola. Ethik und Ästhetik bei Carlo Emilio Gadda. Frankfurt/ M.: Klostermann 2017 (= Dissertation Bonn 2016), 245 Seiten, € 69,00 Eine Notiz aus Carlo Emilio Gaddas Cahiers d’Etudes (SVP, S 547) mag Katharina List zur Wahl ihrer dreigliedrigen Titelfigur bewogen haben: «Per atti e per parole è la vita degli uomini Quanto ai pensieri che essi combinano, il più delle volte sono soltanto parole .» (S 43, Hervorhebungen M Kl .) In ihrer anspruchsvollen und scharfsinnigen Dissertation wendet sich Katharina List weniger dem Erzähler und Stilisten Carlo Emilio Gadda zu als vielmehr dessen Vorstellungen über die Zusammenhänge zwischen Ethik und Ästhetik . 1 Diese Beziehungen lassen sich, so List, besonders gut an seinen Äußerungen über Denken, Handeln und Sprechen bzw Sprache festmachen Als Untersuchungskorpus dienen Reflexionen des Autors in philosophischen und poetologischen Essays, in Stoffsammlungen und Erzählungen, im Kriegstagebuch, in der Meditazione Milanese und in den Romanen La Cognizione del Dolore und Quer pasticciaccio brutto de via Merulana (S 184-217) Katharina List rechnet mit einem Leserkreis, der bereits mit Leben und Werk des Mailänder scrittore-ingegnere Carlo Emilio Gadda (1893-1973) vertraut ist, wie ihr Verzicht auf einführende Bemerkungen zu Autor und Werk nahelegt Auch die einschlägige Forschung, etwa Gian Carlo Roscionis wegweisende frühe Gadda-Studie, setzt sie als bekannt voraus . 2 Nicht immer ist völlig klar, was List im Einzelnen der Gaddaforschung verdankt Ein Personenregister, ein Siglenverzeichnis und ein ausführliches Literaturverzeichnis ergänzen den Band Die Vf .in will keine erschöpfende Interpretation einzelner Werke bieten, sondern - recht ambitioniert - «eine von den Motiven und Themen getragene Argumentation, für die Gaddas Gesamtwerk berücksichtigt wird» (S 14) Erfreulicherweise schenkt List ihre Aufmerksamkeit auch den poetologischen Reflexionen der Meditazione milanese oder dem Racconto italiano di ignoto del novecento, einer Mischung aus Überlegungen und Struktur- 1 Gadda verwendet, so scheint es, die Begriffe ‘Poetik’ und ‘Ästhetik’ meist synonym (vgl List 115, Anm 266) 2 Vgl Gian Carlo Roscioni: La disarmonia prestabilita, Torino: Einaudi 1975 Roscioni wird 15x in Fußnoten genannt, allerdings bezieht sich die Vf .in besonders auf Roscionis Ausgabe der Meditazione milanese, die sie eingehend studiert hat DOI 10. 23 57/ Ital-2019 - 0 0 0 8 Italienisch_81.indb 98 02.07.19 14: 05 99 Buchbesprechung skizzen für einen Mailandroman und wenigen ausgearbeiteten narrativen Passagen Allerdings steuern beide Hauptkapitel auf die beiden großen Gadda-Romane zu: Teil 1 («Pensiero, azione: Entwicklungen einer Handlungstheorie») auf La cognizione del dolore (S 77-101), Teil 2 («Parola: eine ‘empirische Ästhetik’ als Teil der Ethik») auf Quer Pasticciaccio brutto de via Merulana In ihrer Gliederung bricht List die Dreierfigur des Dissertationstitels auf, wenn sie sich im Teil 1 auf pensiero und azione konzentriert und im Teil 2 dann parola in den Mittelpunkt stellt . Sie subsumiert darunter ein Mehrfaches: Gaddas Reflexionen zur Sprache, seine Poetik und seine Ästhetik der Aufrichtigkeit, seine Kritik falschen, demagogischen Sprachgebrauchs und schließlich auch einzelne schriftstellerische Realisierungen seiner Überzeugungen . 3 Gaddas Idealvorstellungen von einem Menschen, bei dem Denken und Handeln übereinstimmen, werden mit Abweichungen von diesem Ideal sowie internen Widersprüchen verglichen Die Dissertation wertet Gaddas diesbezügliche, über sein ganzes Werk verstreute Äußerungen mit großem Feingefühl für seine komplizierten Formulierungen und Sprachbilder aus . 4 Lists Vorgehen, lediglich «signifikante Ausschnitte» (S 14) zu analysieren, überfordert möglicherweise manche Leser Ihr beständiges Springen zwischen den Figuren und Texten verhindert eine angemessene Wertschätzung des Textganzen Dadurch wird aber auch evident, wie wiederum Gadda erstaunliche Bezüge zwischen den disparatesten Texten im Hinblick auf seine eigenen Projekte herstellt . 5 Von zentraler Bedeutung für List ist meiner Meinung nach Gaddas Beschäftigung mit Shakespeares Hamlet-Figur, wie aus 3 List interessiert sich kaum für literaturgeschichtliche Traditionslinien Ein Hinweis auf Umberto Sabas sincerità-Credo unterbleibt 4 Sehr textnah erklärt List etwa den Ausdruck raccogliere i trefoli (S 186) Ein Verweis auf Terzolis genaue Kommentierung der Passage (vgl Maria Antonietta Terzoli: Commento a «Quer Pasticciaccio brutto de Via Merulana di Carlo Emilio Gadda», con la collaborazione di Vincenzo Vitale, Roma: Carocci 2015, S 548-551) wäre hier angebracht gewesen Möglicherweise war die Dissertation bei Erscheinen des Kommentars allerdings weitgehend abgeschlossen, denn erstaunlicherweise bezieht sich List nur selten bei ihrer Behandlung von Quer Pasticcaccio darauf, etwa bezüglich der Traumsequenz oder ikonographischer Exempla Emilio Manzottis kommentierte Ausgabe der Cognizione (Edizione critica commentata con un’appendice di frammenti inediti Hrsg v E Manzotti, Torino: Einaudi 1987 [1970]) wird häufiger in den Anmerkungen genannt Die Dissertation von Julius Goldmann, Gaddas Mailand. Ein Beitrag zur Großstadtliteratur, Heidelberg: Winter 2018, erschien erst nach Fertigstellung und konnte deshalb noch keine Erwähnung finden 5 Dies deckt sich mit den Ergebnissen meiner methodisch anders vorgehenden Analysen Vgl Martha Kleinhans: Satura und Pasticcio. Formen und Funktionen der Bildlichkeit im Werk Carlo Emilio Gaddas, Tübingen: Niemeyer 2005, Kap 3: «Metasprachliche Bilder: Über das eigene Schreiben und das Schreiben der Anderen», S 76 ff Italienisch_81.indb 99 02.07.19 14: 05 10 0 Buchbesprechung seinen Arbeitsheften aus den Jahren 1924/ 5, der Meditazione milanese, seinem Kriegstagebuch und einer Rezension einer Shakespeareinszenierung des Jahres 1952 hervorgeht (vgl List, S 17-25 und 90-94 und die dort in den Anmerkungen genannten Literaturangaben) Für Gadda steht Hamlet - Paradigma des Menschen allgemein - vor der Aufgabe, nach genauer Reflexion die Theorie entschieden in die Praxis umzusetzen Die Vf .in zeigt überzeugend, wie Gadda in der Meditazione milanese diesen Gedanken systematisch ausfeilt: «Der Mensch als ein ins Weltnetz eingebundenes ‘System’ […] ist dazu verpflichtet, aktiv zu werden» (S 21) Sehr schön erklärt sie Gaddas den Leser leicht in die Irre führenden Necessitas-Begriff oder sein rekurrentes Syntagma des «mettere in ordine il mondo» (S . 23) . Die Praxis des Handelns bindet Gadda stets rück an die gnoseologische Reflexion und die Ethik Von der Hamlet-Figur zieht List eine Linie zu Gaddas Leopardi-Rezeption: Bei ihm stimmen für den Mailänder Theorie und Praxis überein Nach List leitet Gadda daraus die «Existenz eines moralischen Bewusstseins bei der Menschheit insgesamt» ab (S 24) Im Bild des Fadens (filo dell’atto, degli atti), der vom Spinnrocken des pensiero hinabgleitet, zeichnet Gadda überraschend positiv die projektorientierte Arbeit des Ingenieurs In der Faden-Spinnrocken-Metapher verbildlicht Gadda nach List seine dynamische Konzeption von Glück Felicità besteht für ihn in der Harmonisierung von atti und pensieri, sie sei allerdings nie ganz zu erreichen Glück ist für ihn mit «Selbstvergessenheit» und vollständiger Identifikation mit der eigenen Aufgabe verbunden (S 29), dannunzianische Helden werden verurteilt Immer wieder konstatiert er im Krieg bei den Befehlshabern Defizite in Denken und Handeln Die Dichotomie von volitivi und abulici prägt eine Vielzahl von Texten Gaddas Erfreulicherweise bindet die Vf .in den bislang kaum beachteten Racconto italiano di ignoto del novecento in ihre Argumentation ein (Kap 1 .4) Für einen Romanwettbewerb des Verlags Mondadori hatte Gadda 1924 den waghalsigen Plan gefasst, innerhalb von vier Monaten einen Gegenwartsroman über die italienische Gesellschaft zu schreiben, in dem er persönliche Erlebnisse verarbeiten wollte Den zeitlichen Schwerpunkt sollte vor allem die Zeit kurz nach dem 1 Weltkrieg bilden List sieht die aufgrund der persönlichen Kriegstraumata problematisch gewordene Verhältnisbestimmung von Denken und Handeln, von Worten und Taten in diesem Romanprojekt gespiegelt Als Grund für die hohen Verluste an Menschenleben und die Niederlagen der italienischen Truppen entlarvt Gadda die Sprache der Befehlshaber und offiziellen Kriegsbulletins, kurz die Rhetorik als überaus gefährlich List verschweigt nicht Inkohärenzen und Brüche in der Modellierung der eher schematischen und antagonistisch angelegten Figuren, etwa des ipervolitivo Grifonetto Lampugnani und des abulico Gerolamo Lehrer Italienisch_81.indb 100 02.07.19 14: 05 101 Buchbesprechung Im Rückgriff auf Guido Lucchini 6 konstatiert sie einen Primat der azione vor dem pensiero für Gaddas Aufenthalt in Argentinien (S 46) Gadda glaubte zu diesem Zeitpunkt noch an die vermeintliche Handlungskraft Mussolinis In den Erzählskizzen variieren jedoch die politischen Positionen der einzelnen Figuren und stimmen nicht unbedingt mit der damaligen Einstellung des Autors überein So wird in einer Passage der Faschismus negativ dargestellt, ohne dass der Erzähler relativierend eingreifen würde, oder Gadda belässt es bei der erlebten Rede des Sozialisten Carletto, obgleich er sich selbst einmal als antisocialista ereditario bezeichnet hatte Präzis differenziert List zwischen Gadda als Person, als Briefschreiber usw und dem, was er seine Figuren denken und sprechen lässt Der Leser, der Gaddas Racconto italiano nicht kennt, muss sich allerdings mühsam aus verstreuten Bemerkungen den Handlungsverlauf des Romanprojekts rekonstruieren . 7 Exemplarisch analysiert List in den Kapiteln 1 .4 und 1 .5 Willensstarke und Willensschwache, handelnde und passive Figuren in Gaddas Erzählwerk, wie zum Beispiel in seinen Disegni milanesi, wobei sie die ausgewählten Passagen immer wieder zu seinen Aussagen in der Meditazione milanese in Bezug setzt Die hier fokussierte Dichotomie hat auch für später analysierte Figuren Geltung In den Disegni milanesi sieht List keinerlei Sympathie mehr für die ipervolitivi und volitivi (S 57) Bei den Willensgelähmten bzw Willensschwachen jedoch, so ihr Befund, ist eher eine Entwicklung gegeben Deren Willenslähmung ist oft als nachvollziehbare Reaktion auf traumatische Erlebnisse zu erkennen Lists Einschätzung (S 76), Gaddas Aufzeichnungen der Meditazione milanese seien diesbezüglich optimistischer, zwanzig Jahre später würde Gadda die eigenen Handlungsoptionen resignativ einschätzen, müssten, so meine ich, noch genauer unter Heranziehung der komplizierten Entstehungs- und Publikationsgeschichte überprüft werden . 8 Kapitel 1 .5 konzentriert sich auf die Hauptfigur des Gonzalo, da er für List den «vielschichtigsten Ausdruck» von Gaddas «Modellierungsgefüg[e] zwischen Denken und Handeln, Wollen und Können» (S 77) darstellt Überraschenderweise spart List in ihrer Analyse die Figur des Pedro Mahagones- Palumbo als Gegenfigur zum abulischen Gonzalo völlig aus Nicht ohne Grund wird die Geschichte dieses Betrügers zu Beginn des Romans erzählt, lange bevor überhaupt von Gonzalo die Rede ist Widersprüche und Unstim- 6 Vgl Guido Lucchini: «Appunti sul ‘Quaderno di Buenos Aires’: tra le pagine di cronaca e di ideologia», in Quaderni dell’Ingegnere 2, n .s ., 2011 S 174 7 Hier ist Cristina Savettieris Beitrag, «Ventennio di Gadda» sehr viel konziser und informativer Vgl Cristina Savettieri «Il Ventennio di Gadda», in: Romano Luperini/ Pietro Cataldi (Hrsg .), Scrittori tra fascismo e antifascismo, Pisa: Pacini 2009, S 1 - 33 8 Eine Neubewertung setzt meiner Meinung nach bereits mit dem Trauma von Caporetto und dem Tod des Bruders ein Italienisch_81.indb 101 02.07.19 14: 05 102 Buchbesprechung migkeiten im Gonzalo-Porträt, dessen Bild langsam aus verschiedenen Perspektiven für den Leser ersteht, so konstatiert List zu Recht, sind vom Autor bewusst eingesetzte Strategien Gonzalos Problem besteht in der «Unfähigkeit, seinen Willen wirksam mit der Realität in Verbindung zu setzen» (S 80) Wenn Gadda explizit Gonzalos inettitudine hervorhebt (S 81), hätte man einen Verweis auf die italienische Tradition der inetto-Figur seit Svevo erwartet List konzentriert sich ganz auf den Kriegsheimkehrer Gonzalo, den «reduce senza endecasillabi» (RR I, S . 682), dem hohles Pathos verhasst ist Erklärungsversuche für Gonzalos male oscuro bleiben unbefriedigend und widersprüchlich, wie die Kapitelüberschrift zu Kap 1 .5 .1, «Illusionäre Aitiologien», bereits andeutet . Der autistisch anmutende Gonzalo liest lieber Platon oder Kant als aktiv zu handeln . In einem hamletischen Dilemma begriffen, scheitert seine Realitätsflucht Mit seiner Rebellion gegen die von ihm verurteilte Realität folgt Gonzalo kompromisslos seinen strengen Moralvorstellungen (S 99) bis zur Selbstnegierung Indem er sich zur «Kenntnis des Schmerzes» bekennt, wird «alles von ihm aufgezehrt, auch er selbst» (S 101) Teil 2 von Katharina Lists Dissertation (S 102 ff .), «Parola: eine ‘empirische Ästhetik’ als Teil der Ethik», konzentriert sich auf Gaddas Überlegungen zum Status von Worten Die Kapitelüberschrift bezieht sich auf eine Formulierung in Gaddas Essay Meditazione breve circa il dire e il fare aus dem Jahre 1936 Dieser recht kraus anmutende Essay hätte meiner Ansicht nach eine detaillierte Gesamtanalyse verdient Hier äußert Gadda zu Beginn seinen Plan, eine Poetik niederzuschreiben: «il grumo centrale di una Estetica empirica, da praticone, e frettolosamente scritta» (SGF I, S . 444) . 