eJournals

Italienisch
ita
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
101
2024
4590 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott
Come sono nati i romanzi di Eco? Quanti anni sono stati necessari per costruire i loro mondi e scriverli? E come dialogano l’uno con l’altro? Quanto conta l’intreccio, e quanto invece la dimensione teorica, che rispecchia la parallela scrittura saggistica dell’autore? Thomas Stauder, studioso e traduttore, dialoga con Umberto Eco a proposito di ciascuno dei suoi romanzi. Attraverso sette conversazioni, realizzate tra il 1989 e il 2015, il libro ripercorre dunque tutta la narrativa di Eco raccogliendo il suo sguardo sui propri lavori: quei romanzi che lo hanno reso noto al mondo intero, dal Nome della rosa a Numero zero, passando per Il pendolo di Foucault, L’isola del giorno prima, Baudolino, La misteriosa fiamma della regina Loana, Il cimitero di Praga. Nel corso dei dialoghi, Eco parla della sua scrittura ma anche, inevitabilmente, di tutto ciò che le sta intorno: gli studi, i viaggi, le aspettative, le reazioni dei lettori, i ricordi di famiglia. Un caleidoscopio su Umberto Eco, a partire dai suoi romanzi, per entrare nell’officina e nella mente di un grande scrittore, che negli anni ’70 diceva ancora che non avrebbe mai scritto un romanzo. “intensa testimonianza, con un taglio insieme personale e intellettuale” La Repubblica “con uno profondo scavo ermeneutico e biografico” Il Messaggero “permette di conoscere meglio tanti aspetti dell’intellettuale alessandrino” Il Piccolo Milano: La nave di Teseo 2024 Copertina rigida: 25,00 € Formato Kindle: 12,99 € 90 Italienisch 90 Aus dem Inhalt Gabriella Sica, Poesie da Tu io e Montale a cena, Italienisch/ Deutsch Antonio Prete, Poesie da Convito delle stagioni, Italienisch/ Deutsch «Scrivere sul passato per raccontare il presente»: A colloquio con Francesca Melandri Dossier: Italoromania und Mittelmeerinseln Laura Linzmeier / Davide Soares da Silva, Lo spazio linguistico italo-romanzo in prospettiva insulare Jonas Hock, Die Überwindung der Insel-Idylle auf Ventotene - Fabrizia Ramondinos L’isola riflessa A colloquio con Giovanni Ruffino Biblioteca poetica Henning Hufnagel Preghiera - Bittgebet: Das Schlussgedicht von Giuseppe Ungarettis L’Allegria (1931), makrotextuell und intertextuell zwischen Petrarca, Leopardi und Baudelaire Italienisch ISSN 0171-4996 Zeitschrift für italienische Sprache und Literatur Italienisch Zeitschrift für italienische Sprache und Literatur 45. Jahrgang - Heft 2 Verbandsorgan des Deutschen Italianistikverbands e.V. | italianistikverband.de Herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Deutsch-Italienischen Vereinigung e.V., Frankfurt/ M. | www.div-web.de Gefördert von der Frankfurter Stiftung für deutsch-italienische Studien | www.italienstiftung.eu Begründet von Arno Euler † und Salvatore A. Sanna † Herausgeberinnen und Herausgeber Sprachwissenschaft: Ludwig Fesenmeier, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen, ludwig.fesenmeier@fau.de Daniela Marzo, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, daniela.marzo@romanistik.uni-freiburg.de Literaturwissenschaft: Marc Föcking, Universität Hamburg, marc.foecking@uni-hamburg.de Barbara Kuhn, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, barbara.kuhn@ku.de Christine Ott, Goethe-Universität Frankfurt am Main, c.ott@em.uni-frankfurt.de Didaktik: Jacopo Torregrossa, Goethe-Universität Frankfurt am Main, torregrossa@lingua.uni-frankfurt.de Interviews und Biblioteca poetica: Caroline Lüderssen, Italienstiftung, italienisch@div-web.de Wissenschaftlicher Beirat Martin Becker (Köln), Domenica Elisa Cicala (Eichstätt), Sarah Dessì Schmid (Tübingen), Frank- Rutger Hausmann (Freiburg), Gudrun Held (Salzburg), Peter Ihring (Frankfurt am Main), Antje Lobin (Mainz), Florian Mehltretter (München), Sabine E. Paffenholz (Koblenz/ Boppard), Edgar Radtke (Heidelberg), Christian Rivoletti (Erlangen), Michael Schwarze (Konstanz), Isabella von Treskow (Regensburg), Winfried Wehle (Eichstätt), Hermann H. Wetzel (Passau) Redaktion Caroline Lüderssen (v.i.S.d.P.) Arndtstraße 12, 60325 Frankfurt am Main Tel. 069/ 746752, E-Mail: italienisch@div-web.de Verlag Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG, Dischingerweg 5, D-72070 Tübingen www.narr.de eMail: info@narr.de Anzeigenverwaltung Oliver Solbach, Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG, solbach@narr.de, Tel. +49 (0)7071 97 97 12 Printed in Germany Erscheinungstermine: Frühjahr und Herbst Bezugspreise € 24,00 jährlich, für Privatpersonen € 17,00 jährlich. Einzelheft € 14,00. Alle Preise inkl. MwSt. und zzgl. Versandkosten. Die Mindestabodauer beträgt ein Jahr. Eine Kündigung ist schriftlich bis jeweils 6 Wochen vor Bezugsjahresende möglich. Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung (auch in elektronischer Form) bedarf der Genehmigung des Verlags. Beitragseinreichungen und Anfragen bitten wir an die jeweiligen HerausgeberInnen zu richten. ISSN 0171-4996 ISBN 978-3-381-12421-3 BUCHTIPP Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany \ Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ info@narr.de \ www.narr.de Der Band bachelor-wissen Italienische Literaturwissenschaft richtet sich speziell an die Studierenden und Lehrenden in den literatur- und kulturwissenschaftlichen Modulen der italienzentrierten Bachelor-Studiengänge. Er bietet eine präzise Einführung in die Verfahren der formalen Textanalyse im Kontext unterschiedlicher Medien. Darüber hinaus vermittelt er einen Überblick über die relevanten literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschungsansätze, Fragestellungen und Theorien. Zahlreiche Übungen ermöglichen die rasche Anwendung und Überprüfung des Gelernten und unterstützen einen nachhaltigen Kompetenzerwerb. Maximilian Gröne, Rotraud von Kulessa, Frank Reiser Italienische Literaturwissenschaft Eine Einführung bachelor-wissen 3., überarbeitete und erweiterte Au age 2024, 318 Seiten €[D] 25,99 ISBN 978-3-381-12411-4 eISBN 978-3-381-12412-1 3 5 16 36 41 53 71 95 103 127 143 Inhalt Caroline Lüderssen Editorial: Italien als Gastland der Buchmesse 1988 I 2024 . . . . . . . . . . . . . . . Gabriella Sica Poesie da Tu io e Montale a cena, Italienisch/ Deutsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antonio Prete Poesie da Convito delle stagioni, Italienisch/ Deutsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dacia Maraini Wie ich mit Elsa Morante Ratespiele zu Pasolini und anderen machte . . . . A cura di Christine Ott e Gloria Putrone «Scrivere sul passato per raccontare il presente»: A colloquio con Francesca Melandri . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beiträge Hermann H. Wetzel Wo bauen Spinnen ihre Nester? - Zur jugendlichen Sicht und Stimme in Calvinos Roman Il sentiero dei nidi di ragno  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antje Lobin Das italiano gastronomico im Lichte von Sprachkritik und Sprachpolitik: L’italiano e il buon gusto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dossier Jonas Hock / Laura Linzmeier Italoromania und Mittelmeerinseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Laura Linzmeier / Davide Soares da Silva Lo spazio linguistico italo-romanzo in prospettiva insulare . . . . . . . . . . . . . Jonas Hock Die Überwindung der Insel-Idylle auf Ventotene - Fabrizia Ramondinos L’isola riflessa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A cura di Jonas Hock e Laura Linzmeier A colloquio con Giovanni Ruffino . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 169 193 201 209 213 217 Vorschau Italienisch Nr. 91 Neue sprachwissenschaftliche Rubrik: I cuccioli della pantera: questioni di lingua e di linguistica Die Qualität der Aufsätze in der Zeitschrift «Italienisch» wird durch ein double-blind-peer-review-Verfahren gewährleistet. Biblioteca poetica Henning Hufnagel Preghiera - Bittgebet: Das Schlussgedicht von Giuseppe Ungarettis L’Allegria (1931), makrotextuell und intertextuell zwischen Petrarca, Leopardi und Baudelaire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Praxis des Italienischunterrichts Alina Lohkemper Die Übertragung von Routineformeln in andere Kulturen. Eine Wörterbuch- und Lehrwerksanalyse ausgewählter Routineformeln aus der Perspektive Fremdsprachenlernender des Italienischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Buchbesprechungen und Kurzrezensionen Jürgen Charnitzky Rolf Wörsdörfer: Isonzo 1915/ 17. Völkerschlachten am Gebirgsfluss . . . . . . . Franca Janowski Carteggio Giacomo Leopardi - Carlo Pepoli (1826-1832) . . . . . . . . . . . . . . . . . Anne-Marie Lachmund Anne-Kathrin Gitter: Der christliche Metacode im Spätrealismus. Die produktive Rezeption von Dante Alighieris Divina Commedia bei Conrad Ferdinand Meyer, Wilhelm Raabe und Ferdinand von Saar . . . . . . . . . . . . . . . Kerstin Roth Baldassar Castiglione: Der Hofmann. Deutsche Übersetzung von Il Cortegiano durch Johann Engelbert Noyse 1593 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katharina List Deutsches Studienzentrum in Venedig. 