9 Der von der demagogischen Macht der Sprache überzeugte Schriftsteller verurteilt den Gebrauch von Sprache, wenn diese etwa den Tod von Soldaten aufgrund «bourgeoiser» Plaudereien zur Folge hat (S 112) Trotz des Scheiterns, seine poetologischen Vorstellungen zu systematisieren, prägen moralische Grundsätze Gaddas Essays Letztlich ist Gadda kein Theoretiker, sondern eher ein praxisorientierter Techniker Auch seine Poetik bzw Ethik soll von der Realität ausgehen und an sie rückgebunden sein (List nennt dies «horizontale Dimension», S 116) Sie kalkuliert auch Entwicklungen und Veränderungen mit ein (Lists «vertikale Dimension») Der genannten horizontalen und vertikalen Dimension geht List dann weiter nach Gadda möchte «Zementierungen von Ausdrucks- und Denkweisen aufbrechen» (S . 119), Sprache soll aus der Zerstörung Neues 9 List lässt hier offen, ob sich Gadda hiermit auf einen konkreten Text, etwa die aristotelische Nikomachische Ethik oder etwa Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, bezieht Italienisch_81.indb 102 02.07.19 14: 05 103 Buchbesprechung konstruieren . Nur ein in ästhetischer Hinsicht ehrlicher Schriftsteller kann für Gadda auch in moralischer Hinsicht ehrlich sein Sachkundig erläutert List in ihrer Übersicht sprachlich-stilistische Besonderheiten, die für den Zusammenhang zwischen Sprache und Denken besonders bedeutsam erscheinen, und greift dabei auf die einschlägige Forschungsliteratur zurück: spastischer Gebrauch der Sprache, ironische Deformierung der modi di dire, Gaddas Vorliebe für Anführungszeichen, Doppelpunkte, Auslassungszeichen, metasprachliche Einschübe oder Episoden, Grammatikfehler, Auslassungen, seine Strategie der Andeutungen, seine systematische Verzerrung von Namen, das Verheddern von Figuren in Grammatik und Buchstaben, Distanznahme durch groteske, ironische Passagen, Polemik, Stilmischung und Pastiche, ‘Dynamisierte Beschreibungen’ (ein von Federico Bertoni übernommener Begriff 10 ), überbordende Erklärungen und Aufzählungen (von Sabine Mainberger bereits untersucht und hier referiert 11 ), methodisch eingesetzter Polyperspektivismus, im Bereich der Lexik Einsatz des gesamten zur Verfügung stehenden Sprachmaterials, verschiedenster Register, besonders der diatopischen Varietäten Alle diese Strategien dienen, so List Gadda referierend, dem Rückbezug auf die Wirklichkeit, bringen «Bewegung in das ‘System fixer Ideen’» (S 130) Die «negative Stoßrichtung» dieser Strategien werde von Gadda als «ethisch und erkenntnisfördernd deklariert» (S 134) Stärken und Schwächen von Lists Verfahren, auf Werkanalysen zu verzichten und lediglich eine Vielzahl von Einzelpassagen im Hinblick auf ihre Fragestellung zu interpretieren, offenbaren sich besonders in den Kapiteln, in denen sie untersucht, wie Gadda Autoren und literarische Textsorten bewertet, die auf die Realität referieren, beispielsweise Utopien, Biographien, Geschichtswerke oder propagandistische Texte Untersuchungsobjekt sind hier weniger bekannte Schriften Gaddas, wie zum Beispiel seine Rezension einer D’Annunzio-Biographie, in der er den Biographen gegenüber Kritikern in Schutz nimmt und für die Wahrheit der Biographie eintritt . 12 Kritische Berücksichtigung finden ferner 10 Vgl Federico Bertoni: La verità sospetta. Gadda e l’invenzione della realtà, Torino: Einaudi 2001, S 165 11 Vgl Sabine Mainberger: «Befestigte Instabilität Zu Gaddas ‘Barock’», in: E Goebel/ E Lämmert (Hrsg .), Für viele stehen, indem man für sich steht. Formen literarischer Selbstbehauptung in der Moderne, Berlin: Akademie Verlag 2004, S 160-181, hier S 156 12 List verschweigt hier den Namen des kritisierten Biographen Tom Antongini Vgl Dante Isellas Erläuterungen zu Grandezza e biografia in SGF I, S 1347 Italienisch_81.indb 103 02.07.19 14: 05 10 4 Buchbesprechung die Essays Tendo al mio fine und Come lavoro, 13 Rezensionen zu Leopardis La battaglia dei topi e delle rane, zu Giuseppe Bertos Roman Il male oscuro, die Entgegnung auf Moravias Verriss von Manzonis Promessi sposi, die sog Apologia manzoniana, oder Gaddas Pseudodialog zwischen Autor und Herausgeber über das Thema der baroccaggine, 14 neben Verweisen auf die Meditazione milanese, aber auch auf Gaddas Narrativik, wie San Giorgio in casa Brocchi Die Art und Weise, wie Gadda seine Figuren bewertet, lässt sich nach List auch auf sein Verhältnis zur Realität übertragen Er grenze sich zu verschiedenen Autoren, Strömungen oder Textsorten ab, weil sie seinen Vorstellungen nicht entsprechen Aus dieser Abgrenzung könne man dann auf seine Forderung nach «Hinwendung zur Realität in ihrer ganzen Komplexität» (S 152) schließen Gadda ist von der entscheidenden Prägung des Schriftstellers durch das Milieu überzeugt Deshalb befürwortet er die Aufnahme von Dialekten und Fachsprachen in die Belletristik, sieht Sprache «als Spiegel des Seins und des Denkens» (S 160) an Ästhetische Aufrichtigkeit ist für ihn Basis für moralische Aufrichtigkeit (S 166) In Kap 2 .5 («Eine ‘empirische Ästhetik’: die vertikale Dimension») liest List bereits zuvor angesprochene Essays nun unter der Perspektive der Zeitgebundenheit und der Interdependenz von Sprachentwicklung und Urteilsproblematik . 15 Im Adalgisa-Band beispielsweise betont Gadda in Anmerkungen mit Hilfe präziser Zeitangaben die enge Verbindung zwischen Worten und geschichtlichem Moment Im Kapitel 2 .6 zu Quer pasticciaccio de via Merulana (S 184-217) ordnet List ihre Ausführungen der Leitfrage nach der Beziehung zwischen Sprechen und Handeln unter In seiner Figurenmodellierung und Mytheninszenierung demonstriere der Autor, wie die lügnerische Propaganda und Legendenbildung im faschistischen Regime funktioniert Kommissar Ingravallo - als Sprachrohr von Gaddas Weltanschauung - wird im Rückgriff auf zuvor erbrachte Ergebnisse analysiert Gern entnimmt Gadda die für Don Ciccios Charakterisierung relevanten Bilder der Fauna, hebt auf dessen tierhaften Instinkt ab (S 193-4) Ingravallo ist keineswegs nur ein von der Ratio 13 Vgl zu den Essays Tendo al mio fine und Come lavoro das unterschiedliche Vorgehen von List, S 137-139 und von Kleinhans, S 85-96 und S 113-129 Im Gegensatz zu Lists punktuellen Textbelegen zur Untermauerung ihrer These von der Interdependenz von pensiero, azione und parola untersuchte ich, mittels welcher Verfahren Gadda Bildlichkeit erzeugt, indem ich den jeweils ausgewählten Essay als organisches Ganzes vorstellte und analysierte 14 Vgl dazu Kleinhans, S 178 - 193 und S 129 - 132 15 List übernimmt ihr Titelsyntagma zu 2 .5 .3, «Die Literatur als Epitome der Erkenntnis», aus zwei Gadda-Texten Epitome mit ‘Essenz’ wiederzugeben (S 180) erscheint mir wenig passend, mag aber von Gadda selbst herrühren, der sich bisweilen in seiner Vorliebe für Fremdwörter vergreift Italienisch_81.indb 104 02.07.19 14: 05 105 Buchbesprechung gelenkter erfolgreicher Denker, sondern schwankt häufig zwischen Vernunft und Emotionen An ihm zeige Gadda die Schwierigkeiten auf, überhaupt zu Erkenntnis zu gelangen Die insgesamt positive Figur distanziere sich in ihrem Schweigen von der offiziellen faschistischen Rhetorik (S 202) Ingravallos Theorie von der Polykausalität nimmt die Überlegungen des philosophierenden Elektroingenieurs auf, wie er sie in der Meditazione milanese viele Jahre zuvor skizziert hatte Der Zufall unterminiert das Kausalprinzip Das Phänomen der Zeit wird im Kontext des Malum und der Hauptschauplätze Urbs und campagna erörtert Außergewöhnlich viele Zeitmarker finden sich, so Lists Befund, bei der Darstellung des faschistischen Roms, obgleich Gadda den Faschismus eher als übergeschichtliches Phänomen betrachtet Gadda geht es vor allem um eine Analyse des Ursprungs des Malum, das für ihn in der narzisstischen Natur des Menschen begründet liegt Im Schlussresümee führt List nochmals die beiden Zentralfiguren Gonzalo und Ingravallo im Umgang mit Wahrheit und Totalität zusammen und kehrt zu Gaddas eingangs beleuchtetem Hamlet-Ideal zurück Im Gegensatz zu Ingravallo bleibe bei Gonzalo Vieles unbewältigt, liege von Seiten des Autors eine «intentionale Widersprüchlichkeit» (S 224) vor Nach List erfahren Probleme in Gaddas Texten keine Lösung, sondern werden dargestellt, indem Sprache und Stil destabilisierend agieren Katharina Lists Urteil über Gadda fällt letztlich positiv aus: Die Widersprüche, die sich bei seinen Figuren und seinem sperrigen Stil auftun, erweisen sich als fruchtbar . Gadda strebt nach Idealen, obgleich er weiß, dass sie unerreichbar sind «Ästhetische Ehrlichkeit» bedeutet für ihn, die Diskrepanzen zwischen ethischem Ideal und der Realität nicht zu glätten, sondern sie «gerade als außerordentlich produktiven Motor des Schreibens beizubehalten» (S 226) Katharina List schöpft aus einer überreichen Forschungsliteratur, ihr Verdienst ist es, die Einzelbefunde konsequent zu einer schlüssigen Argumentation zusammengeführt und sie jeweils an treffsicher ausgewählten und präzis interpretierten Textstellen belegt zu haben Eine kluge Studie, die sich dezidiert vom Autor-Ich und dem Erzählen von Inhalten abwendet, um Gaddas philosophische Überzeugungen aus seinen Texten heraus neu ans Licht zu bringen Martha Kleinhans RR I = Romanzi e Racconti I. Ed R Rodondi, G Lucchini, E Manzotti Milano: Garzanti 2007 SVP = Scritti vari e postumi Ed A Silvestri, et al Milano: Garzanti 2009 SGF 1 = Saggi giornali favole e altri scritti I Ed L Orlando, C Martignoni, D Isella Milano: Garzanti 2008 Italienisch_81.indb 105 02.07.19 14: 05 106 Kurzrezensionen Emanuele Tesauro: La Tragedia, a cura di Maria Luisa Doglio. Soveria Mannelli: Rubbettino 2017, pp. 96, € 13,00 Sono passati esattamente cinquant’anni da quando Maria Luisa Doglio pubblicava sulle pagine della rivista Studi Secenteschi il dramma inedito Il libero arbitrio di Emanuele Tesauro, a quel tempo autore poco frequentato anche dagli studiosi, nonostante alcune pagine illuminanti di Croce e Raimondi Da allora molte cose sono cambiate: oggi la bibliografia si è ampliata enormemente, Tesauro gode unanimemente della fama di massimo teorico barocco ed è persino divenuto noto al grande pubblico come personaggio di un romanzo di Umberto Eco Ciò che invece è rimasto immutato dal 1969 è l’attenzione che la Doglio, con ogni probabilità la massima esperta, continua a dedicare all’autore del Cannocchiale aristotelico; ed è per questo che la pubblicazione del panegirico funebre La Tragedia da lei curata merita di essere visionata con attenzione Tesauro la scrisse e la pubblicò nel 1664 per la morte di Cristina di Francia, duchessa e reggente di Savoia, figlia di Enrico IV e sorella di Luigi XIII, e della giovane nuora Francesca di Borbone Orléans, per poi ripubblicarla ancora e infine disporla a chiusa della raccolta definitiva in tre volumi dei Panegirici La corposa introduzione che precede il testo ne chiarisce fin dalle prime battute l’importanza e la inserisce all’interno del progetto complessivo dei panegirici, ripercorrendo pure l’intera serie dei testi dedicati a Cristina Il discorso della Doglio parte dall’importantissima dichiarazione di poetica riportata da Tesauro nelle prime pagine del testo: «cangerò […] la panegirica orazione in una tragica rappresentazione» (p 66) Non a caso il lessico, fin dal titolo, è intessuto di vocaboli ed espressioni legati al teatro e che non di rado sono presi in prestito dai trattati di poetica del secondo Cinquecento: «teatro del dolore», «tragici drammi», «scene», «attore», «viva tragedia», «personaggi», «protasi», «epitasi», «catastasi», «introduzione [della materia]», «progresso [ovvero sviluppo]», «revoluzione [ovvero resoluzione]», «tragico proscenio», «eroico soggetto», «spettacolo», «apparato», «lieta catastrofe», «brieve favola», «atto», «applauso» per citarne solo alcuni Del resto già nel Cannocchiale aristotelico e nel Trattato dei concetti predicabili l’autore aveva chiarito che tragedie - un altro genere in cui Tesauro si cimentò - e prediche (ma pure orazioni e panegirici) condividono «il mezzo e il fine retorico: cioè attrarre, persuadere, convincere chi ascolta e chi legge» (p 9) e dunque non deve sorprendere questo voler DOI 10. 