50 Jahre Wissenschaft und Kunst - Brücken am Canal Grande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Inhalt Italien als Gastland der Buchmesse 1988 I 2024 Caroline Lüderssen Diejenigen, die den ersten Gastlandauftritt Italiens bei der Frankfurter Buchmesse im Oktober 1988 miterlebt haben, erinnern sich in diesem Spätsommer 2024 zwangsläufig an die schwungvolle Präsentation der literarischen Landschaft von damals, an die Gestaltung des Gastlandpavillons, an das Programm der Lesungen mit beeindruckenden Gästen, die lebendige, fast festliche Stimmung. Die „Gastlandregelung“ war noch neu, Italiens Auftritt unter dem Motto „Diario Italiano“ war allüberall von einem Aufbruchsgefühl und von Neugier geprägt. Die großen Texte und Themen der Nachkriegszeit waren präsent: „Der Geist von Turin“, wie Maike Albath (2010) die Gruppe der Intellektuellen um den Einaudi-Verlag genannt hat, war noch lebendig, mit Primo Levi, Cesare Pavese, Italo Calvino und Natalia Ginzburg (die auf der Messe sogar noch dabei war), einer Gruppe, deren antifaschistische Haltung für die nachfolgende Generation prägend bleiben würde. Das alles war Anlass für Begeisterung des Lesepublikums und Anerkennung der Kritik. Der Blick der jungen Autoren---Antonio Tabucchi, Stefano Benni, Andrea De Carlo, Daniele Del Giudice, Pier Vittorio Tondelli u.-v.-a.---lebte von einem neuen, auch vom Film geprägten erzählerischen Gestus und von einer Hinwendung zu aktuellen Themen - Ökologie, Friedensbewegung, kulturelle Öffnung. Hinzu kam der Erfolg der Werke Umberto Ecos, die das Genre des historischen Romans erneuerten, beginnend mit Il nome della rosa (1980, auf Deutsch in der Übersetzung von Burkhart Kroeber 1982) - auf dieser Welle durfte der Gastlandauftritt 1988 mitreiten. Bei den Veranstaltungen gab es zudem einen Schwerpunkt „Lyrik“ mit Begegnungen mit Mario Luzi, Giorgio Caproni, Edoardo Sanguineti und anderen. In der Zeitschrift Italienisch (Nr. 20/ 1988) erschienen Gedichte von Gabriella Sica, Claudia Damiani, Giacomo F. Rech und Beppe Salvia, die auch einen Abend während der Messe in der Deutsch-Italienische Vereinigung e. V. gestalteten. Dieser Logik folgend sind im aktuellen, zur Buchmesse 2024 erscheinenden Heft neue Gedichte von Gabriella Sica und Antonio Prete mit DOI 10.24053/ Ital-2023-0019 deutscher Übersetzung enthalten, die sich zum einen im poetischen Dialog an den 2016 verstorbenen Lyriker Valentino Zeichen erinnern und zum anderen dem neuen nature-writing widmen. Dass Dacia Maraini mit einer Übersetzung ihrer im April veröffentlichten Erinnerung an Elsa Morante hier ebenfalls vertreten ist, hat eine besondere Strahlkraft, ist sie doch eine Autorin, die sowohl 1988 als auch 2024 auf der Messe präsent war bzw. ist. Man erlebte 1988 gewissermaßen eine literarische ʻWuchtʼ all’ italiana in Frank‐ furt, ein Gefühl, das sich nicht nur über die Bar-Stimmung im nachgebauten Triestiner „Caffè degli Specchi“, das Teil des Pavillons (gestaltet von Mario Garbuglia, z.T. inspiriert durch Ansichten aus Viscontis „Gattopardo“-Film) und Anziehungspunkt für die ganze Messe war, vermittelte - Stefano Bennis Bar Sport von 1976 war 1988 in fünfter Auflage erschienen. Auch in einem lebendigen Austausch der ganzen Branche, generationen- und länderübergreifend, manifes‐ tierte sich die Fähigkeit zu einem Dialog, der Jahrzehnte fruchtbar bleiben sollte. Ausdruck dieser Verfasstheit der italienischen Literaturszene von damals kann bis heute der Almanach zur italienischen Literatur der Gegenwart sein, herausgegeben von Viktoria von Schirach, den der Hanser-Verlag zur Messe 1988 publiziert hat: eine alphabetische Übersicht der literarischen Welt Italiens, bibliographisch ergänzt, unterbrochen von Essays der Autorinnen und Autoren selbst, ein Abbild des damaligen Panoramas, Handbuch und Anleitung in einem. Politisch war das alles natürlich auch. Und auch damals gab es Polemik, wegen des überbordenden Spektakels, das für manche Beteiligte die Sache selbst - die Literatur - überstrahlte. „Erfüllter Traum“ titelte der Spiegel und sprach von „Monstershow“. In der Beurteilung des Erlebens sind sich viele Zeitgenossen jedoch einig, dass die positiven Eindrücke der Italien-Buchmesse 1988 die kritischen Punkte überwiegen. Der neue Auftritt Italiens als Gastland bei der Frankfurter Buchmesse 2024 findet unter sehr veränderten politischen Verhältnissen in Italien, in Europa und weltweit statt. Auch die literarische Landschaft in Italien ist vielfältiger ge‐ worden. Man darf darauf vertrauen: Die anwesenden Autorinnen und Autoren werden wie seinerzeit auf den Podien innerhalb und außerhalb der Messe in einen lebendigen Dialog mit dem Publikum treten, so wie es Paolo Giordano Anfang August in einem Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung formuliert hat: „Ich wünsche mir eine Vernetzung von uns Schriftstellern und Intellektuellen auf europäischer Ebene. Alle schauen wieder zu sehr nur auf sich selbst. Wir sollten gemeinsam über Europa und die Herausforderungen in unseren Ländern nachdenken“ (4.8.2024). DOI 10.24053/ Ital-2023-0019 4 Caroline Lüderssen Poesie da Tu io e Montale a cena, Italienisch/ Deutsch Gabriella Sica Valentino nel vento Gli orologi che lo ossessionavano sono inchiodati a quell’ora il sole della mattina si è oscurato poco dopo mezzogiorno quando lui se n’è andato gli amici in qualche stanza dispersi stanno a singhiozzare s’inchinano da Villa Strohl Fern i pini alla logora dimora risuonano di te i travertini di Roma il sarcofago di Piazza del Popolo ansima prosciugato si sentono i ruggiti dei leoni immoti i gabbiani portano su un’ala il nastro del lutto il carrozziere vicino ha smesso di ribattere auto. I vigili fanno le multe al tempo di così poche proroghe e spietato le strade e i ponti si sono rannicchiati non sentono più i tuoi rapidi passi ogni cosa dice addio all’altra e tu dici addio a noi e a ogni amico DOI 10.24053/ Ital-2023-0020 nessuno trova più le parole un gran silenzio è sceso su Roma come un’ampia ombra. È il tempo che vince la vita lenta il volgere delle stagioni le lacera repentino e crudele ora si leva una gran folata una lunga fiumana di luce da Ponte Milvio travolge l’aria corre per la consolare Flaminia sui suoi sandali leggeri spicca dai binari l’ampio volo ora silenzioso varca l’immane maestosa porta prova aldilà il suo scherzetto su noi beffati noi rimasti a terra. Furtiva una lacrima sfugge da te a me una goccia a mezz’aria che si posa sul mio viso è la tua ultima lacrima asciutta tutta sola e brillante l’estrema scultura il tuo saluto caro ora che l’età delle lacrime è passata e sai cos’è stata sfiorito il maggio delle rose ora la mandi al mio cuore scherzosamente è una carezza la vita la sento mentre sto ferma in piedi e in attesa del tram a Piazza della Marina mi volto indietro nel vuoto irreale e vuoto ora che si è spezzato l’elastico dei giorni e degli anni pigiati nell’operosa vendemmia e sai tu ora lo sai come è andata per te per noi DOI 10.24053/ Ital-2023-0020 6 Gabriella Sica per i poeti e gli amici già andati via. E intanto il vento un vento improvviso interminato che sa di bora travolge la piazza popolosa corteggia riccioli accende sorrisi la bella estate ancora canta è Valentino all’opera perenne sorvola le strade di Roma lieve più lieve dell’aria corre con il fiume scorre scorre è luce pura e infinita corre verso la foce in fondo verso l’amato mare il suo essere si estenderà ancora. 9-26 luglio 2016 Valentino im Wind Die Uhren, von denen er besessen war, sind zu jener Stunde angehalten die Morgensonne hat sich verdunkelt kurz nach der Mittagsstunde als er gestorben ist die Freunde sind in einem Zimmer verschwunden schluchzend die Pinien der Villa Strohl Fern verneigen sich vor der abgenutzten Wohnung die Travertin-Mauern Roms sind Widerhall von Dir der Sarkophag auf der Piazza del Popolo röchelt trocken man hört das Brüllen der reglosen Löwen die Möwen tragen auf einem Flügel das Trauerband der Autoschlosser in der Nähe hat aufgehört zu hämmern. Die Polizisten strafen die Zeit DOI 10.24053/ Ital-2023-0020 Poesie da Tu io e Montale a cena, Italienisch/ Deutsch 7 die keinen Aufschub gewährt und kein Erbarmen kennt die Straßen und Brücken haben sich zurückgezogen sie hören deine schnellen Schritte nicht mehr jedes Ding sagt einem anderen Ding Adieu und du sagst uns Adieu und jedem Freund keiner findet mehr Worte eine große Stille senkte sich auf Rom so wie ein großer Schatten. Es ist die Zeit, in der das langsame Leben den Wechsel der Jahreszeiten besiegt sie plötzlich und grausam zerreißt es erhebt sich ein großer Sturm eine lange Lichtflut vom Ponte Milvio fegt die Luft durch die Via Flaminia auf ihren leichten Sandalen hebt von den Gleisen ab, im weiten Flug durchquert sie schweigend das riesige majestätische Tor macht drüben ihre Scherze über uns, die wir auf der Erde geblieben sind. Eine heimliche Träne fließt von Dir zu mir ein Tropfen mitten in der Luft der sich sanft auf mein Gesicht legt ist deine letzte trockene Träne ganz allein und strahlend das letzte Bild dein lieber Gruß jetzt wo die Zeit der Tränen vorüber ist und du weißt wie es war verblüht ist der Mai der Rosen und du sendest sie scherzhaft an mein Herz das Leben ist eine zärtliche Geste, ich spüre sie während ich reglos stehe und auf die Tram auf der Piazza della Marina warte ich drehe mich um zu der unwirklichen und leeren Leere zerrissen ist der Faden DOI 10.24053/ Ital-2023-0020 8 Gabriella Sica vorbei sind die Tage und Jahre unserer emsigen Erntearbeit und du weißt jetzt wie es war für dich und für uns für die Dichter und die Freunde, die bereits gegangen sind. Und inzwischen wälzt der Wind, ein unaufhörlicher plötzlicher Wind der sich wie Bora anfühlt überwältigt die bevölkerte Piazza umwirbt Locken facht Lächeln an der schöne Sommer singt noch immer es ist Valentino bei der immerwährenden Arbeit er überfliegt sanft die Straßen Roms sanfter als die Luft er läuft am Fluß entlang, er fließt er fließt, ist reines und unendliches Licht er läuft zur Mündung am Ende zum geliebten Meer und sein Sein dehnt sich noch weiter aus. 9.-26. Juli 2016 *** E anche tu hai risciacquato con cura nell’Arno i tuoi amati laceri straccetti nel dialettale veneto-fiumano e un po’ in lingua croata irregolare com’eri e ribelle in quel riformatorio fiorentino nel balbettio poco melodioso d‘adolescente in fuga dal terrore alla ricerca di nuove parole quei cari cenci in lingua italiana stracci laceri d’Arno da solo li hai ben lavati a mano e stesi belli puliti e lustri al sole. DOI 10.24053/ Ital-2023-0020 Poesie da Tu io e Montale a cena, Italienisch/ Deutsch 9 Und auch du hast deine geliebten Lumpen sorgfältig im Arno gewaschen im Dialekt aus dem Veneto-Fiume und ein bisschen im Kroatischen unangepasst wie du warst und rebellisch in jenem Florentiner Erziehungsheim im wenig melodiösen Stottern des Heranwachsenden auf der Flucht vor dem Schrecken auf der Suche nach neuen Worten diese Lumpenwagen auf Italienisch Lumpenfetzen aus dem Arno allein hast du sie gut mit der Hand gewaschen und sauber und glänzend in der Sonne aufgehängt. *** I sambuchi Improvvisi a centinaia i sambuchi profumati e fitti a maggio tremanti macchie stellate e bianche a centinaia sulla collina di Torino passeggiando tra i muri e gli orti. “Che bel fiore! Che cos’è? ” chiede Montale. Urla la Spaziani quasi strozzata lei che ha il finissimo olfatto del segugio (un mestiere assicurato diceva il padre alla giovane Spaziani). “Stai scherzando? Sono sambuchi! No! Non riconosci il profumo? Quel tuo magnifico endecasillabo: Alte tremano guglie di sambuchi”. Stupito osserva il poeta: “Ma la poesia si fa con le parole! ”. Con l’esperienza o le sole parole? Tavolate discussioni controversie. Valentino sta zitto, poi in un sospiro: “No! Lei non capisce! Non ha capito DOI 10.24053/ Ital-2023-0020 10 Gabriella Sica dopo cinquant’anni non ha capito che lui scherzava e la prendeva in giro! ”. Ama Montale il sambuco dorato umile tremulo il suo sussurro slanciato nel cielo azzurro il tocco di luce nell’alto inverno. Holunder Plötzlich hunderte von Holunderblüten duftend und dicht im Mai zitternde weiße Flecke wie Sterne Hunderte auf dem Hügel bei Turin während wir zwischen den Mauern und Gärten gehen. „Was für eine schöne Blüte! Was ist das? “ fragt Montale. Die Spaziani schreit sie ist fast erstickt, sie hat einen sehr feinen Geruchssinn wie ein Spürhund (eine sichere Branche sagte der Vater der jungen Spaziani). „Machst Du Witze? Das ist Holunder! Nein! Erkennst Du nicht den Duft? Dein wunderbarer Elfsilbler: Hoch oben zittern Spitzen von Holunder“. Erstaunt bemerkt der Dichter: „Aber man dichtet mit Worten! “ Mit Erfahrung oder nur mit Worten? Tischgesellschaften Diskussionen Kontroversen. Valentino ist still, dann ein Seufzer: „Nein! Sie verstehen es nicht! Sie haben nicht verstanden nach 50 Jahren haben Sie nicht verstanden, dass er scherzte und sie hochnehmen wollte! “ Montale liebt den goldfarbenen Holunder demütig zitternd steigt sein Flüstern in den azurblauben Himmel auf berührt das Licht im Winter da oben. *** DOI 10.24053/ Ital-2023-0020 Poesie da Tu io e Montale a cena, Italienisch/ Deutsch 11 Tu io e Montale a cena Non è un gioco questo di stasera è un incontro a sorpresa il più imprevedibile per noi due tu io e Montale a cena. Dall’aldilà fremente di piacere canta per l’impensabile occasione: “Tu mi invitasti a cena il tuo dovere ora sai ascoltami, verrai tu con me a cena”. E dire che non ci si era mai pensato prima qui da conoscenti appena a un simile invito certo è che noi e il convitato immortale incallito scanzonatore ci siamo rallegrati oltremodo banchettando ilari noi tre insieme al secolo nuovo brindando come un niente lo snodo al Novecento il rallentato addio brindando a uno scorcio nuovo e bello canticchiando la celebre aria tra qualche bel venticello con tanta carne al fuoco e un nodo. Du ich und Montale beim Abendessen Das ist kein Spiel heute Abend es ist ein Überraschungstreffen das unvorhersehbarste für uns beide du ich und Montale beim Abendessen. Zitternd vor Vergnügen, singt er aus dem Jenseits für das undenkbare Zusammentreffen. „Du ludest mich zum Mahle; Weisst du nun, was dir ziemet? Gib Antwort mir, wirst mein Mahl du nun auch teilen? “ Und zu sagen, dass man nie daran gedacht hat als wir uns gerade kennengelernt hatten DOI 10.24053/ Ital-2023-0020 12 Gabriella Sica eine solche Einladung auszusprechen sicher ist, dass wir und der unsterbliche Gast eingefleischter Spötter uns mehr als gefreut haben alle drei fröhlich zusammen feiernd dem neuen Jahrhundert zuprostend wie ein Nichts die Ablösung vom 20.-Jahrhundert der verlangsamte Abschied auf eine neue und schöne Abkürzung anstoßend die berühmte Arie singend mit einem schönen Lüftchen mit viel Fleisch auf dem Feuer und einem Knoten. *** Provo ad abbracciarvi uno per uno nella grigia sotterranea nube tre volte mi avvicino a voi miei amati miei cari amici larghe apro le braccia nella fitta gravosa coltre di nebbia stringo fumo e vento fino a che mi sveglio ricordando il sogno e il vento con le mani vuote al petto. Non altri che me abbraccio non altro rimane di quanto è stato se non il radioso ordito di un sogno affollato di volti fatti d’aria. Ich versuche euch der Reihe nach zu umarmen in der grauen unterirdischen Wolke dreimal nähere ich mich euch meine Lieben, meine lieben Freunde ich öffne weit die Arme in der dichten schweren Nebeldecke ich umarme Rauch und Wind bis ich erwache ich erinnere den Traum und den Wind DOI 10.24053/ Ital-2023-0020 Poesie da Tu io e Montale a cena, Italienisch/ Deutsch 13 mit den vor der Brust geöffneten Händen. Ich umarme niemanden außer mir es gibt nichts mehr außer dem, was gewesen ist wenn nicht das strahlende Gewirr eines Traums mit Gesichtern aus Luft bevölkert. *** Il glicine in fiore L’hanno tagliato il glicine fiorito fragile ombra alla bellezza violacea e suprema indice sacro di leggerezza e grazia sensuale l’hanno tagliato acidi con l’accetta nel giardino del poeta dove c’era anche un fico ospitale che triste si è seccato. Il glicine generoso e fiorito che puntellava il muro scrostato ora piange per quanto è grande il male inflitto dagli uomini alla natura per gli accenti freddi di luglio per il caduco fiore ma spuntano dal tronco le foglie più del solito tremolanti sta nascendo ancora qualche bel fiore. 26 luglio 2018 Die Glyzinie in Blüte Sie haben die blühende Glyzinie beschnitten fragiler Schatten der Schönheit violett, atemberaubend ein heiliges Zeichen der Leichtigkeit und der sinnlichen Anmut sie haben sie mit einer Axt geschnitten im Garten des Dichters DOI 10.24053/ Ital-2023-0020 14 Gabriella Sica wo es auch einen einladenden Feigenbaum gab der traurig vertrocknet ist. Die großzügige und blühende Glyzinie die die abblätternde Wand stützte weint um das große Leid das die Menschen der Natur zufügen um die kalten Momente im Juli um die flüchtige Blume aber aus dem Stumpf wachsen Blätter die mehr als sonst zittern schöne Blumen schlagen wieder aus. 26. Juli 2018 Da/ Aus: Gabriella Sica: Tu io e Montale a cena. Poesie per Zeichen. Latiano: Interno Poesia Editore 2019. Übersetzt von Caroline Lüderssen, Paolo Frosio und Francesco Pozzebon DOI 10.24053/ Ital-2023-0020 Poesie da Tu io e Montale a cena, Italienisch/ Deutsch 15 Poesie da Convito delle stagioni, Italienisch/ Deutsch Antonio Prete Metamorfosi Non c’è pensiero o affetto che si perda nel nulla. Amori e turbamenti fluttuano nell’aria, sono nube, pulviscolo di luce. O vapore lunare. Nello schiudersi del fiore, o nel formarsi di una stella, quel che accade ha lo stesso respiro del tuo desiderio. Niente muore davvero. Per questo qualche volta una nuvola ha forma d’animale, o sopra le ali di una farfalla c’è il disegno di una rosa: figure di un legame, parvenze fuggitive di una trama condivisa. O forse questo è solo il sogno di una metamorfosi. Un sogno che la parola oppone al silenzio che la abita, la materia al vuoto che l’assedia. DOI 10.24053/ Ital-2023-0021 Metamorphose Es gibt keinen Gedanken, kein Gefühl, das sich im Nichts verliert. Liebe und Aufruhr schweben in der Luft, sind Wolke, Lichtstaub. Oder Monddunst. Im Aufgehen der Blüte oder im Entstehen eines Sterns hat das, was geschieht, denselben Atem wie dein Begehren. Nichts stirbt wirklich. Daher hat manchmal eine Wolke die Form eines Tiers oder findet sich auf den Flügeln eines Schmetterlings die Zeichnung einer Rose: Bilder eines Bands, flüchtige Erscheinungen eines geteilten Geschehens. Oder vielleicht ist dies nur der Traum einer Metamorphose. Ein Traum, den das Wort dem Schweigen entgegenstellt, das in ihm wohnt, die Materie der Leere, die sie bestürmt. DOI 10.24053/ Ital-2023-0021 Poesie da Convito delle stagioni, Italienisch/ Deutsch 17 Una rosa d’inverno Rosa d’inverno, un