23 57/ Ital-2019 - 0 0 0 9 Italienisch_81.indb 106 02.07.19 14: 05 107 Kurzrezensionen convertire il panegirico funebre in spettacolo, o meglio in «teatro di dolore» come si legge nelle ultime battute del testo Seguendo la cronologia dei panegirici e delle varie edizioni degli stessi la studiosa mette poi ordine ai numerosi riferimenti a Cristina A lei è dedicato L’esorcismo (1632), dove la duchessa diventa modello di maestra che pratica e insegna umiltà come Cristo durante la cerimonia della lavanda dei piedi il giovedì santo; mentre nella Fenice, scritto nello stesso anno, Cristina è madre perfetta, ma soprattutto donna che sa regnare come un re Grande spazio la Doglio riserva a Diamante (1656), lunghissimo panegirico interamente dedicato alle lodi di Cristina, che poi aprirà la già ricordata raccolta definitiva in tre volumi Simbolo di durata eterna, il diamante era stato in passato associato a figure maschili (ma Cristina ha non a caso un duplice ruolo: maschile di sovrana, femminile di madre) In questo testo fondamentale ritornano immagini e qualità di cui già Tesauro si era servito in passato, come la duchessa capace di regnare come un uomo (nella Fenice) o la «Cristina iride» (presente invece nella dedica all’edizione dei Panegirici sacri), a cui si aggiungono ora nuovi attributi: Cristina «guerriera armata» sul modello delle Amazzoni; Cristina tutrice e istitutrice esemplare, ovvero una moderna Chirone È poi la volta della trilogia del «teatro del dolore», che comprende L’Eroe, Il cilindro e infine La Tragedia (e viene pure chiarito il rapporto esistente tra i tre testi) Se nei primi due è molto significativa l’immagine di Cristina che piange, nel terzo, oltre alla prevedibile rappresentazione della sua vita e delle sue qualità regali, la studiosa individua «un nuovo modello di donna del presente, una donna di potere che lotta per affermare i suoi diritti e la sua identità di madre e reggente» (p 38) Veramente esemplari le corpose note al testo che impreziosiscono l’edizione Oltre a contenere i settantuno rimandi alle fonti presenti nella stampa dei Panegirici (delle citazioni classiche si fornisce pure la traduzione tra parentesi quadre), le note a piè di pagina costituiscono una miniera di informazioni sul contesto storico e letterario di riferimento, sul fitto ricorso alla simbologia e più in generale su molte altre caratteristiche della scrittura di Tesauro Ad arricchire il volume, infine, un’accurata cronologia della vita e delle opere dell’autore e una esaustiva bibliografia . Luca Mendrino Italienisch_81.indb 107 02.07.19 14: 05 108 Kurzrezensionen Dagmar Reichardt/ Lia Fava Guzzetta (a cura di): Verga innovatore/ Innovative Verga. L’opera caleidoscopica di Giovanni Verga in chiave iconica, sinergica e transculturale/ The kaleidoscopic work of Giovanni Verga in iconic, synergic and transcultural terms (Transcultural Studies - Interdisciplinary Literature and Humanities for Sustainable Societies, Vol. 1), Frankfurt am Main: Peter Lang, 2016, 378 Seiten, € 64,95 Il volume inaugura una nuova collana per i tipi del prestigioso editore Peter Lang, aperta a nuove prospettive di studi, grazie alle quali autori del canone letterario vengono riesaminati da un punto di vista contemporaneo, senza venire meno alle necessarie garanzie storico-filologiche, anzi: proprio loro generano la capacità di una trasposizione cronotopica propria dei grandi scrittori Del resto, come ha dichiarato Roland Barthes (Le grains de la voix Entretiens 1962-1980, 1981), la materia prima della letteratura, il linguaggio, «est un lieu dialectique où les choses se font et se défont, où il immerge et défait sa propre subjectivité»: l’articolazione polifonica di questa raccolta di saggi dimostra, appunto, come Giovanni Verga avesse già contezza della propria plurivalente scrittura Preceduti da una introduzione (Le innovazioni ‘caleidoscopiche’ del Verga. Dal Verismo siciliano alla transculturalità di Dagmar Reichardt) e da una prefazione (Considerazioni preliminari sui contributi critici del Volume di Lia Fava Guzzetta), i saggi sono suddivisi in quattro sezioni: I Rileggere Verga/ Re-reading Verga, con i contributi di Riccardo Scrivano, Franco Musarra, Georges Güntert, Norma Bouchard, Rawda Zaouchi-Razgallah, Dario Tomasello, Bernard Urbani e Angelo Pagliardini, sezione in cui i testi verghiani sono analizzati con gli strumenti delle scuole critiche del secondo Novecento; II Verga transmediale/ Transmedial Verga, con i contributi di Lia Fava Guzzetta, Nino Genovese, Anne Begenat-Neuschäfer, Gaetana Marrone, Sarah Zappulla Muscarà e Maria Luisi, sezione in cui si analizza la flessibilità del linguaggio verghiano nel prestarsi ad una fruizione extra-letteraria, convalidata dal militante interesse personale per musica, cinema e fotografia; III Verga intertestuale e transculturale/ Intertextual and Transcultural Verga, con i contributi di Monica Jansen, Remo Ceserani, Rita Vendrame e Joseph Farrell, sezione in cui si esamina la diffusione spaziale (per le traduzioni) e temporale (nella sua influenza sulla recente nouvelle vague realista della narrativa italiana) dell’opera verghiana; DOI 10. 23 57/ Ital-2019 - 0 010 Italienisch_81.indb 108 02.07.19 14: 05 109 Kurzrezensionen IV Appendice letteraria/ Literary Appendix, sezione così denominata perché ospita i testi di due scrittori, Melo Freni e Giuseppe Quatriglio, che si cimentano in un esercizio critico sul loro illustre conterraneo Il criterio fondante del volume è illustrato assai bene nella introduzione di Dagmar Reichardt: uno scrittore tradizionalmente confinato - per non dire ingessato - entro l’etichetta del Verismo dispiega il proprio potenziale giustamente definito dalla studiosa «rizomatico» se inserito nel canone della world literature, offrendogli così l’opportunità di dialogare criticamente con contesti culturali e spazio-temporali anche altri dalla sicilitudine di sciasciana memoria L’autore dei Malavoglia e Mastro-don Gesualdo può divenire così un autore ‘scomodo’, come rilevato da Lia Fava Guzzetta, poiché le schematiche certezze classificatorie vengono messe in crisi da quanto lo scrittore stesso ha disseminato all’interno delle proprie opere Riccardo Scrivano (Giovanni Verga dall’apprendistato all’invenzione) esamina lo sviluppo dell’officina letteraria verghiana, favorito dall’amicizia e dal costante confronto con Luigi Capuana, fino all’esito dei Malavoglia, che - se pure causa di frustrazione per la deludente ricezione - presentano un modello di ‘nuova scrittura’, come si evince dall’attenta analisi della stratificazione linguistica del romanzo: «la famiglia, quale struttura antropologica simbolica di tutto il paese primitivo è confermata nello stesso spazio e tempo che occupa il romanzo, come unità retorica» (p 69) Franco Musarra (L’ironia in Verga e non solo) considera il concetto di ‘ironia generativa’ - che permette un’analisi macrostrutturale dell’opera verghiana, quindi - grazie agli strumenti offerti da Linda Hutcheon con l’individuazione delle ‘comunità discorsive’ in quanto nuclei di produzione ironica all’interno della comunicazione testuale L’ironia verghiana, prodotta da un solido humus ideologico, è il capostipite di una linea viva negli altri grandi scrittori per lo più siciliani (De Roberto, Pirandello, nei quali «l’ironia diviene il deterrente costantemente attivo nei confronti di ogni pensiero forte sia questo di origine religiosa, filosofico-esistenziale o estetica»; Vittorini, Sciascia, Consolo, Brancati, e Patti «per la loro ironia correttiva e morale»; Bufalino e Bonaviri «preferiscono servirsene [dell’ironia] da velo che nasconde e protegge», p 88) Georges Güntert (Narrazione attribuita e ironia in Rosso Malpelo: il ruolo del lettore), grazie ad una accurata analisi narratologica, dimostra come la cosiddetta ‘impersonalità’ verghiana non debba considerarsi come una neutralità di giudizio o - peggio - indifferenza verso la vicenda narrata, ma anzi favorisca lo sviluppo nel lettore di una coscienza critica, dissenziente dalla voce narrante È soprattutto nell’analisi del segmento-cerniera della novella, quello contenente la contemplazione della carcassa dell’asino grigio, Italienisch_81.indb 109 02.07.19 14: 05 110 Kurzrezensionen una lezione di etica materialista a Ranocchio, che emerge il punto dello studioso: il confronto tra l’asino vivo e l’asino morto rappresenta sì la trasformazione morale del protagonista, ma soprattutto è il luogo in cui viene «tematizzato […] il piano dell’enunciazione: […] una configurazione dell’ironia inscritta nel testo: un’ironia intesa come superiorità mentale e capacità di prendere distacco, che ovviamente non è dell’asino morto ma di Malpelo filosofo e, in ultima analisi, del lettore reso partecipe del suo sapere» (p 102) Norma Bouchard (Uncovering Giovanni Verga’s post-colonial Consciousness From Vita dei campi to I Malavoglia) ripercorre lo sviluppo della narrativa verghiana cronologicamente intrecciato al processo di unificazione postrisorgimentale, secondo la visione critica gramsciana Con un accurato uso delle fonti, la studiosa, quindi, delinea «a discussion of the epistemic violence of colonialism from the post-colonial critical position» (p 109): un periodo nel quale il Meridione venne letteralmente saccheggiato per garantire risorse alle industrie settentrionali, condannando quella parte del Paese ad una miseria all’origine del flusso migratorio a partire dal 1876, in una prospettiva di espansione coloniale mirata anche all’Africa, giustificata da narrazioni (più che vere e proprie indagini scientifiche) sulla inferiorità razziale di queste regioni Per quanto Verga sostenesse il processo di unificazione come il colonialismo africano, i suoi testi - principalmente le novelle di Vita dei campi e il romanzo I Malavoglia - si concentrano precipuamente sulle classi sociali subalterne meridionali: «by so doing, however, Verga had enabled the subaltern’s voice to endure as indelible trace: the absent presence of the postcolonial subject that lies at the foundation of the modern Italian nationstate» (p 123) Rawdha Zaouchi-Razgallah (L’influenza verghiana sugli italianisti tunisini: rivoluzione e attualità) propone una lettura comparata tra l’universo ideologico delle novelle di Vita dei campi e la contemporaneità socio-politica del proprio Paese, la Tunisia emersa con la Rivoluzione dei gelsomini (2010-2011), e della Primavera araba in generale: «Siamo diversi geograficamente, storicamente ma uguali, anzi figli di un’unica storia con i propri eventi e le medesime azioni, condividiamo sentimenti, comprendiamo dolori altrui, piangiamo la crudeltà dell’altro e della sorte, critichiamo il potere illegittimo dei terzi, soffriamo la violenza e la disumanità degli esseri e la loro influenza sulla nostra vita Tutto è presente e tramandato tramite modi diversi Ognuno si esprime in un modo diverso ma tutti sboccano nella stessa direzione e nello stesso mare Mediterraneo» (p 133) Italienisch_81.indb 110 02.07.19 14: 05 111 Kurzrezensionen Dario Tomasello (Tra Pitrè e Capuana. Verga e quelle strane ‘gare’) propone un originale percorso critico: lo studioso messinese, infatti, individua in alcuni testi di Verga (in particolare la novella Guerra di santi) e Capuana (Profumo) l’anticipazione degli studi etnologici di Giuseppe Pitrè (Feste patronali in Sicilia) Tramite i nessi istituiti dallo studioso, nella da lui individuata «triade Capuana-Verga-Pitrè» la violenza viene desacralizzata, trasformandosi in pura e semplice manifestazione patologica Bernard Urbani [De la révolte à la reaction: Monologue à bord (Alphonse Daudet) - Libertà (Giovanni Verga)] confronta due racconti, scritti a distanza di dieci anni l’uno dall’altro (1873 e 1883), basati entrambi su eventi storici (la Comune parigina e lo sbarco dei Mille in Sicilia), che avevano suscitato illusorie speranze di riscatto nelle classi sociali subalterne: «À travers la trajectoire anecdotique d’un individu ou d’un groupe, c’est toute une vision du monde qui se revèle Verga et Daudet […] invitent le lecteur à lire leurs textes au-delà de l’apparence, à refléchir sur l’individu, aveugle, livré corps et âme à l’Histoire et au Progrès, sur le vide de son existence et ses difficultés d’intégration sociale» (p 174) Angelo Pagliardini (La rappresentazione monumentale e architettonica della decadenza nobiliare nel Mastro-don Gesualdo di Verga) applica al capolavoro verghiano lo studio di un sottogenere, recentemente individuato da Alexandra Vranceanu, il romanzo ecfrastico, in cui «la descrizione di un’opera d’arte, reale o fittizia, diventa il motore narrativo principale dell’azione del romanzo» (p 178); in Mastro-don Gesualdo, la descrizione di alcuni palazzi nobiliari, svolta dal punto di vista popolare, diventa lo sfondo scenografico per l’edilizia sviluppata dal protagonista eponimo, esprimendo così il processo di decadenza opposto alla nuova, solida muratura borghese, se non popolare Verga, pertanto, attua una tecnica espressiva definibile come ‘multimediale’ che - secondo lo studioso - trova degli epigoni in Tomasi di Lampedusa e nell’iperrealismo di Roberto Saviano Lia Fava Guzzetta (L’occhio ‘nuovo’ del Verga. Verso una scrittura filmica e multimediale) esamina la scrittura verghiana come «grande scrigno che contiene una enorme quantità di innovazioni tecniche», la più significativa delle quali è «l’acquisizione […] di spazi di visività, con la conquista sempre più consapevole di un nuovo orizzonte iconico della scrittura capace di produrre un linguaggio che oggi chiameremmo tranquillamente cinematografico» (p 198) Italienisch_81.indb 111 02.07.19 14: 05 112 Kurzrezensionen A caratterizzare questo nuovo linguaggio sono «la gestualità come linguaggio, la ‘tecnica dei piani’ come gestione delle distanze ed evidenziazione dei dettagli in primo e primissimo piano, l’uso di significanti luminosi e sonori con voci espressive, compresenti nel testo» (p 199) Nino Genovese (Giovanni Verga e il cinema: «San Cinematografo» o «castigo di Dio»? ) ripercorre la duplice dimensione nel rapporto tra Verga e il cinema: da un lato, il suo interesse verso la nuova arte, dettato anche da interessi economici; dall’altro l’atteggiamento del mondo del cinema verso l’opera verghiana, sia nell’elaborazione di un nuovo modo di guardare la realtà - il Neorealismo - sia nei film tratti dalle opere di Verga Anne Begenat-Neuschäfer (La terra trema di Luchino Visconti) esamina il capolavoro del regista di Rocco e i suoi fratelli e del Gattopardo come un film anomalo rispetto alla dominante poetica neorealista; infatti «l’angolo scelto dal regista è più ampio [di quello del romanzo] perché lo sfruttamento di uomini avviene dappertutto […] Verga s’interessa di più ‘alla realtà com’è stata’, Visconti cerca di trasporre questo vissuto captato nel film, partendo dall’osservazione empatica, ‘come avrebbe dovuto essere’, cioè tenta di farlo sfociare in una visione sociale che Verga e il suo narratore hanno rifiutato» (p 229) Anche Gaetana Marrone (Verga e il realismo italiano nel cinema) lavora sul secondo film di Luchino Visconti, mettendo in luce - prima di tutto - la presenza di un vero e