frugale lampo. Petali gialli che sfumano in bianco niveo su un calice d’ombra che è coppa alla luce, tra rami rampicanti senza foglie. --------------------Lo stesso tenue giallo è laggiú, sopra la linea ondulata dell’Amiata, dissipato in un cielo che si abbruna. ------------------------------Velata e già lucente la luna guarda dall’alto dischiudersi la sera. Quale intesa tra la rosa, il crepuscolo, la luna? -------------------------------------- Una rosa d’inverno, nel morire della luce: una sillaba chiara nella spenta lingua. Resto di fulgidi rosai, forse, o annuncio di nuova fioritura. Una rosa d’inverno: balenio di un riso offerto al vento che la sfoglia. DOI 10.24053/ Ital-2023-0021 18 Antonio Prete Eine Winterrose Winterrose, ein karger Blitz. Gelbe Blütenblätter, schneeweiß auslaufend auf einem Schattenkelch, Schale dem Licht, zwischen rankenden Zweigen ohne Blätter. --------------------Das gleiche zarte Gelb ist dort unten, über der Wellenlinie des Amiata, verstreut an einem Himmel, der sich verdunkelt. ------------------------------Verschleiert und schon leuchtend sieht der Mond von oben, wie der Abend sich auftut. Welches Einverständnis zwischen der Rose, der Dämmerung, dem Mond? -------------------------------------- Eine Winter- Rose, im Vergehen des Lichts: eine klare Silbe in der erloschenen Sprache. Überrest strahlender Rosengärten vielleicht, oder Vorbote neuer Blüte. Eine Winterrose: Aufblitzen eines Lachens, dargeboten dem entblätternden Wind. DOI 10.24053/ Ital-2023-0021 Poesie da Convito delle stagioni, Italienisch/ Deutsch 19 Le parole, in cammino Y tienes las palabras su verano, su invierno… I D A V I T A L E Le parole camminano con noi. Hanno nel suono il segno degli inverni. Ogni autunno continua a dispogliarle della gloria. ---------------- Ma c’è nel loro passo la letizia della meta: un giardino dove sempre risplende primavera. Il senso, in quel giardino, è un fiore, il suono è il suo profumo, la sua propria luce. Lo stormire è il pensiero delle foglie. Attendono, le parole, in silenzio, che appaia, prossima, la terra dove la lingua è vento, fiume, albero, stella. Vi abita, dicono, la poesia. DOI 10.24053/ Ital-2023-0021 20 Antonio Prete Worte, auf dem Weg Y tienes las palabras su verano, su invierno… I D A V I T A L E Die Worte wandern mit uns. Sie tragen im Klang das Zeichen der Winter. Jeder Herbst entkleidet sie weiter ihres Ruhms. --------------------Aber in ihrem Schreiten liegt die Heiterkeit des Ziels: ein Garten, in dem stets der Frühling erstrahlt. Der Sinn in jenem Garten ist eine Blüte, der Klang ist ihr Duft, ihr eigenes Licht. Das Rauschen ist das Denken der Blätter. Schweigend warten sie, die Worte, dass, nah schon, das Land erscheint, wo die Sprache Wind ist, Fluss, Baum, Stern. Dort wohnt, heißt es, die Dichtung. DOI 10.24053/ Ital-2023-0021 Poesie da Convito delle stagioni, Italienisch/ Deutsch 21 L’isola ad Antonella Anedda Sulla riva un tappeto di conchiglie. In piedi, guardavo il dorso nero dell’isola e piú oltre il cielo che baciava il mare. Ma ero allo stesso tempo lontano da me, come l’orizzonte che laggiú divorava luce, tempo nella luce. Passò sulle acque l’ombra di una nuvola, come un’ala che abbrivida di blu il mondo. Ero solo, senza il rumore degli anni, senza il suono delle stagioni. Ero una pietra con gli occhi pieni di vento. Ascoltavo la voce del mare, nella voce il crepitare di giorni che srotolavano figure, pene e gioie con figure. Mi sono allontanato dalla riva che era già sera. ------------------------O sono rimasto lí, dove ancora sono, i piedi nella sabbia, con l’isola che mi guarda da lontano. DOI 10.24053/ Ital-2023-0021 22 Antonio Prete Die Insel für Antonella Anedda Am Ufer ein Muschelteppich. Stehend schaute ich den schwarzen Inselrücken an und dahinter den Himmel, der bis zum Meer reichte. Aber zugleich war ich fern von mir, wie der Horizont, der dort unten Licht verschlang, Zeit im Licht. Über das Wasser glitt der Schatten einer Wolke, wie ein Flügel, dass vor Blau die Welt erschaudert. Ich war allein, ohne das Geräusch der Jahre, ohne den Klang der Jahreszeiten. Ich war ein Stein mit Augen voller Wind. Ich lauschte der Stimme des Meeres, in der Stimme dem Knistern der Tage, die Figuren entrollten, Kummer und Freuden mit Figuren. Ich entfernte mich vom Ufer, es war schon Abend. ------------------------------------------ Oder ich bin dort geblieben, wo ich noch immer bin, stehend im Sand, mit der Insel, die mich von fern anschaut. DOI 10.24053/ Ital-2023-0021 Poesie da Convito delle stagioni, Italienisch/ Deutsch 23 La sera che scende Una foglia esile di luna, in alto. Dune di creta affondano nell’ombra. Il cielo sbandiera un rosso di nuvole in fuga verso un’ignota frontiera. La sera imbruna già gli ulivi. Altrove, fuori di scena, è il mondo, il mondo di pena e di chimera. ------------------------------------ Tra le stelle, una vertigine di tempo s’incendia in un vuoto di tempo. La lontananza, un abbaglio d’infinito. DOI 10.24053/ Ital-2023-0021 24 Antonio Prete Der anbrechende Abend Ein zartes Mondblatt, oben. Dünen aus Lehm versinken im Schatten. Der Himmel schwenkt ein Rot von Wolken, im Lauf hin zu einer unbekannten Grenze. Der Abend dunkelt schon die Olivenbäume. Anderswo, abseits der Bühne, ist die Welt, die Welt aus Leid und aus Chimären. ------------------------------------- Zwischen den Sternen entzündet sich ein Zeitentaumel in einer Zeitenleere. Die Ferne, ein Lichtblitz von Unendlichkeit. DOI 10.24053/ Ital-2023-0021 Poesie da Convito delle stagioni, Italienisch/ Deutsch 25 Autunnale Scuro fogliame, scure braccia d’albero contro il rosargento del cielo, ----------------------scuro sfrecciare d’uccelli nella sera che scende sulle colline, ----------------------scura coperta per il sonno delle volpi, dei caprioli. Ora atterrano sul prato gli anni saltimbanchi: corpi leggeri con ghirlande di carta, fanno passi di danza sull’erba nella sera scura che scende. Sono ombre, con berretti d’ombra. Il tempo, con la sua gloria, con le sue disfatte, è raggiera di opache scintille all’orizzonte, dove un velo copre i giorni, sforma le figure. Ma qui, piú da vicino, il tempo è il vento che agita i rovi e affanna il canneto: ----------------------nel suo soffio il profumo di quel che non accadde. Sulle pareti del cuore le sinopie di quel che mai fece sosta, di quel che transitando fu presto aria, fu presto cenere nell’aria. DOI 10.24053/ Ital-2023-0021 26 Antonio Prete Herbstlich Dunkles Blattwerk, dunkle Arme des Baums gegen das Silberrosa des Himmels, ----------------------dunkles Schnellen von Vögeln am Abend, der über die Hügel herniedersinkt, ----------------------dunkle Decke. für den Schlaf der Füchse, der Rehe. Nun lassen sich auf der Wiese die gauklerischen Jahre nieder, leichte Körper mit Papiergirlanden, sie machen Tanzschritte auf dem Gras am dunklen Abend, der herniedersinkt. Sie sind Schatten, mit Schattenkappen. Die Zeit, mit ihrem Ruhm, mit ihren Niederlagen, ist ein Strahlenkranz opaker Funken am Horizont, wo ein Schleier die Tage bedeckt, die Figuren verformt. Doch hier, aus größerer Nähe, ist die Zeit der Wind, der die Brombeersträucher schüttelt und dem Schilf den Atem nimmt: ------------------in seinem Wehen der Duft dessen, was nicht geschah. An den Herzwänden die Vorzeichnungen dessen, was nie stehenblieb, dessen, was, im Vorübergehen, schnell zu Luft wurde, schnell zu Asche in der Luft. DOI 10.24053/ Ital-2023-0021 Poesie da Convito delle stagioni, Italienisch/ Deutsch 27 O rondinella… righi di nero la luce, ---------------------esaltandola. Le ali accese, ti tuffi velocissima nell’ombra, ------------------risali abbracciando nei tuoi vortici il celeste. Il tepore del nido t’accompagna nell’ardimento dell’ascensione, nella festa della lontananza. Sai accordare la vertigine del volo con l’arabesco della compagnia. Quando seguo le tue ebbre ellissi, vedo la tua necessità congiungersi con il sorriso dell’aria, --------------------------------e penso al lungo, ostinato esercizio che ci ha allontanati dal respiro dell’albero, dal soffio della terra. ---------- Ma il brividio nel cielo chiama a sé i pensieri, liberandoli per poco dalla gravità che li rinserra. DOI 10.24053/ Ital-2023-0021 28 Antonio Prete Kleine Schwalbe… schwarz furchst du das Licht, ----------------------lässt es erstrahlen. Mit entfachten Flügeln stürzt du pfeilschnell in den Schatten, ----------------------steigst wieder auf, umfängst in deinen Wirbeln das Himmelblau. Die Wärme des Nests begleitet dich in der Kühnheit des Aufstiegs, in der Feier der Ferne. Du weißt den Schwindel des Flugs abzustimmen mit der Arabeske der Schar. Folge ich deinen trunkenen Ellipsen, sehe ich, wie, was dir nötig ist, verschmilzt mit dem Lächeln der Luft, --------------------------------und denke an das lange, beharrliche Tun, durch das wir abgekommen vom Atem des Baums, vom Hauch der Erde. -------------- Aber das Erschaudern am Himmel ruft die Gedanken zu sich, befreit sie vorerst von der Schwere, die sie einschließt. DOI 10.24053/ Ital-2023-0021 Poesie da Convito delle stagioni, Italienisch/ Deutsch 29 Luna gigante La luna è prossima alla terra, questa sera: non accadeva da molti anni, non accadrà per molto tempo ancora. Luna piena, l’assenza di vapori la definisce nel suo cerchio d’ambra e di diaspro. --------------------------------Dalla sua lontananza, lungo l’orbita scesa a contemplare i deserti e gli oceani, attrae la terra col suo bagliore, ne scuote la crosta e il mantello, in incantata perfetta solitudine, il passo in armonia con la fuga di pianeti, di stelle, di galassie. --------------------------------D’ombralucente il volto. Quaggiú, una strada, un ponte, poi il nero d’alberi e di sentieri in mezzo agli alberi, e il viaggio della terra nella notte. Lei veleggia lontana dai pensieri e dalla pena che abita il pianeta, va negli spazi con i suoi crateri, i mari astratti, i silenzi, le polveri. Con lei volano tutte le figure della materia, volano le forme che hanno respiro d’albero o di uomo, che hanno respiro di vento o di cenere. DOI 10.24053/ Ital-2023-0021 30 Antonio Prete Riesenmond Der Mond steht nah zur Erde, heute Abend: so war es nicht seit langen Jahren, so wird es lange Zeit nicht wieder sein. Vollmond, der abwesende Dunst legt ihn fest in seinem Kreis von Bernstein und von Jaspis. --------------------------------Aus seiner Ferne, gesunken längs der Umlaufbahn, zu schauen die Wüsten und die Ozeane, zieht er die Erde an mit seinem Schein, schüttelt ihr Kruste und Mantel, in berückter, absoluter Einsamkeit, der Gang in Harmonie mit dem Lauf der Planeten, Sterne, Galaxien. --------------------------------Von Schattenglanz das Antlitz. Hier unten eine Straße, eine Brücke, dann das Schwarz von Bäumen und von Wegen inmitten der Bäume, und die Reise der Erde durch die Nacht. Er segelt fern der Sorgen und des Leids, das dem Planeten eigen, geht ins All mit seinen Kratern, den abstrakten Meeren, dem Schweigen, dem Staub. Mit ihm fliegen alle Figuren der Materie, fliegen die Formen, die den Atem haben des Baums oder des Menschen, die den Atem haben des Winds oder der Asche. DOI 10.24053/ Ital-2023-0021 Poesie da Convito delle stagioni, Italienisch/ Deutsch 31 Il Sud nei pensieri Quieti mostri che reggono balconi, pensosi visi di leoni, stemmi inghirlandati d’acanto, febbrile grido di pietra tra statue di martiri sulle facciate delle chiese, dove lo scirocco sfigura in arabeschi le cornici, vicoletti di calce in cui la luce trascina l’azzurro, ombrose corti, con il ficus alto addossato alle arcuate scalinate, torri moresche che graffiano i cieli, cupole che da maioliche rosse mandano lampi verso l’imbrunire, sfilacci viola di nubi che cadono sopra le insenature, acqua che romba nelle grotte e schiaffeggia le scogliere: è il Sud, lingua del ricordo, polvere celeste nella materia dei giorni, il Sud che è lontananza e insieme spina, terra rossa, tumulto di partenze, il Sud delle ferite e dell’attesa, dove gli angeli stanno rintanati dentro l’anima della cartapesta, il Sud che è il vento dei pensieri. DOI 10.24053/ Ital-2023-0021 32 Antonio Prete Der Süden in Gedanken Stille Ungeheuer, die Balkone tragen, versonnene Löwenköpfe, Wappen, akanthusumrankt, fiebriger Steinschrei zwischen Märtyrerstatuen an den Kirchenfronten, wo Schirokko das Gesims in Arabesken verwischt, Gässchen aus Kalk, wohin die Helle das Blau zieht, schattige Höfe, mit dem Gummibaum hochlehnend an den Treppenschwüngen, maurische Türme, die die Himmel schürfen, Kuppeln, die von roter Majolika Blitze senden gegen das Dämmern, violette Wolkenfransen im Fall über den Buchten, Wasser, das in den Grotten dröhnt und die Klippen peitscht: das ist der Süden, Sprache der Erinnerung, Himmelsstaub in der Materie der Tage, der Süden, der Ferne ist und zugleich Dorn, rote Erde, Tumult von Aufbrüchen, der Süden der Wunden und des Wartens, wo die Engel sich verkrochen haben in der Seele der Cartapesta, der Süden, der Wind ist der Gedanken. DOI 10.24053/ Ital-2023-0021 Poesie da Convito delle stagioni, Italienisch/ Deutsch 33 Il mare El mar o pluma enamorada o pluma libertada. V I C E N T E A L E I X A N D R E Deve esserci ancora il mare, là dove le stelle sono spente e vuoto è il suono delle stagioni. Il mare barbaglio di lucente perfezione, tumulto di faville, abbracciato nel tramonto al suo orizzonte. Il mare voce d’organo che incanta il cielo e orienta neri stormi di uccelli. Il mare occhi d’idra acquietati dalle palme. Scrigno di nascite. Vertigine di tempo disegnata sopra il guscio d’una conchiglia. Deve esserci ancora il mare dopo l’estrema ferita, quando ripiega le ali d’iride la vita. DOI 10.24053/ Ital-2023-0021 34 Antonio Prete Das Meer El mar o pluma enamorada o pluma libertada. V I C E N T E A L E I X A N D R E Das Meer muss noch da sein, dort, wo die Sterne erloschen sind und leer der Klang der Jahreszeiten ist. Das Meer, blendender Schein glänzender Vollkommenheit, Funkenwirbel, bei Sonnenuntergang umfangen von seinem Horizont. Das Meer, Orgelklang, der den Himmel verzaubert und schwarze Vogelschwärme leitet. Das Meer, von den Palmen beruhigte Hydra-Augen. Geburtenschrein. Auf eine Muschelschale gezeichneter Schwindel der Zeit. Das Meer muss noch da sein, nach der letzten Verwundung, wenn das Leben die Irisflügel anlegt. Aus: Antonio Prete: Convito delle stagioni. Torino: Einaudi 2024. Übersetzt von Barbara Kuhn und Katharina List. DOI 10.24053/ Ital-2023-0021 Poesie da Convito delle stagioni, Italienisch/ Deutsch 35 1 1948; deutschsprachige Erstveröffentlichung 1952 unter dem Titel Liebe und Zauberei. 2 Italienische Lyrikerin (1947-2022), auf Deutsch erschien Diese schönen Tage 2009. 3 Wortspiel: „Patrizia“ = Patrizierin, „Cavalli“ = Pferde; Plebea = Plebejerin, Somaro = Esel. Wie ich mit Elsa Morante Ratespiele zu Pasolini und anderen machte Dacia Maraini Ich lernte Elsa Morante über ein Buch kennen, das ich sehr geliebt habe: Menzogna e Sortilegio.  1 Der Roman faszinierte mich, als ich ein Teenager war und in Palermo lebte. Damals ging ich noch zur Schule, und ich erinnere mich, dass ich gleichzeitig zwei große Leidenschaften hegte, die für Vivaldis Sommer, den ich Tag und Nacht hörte, und die für die Geschichte des Waisenkindes Elisa und ihrer Liebe zu ihrem launischen und grausamen Cousin Edward. In meiner mädchenhaften Fantasie leisteten sich das Konzert und die Romanhandlung gegenseitig Gesellschaft, das eine war ein Kommentar zum anderen, und sie passten dank ihres gekonnt ausgeführten, anmutigen Stils sehr gut zusammen. Einige Jahre später ergab es sich, dass ich Elsa durch ihre Freundin Patrizia Cavalli 2 persönlich kennenlernte. Elsa war unheimlich ironisch und witzig, und ich erinnere mich an ihr Lachen, wenn sie Patrizia Cavallis Namen mit Plebea Somaro verballhornte. 3 Eigentlich liebte und schätzte sie Patrizias Gedichte, aber es gehörte zu Elsas Charakter zu scherzen und andere auf den Arm zu nehmen. Oft haben wir Ratespiele gemacht, bei denen wir andere Personen durch Lebensmittel oder Gegenstände charakterisierten. Wenn er eine Torte wäre, welche Torte wäre er dann? Wenn sie eine Frucht wäre, welche Frucht wäre sie dann? Und so ging es weiter. Ich erinnere mich, dass ich Elsa, als sie 1985 in dem Krankenhaus lag, wo sie später starb, an einem Vormittag besuchte. Kaum hatte sie mich erblickt, sagte sie: „Wollen wir ein paar Ratespiele machen? “ Sie gab mir dann einige sehr schwierige Rätsel auf, machte, nachdem ich viele falsche Antworten gegeben hatte, einen kindlichen Schmollmund und sagte: „Wie jetzt? Du errätst nicht mal unseren Freund Pier Paolo? “ DOI 10.24053/ Ital-2023-0022 4 Dacia Maraini verbrachte einen Teil ihrer Kindheit und Jugend in Japan, wo ihr Vater, der Ethnologe Fosco Maraini, das Leben des Volks der Ainu erforschte. In der Zeit, als wir öfter miteinander zu tun hatten, war sie in Bill Morrow verliebt, einen sehr hübschen und sehr provokanten jungen Mann, der aus Verzweiflung Drogen nahm. Er war ein recht talentierter Maler, der aber nichts unternahm, um bekannt zu werden oder seine Bilder zu verkaufen. Mit Hilfe von Alberto Moravia organisierte Elsa für ihn eine Ausstellung in Rom. Doch Bill kehrte nach New York zurück und stürzte sich später unter dem Einfluss von Drogen aus dem Fenster. Elsa hat unter diesem Tod sehr gelitten. Sie zog sich in ihre Wohnung zurück und hat das Haus nicht mehr verlassen. Ein gemeinsamer Freund, Giuseppe Cupane, blieb bei ihr und kümmerte sich um sie. Er überzeugte sie, am Leben zu bleiben, denn sie hatte sterben wollen. Elsa war eine extrovertierte Person, die immer vor Energie sprühte und sich ihrer Talente und Fähigkeiten sehr bewusst war. Für sie gab es keine halben Sachen: Es ging immer um alles oder nichts. Und das war in der Ehe mit Alberto Moravia nicht gerade förderlich, denn er war ein nachdenklicher und rationaler Mensch, der eher zum versöhnlichen Gespräch als zum Streit neigte. Berühmt ist die Episode, als die beiden einmal die gerade veröffentlichte Gedichtsammlung eines Freundes zugeschickt bekamen. Elsa las sie in einem Atemzug durch und dekretierte dann, dass sie diese Gedichte nicht mochte. Als sie danach das Haus verließen, begegneten sie zufällig dem besagten Dichter und Elsa rief ihm von Weitem zu: „Dein Buch ist scheußlich! “ Alberto versuchte, sie zurückzuhalten. Er wollte seinen Freund nicht kränken, schon gar nicht mit einem Satz, der über die Straße gerufen wurde. Doch Elsa vertrat die Ansicht, man müsse immer die Wahrheit sagen, und so verhielt sie sich auch, selbst wenn sie einen hohen Preis dafür zahlte. Der Dichter war natürlich