proprio clan professionale intorno al regista, e di come l’aristocratico lombardo si avvicini alla terra primitiva nota dai Malavoglia come intellettuale impegnato, che trasferisce nel tempo storico una violenza sociale di ascendenza astorica Sarah Zappulla Muscarà (Giovanni Verga fra teatro e melodramma) esamina il complesso rapporto tra Verga e il teatro, da intendersi sia come prosa sia come melodramma, pur stimando Verga (come scriveva ad Ugo Ojetti nell’agosto del 1894) il teatro una forma d’arte inferiore al romanzo, a causa della necessaria intermediazione dell’attore e della fruizione da parte di un pubblico radunato in massa, che anzi determina il successo o meno dell’opera Il romanziere, però, subì il fascino del teatro fin da giovane, non recidendo i legami con la forma di rappresentazione scenica più caratteristica della Sicilia, l’opera dei pupi (come testimoniato dalla commedia Don Candeloro & C.i), raggiungendo il pieno successo con Cavalleria rusticana, e ancor più nella sua versione musicale, origine di una lunga battaglia legale per i diritti d’autore tra lo scrittore, da una parte, e il compositore Pietro Mascagni e l’editore Sonzogno dall’altra Maria Luisi (Verga mediatore musicale) si concentra sul ruolo di intermediario ricoperto da Giovanni Verga tra il compositore Giuseppe Perrotta, che Italienisch_81.indb 112 02.07.19 14: 05 113 Kurzrezensionen dietro sollecitazione di Verga stesso aveva elaborato un poema sinfonico per accompagnare la prima rappresentazione del dramma Cavalleria rusticana, e l’editore Ricordi, nella speranza - da parte del musicista - di vedere pubblicate le proprie musiche, pur essendo Verga ormai lontano dal suo ambiente di provenienza Monica Jansen (Il ’78, l’anno di Verga e di Vasta: Il tempo materiale a prova di ideologia) istituisce un corto circuito cronologico tra il 1878 (anno di pubblicazione di Rosso Malpelo) e il 1978, l’anno del sequestro Moro, in cui è ambientato il romanzo dello scrittore siciliano Giorgio Vasta (pubblicato, però, nel 2008) Ma gli anni ’70, per gli studi verghiani, sono stati soprattutto quelli della pubblicazione - e della successiva discussione - de Il caso Verga (1972), con una revisione critica dell’opera verghiana in chiave neomarxista Per entrambi gli scrittori il nesso tra ideologia e linguaggio è imprescindibile, pur essendo essi vissuti in contesti assai diversi, e in Verga l’ideologia è il «realismo della negazione» secondo la formula elaborata da Donato Margarito, in particolare per la novella Rosso Malpelo, formula applicabile anche per il romanzo di Vasta, in cui il terrorismo è percepito tramite la materialità A distinguere i due scrittori, però, è il rapporto tra narratore ed autore: scarto ironico in Verga; conflittualmente immerso nella realtà, invece, per Vasta Remo Ceserani (Temptation! ) esamina la novella Tentazione! , pubblicata in Drammi intimi nel 1884, nello sviluppo della trama, confrontando anche le due esistenti traduzioni in inglese (Giovanni Cecchetti [1973] e Christine Donougher [2003]) Il terribile caso di stupro non presenta, però, «a moral or ideological interpretation»; lo stile è assai simile a quello delle notizie di cronaca ma senza i loro tratti caratteristici: «impressionableness, exaggeration, scandal» (p 316) per due ragioni, esaminate nel corso del saggio: da un lato, il tema vero della novella non è lo stupro, ma la tentazione che si impossessa dei tre giovani uomini; la seconda risiede nei continui mutamenti del punto di vista narrativo, dovuto al prevalere del desiderio bestiale, tale da cancellare la luce della coscienza Rita Verdirame (L’opera di Verga in alcune regioni europee: traduzioni, fraintendimenti e ricezione) mostra la difficoltà di trasferire in un altro contesto socio-culturale e linguistico l’idioletto proprio delle opere verghiane, dando luogo a manipolazioni anche del titolo (si veda, una su tutti, la traduzione americana dei Malavoglia, ad opera di Mary Craig [New York, 1890], che diventano The House by the Medlar Tree), per «fornire con immediatezza una facile chiave interpretativa a un destinatario lontano dalle consuetudini e dall’ethos isolani» (p 326) Joseph Farrell (D.H Lawrence e Giovanni Verga. Affinità elettive) ricostruisce il rapporto tra i due grandi scrittori: Lawrence, per quanto risiedesse a Taormina dal 1920 al 1922, non incontrò mai lo scrittore italiano, mutando però atteggiamento nei confronti della sua Italienisch_81.indb 113 02.07.19 14: 05 114 Kurzrezensionen opera: da un iniziale sprezzante snobismo ad un interesse per la traduzione in inglese, definendolo addirittura «Homeric», sfociato nell’attiva opera di traslazione di alcune novelle e di Mastro-don Gesualdo Per quanto numerosi siano i fraintendimenti lessicali, a spingere il romanziere inglese a compiere tale impresa furono il suo interesse per il linguaggio verghiano, proprio di uno scrittore moderno sì, ma fortemente radicato nella tradizione di provenienza, e il senso del tragico, vale a dire una forma poetica di antica ascendenza calata nella realtà sociale dei suoi tempi Melo Freni (Giovanni Verga tra storia e antistoria) esamina l’interesse di Verga per la storia: dal giovanile trasporto mostrato nel torrenziale Amore e Patria (1856), la fiducia in un possibile riscatto storico si incrina già nella vicenda de I carbonari della montagna (1859-1960) fino alla delusione contenuta in Sulle lagune (1863) e al crudele disincanto di Libertà (1882) Giuseppe Quatriglio (A Refuge for Giovanni Verga) scruta all’interno di Casa Verga, un palazzo nel pieno centro di Catania, all’interno del quale lo scrittore nacque e risiedette al terzo piano, circondato da comodità senza alcuna ostentazione, i cui arredi sono rimasti uguali a quando l’autore dava loro vita nell’uso . Maurizio Rebaudengo Sieglinde Borvitz (Hrsg.): Metabolismo e spazio simbolico. Paradigmi mediali della Sicilia contemporanea, Napoli-Salerno: Orthotes 2018, 305 Seiten, € 25,00 In dem Sammelband fragen die AutorInnen nach der gegenwärtigen Kulturproduktion Siziliens Wie die Herausgeberin Sieglinde Borvitz in der «Premessa» (S . 5-15) erläutert, nähern sich die Beiträge ihrem Gegenstand über den Begriff des Metabolismus als Sinnbild der ununterbrochenen Interaktion zwischen Kulturbetrieb und Umwelt . Der kulturwissenschaftliche Ansatz rückt dabei den prozessualen Charakter von Phänomenen wie Mythopoesis, Stadtsanierung, Dramatisierung des Verfalls, Ritualisierung und Inszenierung von Brauchtum als öffentliches Spektakel in den Vordergrund Die Beiträge sind in drei Sektionen gruppiert: «Semiosi e mappature» 1, « Ri/ Appro- 1 Beiträge von Gianfranco Marrone, Vincenzo Guarrasi, Tommaso Guariento und Mirko Lino . DOI 10. 23 57/ Ital-2019 - 0 011 Italienisch_81.indb 114 02.07.19 14: 05 115 Kurzrezensionen priazioni» 2 , «Arte e frizioni» 3 Im Folgenden werden einige Beiträge exemplarisch für thematische Grundlinien der Argumentationen herausgegriffen Die Mehrzahl der Beiträge befasst sich mit der Hauptstadt Palermo, die oft als von Beschädigung zerfressene Stadt beschrieben wird Die Inszenierung ihres Alltags ist durch die Verwicklung von Tod mit Verlangen und Irrsinn gekennzeichnet Aus dieser Perspektive bringt Roberto Giambrone («Il desiderio, la follia e la morte nel teatro palermitano», S . 269-283) die Bühnenwerke von Franco Scaldati, Franco Maresco und Emma Dante miteinander in Zusammenhang, in denen Palermo die Rolle eines verfallenden Hintergrunds spielt Franco Scaldati positioniert sich am Rand der italienischen Szene: In seinem Werk nimmt er auf das Volkstheater Siziliens und die Avantgarde der 70er Jahre Bezug Die Ruinen des Krieges sind von den surrealen Outsidern Palermos bewohnt, die Scaldati ohne Gefühlsseligkeit als Figuren der klassischen Tragödie skizziert Für den Filmregisseur Franco Maresco veranstaltet das fortwährend verwesende Palermo eine ‘Trauerfeier’ für Qualitätskino und -theater Sein Kino weise bereits eine theaterartige Struktur auf; der Übergang zum Bühnenhaften zeige sich in einem Katalog von Verrückten, Palermo erscheine als unheilvolles Puppentheater Emma Dante sei im Augenblick geradezu der Star in Palermos Theaterszene: Ihre Ästhetik bevorzuge die körperliche Performance (Artaud), die Technik der Montage (Brecht) und die symbolträchtige Einbeziehung audiovisueller Materialien In Dantes Süditalien wucherten die typischen morbiden Deviationen matriarchalischer Kultursysteme, in denen Todesrituale und frustrierte Begierden dominieren Belebt hingegen werde die zeitgenössische Kunst Siziliens durch die linksorientierte Gegenkultur: Nach Modesta di Paola («Micropolitiche del quotidiano e tendenze glocali Adalberto Abate: un caso siciliano», S 179- 198) sind bei Adalberto Abbate die Stimmen der Kulturresistenz die Hauptfiguren seiner Kunstproduktion Abbate verknüpft Alltagsdarstellung und Sozialkritik und stellt das harmlose Alltagsleben als drohende Verkörperung der alles dominierenden Machtdynamik dar Tommaso Guariento («Il tempo della festa e lo spazio della rovina Antropologia della Vucciria», S . 45-61) dokumentiert die Phasen der komplexen Verwandlung des Stadtteils Vucciria in eine bloße Kopie seiner selbst Unter den Gassen der Altstadt haben sich trotz fortschreitender Gen- 2 Beiträge von Marco Mondino, Gabriella Bologna, Chiara Giubilaro, Luca Cinquemani und Emanuele Crescimanno, Danilo Mariscalco, Alice Giannitrapani und Valentina Richichi 3 Beiträge von Modesta Di Paola, Alessandro Punto, Valentina Mignano, Giulia Ingarao, Fabiola Di Maggio, Roberto Giambrone und Èlodie Cornez Italienisch_81.indb 115 02.07.19 14: 05 116 Kurzrezensionen trifizierung alte Dynamiken sozialer Interaktion herauskristallisiert Ähnlich wie in Renato Guttusos Gemälde «La Vucciria» (1974) wird der historische Markt als eine von der Zerstörung der Stadt umrahmte Bühne vorgestellt Inmitten von Kriegsruinen wird an den geräuschvollen Verkaufsständen den Touristen ein ebenso kanonisiertes wie veraltetes Bild eines wilden Sizilien geboten Die Entdeckung eines lebhaften Nachtlebens sowie des Zusammenlebens im Viertel zwischen Palermitanern, Tamilen und Senegalesen zerstört die romantisierte Vorstellung einer unverändert gebliebenen Vucciria Auf die Romantisierung des Verfalls konzentriert sich auch Vincenzo Guarrasi («Palermo Shooting . Geografie di spazi diabolici», S . 33-43) in seiner Kritik an Wim Wenders’ Film «Palermo Shooting» (2008) . Der Regisseur habe den Rhythmus der Stadt nicht wahrnehmen und wiedergeben können; die im Film sich manifestierende Fehlinterpretation rühre wahrscheinlich von der politischen Situation während der Aufnahmen her, da eine unkontrollierte Stadtentwicklung das Gemeindegebiet schädigte und es zu einer no-go-area werden ließ (1992-2008) Eine Filmeinstellung der Kapuzinergruft deutet auf das Repertoire des Todesbildes als symbolischer Darstellung von Palermo hin Aus einer theoretischen Perspektive bindet die Symbolik die Identität des Subjekts an den Ort Guarrasi weist durch Beispiele nach, wie Wenders’ Palermo das Stigma des Todesortes trägt und das stereotype Bild von Sizilien als eines ‘Schlachthofs der Mafia’ weiter zuspitzt Durch die Mythisierung eines faszinierenden, aber fremden Siziliens folgt Wenders zugleich der Tradition des Grand Tour Trotz des Titels spielt die Stadt keine Hauptrolle, sondern gibt nur den glanzlosen Hintergrund ab für die Abwärtsspirale, in die der Protagonist gerät Symbol der Hoffnung auf gelingende Stadterneuerung sei das ehemalige Industriegebiet Cantieri Culturali della Zisa, ein von der Stadtverwaltung Palermos für die Ansiedlung von Kunst- und Kulturschaffenden reserviertes ehemaliges Industriegebiet Chiara Giubilaro («Luoghi comuni Pratiche di reinvenzione urbana ai Cantieri Culturali della Zisa», S . 103-120) wählt die Cantieri zum Ausgangspunkt für ihre Untersuchung der Phänomenologie der Gemeinschaft, deren Grundeigenschaft die Öffnung sei: Die Entwicklungen der Gemeinschaft manifestieren sich nach den Prinzipien von Alteration, Pluralität, Begebenheit und zeitlicher Begrenzung Im Rahmen von Kursen, Werkstätten und Veranstaltungen entsteht ein Raum für Widerstand gegen die dominierende Denkweise Aus der Entdeckung eines Archivs in den Cantieri ist «From Archive to Fiction» entstanden, ein in Kooperation zwischen Palermo und Catania entwickeltes Kunstprojekt Luca Cinquemani und Emanuele Crescimanno («La memoria dei luoghi Fare Ala, From Archive to Fiction», S 121-135) gehen diesbezüglich der Frage nach, wie Kunst Erinnerungen an Orte speichern und aktualisieren könne, besonders in Zeiten Italienisch_81.indb 116 02.07.19 14: 05 117 Kurzrezensionen der Emigration und der Überlagerung von Lokalem und Globalem Das Kunstkollektiv Fare Ala löst sich von der Postmoderne, experimentiert mit der Wandelbarkeit und lässt die Schutzmauer selbst zum Bestandteil des Projekts werden . Ebenso positiv beschreibt Mirko Lino («Ubik: identità visive per una mappa emozionale di Palermo», S 63-67) den Erfolg des Projekts «Ubik» . Von Mai 2010 bis Februar 2011 konnten UserInnen kleine Videos von Orten und sozialen Ritualen Palermos im Internet hochladen: Der Kern dieser kraftvollen Erfahrung lag dabei in der Emotionalisierung der visuellen Identität Palermo Einige Beiträge widmen sich dem symbolischen Gehalt Siziliens in früherer Zeit Gianfranco Marrone («Genius loci: fra parole e immagini», S . 19-31) befasst sich mit dem Zusammenhang zwischen der symbolischen Darstellung des Genius von Palermo und der Topografie der Stadt . Die Vorstellung von Palermo als Becken spiegelt sich in der möglichen Etymologie des Toponyms wider (Palermo = Panormos < gr pan hormos; hormos ‘Hafen’, aber auch ‘Halskette, Geschmeide’), wobei die durch die Kartographie angeregte Einbildungskraft die etymologische Strategie verstärke Der Genius sei eine Personifikation der Stadt und schon in Volkserzählungen mit dem Bild des Goldbeckens, ein anderer Beiname der Stadt, verbunden Ebenfalls um Tod, aber auch um Wiedergeburt geht es in Fabiola Di Maggios («Lo spazio dei pupi a Palermo L’opra tra performance e metaeterotopia», S . 241-268) Überblick über die Opera (Opra) dei Pupi, die Tradition des sizilianischen Marionettentheaters Nach einer kurzen Zusammenfassung von Geschichte und Stoff des Puppenspiels (Bezug auf den höfischen Roman) erläutert die Autorin, wie das Publikum um 1700 sein Bedürfnis nach kulturellen Ausdrucksformen befriedigte, die Verhaltensmuster und Werte wie Mut, Treue und Kraft vermittelten und Interaktionsformen reproduzieren sollten, die denen im feudalen Italien ähnelten Die Opra habe einen symbolischen Identifikationsraum angeboten, in dem die Wahrheit des Mythos mit der Alltagserfahrung des Volks zusammenfiel und der darüber hinaus eine Protestform gegen die Mächtigen darstellte Mit dem politischen Wandel zerbrach eine solche Identifizierung, und mit dem Aufkommen des Fernsehens begann der Verfall der volkstümlichen Kunst des Puppenspiels Die Opra verarbeitet jedoch die Veränderung in den Konsumgewohnheiten der 60er Jahre und erlebt dadurch einen Wandel hinsichtlich der Sprach- und Erzählformen ebenso wie des Publikums Erst in den letzten Jahrzehnten haben volkstümliche Formen wie die Opra das lokale Publikum wieder angezogen, da die Vorstellung von Kultur als intellektuellem Produkt allein der herrschenden Klasse derjenigen gewichen ist, dass alle Kulturprodukte denselben Wert haben Italienisch_81.indb 117 02.07.19 14: 05 118 Kurzrezensionen Der aus der Zusammenarbeit zwischen den Universitäten Düsseldorf und Palermo hervorgegangene Sammelband befasst sich aus kulturwissenschaftlicher Perspektive mit den vielfältigen Transformationsprozessen der symbolischen Räume Siziliens Von ihrer methodischen Ausrichtung her sind die Aufsätze sehr unterschiedlich angelegt, ihr gemeinsamer Nenner ist jedoch die überaus relevante Frage, ob die Insel zum Verfall verurteilt sei Aus den hier dargebotenen Belegen für ihre immer wieder wechselnden symbolischen Gestaltungsformen darf man getrost schließen, dass sich Sizilien weiterhin unerschütterlich umgestalten lassen wird Maria Giovanna Campobasso Dagmar Reichardt/ Nora Moll (Hrsg.): Italia transculturale. Il sincretismo italofono come modello eterotopico, Firenze: Franco Cesati Editore 2018, 167 Seiten, € 18,00 Die Herausgeberinnen Dagmar Reichhardt und Nora Moll verorten den Sammelband Italia transculturale. Il sincretismo italofono come modello eterotopico vor dem Hintergrund verstärkter Migrationsbewegungen nach Europa, mit einem Höhepunkt im Jahr 2015, die für sie einen cultural turn in der Geschichte Italiens und Europas markieren Der Wandel Italiens vom traditionellen Auswanderungsland zum heterogenen Einwanderungsland vollzog sich bereits in den 1980er Jahren, während sich, ausgelöst durch so diverse Ereignisse wie den Fall der Berliner Mauer und die Ermordung des südafrikanischen Flüchtlings Jerry Essan Masslo 1989, der mediale Diskurs und der theoretische Rahmen etablierten, innerhalb derer Migration von da an in Italien diskutiert werden sollte Anfang der 1990er Jahre erschienen drei autobiographische Bücher von nach Italien eingewanderten Autoren (Salah Methnani: Immigrato, 1990; Pap Khouma: Io, venditore di elefanti, 1990; Mohamed Bouchane: Chiamatemi Alì, 1991), mit denen der Grundstein für das neue Feld der italienischen Migrationsliteratur gelegt wurde Diese wird oft mit Hilfe eines Muttersprachlers ‘vierhändig’ geschrieben und erscheint somit direkt auf Italienisch Seit Mitte der 2000er Jahre wird das Thema der italofonen Migrationsliteratur im Bereich Italianistik vermehrt diskutiert (u .a Taddeo 2006; Comberiati 2010; Quaquarelli 2010; Pezzarossa/ Rossini 2011; Bremer/ Heydenreich 2011; Linardi 2017) Es beschreibt ein Forschungsfeld von «narrazioni contese» (so auch der Titel der gleichlautenden Monographie von Mengozzi 2012) DOI 10. 23 57/ Ital-2019 - 0 012 Italienisch_81.indb 118 02.07.19 14: 05 119 Kurzrezensionen Der vorliegende Band geht aus einem Panel der Konferenz «La stessa goccia nel fiume - Il futuro del passato» hervor, die von 31 August bis 3 September 2016 in Budapest stattfand und von der Vereinigung Italienischlehrer international (A .I .P .I .) organisiert wurde Mit ihrem Konzept der Transkulturalität nach Wolfgang Welsch (1991), das die postkoloniale Kritik Edward Saids (1978) um den Begriff des Sud nach Gramsci (1930) erweitern und zu einer generellen Öffnung in «alle vier Himmelsrichtungen» führen soll, wollen die Herausgeberinnen zum einen neue Impulse für die Italianistik setzen und zum anderen die wichtige Rolle hervorheben, die der Kultur verstanden als Transkultur - im Rahmen der Migrationsbewegungen auf dem europäischen Kontinent zukommt Es geht ihnen dabei um die Identifizierung kultureller Praktiken und Werte, durch die das Italienische vor allem seit den historischen Emigrationsbewegungen Ende des 19 Jahrhunderts eine synkretische, hybride und transkulturelle Identität angenommen hat Die Beiträge sind in Perspektiven auf den «Synkretismus des Südens, glokale Identitäten, mediatischer Pluralismus» sowie «Cross-Border, soziale und literarische Hybriditäten und italophone Transkulturalität» unterteilt Jedes Kapitel wird von einer Bibliographie ergänzt, die die jeweils relevantesten Lektüren umfasst und zur Orientierung und thematischen Vertiefung dienen soll Die einzelnen Beiträge werfen Schlaglichter auf ein breites Themenfeld, das von der Identifizierung transkultureller Figuren und Motive in Werken Leonardo Sciascias, Giuseppe Bonaviris, Ariosts und Laura Parianis über die Möglichkeiten digitaler, transkultureller Ausdrucksmöglichkeiten bis hin zur Verortung des kulturellen Modells der italienischen Familie in der US-amerikanischen Gesellschaft und der Dekonstruktion des Heimat-Begriffs in den Poetiken der Südtiroler Dichter Gerhard Kofler und Norbert C Kaser reicht Ihrem eigenen Anspruch entsprechend wird das oft isoliert behandelte Phänomen der italienischsprachigen Migrationsliteratur somit in einen transkulturellen Kontext eingebettet und mit Fragen des kulturellen Transfers und den Veränderungen in der italienischen Kultur konfrontiert Dadurch soll ein breiter Diskurs geschaffen werden, der darauf abzielt, die Disziplingrenzen zu überschreiten und Wissen über Zusammenhänge, die Italien und die globale Migration betreffen, zu generieren Das gelingt vor allem im zweiten Teil des Bandes, in dem literarische und soziologisch-politische Diskurse zur gegenseitigen Erhellung beitragen und das Heterotopie-Modell Foucaults, das den Titel des Bandes schmückt, seine machtkritische Funktion erfüllt, wie das im Beitrag Francesco Chianeses, «Rappresentazioni transculturali della famiglia italiana nella tarda modernità», über das kulturelle Modell der italienischen Familie in der USamerikanischen Gesellschaft der Fall ist Hervorzuheben ist hier außerdem Lorenzo Filippo Bacchinis postkoloniale und transkulturelle Relektüre des Italienisch_81.indb 119 02.07.19 14: 05 120 Kurzrezensionen kanonischen Textes Orlando Furioso von Ludovico Ariosto in «Cristiani e Saraceni nell’Orlando Furioso: personaggi cross-border e tracce di transculturalità» Politisch aktuell und für den Gegenstand der Transkulturalität interessante Impulse liefert auch der Beitrag von Maria Grazia Negro, «Alto adige/ alto fragile: la decostruzione della Heimat nella poesia plurilingue di Gerhard Kofler e di Norbert C Kaser», in dem sie den Heimat-Begriff in der Poetik Gerhard Koflers und Norbert C Kasers dekonstruiert und in den historisch-politischen Zusammenhang setzt Das Konzept der Transkulturalität wird hier zu einem auf Ebene der Ästhetik kritischen, politischen Instrument, abzulesen auch an den Texten der Online-Zeitschrift El-Ghibli, die Rotraud von Kulessa in ihrem Beitrag «La letteratura impegnata italofona online: il caso della rivista elettronica ‘El-Ghibli’ come laboratorio della letteratura transculturale» bespricht Die junge Disziplin der Transkulturalität kann so verstanden tatsächlich den philosophischen, ästhetischen und selbstreflexiven Horizont der italophonen Literaturtheorie erweitern und die etwas in Vergessenheit geratene ethische und soziale Funktion von Literatur wieder in den Vordergrund rücken In einer globalen, heterogenen Weltgesellschaft beschreibt Transkulturalität nicht nur ein offensichtliches Untersuchungsfeld, bei dem der Blick auf die Zukunft gerichtet sein muss und das sich darüber hinaus, wie die Autorinnen und Autoren zeigen, auf eine solide Traditionslinie in der italienischsprachigen Literatur stützt, sondern bietet sich im Hinblick auf den ethical turn in der Literatur auch als analytische Kategorie in der Frage nach der Begegnung mit dem Anderen an Martina Kollroß Tiberio Snaidero: Interkulturelles Lernen im Italienischunterricht. Eine Konzeption und Lernaufgaben für Italienisch als 3. Fremdsprache, Berlin: Frank & Timme 2017, pp. 435, € 54,80 Accostandosi al Paese di origine e alla sua cultura a partire da una distanza geografica e culturale, nonché attraverso la lente di ingrandimento di un’altra lingua, con la pubblicazione della sua tesi di dottorato Tiberio Snaidero si propone di fornire un contributo nell’ambito della Didattica della lingua e cultura italiana, focalizzando l’attenzione sulle specificità dell’apprendimento interculturale nella lezione di italiano Come spiega nell’introduzione (pp 17-27), in cui, oltre a motivare la scelta tematica chiarendo ragioni biografiche e professionali alla base del percorso condotto, delimita il campo di indagine e precisa gli obiettivi perseguiti, lo studio consiste in un’indagine DOI 10. 23 57/ Ital-2019 - 0 013 Italienisch_81.indb 120 02.07.19 14: 05 121 Kurzrezensionen ermeneutica, orientata anche alla dimensione pratica e contenente una sorta di valutazione empirica Dopo la parte introduttiva, il lavoro è diviso in quattro capitoli, ciascuno dei quali contiene in apertura la formulazione della domanda di ricerca a cui viene data risposta Il primo interrogativo, affrontato nel secondo capitolo (pp 29-160), concerne l’analisi delle particolarità dell’apprendimento interculturale nell’insegnamento dell’italiano Tuttavia, mancando in Germania cattedre universitarie dedicate esclusivamente alla Didattica dell’italiano, mancanza da cui consegue l’assenza, salvo qualche eccezione, di veri e propri studi scientifici condotti in modo sistematico in tale settore, e risultando essere non molto note nei contesti germanofoni le indagini riguardo all’apprendimento interculturale realizzate in Italia nella Didattica dell’italiano a stranieri, secondo l’autore appare opportuno ricostruire in primis le tappe di sviluppo dell’apprendimento interculturale in generale nella Didattica delle lingue straniere in Germania, tracciandone l’evoluzione da un punto di vista storico, dalla fine dell’Ottocento ai giorni nostri Sintetizzando i contenuti di importanti contributi scientifici relativi al tema dell’apprendimento e della competenza interculturale pubblicati nell’ambito della Didattica dell’inglese, del francese e del tedesco come lingua straniera, fra cui anche alcuni volti a sottolineare il potenziale di testi letterari come base e strumento per affrontare temi interculturali, lo studioso offre un ricco e dettagliato panorama di approcci, concetti e principi didattici formulati negli ultimi decenni Dal piano teorico generale passa all’analisi, condotta con precisione e sguardo critico, di fattori specifici riferiti all’italiano allo scopo di: tracciare tendenze attuali della Didattica della cultura nell’italianistica tedesca e dimostrare come in Germania l’apprendimento interculturale nell’insegnamento dell’italiano sia un ramo di ricerca ancora poco indagato; illustrare la situazione relativa allo studio dell’italiano, introdotto come materia curriculare a partire dagli anni Settanta e appreso principalmente come terza lingua straniera da una bassa percentuale di alunni negli istituti scolastici tedeschi; mostrare come, in alcuni libri di testo analizzati, vari argomenti legati alla cultura vengano trattati innanzitutto per introdurre aspetti lessicali o grammaticali; e, infine, ribadire la necessità di adeguare proposte didattiche e criteri di valutazione praticabili concretamente in classe Su tale sfondo si colloca la proposta formulata da Snaidero di un approccio comunicativo interculturale e plurilingue: riflettendo su possibili elementi che possono contribuire allo sviluppo di un apprendimento interculturale specifico per l’italiano, l’autore sottolinea l’importanza di fornire ai discenti un’immagine autentica dell’Italia e, tenendo conto, tra gli altri, del modello di Byram (1997, 1999), ribadisce che lo scopo principale della lezione di italiano consiste in primo luogo nello Italienisch_81.indb 121 02.07.19 14: 05 122 Kurzrezensionen sviluppo della capacità di giudicare criticamente la società italiana e quella tedesca, obiettivo perseguibile anche mediante l’utilizzo di testi in tedesco, inglese, francese e/ o spagnolo relativi all’Italia (cfr pp 152-160) La seconda domanda che apre il terzo capitolo (pp 161-200) verte sulle tipologie di attività attraverso cui è possibile stimolare l’apprendimento interculturale nella lezione di italiano