beleidigt und brach den Kontakt zu den beiden ab … Hinter dieser Fassade verbargen sich jedoch eine große Dramatik und Verletzlichkeit. Elsa ging mit gezücktem Schwert durchs Leben und mit der Bereitschaft, blutige Schlachten zu schlagen. Gleichzeitig konnte sie große Empathie empfinden und war stets bereit, ihrem Feind Verständnis und Liebe entgegenzubringen - ganz so, wie die großen okzitanischen Ritter, die sie verehrte: immer beseelt von einer aufrichtigen und kompromisslosen Hingabe. Die ehelichen Bande zwischen Elsa und Alberto waren zerrissen, doch sie wollte sich nicht scheiden lassen. Sie wusste genau, dass eine junge Frau, die vor nicht allzu langer Zeit aus Japan zurückgekehrt war, 4 sich in ihren Mann verliebt hatte und die beiden vorhatten, zusammenzuleben. Sie nahm diese Sache als etwas ganz Selbstverständliches hin. Und so trafen wir uns oft zu dritt oder im DOI 10.24053/ Ital-2023-0022 Wie ich mit Elsa Morante Ratespiele zu Pasolini und anderen machte 37 5 Maraini war in den 1960er und 1970er Jahren die Lebenspartnerin von Alberto Moravia und lebte eine Zeitlang mit ihm und Pasolini in einem Haus in Sabaudia bei Rom. gemeinsamen Freundeskreis. Ich glaube, Elsa sah in der Ehe ein geistiges Band und es gab für sie keinen Grund, dieses zu zerreißen. In der Tat habe ich diese emotionale Haltung immer als legitim angesehen und nie eine institutionelle Verbindung mit Alberto eingefordert. 5 Ich erinnere mich an mehrere Weihnachtsfeiern in der Via dell’Oca, bei denen Elsa für die Gäste einen großen Korb voller Geschenke vorbereitet hatte, aus dem sich jeder bedienen durfte. In diesem Korb befanden sich alle möglichen Dinge, die die Gastgeberin liebevoll eingepackt und mit Schleifen versehen hatte: Kleine und große Päckchen, Schachteln und Umschläge, die je nach Lust und Laune, entweder einen einfachen Schlüsselanhänger oder ein winziges, kostbares Radio, einen Seidenschal oder einen Schuhlöffel enthielten. Die Freunde suchten sich ein Geschenk aus, lösten den komplizierten Knoten des farbigen Bandes und rissen das Papier auf, während aller Augen auf die Überraschung gerichtet waren, die zum Vorschein kommen würde. Manchmal befand sich in einem Paket mit einer besonders auffälligen goldenen Schleife nur ein Brikett und alle brachen über das lange Gesicht des Pechvogels in lautes Lachen aus. Elsa strahlte. Sie liebte es, andere zu überraschen, sowohl im Guten als auch im Schlechten. In solchen Momenten hatte sie etwas Kindliches an sich, und ich empfand eine große Zärtlichkeit für sie, für ihre Leichtigkeit, den Freundeskreis zu unterhalten und zu verblüffen, und für ihre unmögliche Liebe. Bill war in Wirklichkeit homosexuell, und sie litt unter der Doppelbödigkeit dieses jungen Mannes, der so tat, als könne er sich die Wahl zwischen der einen und der anderen Möglichkeit stets offenhalten. Heute denke ich, dass das Geheimnis ihrer Zuneigung vielleicht daher rührte, dass Elsa für das Liebesideal der Minne schwärmte. Sie empfand eine nostalgische Sehnsucht nach den höfischen Tugenden, die einst die Welt der Ritter und Hofdamen erfüllten, als die Liebe nie körperlich war, sondern vergeistigt und transzendent. Der Ritter hatte sein irdisches Sexualleben, das aus alltäglichen Routinen und feststehenden Regeln bestand. Ungeachtet dessen galt seine Hingabe der allumfassenden und ewigen Liebe zu einer Frau, deren Körper er zwar nie nackt sehen würde, deren Seele er aber entkleiden konnte, ritterlich und mit Anstand. Es war jene Art von Beziehung, die Pier Paolo Pasolini zu den jungen Männern unterhielt, die ihn erotisch anzogen und die er hingebungsvoll liebte, während seiner Mutter, die ihn über die verschlungenen Pfade des Paradieses lenkte, die reine und heilige Liebe vorbehalten war, ganz so, wie Dante es mit Beatrice tat. DOI 10.24053/ Ital-2023-0022 38 Dacia Maraini 6 Dario Bellezza (1944-1996), italienischer Schriftsteller, auf Deutsch erschienen 1985 Pasolinis Tod und Storia di Nino. 7 1974, deutsche Erstausgabe unter demselben Titel 1976. Dario Bellezza 6 hatte versucht, Elsas Zuneigung zu gewinnen, aber es war ihm nicht gelungen, und sie behandelte ihn mit einer kindlichen und mutwilligen Grausamkeit. Einmal stellte sich Dario schwer beleidigt mit einem Schild in der Hand, auf dem er sich als das lebende Vorbild für eine von Morantes Romanfiguren ausgab, vor die Haustür der Schriftstellerin und verlangte eine finanzielle Entschädigung. Überflüssig zu erwähnen, dass Elsa ihm den Wind aus den Segeln nahm, indem sie ihm ins Gesicht lachte. Ich war froh, dass Elsa mich wie eine Freundin behandelte. Als angehende Schriftstellerin, die den erzählerischen Fähigkeiten anderer Schriftsteller demü‐ tige Bewunderung entgegenbrachte, hörte ich Elsas Geschichten immer mit Begeisterung zu. Ich mochte es, wenn sie mir von Lucia erzählte, ihrem Mädchen für alles, das für sie mehr eine Schwester als eine Hausangestellte war. Lucia war wie eine ihrer Romanfiguren, sie war eines ihrer Geschöpfe, wie es auch die Katzen waren, die ihr Penthaus in Rom mit Leben erfüllten und mit denen sie sich den ganzen Tag beschäftigte: Coda, Mezzacoda, Sparto, Adratico. Diese Katzen benahmen sich in der Wohnung genauso wie die Geschöpfe, die aus ihrer Feder flossen und ihre Bücher bevölkerten: arglos, treuherzig, unberechenbar, grausam, betörend und durchgedreht. Wie alle großen Schriftsteller lebte Elsa in einer Parallelwelt, in ihrer eigenen schöpferischen Welt, die aus leidenschaftlichen Liebesgeschichten bestand, aus unvermuteten Demütigungen und Verklärungen, aus Wonne und Schrecken; und diesen Erlebniswelten gelang und gelingt es noch immer, bei den Leserinnen und Lesern starke Emotionen zu erwecken. Ich erinnere mich noch an die abfälligen Kritiken, als La Storia herauskam. 7 Ich verstand nicht, woher all diese Wut und Verachtung kamen. Vor allem die avantgardistische Literaturkritik wütete gegen die Autorin, nannte sie eine Schriftstellerin für Kleingeister, altmodisch, sentimental, vorhersehbar. Das ließ mich an Charles Dickens denken, als er seinen Roman Oliver Twist veröffent‐ lichte, der beim breiten Publikum einen Riesenerfolg hatte, den die Kritiker aber maßlos verrissen und als kitschige und pathetische Dienstmädchenliteratur abtaten. Heute dagegen wissen wir, dass der Roman ein Meisterwerk der Weltliteratur ist. Von der Verfilmung von La Storia, die als Serie im italienischen Fernsehen läuft, habe ich zwei Folgen gesehen, und ich bin sehr erfreut, dass sie sofort beim Publikum ankam. Die Regisseurin, Francesca Archibugi, hat eine großartige DOI 10.24053/ Ital-2023-0022 Wie ich mit Elsa Morante Ratespiele zu Pasolini und anderen machte 39 Arbeit geleistet und die Figur der Ida wird von der Schauspielerin Jasmine Trinca mit großer Intensität und Anmut gespielt - ganz im Sinne von Morante. Übersetzung ins Deutsche und Anmerkungen von Gudrun Jäger Die italienische Fassung des Textes erschien am 4.2.2024 im Corriere della sera. DOI 10.24053/ Ital-2023-0022 40 Dacia Maraini «Scrivere sul passato per raccontare il presente»: A colloquio con Francesca Melandri A cura di Christine Ott e Gloria Putrone Francesca Melandri, nata nel 1964 a Roma, prima di dedicarsi alla narrazione ha lavorato con successo come sceneggiatrice. Si è fatta conoscere nel 2010 con il romanzo Eva dorme (Milano: Mondadori 2010; traduzione in tedesco: Eva schläft, München: Blessing 2011), che esplora la storia politica dell’Alto Adige attraverso una storia familiare. Più precisamente, racconta di una famiglia mancata: Gerda, sudtirolese di lingua tedesca e ragazza-madre negli anni sessanta, sua figlia Eva, Vito, carabiniere di Reggio Calabria, che ama Eva come se fosse suo padre ma che non può sposare Gerda perché la sua posizione - di carabiniere - non glielo permette. Sullo sfondo della storia impossibile tra Vito e Gerda si dipana la violenta politica fascista di italianizzazione dell’Alto Adige, che costringeva i sudtirolesi di lingua tedesca a partire per la grande Germania o a restare, dichiarandosi italiani, la ripressione violenta delle rivendicazioni d’autonomia nei primi anni Sessanta, per arrivare al 1998, in cui in seguito agli accordi di Schengen non c’è più «alcun confine fisico a separare il Südtirol dall’Austria, la sua Terra Madre perduta» (p. 357). Questo romanzo non è solo stato tradotto in diverse lingue ma ha vinto vari premi letterari, tra i quali anche il Premio Rhegium Julii per l’Opera Prima. Nel 2012 viene pubblicato Più alto del mare (Milano: Rizzoli), romanzo che vince il Premio Campiello (Über Meereshöhe, München: Blessing 2012). Il libro, ambientato nel 1979 sull’isola dell’Asinara, narra dell’incontro tra un uomo e una donna provenienti da mondi diversissimi, ma che si trovano entrambi sull’isola per visitare i famigliari (lui il figlio, lei il marito) rinchiusi nel carcere di massima sicurezza. Il contesto storico in cui la vicenda si sviluppa è quello degli anni bui del terrorismo rosso, culminato con l’assassinio di Aldo Moro. La trilogia sulla storia politica dell’Italia si è infine conclusa con il romanzo Sangue giusto, Milano: Rizzoli 2017 (Alle, außer mir, Berlin: Wagenbach 2018). Qui l’autrice percorre un arco che va dal coinvolgimento del fascismo nella colonizzazione dell’Africa ai destini dei rifugiati che oggi sbarcano a