delle ultime classi dei licei Tra gli strumenti, i testi della letteratura per ragazzi e, soprattutto, della letteratura de-centrata (Lüderssen/ Sanna 1995) possono assumere un ruolo importante nella misura in cui, affrontando tematiche legate al contesto culturale attuale e rilevanti per i giovani, possono stimolare un processo di identificazione e un cambiamento di prospettiva per il raggiungimento di obiettivi cognitivi, metacognitivi, affettivi, sociali e orientati all’azione Attraverso metodologie cooperative e interattive, l’impiego di blog e piattaforme digitali, l’organizzazione di scambi reali e virtuali o di soggiorni culturali in Italia, a partire dal concetto di Task-based Language Learning, si sottolinea la necessità di svolgere attività autentiche e credibili legate alla vita reale dei discenti Illustrando in modo approfondito, alla luce di varie pubblicazioni di riferimento, caratteristiche, funzioni e obiettivi dei tasks, Snaidero spiega i motivi e i metodi di un loro utilizzo per sviluppare la competenza comunicativa interculturale: tra gli esempi, giochi di ruolo e simulations globales implicano la capacità di negotiation of meaning, consentono l’analisi di critical incidents e mirano all’acquisizione di language awareness Oltre a trarre vantaggio dalla madrelingua e dalle altre lingue apprese come prima e seconda lingua straniera, nell’apprendimento dell’italiano si possono sfruttare le potenzialità della didattica dell’intercomprensione e della mediazione che rinviano all’acquisizione di una competenza plurilingue e transculturale Il quarto capitolo (pp 201-257) traccia i criteri di scelta dei contenuti per l’apprendimento interculturale nella lezione di italiano Partendo dall’osservazione che alcuni libri di testo affrontano argomenti non legati alle specificità della realtà italiana che, diversamente da quanto comporta lo studio del francese e dello spagnolo, rimanda in maniera quasi esclusiva a un unico Paese di riferimento che dispone di una comune base cognitiva e di una sostanziale omogeneità linguistico-culturale, l’autore sottolinea la necessità di mostrare ai discenti un ritratto rappresentativo, realistico e attuale del bel Paese, tematizzando fenomeni sociali e politici e trattando tematiche che stimolano la comprensione dell’altro e la capacità di interagire mediante la lingua straniera Fra i temi, oltre ai rapporti italo-tedeschi, analizzabili anche dal punto di vista calcistico, agli stereotipi e alle problematiche migratorie che accomunano i due Paesi, Snaidero propone la (spesso mancata) integrazione dei migranti, la fuga dei cervelli, la «berlusconizzazione» della società, la videocrazia e l’immagine della donna, il leghismo e Italienisch_81.indb 122 02.07.19 14: 05 123 Kurzrezensionen l’intolleranza come aspetti rilevanti per riflettere sulla realtà di un Paese in crisi Invece, tra i vari testi, presenta alcuni romanzi rappresentativi della cosiddetta letteratura de-centrata (Lüderssen 2004) o inter-letteratura (Mannino 2012) e aventi come protagonisti dei ragazzi, ovvero Vita (2003) di Melania Mazzucco e La festa del ritorno (2004) di Carmine Abate; anche opere come Per il resto del viaggio ho sparato agli indiani (2007) di Fabio Geda e Questo mare non è il mio mare (2007) di Elisabetta Lodoli vengono ritenute particolarmente adeguate per sviluppare una competenza interculturale nella lezione di italiano Non solo molti testi di scrittori migranti, italiani interculturali o «itagliani», secondo la definizione di Gnisci (2009), si possono usare in classe per motivi tanto tematici, quanto stilistici e diegetici, ma anche film, come Cose dell’altro mondo (2012) di Francesco Patierno, La giusta distanza (2007) di Carlo Mazzacurati, L’orchestra di piazza Vittorio (2006) di Agostino Ferrente e Io, l’altro (2007) di Mohsen Melliti, vengono passati in rassegna e valutati per la loro fruibilità didattica Esponendo un’accurata selezione di argomenti, lo studioso si sofferma, dunque, su materiali ritenuti utilizzabili in una lezione interculturale di italiano che riconosca i concetti di pluralità e pluralismo come segni caratterizzanti la cultura europea Nel quinto capitolo (pp 259-388) vengono proposte, analizzate e commentate attività didattiche, finalizzate allo sviluppo dell’apprendimento interculturale nella lezione di italiano e sviluppate con un taglio plurilingue che prevede, come elementi di scaffolding, l’integrazione di materiali in tedesco, inglese, spagnolo e francese, condotta secondo i principi della metodologia CLIL Le proposte formulate affrontano argomenti che rientrano nei seguenti ambiti tematici: Processi migratori e diversità culturali, Identità nazionale ed europea, Attualità sociale e politica, Questioni sociali del presente e L’Italia di oggi Riguardo alla struttura, ciascuno dei quattro moduli (Gesamtaufgabe), intitolati Noi italiani neri, Germanesi contro Toskanisti, Il corpo delle donne in una videocrazia, In fuga da «Bella Italia», è composto da più compiti (Lernaufgaben), ognuno dei quali prevede più attività (Teilaufgaben) Secondo il modello di Willis (1996) e Bechtel (2011), in ogni compito a una fase iniziale (pre-task) segue una fase centrale, volta a risolvere un compito target mediante l’attivazione di competenze linguistiche, testuali e interculturali (task cycle), per passare a una fase finale di produzione linguistica e valutazione della qualità del processo di apprendimento (language focus) Basati su materiali autentici, quali testi letterari e di saggistica, articoli giornalistici, blog, film, documentari e immagini, ma anche glossari bio trilingui e traduzioni, garantendo un certo grado di differenziazione e individualizzazione e tenendo conto dei criteri dei Bildungsstandards (KMK 2012), i moduli contengono anche indicazioni relative a requi- Italienisch_81.indb 123 02.07.19 14: 05 124 Kurzrezensionen siti contenutistici, obiettivi perseguiti, competenze e livelli, durata prevista, risultati prodotti e fonti utilizzate Tramite l’uso di tabelle si visualizza il percorso didattico proposto che, con attività finalizzate alla riflessione sulla propria esperienza e identità plurale, all’interpretazione di diversi punti di vista e allo sviluppo di una critical cultural awareness, costituisce un tentativo di declinare in chiave didattica i temi di «italianità» e «tedeschitudine» Un limite tangibile, dichiarato e motivato dallo stesso Snaidero (cfr pp 402-403), consiste nel fatto che le attività didattiche proposte non sono state sperimentate in classe, ma (quasi tutte) discusse e commentate da un gruppo di tredici esperti, docenti e discenti durante un workshop organizzato ad hoc e non tenuto personalmente dall’autore, a cui è stata inviata una registrazione audio, contenente dieci minuti della discussione plenaria Sia gli apprezzamenti espressi sia le critiche rivolte, riassunte nella prima parte del sesto capitolo (pp 389-409), appaiono in buona parte largamente condivisibili; in particolare, come suggerito dagli esperti, l’idea di far svolgere attività non solo in italiano e tedesco, ma anche in inglese, francese e spagnolo, in obbedienza all’approccio interculturale plurilingue seguito, andrebbe osservata e valutata nella sua concreta realizzabilità pratica In ogni caso, appoggiandosi con perizia a una solida e ampia base scientifica, rielaborandone in maniera ragionata e motivata proposte e risultati, Snaidero applica alla Didattica dell’italiano concetti e principi, metodi e criteri ampiamente discussi nel dibattito relativo all’insegnamento delle altre lingue straniere; attraverso parti riassuntive ed elenchi, senza rinunciare a ripetizioni e richiami interni, il lettore viene guidato nella complessa trattazione dell’argomento, in un volume che auspica di colmare un vuoto nell’Italianistica e rappresenta uno studio valido che offre un tassello importante nella Didattica dell’italiano in Germania . Domenica Elisa Cicala Italienisch_81.indb 124 02.07.19 14: 05 125 Mitteilungen Giovanni Lodovico Bianconi (Bologna, 1717-Perugia, 1781): un homme de lettres europeo - Convegno di studi a Perugia Nei giorni 28 e 29 marzo 2019, presso il Dipartimento di Lettere - Lingue, Letterature e Civiltà Antiche e Moderne dell’Università degli Studi di Perugia, si è tenuto il convegno intitolato Giovanni Lodovico Bianconi (Bologna, 1717-Perugia, 1781): un homme de lettres europeo Il convegno perugino è il primo dedicato a Bianconi, figura tra le più interessanti e rappresentative della cultura del suo tempo Medico, erudito, promotore e collaboratore di riviste di diffusione internazionale (tra le quali il Journal des savans d’Italie, l’Antologia romana, le Efemeridi letterarie), scrittore di viaggio, collezionista e mercante d’arte, membro di prestigiose accademie letterarie e scientifiche (l’Arcadia, l’Accademia etrusca di Cortona e l’Accademia delle scienze di Berlino), Bianconi è tra gli intellettuali europei più attivi nella mediazione e promozione culturale grazie anche a una prestigiosa rete di relazioni internazionali coltivate nel lungo soggiorno all’estero Lasciata a 27 anni la sua città natale, Bologna, si trasferì ad Augusta come medico personale del principe vescovo, nel 1750 si stabilì a Dresda con il ruolo di consigliere aulico e bibliotecario dell’elettore di Sassonia, allo scoppio della Guerra dei sette anni fu a Praga e quindi in Baviera al seguito del principe ereditario dopo la morte del quale, nel 1765, tornò in Italia risiedendo a Roma con l’incarico onorifico di ministro di Sassonia presso la Santa Sede Gli scritti di Bianconi esprimono una mentalità ‘cosmopolita’, esente da pregiudizi nazionalistici o confessionali, antidogmatica, plasmata dai principi della razionalità e della laicità, interessata allo studio dei costumi e della vita dei popoli, con particolare riguardo al mondo a lui più noto, quello tedesco Buona prova ne sono le riflessioni sull’importanza del protestantesimo per l’educazione civile del popolo tedesco nelle cosiddette Lettere Bavare, considerate tra le migliori prose di viaggio del Settecento Il nome di Bianconi è noto agli studiosi: la sua produzione fu pubblicata vivente l’autore o postuma per le cure del genero Reginaldo Ansidei e del fratello Carlo; una scelta delle sue lettere dalla Germania comparve nell’antologia dei Letterati memorialisti e viaggiatori del Settecento (1951) a cura di Ettore Bonora, autore anche della voce del Dizionario Biografico a lui dedicata (1968); il ventennio trascorso in Germania è stato studiato approfonditamente in particolare da Giulia Cantarutti e da Giovanna Perini Folesani, curatrice degli Scritti tedeschi (1998) Ciononostante, Bianconi appartiene al novero dei ‘fantasmi’, per usare le parole di Maria Corti evocate da Arnaldo Bruni in apertura del convegno DOI 10. 23 57/ Ital-2019 - 0 014 Italienisch_81.indb 125 02.07.19 14: 05 126 Mitteilungen perugino, che abitano gli studi letterari e a cui occorre ancora dare ‘corpo e voce’ La direzione è stata indicata da G Cantarutti nella prima relazione («‘Gio-Lodovico Bianconi Bolognese’: Archiatra di corte in Germania, Consigliere sassone a Roma»): la ricostruzione della complessa e articolata personalità di Bianconi richiede, osserva Cantarutti, una mappatura sistematica della sua corrispondenza esistente negli archivi nazionali ed europei L’obiettivo è l’edizione dell’epistolario che consentirà di ricostruire la rete di relazioni diplomatiche e culturali tessute con le figure più significative della République des Léttres Un esempio dell’importanza delle lettere di Bianconi è suggerito dal voluminoso carteggio intrattenuto con Giammaria Ortes, oggetto della relazione di Bartolo Anglani («Il carteggio tra Ortes e Bianconi: storia di una lunga amicizia [1744-1780]») Anglani si è concentrato su un aspetto specifico trattato nelle lettere - gli esperimenti sulla frangibilità dei vetri - a partire dal quale ha messo a confronto le posizioni dei due corrispondenti sull’utilità dell’esperienza empirica per la fondazione di un sistema scientifico Le dieci relazioni hanno preso in esame i principali settori d’interesse di Bianconi Il primo è quello, appunto, della ricerca scientifica, le cui nuove acquisizioni (nei campi dell’elettrologia, della fisica-matematica, dell’astronomia) furono divulgate da Bianconi tanto negli articoli del 1748-1749 indagati da Regina Lupi («Bianconi ambasciatore della cultura italiana: il ‘Journal des savans d’Italie’»), quanto nelle due lettere ‘fittizie’ indirizzate a Enrico di Prussia, Di alcune notizie intorno a Pisa, e Firenze (1781), analizzate da Annalisa Nacinovich («La scienza moderna e i ‘frantumi degli antichi’: Bianconi e gli studi eruditi») . La seconda questione è quella, assai complessa, del rapporto tra Bianconi e la cultura tedesca, ricostruito da John Butcher («‘Son eglino i Tedeschi impeccabili? ’ . Rappresentazioni letterarie della Germania da Petrarca a Bianconi») e da Franco Arato («Bianconi viaggiatore: un antico tra ‘i barbari’») prendendo in esame gli articoli sui periodici letterari e le Lettere Bavare Maria Nicole Iulietto («Le Lettere sopra A. Cornelio Celso di Giovanni Lodovico Bianconi nella fortuna critica del medicorum Cicero»), invece, ha ripercorso il progetto incompiuto di edizione critica del De medicina, sottolineando l’importanza della ricostruzione della storia ecdotica di Celso esposta da Bianconi nelle lettere a Gerolamo Tiraboschi (1779) Carmelo Occhipinti («Le biografie di Mengs e Piranesi Considerazioni sulla storia artistica») ha considerato le pagine di critica d’arte, con particolare attenzione alla lucida interpretazione della poetica di Giambattista Piranesi nell’elogio storico dedicato all’incisore (1779) Le relazioni hanno tutte rilevato un tratto caratterizzante l’opera di Bianconi: la scrittura chiara che ne rende piacevole la lettura Si tratta di un aspetto chiave per comprenderne il progetto culturale L’analisi compiuta da Italienisch_81.indb 126 02.07.19 14: 05 127 Mitteilungen Massimo Fanfani («Appunti sulla lingua di Bianconi») sulla corrispondenza privata e sulla scrittura saggistica e pubblicistica ha messo in luce le caratteristiche precipue di una lingua moderna e vicina al parlato, adatta a un’ampia comunicazione intellettuale Nell’ultima relazione di Sandro Gentili e Chiara Piola Caselli («Le amicizie perugine di Bianconi») sono state presentate alcune nuove fonti di e su Bianconi, frutto di un lavoro di ricerca compiuto nelle biblioteche e negli archivi romani e umbri Gli atti del convegno saranno pubblicati in un numero monografico della rivista Seicento & Settecento che comprenderà un’appendice dedicata all’inventario delle lettere di Bianconi, edite e inedite, fino ad ora reperite . Chiara Piola Caselli Convegno interdisciplinare: «È di mestiere sapere quale suono rendono queste lettere … Musik und Literatur zwischen Septem Artes liberales und Humanismus in Italien» (Bochum) Dal 25 al 27 febbraio 2019 si è svolto presso la Ruhr-Universität (Bochum) il convegno interdisciplinare dal titolo: «È di mestiere sapere quale suono rendono queste lettere … Musik und Literatur zwischen Septem Artes liberales und Humanismus in Italien», sostenuto dalla Fritz Thyssen Stiftung in collaborazione con il Romanisches Seminar della Ruhr-Universität L’incontro, al quale hanno preso parte esperti di diverse discipline (filologia, musicologia e storia dell’arte) è stato aperto da Eva-Verena Siebenborn (Ruhr- Universität Bochum), organizzatrice dell’evento Oggetto precipuo degli interventi è stata la disamina dello stretto rapporto tra musica e letteratura, specifico della Prima Età Moderna, in particolare del Cinquecento e degli inizi del Seicento in Italia attraverso l’analisi di singoli e concreti fenomeni musicali, letterari e musico-letterari In questo orizzonte, il convegno ha abbracciato il ‘lungo’ processo, le cui origini risalgono proprio al passaggio tra Cinquecento e Seicento, che porta all’evoluzione dell’opera lirica e al suo diffondersi ed affermarsi in età barocca Determinante per la formulazione degli specifici interessi di ricerca e in generale per l’allestimento del convegno stesso è stata l’osservazione di un certa sensibilizzazione per quanto riguarda il rapporto tra musica e poesia nelle Prose della volgar lingua (1525) di Pietro Bembo . 1 Infatti, nel documento più autorevole della questione della 1 Vgl Sabine Meine, Die Frottola: Musik, Diskurs und Spiel an italienischen Höfen 1500-1530, London: Brepols 2013, in particolare pp 27-38 DOI 10. 23 57/ Ital-2019 - 0 015 Italienisch_81.indb 127 02.07.19 14: 05 128 Mitteilungen lingua cinquecentesca, l’affermarsi del toscano come lingua letteraria, si fonda su qualità primariamente musicali quali il numero, il suono, il concento e l’armonia La forte congiunzione tra musica e poesia che qui si manifesta è la prova di un mutato rapporto tra le due discipline, il quale porta nel corso di una generale erosione di validità delle arti liberali, all’ammissione della musica, arte tradizionalmente del Quadrivio, nel canone degli studia humanitatis con la sua conseguente aggregazione alla retorica e alla poetica Questa nuova compenetrazione tra musica e poesia è quindi da considerarsi come il risultato di un vasto e complesso cambiamento epistemologico, riconducibile ad una retoricizzazione dei principali aspetti della vita sociale, tra cui figura anche la retoricizzazione della musica, che rappresenta la premessa necessaria a due processi complementari da mettere ancora bene a fuoco: il processo di ‘musicalizzazione’ della poesia e quello di ‘letterarizzazione’ della musica La prima sessione, dedicata al processo di retoricizzazione della musica, è stata aperta dall’intervento di Sabine Meine (Hochschule für Musik und Tanz Köln): «Die Frottola als Spielfeld für die questione della lingua Humanismus und Musik an den Höfen von Isabella d’Este und Lucrezia Borgia in Mantua und Ferrara um 1500» Meine ha dimostrato tramite la frottola, quale genere di canzone popolare delle corti settentrionali cinquecentesche, quanto siano intrecciati, rispettivamente, i processi di ‘letterarizzazione’ della musica e di ‘musicalizzazione’ della poesia Da un lato, la frottola contribuì a rendere più musicale e popolare il volgare, dall’altro si può notare lo sforzo dei frottolisti per uscire dall’ambito letterario basso della poesia per musica e per passare all’adozione di testi poetici più nobili quali sonetti, canzoni e ballate del Canzoniere petrarchesco Nella sua relazione « … più non si convien l’usato canto - Orpheusgestalten und die Begründung säkularer Musik durch Poetologien des Gesangs an italienischen Fürstenhöfen um 1500 (Poliziano: Favola d’Orfeo; Anonym: Orphei Tragoedia)», Eva- Verena Siebenborn (Ruhr-Universität Bochum) ha portato all’attenzione dei partecipanti la creazione, attraverso due rappresentazioni del dramma basato sul mito greco d’Orfeo, in assenza di una tramandata musica antica, di una musica secolare, erudita, specificamente cortigiana dai connotati sia lirici che epici e tragici A questa nuova concezione di canto sono seguiti un bisogno di legittimazione e quindi la costituzione di poetologie specifiche, dalle basi non musicologiche, bensì poetiche, così da poter parlare di una retoricizzazione o letterarizzazione della musica Nell’ultimo intervento della prima sessione dal titolo «Quanto sia necessario il Numero delle cose? (Gioseffo Zarlino) - Zum Verhältnis von Zahlhaftigkeit und Sprache in der Musik des 16 Jahrhunderts», Michael Meyer (Universität Zürich) ha posto al centro dell’attenzione la categoria del numerus e, attraverso le Istitutioni Italienisch_81.indb 128 02.07.19 14: 05 129 Mitteilungen harmoniche (1558) di Gioseffo Zarlino, un pensiero musicale in generale basato sul Neoplatonismo ficiniano; un pensiero musicale che si pone così in netto contrasto al processo di ‘retorizzazione’ della musica La seconda giornata e, allo stesso tempo, la seconda sessione sulla ‘letterarizzazione’ della musica è stata aperta dalla stimolante relazione di Manuel Baumbach (Ruhr-Universität Bochum) dal titolo «Wortspiel im Agon der Künste: Die Poiesis der Syrinx und Theokritis bukolische Dichtung» Baumbach ha esposto in un certo senso una ‘doppia’ letterarizzazione della musica, constatando come la musica diventasse una componente fissa della poesia, proprio in un periodo in cui si effettua un passaggio mediale, cioè da una forma di poesia esibita con accompagnamento musicale ad una forma poetica puramente cartacea, in cui la musica si colloca ad un livello semantico In particolare, Baumbach ha esposto il processo di letterarizzazione della musica in ambito bucolico, processo per cui l’atto costitutivo è stato quello dell’invenzione e dell’ammissione della Siringa o flauto di Pan all’interno della poesia bucolica, attraverso la carmina figurata di Teocrito, una riproduzione grafica dell’oggetto tramite la graduazione della lunghezza dei versi, in cui si mescolano fantasia visiva e abilità metrica È poi seguita la relazione di Susanne Friede (Universität Klagenfurt), «Invaghiti delle lor voci. Zum Verhältnis von Musik, lyrischen Texten und Urteilsfindung in Pietro Bembos Asolani», in cui Friede ha puntato alla messa in rilievo del rapporto tra musica, passaggi lirici e ciò che lei stessa ha designato come formazione di giudizio negli Asolani; mentre per la musicalità si può constatare una posizione del tutto marginale, individuandola principalmente solo nella semi-cornice che fa da contorno al dialogo, la parte centrale dell’opera è, invece, caratterizzata da una decisiva valorizzazione della testualità e di una cultura del ‘parlare’ e non del ‘cantare’ Tuttavia, Friede ha individuato anche nella parte ‘parlata’ dell’opera dei residui di musicalità Tale musicalità, sicuramente differente da quella situata nella cornice, è ancorata ad una funzione o ad un effetto civilizzatore che costituisce il punto di partenza di quelle riflessioni e approfondite discussioni che portano ad una formazione di giudizio soprattutto nelle figure femminili L’intervento «Himmlische Klänge und Zaubergesänge in Torquato Tassos Gerusalemme liberata» di Jörg Steigerwald (Universität Paderborn) ha posto al centro dell’attenzione le tensioni tra testo poetico e musicalità in un genere come il poema, in cui la semantica del canto è di importanza cruciale, sebbene esso non sia più legato ad una rappresentazione mediante la musica Ciò nonostante Steigerwald ha mostrato come Tasso crei degli effetti di presenza musicale, i quali vengono usati poi a scopo di un’illusione estetica dalla semantica sovversiva (incanto) e a scopo di un potenziamento del meraviglioso cristiano dalla semantica celesta e divina Italienisch_81.indb 129 02.07.19 14: 05 130 Mitteilungen Marc Föcking (Universität Hamburg) ha aperto la terza sessione dedicata ai campi di tensione tra musica e letteratura con un’ampia relazione dal titolo «Garrula e maestrevol armonia Was wissen literarische Madrigale vom Madrigal? », in cui ha indagato il rapporto di tensione tra madrigale letterario e madrigale musicale da Petrarca fino a Marino Allacciandosi alla tipologia proposta da Ulrich Schulz-Buschhaus, Föcking ha esposto i connotati e i principi del madrigale melico che rendono questa forma poetica più musicale rispetto ad altre, per esempio il sonetto, e di conseguenza più facilmente acquisibile in ambito della musica È seguito l’intervento di Florian Mehltretter (Ludwig-Maximilians-Universität München), «Mimesis versus Rhetorik im Umkreis der Florentiner Camerata Theoretische Bemerkungen zu A Segni, G Mei und V Galilei», su quel movimento, ispirato alla musica greca, che condusse alla nascita del melodramma, proclamando attraverso la teorizzazione del canto monodico la superiorità della monodia su una concezione di messa in musica polifonica e madrigalista Mehltretter ha così esposto il rapporto tra musica e parola, in cui alla musica viene attribuito il compito di esposizione degli affetti del testo Nell’ultimo intervento della seconda giornata, David Nelting (Ruhr-Universität Bochum) dal titolo «… di doppia novità composta Überlegungen zu Orazio Vecchis comedia harmonica L’Amfiparnaso (1594)» si è occupato dell’invenzione della comedia musicale o harmonica, genere dal carattere doppio, incerto, transitorio e ostentatamente considerato nuovo, che si sottrae ad ogni fissa attribuzione di genere Lo sfoggio della doppia novità dell’opera è situata nel suo principio di composizione, cioè nello spostamento decisivo da una percezione annessa al senso della vista, quindi da una percezione scenica, ad una percezione principalmente collegata al senso dell’udito, quindi musicale, senza tralasciare allo stesso tempo l’importanza attribuita ad un testo fisso a differenza della tradizione della Commedia dell’Arte, basata notoriamente sull’improvvisazione A questo si aggiunge la posizione di primo piano della persona dell’autore stesso, quindi una soggettività della propria inclinazione artistica, che sta alle origini dell’invenzione stessa L’ultima sessione dedicata alle combinazioni mediali di musica e letteratura si è aperta con l’avvincente intervento di Joseph Imorde (Universität Siegen), «Zur Rhetorisierung der Tränen um 1600», sull’importanza della rappresentazione musicale nel primo dramma religioso del 1600 Alla qualità e alla disposizione affettiva della musica si attribuiva la funzione specifica di fautrice di affetti di dolore e di dolcezza, affetti che si concretizzano in fiumi di lacrime Imorde ha mostrato che termini come dulcedo e suavitas, nonché le lacrime stesse, hanno un loro posto fisso nella vita e nella pratica religiosa della cosiddetta controriforma o riforma cattolica, come esposizione della propria devozione e come legittimazione affettiva del sacramento della con- Italienisch_81.indb 130 02.07.19 14: 05 131 Mitteilungen fessione Quest’orientamento emotivo della chiesa cattolica è supportato non solo dalla musica nelle rappresentazioni teatrali come la Rappresentazione di Anima e di Corpo (Cavalieri), ma anche dall’omiletica e dall’iconografia, tra cui figura l’artista Carlo Dolci Nel suo intervento «Sprechende Instrumente und singende Körper - Überlegungen zu Claudio Monteverdis musiktheatralen Experimenten jenseits der Oper» Monika Woitas (Ruhr-Universität Bochum) ha spiegato in un primo momento come la musica si sia affermata definitivamente nella funzione di arte espressiva della parola tramite il Ballo delle ingrate (1608), opera che si conclude innovativamente e quindi contro la tradizione con un ballo privo di canto La seconda parte dell’intervento si è concentrata sul concetto di imitazione unita illustrato tramite il Combattimento in musica di Tancredi e Clorinda (1624), in cui la musica, la sceneggiatura, il testo e le figure con i loro gesti e movimenti creano un’unità carica di potenziale innovativo riconducibile unicamente all’ingegno artistico dell’autore stesso Ha chiuso il convegno Oliver Huck (Universität Hamburg) con un intervento ricco di materiale dedicato al rapporto tra testo e messa in musica: «Komponieren nach 1602: Giambattista Marinos Canzone Numeri amorosi und ihre Vertonungen» . Huck ha illustrato il