Lampedusa. DOI 10.24053/ Ital-2023-0023 1 Eva dorme (2010), Più alto del mare (2012), Sangue giusto (2017). Il 29 novembre 2023, Francesca Melandri ha tenuto presso la Goethe-Univer‐ sität Frankfurt e su invito del RMU-Italienforum, la seconda Frankfurt Ginzburg Lecture, dal titolo La pelle viva della storia. In occasione della sua visita a Francoforte, l’autrice ha concesso un’intervista a cui hanno partecipato Gloria Putrone, Christine Ott e Isabella Terán. Gloria Putrone Il Suo romanzo Sangue giusto è apparso nel 2017, quasi 80 anni dalla fine dell’occupazione fascista in Etiopia. Cosa l’ha spinta al Suo impegno letterario su proprio questo capitolo della storia italiana? Francesca Melandri Per esempio, il rapporto poi con l’Etiopia tornata indipendente, tornata auto‐ noma e il rapporto postcoloniale con l’Africa negli anni 1980. E oggi con le persone che da questo continente arrivano da noi. Io ho raccontato la storia di un ragazzo etiope, ma potrebbe essere di tante altre parti, e quindi di questa inversione di direzione spaziale del colonialismo dall’Europa a lì; e adesso invece è da lì a noi nella forma di persone che arrivano. Però questo è il tema, il tema non è il colonialismo italiano, il tema non è l’occupazione fascista italiana e non è neanche il fascismo. È un rapporto con l’altro della nostra civiltà europea e siccome io sono italiana l’ho raccontata nella sua declinazione italiana. E il perché… perché in realtà cosa mi ha spinto… la stessa domanda su qualsiasi mio libro. A me del passato in sé non è che interessi tanto. Sì, certo sono curiosa, leggo i libri di storia perché mi fa piacere sapere le vicende del mondo, ma non mi basterebbe. A me il passato interessa nella misura in cui mi racconta qualcosa, e non necessariamente mi spiega, ma mi illumina qualcosa del presente. Quindi, anche in questo senso il mio romanzo fondamentalmente non è un romanzo storico, ma un romanzo sul nostro presente. Questo mi interessa di più, e questo fa parte del progetto complessivo dei tre romanzi. 1 Sono per me tre romanzi sul presente dell’Italia, illuminato da tre punti di vista, appunto di durata storica, diversa. Questo è il mio vero interesse. Isabella Terán Adesso Lei sta pensando a un lavoro in cui tratterà anche la guerra in Ucraina. Quali sono le problematiche quando si parla della storia contemporanea? DOI 10.24053/ Ital-2023-0023 42 A cura di Christine Ott e Gloria Putrone 2 In occasione della Frankfurt Ginzburg lecture che Francesca Melandri ha tenuto presso la Goethe-Universität Frankfurt il 29.11.2023. Francesca Melandri In realtà non è nemmeno storia contemporanea, è proprio attualità, non è storia, è il presente. Tanto per dare un attimo l’idea: come stavo raccontando, 2 sto lavorando a questo, diciamo, dittico dei genitori, quindi questo sarà quello su mio padre e mio padre (io sono una figlia nata molto tardi) era abbastanza anziano e lui era della generazione che ha fatto la Seconda Guerra Mondiale. Lui era sull’Ostfront, sul fronte orientale, quindi lui era in Russia e in Ucraina con l’esercito fascista ovviamente, alleato dei tedeschi, della Wehrmacht. Mio padre era del 1919, proprio quella generazione di ventenni poveracci che si sono beccati la Seconda guerra mondiale nel pieno della loro giovinezza. E quindi quando è scoppiata questa guerra, quando la Russia ha invaso l’Ucraina nel febbraio del 2022, quasi due anni fa, io sentivo questi posti, Karkhiv, Sumi, e mi suonavano molto familiari. Da sempre ho pensato che un giorno avrei scritto di quell’episodio della vita di mio padre, della sua esperienza sull’Ostfront, ma non avevo ancora bene capito come farlo. Nel senso che è una storia che è stata raccontata già tante volte. Lui ha anche scritto un libro su questo, quindi non era per me così utile che io raccontassi pari pari quella storia. Era già stata raccontata ed erano molti anni che aspettavo di avere un’idea su come farne un racconto che interessasse anche a me. In che cosa quella storia lì ha senso che la racconti io. Io non sono un reduce di quella guerra e quando appunto è scoppiata la guerra in Ucraina, quando la Russia ha invaso l’Ucraina, ho pensato ecco! Adesso ho una mia profonda motivazione. La profonda motivazione è questo… sconcertante senso di storia che si è avviluppata su sé stessa e che è come un buco temporale in cui la contemporaneità pare ricascare nel buio del Novecento. Le trincee a Bakhmut o Avdiivka, pensavamo fossero una cosa del passato e invece sono di nuovo il presente. È un po' la risposta opposta a quella che dicevo prima sul rapporto con il passato. Questo nostro presente mi serve per illuminare anche il passato. È un po’ lo stesso gioco di specchi ma al contrario. E viceversa. Il passato che ha vissuto mio padre mi serve per provare a capire il nostro presente. Questa è la mia risposta. Non è una risposta universale. Non credo che ci sia una formula con cui uno può dire adesso vi spiego come si parla degli avvenimenti del presente. Questo è solo quello che sto facendo io. Gloria Putrone Una frase che si incontra più volte nel romanzo Sangue giusto è la seguente: «Noi habesha dei talian sappiamo tante cose. Ma loro di noi non sanno nulla, DOI 10.24053/ Ital-2023-0023 «Scrivere sul passato per raccontare il presente»: A colloquio con Francesca Melandri 43 neanche di quando c’erano anche loro.» Secondo Lei qual è il motivo per questa ignoranza? Francesca Melandri È un motivo strutturale. Il dominato sempre, questo in tutte le strutture di dominio - da quelle coloniali a quelle di classe a quelle di genere, tutte - il dominato sa e deve sapere per la propria sopravvivenza molto di più del dominante che non il contrario. Mi spiego: il dominante dà le regole del gioco, e se il dominato non le segue può subire una punizione anche molto violenta. Il dominato deve capire molto bene le intenzioni, le modalità, la comunicazione e quindi anche la lingua del dominante. Il padrone si può permettere di non sapere niente dello schiavo, può permettersi infatti di non considerarlo come persona, può permettersi di non sapere neanche come si chiama. Può permetterselo perché tanto le regole della violenza schiavistica le determina il padrone. Può imporre allo schiavo la sua lingua e lo fa. Può imporre allo schiavo i suoi costumi, i propri costumi. Lo schiavo deve imparare invece le nuove regole e la lingua del dominante perché, se non le capisce e le fraintende e non fa quello che gli è stato richiesto, rischia molto. Rischia di essere appunto punito con violenza se non addirittura ucciso. Quindi da sempre, anche nei rapporti di genere, per le donne in una società dai ruoli di genere rigidi e oppressivi, la donna deve capire molto bene che cosa vuole l’uomo per compiacerlo, per assecondarlo, per stare al suo gioco. Se non lo asseconderà, se non lo capirà, se non starà al suo gioco verrà punita. Queste sono le regole della dominazione patriarcale. Mentre l’uomo, sempre all’interno di questi rapporti così diciamo arcaici e oppressivi, non ha nessun obbligo di capire come funziona la donna, cosa vuole, cosa pensa, non ha nessun obbligo. È proprio una questione strutturale tra chi opprime e chi è oppresso. Non è nulla di nuovo, non è nulla di specifico e non è tipico del rapporto nelle colonie tra il colonizzatore e il colonizzato, ma di tutti i rapporti di oppressione. Per questo sono i colonizzati che imparano la lingua del colonizzatore e non il contrario. Gloria Putrone La figura di Ilaria Profeti da una parte è molto colta, è un’insegnante, una persona apparentemente del tutto corretta che potrebbe servire da esempio positivo in qualsiasi situazione. Dall’altra parte c’è la sua relazione con Piero, deputato nel partito di destra, e la sua fiducia verso il presunto nipote al quale ha creduto sin dall’inizio. Qui si intravede una doppia morale. Qual è stato il Suo pensiero dietro a questa figura ambigua? DOI 10.24053/ Ital-2023-0023 44 A cura di Christine Ott e Gloria Putrone Francesca Melandri Lei mi perdonerà, ma mi viene di rispondere con una domanda. Ma non è rivolta a Lei personalmente, ma in generale. Potrei farla a Christine Ott, potrei farla a me stessa. Lei si reputa una persona che è sempre perfettamente coerente in tutte le Sue manifestazioni emotive, intellettuali, sentimentali, di valori? Io non credo. Sicuramente io non mi percepisco così. Però quello che voglio dire è che siamo esseri umani, non siamo robot, non siamo cartoon e quindi tutti abbiamo in qualche misura delle cose, delle parti che confliggono tra di loro, delle ambivalenze. L’ambivalenza è ciò che ci rende umani. Anche il più illuminato dei santi percorre un percorso di conoscenza della propria ambivalenza. Ilaria è ambivalente in questa maniera qui. Io intorno a me vedo negli esseri umani tanta incongruenza, tanta ambivalenza e francamente la trovo una fonte di ricchezza e interesse più che di severo giudizio, non so come dire. Christine Ott Se posso intromettermi: si può anche vedere proprio in questa relazione tra Piero e Ilaria un’utopia perché entrambi appaiono più umani. Francesca Melandri Assolutamente sì! Adesso nel caso di Piero, il suo, diciamo, difetto, che è quello di essere membro del partito di Berlusconi, è molto chiaramente descrivibile. In altre relazioni con persone che amiamo, alle quali vogliamo