grande impegno ed interesse che compositori ed editori hanno mostrato nella conversione di un testo letterario quale la canzone di Marino Numeri amorosi in un’opera musicale Inoltre, Huck ha mostrato l’importanza di Giambattista Marino come fornitore testuale per la produzione musicale, la quale si concretizza in un’enorme quantità di opere musicali Nel suo insieme, il convegno ha messo in luce come a partire del Secondo Cinquecento si siano sviluppate in Italia specifiche dinamiche culturali, che avrebbero interessato anche il rapporto tra musica e letteratura; un rapporto non dicotomico, ma caratterizzato dall’intreccio delle due componenti, che porta alla formazione di una quantità di invenzioni artistiche sotto forma di forme ibride musico-letterarie, come intermezzi, drammi pastorali, drammi religiosi, commedie musicali e l’opera stessa, e che allo stesso tempo include anche generi strettamente letterari, pervasi però da una semantica musicale, come la poesia bucolica, la poesia epica, il madrigale melico, la lirica, ecc Il convegno ha inoltre confermato l’importanza e la necessità di un lavoro interdisciplinare, perché queste specifiche dinamiche culturali del secondo Cinquecento e primo Seicento italiano possano essere analizzate adeguatamente La pubblicazione degli Atti del Convegno è prevista entro la fine del 2019 . Maria Debora Capparelli Italienisch_81.indb 131 02.07.19 14: 05 132 Mitteilungen III Convegno Internazionale di Linguistica e Glottodidattica Italiana (CILGI3) «L’italiano in contesti plurilingui: -contatto, acquisizione, insegnamento»- (Ruhr-Universität Bochum, Romanisches Seminar) Dall’11 al 13 ottobre 2018 il Romanisches Seminar dell’Università di Bochum ha ospitato il convegno CILGI 3, terzo appuntamento - dopo gli incontri di Istanbul (maggio 2016) e Breslavia (giugno 2017) - dedicato al confronto tra esperti di didattica dell’italiano a stranieri, di linguistica generale e italiana, di linguistica acquisizionale (il prossimo è previsto per l’autunno di quest’anno all’Università del Molise) È impossibile riassumere in poche righe anche solo i temi affrontati nelle intense giornate di lavoro, organizzate per sessioni parallele su cinque diverse aree d’interesse; basti solo il numero delle relazioni, 4 plenarie e 88 tematiche, più 4 laboratori; hanno partecipato circa 150 tra ricercatori, docenti e studenti (molti della Ruhr-Universität di Bochum e di altre sedi vicine, come Essen e Dortmund), provenienti da 18 paesi europei ed extraeuropei Per i dettagli rinvio ai materiali raccolti dagli organizzatori, in particolare il quaderno degli abstract, disponibile nella pagina ufficiale CILGI3 (https: / / www .ruhr-uni-bochum .de/ cilgi2018/ index .html .it) Provo invece a condividere con i lettori di Italienisch tre spunti di riflessione, tra i tanti possibili, che ho maturato nei giorni del convegno Il primo riguarda la vivacità e la qualità scientifica degli studi di glottodidattica, e in particolare di didattica dell’italiano, fuori d’Italia In Germania, in Austria e in Svizzera, dove si è consolidata un’importante attività di ricerca sul repertorio sociolinguistico delle comunità d’origine italiana; in Polonia, Turchia e Ungheria, da cui sono arrivati i risultati di interessanti esperienze didattiche anche in chiave contrastiva; in altre aree, tra cui cito il caso di Malta, dove l’intreccio tra le due lingue ufficiali, il maltese e l’inglese, e l’italiano, che circa il 60% della popolazione dichiara di conoscere, ha importanti risvolti glottodidattici, come ha mostrato Sandro Caruana In generale, si ha la sensazione che in Italia andrebbero conosciuti meglio, e molto meglio valorizzati, il lavoro dei docenti di italiano all’estero e i risultati delle loro ricerche Un secondo spunto proviene dalla varietà degli approcci glottodidattici messi in mostra nelle diverse sessioni del convegno Molto spazio ha occupato la sperimentazione in classi plurilingui Il progetto realizzato da Cecilia Andorno e Silva Sordella (Torino) nelle ultime classi di alcune scuole primarie ad alta densità di popolazione plurilingue dimostra quanto la convivenza di più lingue possa essere una ricchezza, e non un peso, se usata bene Lo ha ribadito anche Giuliana Fiorentino (Molise), dando conto di una ricerca condotta in scuole primarie di Benevento e Napoli DOI 10. 23 57/ Ital-2019 - 0 016 Italienisch_81.indb 132 02.07.19 14: 05 13 3 Mitteilungen Molti altri interventi hanno riguardato il primo ciclo dell’istruzione, ma contributi di grande interesse sono arrivati anche da altre esperienze, scandite lungo tutto il curriculum verticale Penso per esempio all’uso dell’audiovisivo proposto da Nicola Brocca (Heidelberg School of Education) per contrastare l’erosione / logorio dell’italiano - soprattutto nel lessico - nei bambini di famiglie immigrate nella regione Nordrhein-Westfalen, o alla didattica multisensoriale dell’italiano sperimentata da Raymond Siebetcheu (Università per stranieri di Siena) nel Liceo sportivo di Siena Proprio l’utilità di coinvolgere più risorse nell’insegnamento delle lingue avvia al terzo e ultimo paragrafo del mio resoconto La didattica integrata con diversi codici semiotici o potenziata dalle nuove tecnologie è stata oggetto di analisi puntuali, di presentazione di ricerche in corso, e di specifici laboratori, come quello condotto da Yahis Martari (Bologna) sulla versione cinematografica di un noto romanzo (Scontro di civiltà per un ascensore a Piazza Vittorio) di Amara Lakhous Simona Bartoli-Kucher (Graz) ha portato convincenti testimonianze dell’efficacia di una didattica metasemiotica in chiave multiculturale, con l’aiuto di cinema e mezzi audiovisivi Piuttosto che tentare un bilancio, raccolgo i suggerimenti di due relazioni plenarie che hanno aperto e chiuso il convegno: Massimo Vedovelli ha segnalato una crisi dell’idea di un’identità plurilingue dei cittadini che coinvolge molti idiomi insieme all’italiano, in un mercato dominato da una sola lingua globale; ma ha indicato anche le vie da battere per conquistare nuovi spazi linguistici: tra queste, la diffusione di prodotti italiani nei nuovi mercati orientali, che chiedono al nostro Paese un dialogo possibile con la condivisione e la traduzione delle terminologie industriali Francesco Bruni ha svelato inattese testimonianze dell’italiano lingua di contatto e mediazione tra i popoli del Mediterraneo nel XVIII e nel XIX secolo L’italiano lingua ponte? È raro trovare studi che affrontino questo tema nella ricerca linguistica attuale; ma Jan Scheitza e Judith Visser (quest’ultima, con Gerald Bernhard, Irene Gallerani, Ramona Jakobs, Judith Kittler ed Enrico Serena, tra gli organizzatori di CILGI3) hanno raccolto, da un gruppo di oriundi italiani che studiano italianistica a Bochum, interessanti testimonianze sul prestigio della nostra lingua come strumento di mediazione culturale Oggi come ieri l’italiano vive una vita nascosta, ma l’impegno di tanti ricercatori e insegnanti della nostra lingua può farlo riemergere Ed è infine doveroso ricordare il patrocinio dato alle giornate CILGI da istituzioni tedesche e italiane, come - tra gli altri - il Deutscher Italianistenverband e il Consolato d’Italia a Dortmund, il Ruhr-Zentrum Mehrsprachigkeit, l’Associazione Docenti di Italiano in Germania e l’Accademia della Crusca . Riccardo Gualdo Italienisch_81.indb 133 02.07.19 14: 05 13 4 Mitteilungen Deutscher Italianistentag 5.-7. März 2020 Der Einladung des dortigen Instituts für italienische Philologie folgend findet der Italianistentag 2020 an der Ludwig-Maximilians-Universität München statt Das Rahmenthema lautet: Movimenti - Bewegungen Der Call for Papers ist auf Deutsch und auf Italienisch abrufbar unter http: / / italianistenverband .de/ wp-content/ uploads/ sites/ 8/ DIV_CfP_ München_2020_dt .pdf http: / / italianistenverband .de/ wp-content/ uploads/ sites/ 8/ DIV_CfP_ Monaco_2020_it .pdf Die Frist für die Einreichung von Vortragsvorschlägen ist der 15 Juni 2019 (Red .) Eingegangene Bücher Amodeo, Immacolata/ Lüderssen, Caroline/ Meda Riquier, Giovanni (a cua di) (con la collaborazione di Carmelo Alessio Meli): L’opera letteraria di Camillo Boio a dialogo con le Arti Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2018 (Aurora Schriften der Villa Vigoni, Band 6) Bonner Italien-Zentrum (Hrsg .): Sommersemester 2018/ 2019. Italien an der Universität Bonn Bonn: Universität Bonn 2019 Chiesa, Francesco: Hören in finsterer Nacht/ Udire a notte buia. Sonette. Übersetzt und mit einem Nachwort von Christoph Ferber Zürich: Limmat Verlag 2016 D’Annunzio, Gabriele: Alcyone Edizione critica a cura di Pietro Gibellini Venezia: Marsilio Editori 2018 Marchi, Pietro de: Das Orangenpapier/ La carta delle arance. Gedichte italiensch und deutsch. Übersetzt von Christoph Ferber Zürich: Limmat Verlag 2018 Foscolo, Ugo: Sonette. Italienisch-deutsch. Übersetzt von Christoph Ferber und mit einem Nachwort von Georges Güntert Zürich: editionmevinapuorger 2018 Nessi, Alberto: Blätter und Blässhühner/ Foglie e folaghe. Übersetzt von Christoph Ferber und mit einem Nachwort von Pietro de Marchi Zürich: Limmat Verlag 2018 Petrini, Ugo: Seiltänzer der Leere/ Funamboli del vuoto. Übersetzt von Christoph Ferber und mit einem Nachwort von Aurelio Buletti Zürich: Limmat Verlag 2017 Reato, Danilo: Die Masken der Serenissima Bonn: Edition Bonn-Venedig 2019 Reichert, Cordula (Hrsg .): Italienische Texte zur politischen Theorie - Von Dante bis Agamben Münchener Italienstudien Bd 4 München: utzverlag 2019 Savini, Lucio: Monte Athos. Il cielo in terra. Esperienze della filosofia Immagini di Oliviero Olivieri Padova: Luca Sossella Editore 2018 Vahland, Kia: Leonardo Da Vinci und die Frauen - Eine Künstlerbiographie Berlin: Insel-Verlag 2019 Italienisch_81.indb 134 02.07.19 14: 05 135 Mitteilungen Austauschzeitschriften Bibliographische Informationen zur neuesten Geschichte Italiens. / Informazioni bibliografiche sulla storia contemporanea italiana. Begründet von / fondate da Jens Petersen. Deutsches Historiches Institut/ Istituto Storico Germanico di Roma/ Arbeitsgemeinschaft für die neueste Geschichte Italiens/ Gruppo di studio per la storia contemporanea italiana. Nr. 158 / November/ novembre 2018. Esperienze Letterarie Rivista trimestrale di critica e di cultura (a cura di Carmela Reale) Pisa/ Roma: Fabrizio Serra Editore, Vol 4 - ottobre-dicembre 2016 - Anno 2016 Studi Italici (a cura dell’Associazione di Studi Italiani in Giappone) Kyoto: Dipartimento di Italianistica dell’Università degli Studi Stranieri di Kyoto, Vol LXVI (2016) Autorinnen und Autoren dieser Nummer Maria Giovanna Campobasso, Università degli Studi di Palermo Maria Debora Capparelli, Ruhr-Universität Bochum Domenica Elisa Cicala, PD Dr ., Katholische Universität Eichstätt Massimo Fanfani, Prof Dr ., Università degli Studi di Firenze Riccardo Gualdo, Prof Dr ., Università degli Studi della Tuscia Martha Kleinhans, Prof Dr ., Julius-Maximilians-Universität Würzburg Martina Kollroß, Universität Düsseldorf Barbara Kuhn, Prof Dr ., Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Luca Mendrino, Dott ., Università del Salento Chiara Piola Caselli, Dott .ssa, Università degli Studi di Perugia Maurizio Rebaudengo, Prof Ph .D ., Convitto Nazionale Umberto I, Torino Gerhard Regn, Prof Dr ., Ludwig-Maximilians-Universität München Luigi Reitani, Prof Dr ., Italienisches Kulturinstitut Berlin Michael Schwarze, Prof Dr ., Universität Konstanz Iulia Stegmüller, München Philip Stockbrugger, Dr ., Goethe-Universität Frankfurt am Main Italienisch_81.indb 135 02.07.19 14: 05 Stauffenburg Verlag GmbH Postfach 25 25 D-72015 Tübingen www.stauffenburg.de In dem Maße, wie immer mehr Sprachen beschrieben werden (auch aus Sorge vor ihrem Verlust), ist die Linguistik typologischer geworden. Sogar in den Grammatiken an und für sich bekannter Sprachen werden heute Seitenblicke auf andere Sprachen, verwandte wie unverwandte, geworfen, um den typologischen Ort eines an und für sich bekannten Merkmals zu bestimmen. Dieser Entwicklung trägt das neue Buch von Harro Stammerjohann Rechnung, das zu einer typologischen Betrachtung nicht nur des Italienischen einlädt. Nach einer Einleitung in Geschichte, Methoden und Probleme der Sprachtypologie wird, ausgehend von dem, was in den Sprachen der Welt vorkommt, das Italienische exemplarisch mit dem Deutschen, Englischen, Lateinischen, Französischen und Spanischen verglichen; auch für Leser, die nicht mit allen sechs Sprachen gleichermaßen vertraut sein mögen, sind die Vergleiche instruktiv. Sie erstrecken sich auf phonetisch-phonologische und grammatische Themen: auf Vokalismus und Konsonantismus, Funktionale Belastung, Phonotaktik und Prosodie und auf die Kategorien Genus, Numerus, Kasus, Steigerung, Person, Tempus, Aspekt, Modus, Evidentialität und Wortstellung. Den phonetischphonologischen Teil beschließt ein Exkurs über die traditionsreiche Frage, ob das Italienische schön sei. Die Problematisierung der Themen orientiert sich am Stand der Forschung; Verweise regen zur Vertiefung an. Wenn dieses Buch auch kein Lehrbuch im Sinne einer Progression von Lektionen ist, so ist die Darstellung doch um Explizitheit bemüht. Begriffe werden erklärt, es wurden eingängige Beispiele gesucht, und wo sie sich anbieten, Trivia herangezogen, die zeigen, daß das, was die Linguistik beschäftigt, im Leben auch vorkommt. Harro Stammerjohann Das Italienische am Italienischen Die italienische Sprache in Vergleichen Stauffenburg Handbücher, Band 13 2018, 236 Seiten, kart. ISBN 978-3-95809-470-3 € 39,80 Italienisch_81.indb 136 02.07.19 14: 05