bene, i difetti sono più magari personali, per motivi di comportamento; ma anche lì potrei fare la domanda: ma davvero (mi sembra che qui siamo tutte donne), davvero ci siamo tutte sempre solo innamorate di persone perfette? Non credo e onestamente non ve lo auguro (ride). È l’incontro con l’imperfezione dell’altro quello che poi ci rende anche noi stesse o noi stessi più umani, più umane. Quindi non ci trovo nulla di eccezionale. Gloria Putrone La Sua tecnica narrativa mi fa venire in mente lo stile di Gustave Flaubert con i suoi principi dell’impersonnalité, impassibilité e impartialité. Anche raccontando il destino più triste o l’esperienza più brutta - e in Sangue giusto ne incontriamo parecchie -, non c'è alcun giudizio da parte sua. Cosa c’è dietro questa neutra‐ lità? Francesca Melandri Innanzi tutto grazie mille del paragone molto lusinghiero. Flaubert diceva «Ma‐ dame Bovary, c’est moi», no? Allora io potrei anche dire «lo Stegener Opa, c’est DOI 10.24053/ Ital-2023-0023 «Scrivere sul passato per raccontare il presente»: A colloquio con Francesca Melandri 45 3 Madame Bovary, protagonista dell’omonimo romanzo di Gustave Flaubert; Stegener Opa: il protagonista a cui F. M. fa riferimento nella Frankfurt Ginzburg Lecture (2023), La pelle viva della storia (inedito); Attilio Profeti, uno dei personaggi principali di Sangue giusto e soldato chiamato in Etiopia durante la Seconda Guerra Mondiale; Rodolfo Graziani, figura storica, generale durante le guerre coloniali italiane. moi» 3 ; «Attilio Profeti, c’est moi». E perfino, «Rodolfo Graziani, c’est moi». E quella è tosta. È tosto dire «Rodolfo Graziani, c’est moi». L’azione che fa questo tipo di romanziere o di romanziera, questa ambiziosissima intenzione. Mica è detto poi che riesca sempre. Non so se ci riesco sempre, però l’ambizione è quella di appunto esplorare qualsiasi espressione dell’animo umano come interessante in sé. Gloria Putrone Nella scelta delle Sue figure Lei lavora secondo un principio che definisce ‘em‐ patia radicaleʼ. Quali sono i limiti dell’empatia radicale e come si distingue da una simpatia? Francesca Melandri Quando parlo di empatia radicale è molto diverso dalla simpatia perché appunto sempre per parlare di Rodolfo Graziani, di simpatia non me ne fa proprio per niente. L’empatia radicale, io penso che abbia a che fare con la capacità di mantenere all’intero il proprio pensiero due idee contemporaneamente. John Keats la definiva negative capability. Cosa vuol dire negative capability? La capacità di mantenere in maniera non necessariamente equidistante, ma diciamo equanime, due opinioni, due percezioni del mondo che si ritengono entrambe vere, in cui si crede, ma che sono in contrasto tra loro. Faccio l’esempio che ci riguarda e che ho già fatto anche durante la conferenza, sempre per parlare di Rodolfo Graziani. Su Rodolfo Graziani posso mantenere due opinioni. La prima è che le sue azioni sono deprecabili, e che io le giudico senza esitazione come terribili, negative. E allo stesso tempo, idea numero due, atteggiamento numero due, posso allo stesso tempo considerarlo un essere umano la cui manifestazione terrena della sua vita è meritevole di essere conosciuta o almeno esplorata. Conosciuta forse è troppo - diciamo: esplorata. E queste due cose sono diverse, quasi in profonda opposizione, ma sono compatibili. Ora, qualcuno potrebbe obiettare che non è possibile provare empatia radicale verso Attilio Profeti perché Attilio Profeti era un Täter. Ecco, questo è esatta‐ mente il contrario di quello che penso io. Per me Attilio Profeti è molto più interessante e complicato di un Täter. Però diciamo che lo sia, Attilio Profeti o il personaggio X, lo definiamo un Täter, un colpevole di qualcosa, e questa DOI 10.24053/ Ital-2023-0023 46 A cura di Christine Ott e Gloria Putrone è l’opinione numero uno. Poi però rimane valido il mio desiderio di provare interesse verso questa persona in quanto essere umano. E queste due cose sono compatibili. Quella visione lì, secondo la quale non si può provare empatia radicale per un Attilio Profeti, è l’espressione di una visione del mondo in cui è pensabile e legittima solo una opinione alla volta, solo un pensiero alla volta. E la mia obiezione non è che quella opinione sia sbagliata, anzi, posso anche essere d’accordo. Ma la mia obiezione è che noi esseri umani siamo più ricchi di così, siamo più vasti di così, abbiamo più spazio dentro di noi di così e possiamo lasciare entrare anche qualcos’altro. Christine Ott Infatti a noi sembra che non bisognerebbe confondere quello che ha definito come empatia con la simpatia. Francesca Melandri Comunque obiezioni del genere sono interessanti, perché uno ci può riflettere sopra. Come anche sul dire «Io per me stessa, per me stesso sono certa/ certo di come mi comporterò in certe situazioni.» È certo un modo di ragionare assolu‐ tamente legittimo. Ma che non è come ragiono io. Certe volte mi piacerebbe anche poter ragionare così, ma le realtà in cui poi vengono inseriti gli esseri umani sono infinitamente più complicate di così. Christine Ott A me quello dell’empatia radicale sembra un concetto magnifico che ha fatto capire tante cose. La mia domanda sull’appropriazione è un po' una reazione alla wokeness, al voler essere a tutti i costi dalla parte di chi è ‘giusto’, o ‘giusta’, e che ha dei lati molto problematici e minacciosi. Viviamo infatti in un periodo in cui spesso alle scrittrici bianche/ occidentali che affrontano temi postcoloniali si rimprovera l’appropriazione dei punti di vista degli ‘altriʼ. In quest’ottica una scrittrice dovrebbe parlare solo di quello che appartiene alla sua cultura. Quali sono i problemi quando invece si vogliono integrare i punti di vista degli altri? Francesca Melandri Sì, molto minacciosi, molto giudicanti e molto sterili. Eppure non è una domanda che va dismissed. È legittima questa riflessione anche solo per dire che uno non è d’accordo. Anche sugli argomenti dell’empatia radicale. Io ho notato una cosa. È un’osservazione molto poco scientifica. Non è avvallata da dati, da ricerche, è molto aneddotica e come tale ve la do. È un’impressione, diciamo. Io ho l’impressione che, e ho una domanda se la mia impressione è vera o comunque diciamo verosimile, cioè che questo tema dell’appropriazione culturale mi pare che venga portato avanti in massima parte più da persone di origine europea - DOI 10.24053/ Ital-2023-0023 «Scrivere sul passato per raccontare il presente»: A colloquio con Francesca Melandri 47 quello che definiamo ‘bianche’ - e in particolare da donne ‘bianche’, molto più che da persone di origine non europea e questo mi ha incuriosita. Anche perché anch’io sono una donna ‘bianca’, no? Allora, è interessante perché potrebbe voler dire tante cose. Potrebbe voler dire che i maschi bianchi neanche si pongono il problema. Però non è vero, perché ci sono tanti uomini che stanno facendo una riflessione su questo. Ma vedo che le più dure, le più rigide, le più pronte a giudicare sull’ortodossia dell’appropriazione culturale sono spesso donne. Donne dei mestieri intellettuali, quindi non proletarie, quindi anche di status sociale buono. Ma ci sento da qualche parte una difesa di un’ortodossia da parte del gruppo delle donne ‘bianche’, non disagiate economicamente, che sono da sempre state il secondo rango. Il primo rango sono gli uomini bianchi non disagiati economicamente. E l’ortodossia, qualsiasi essa sia - sicuramente l’ortodossia patriarcale - il compito di trasmetterla e poi di sanzionare chi trasgredisce è storicamente sempre molto affidata alle donne, a questo secondo rango del potere. Ma queste sono domande che mi faccio, non sono conclusioni. E sono domande anche che pongo a voi, tra l’altro. Sono domande aperte. Come voi sapete, e adesso faccio un parallelo molto estremo, le mutilazioni dei genitali femminili, nei paesi dove vengono praticate, vengono mantenute, perpetrate dalle donne. La difesa delle regole, magari queste nuove regole della wokeness, da parte di un certo tipo di donna, mi colpisce sempre. Mi colpisce, perché a me interessano sempre di più le strutture tra gli esseri umani. Sono quelle da cui possiamo imparare. E c’è (e lo do proprio come domanda, non come conclusione), come un enhancement dei ruoli di potere. Christine Ott Io direi che - osservando soprattutto la realtà anglofona - ho l’impressione che ci sia questa ‘garaʼ (e non è neanche originale quello che dico) per chi è il meno privilegiato di tutti. Infatti ha più potere di parola chi può dimostrare di appartenere a più gruppi minoritari sottoprivilegiati, più sono meglio è. Francesca Melandri Ma è interessante che questa gara non è tanto fatta da chi è veramente svantaggiato, ma da persone che non sono svantaggiate per niente, se non per un motivo, che è quello di genere, e che si arrogano il diritto di parlare per altri. Allora ripeto, la mia è un’osservazione molto aneddotica. Sono molto inte‐ ressata a sapere i pareri degli altri su questa cosa. Ma mi sembra di osservare un meccanismo di difesa del potere da parte del secondo rango del potere che è come tradizionalmente il potere si manifesta. DOI 10.24053/ Ital-2023-0023 48 A cura di Christine Ott e Gloria Putrone Christine Ott È comunque una cosa su cui sto riflettendo dunque sono sicuramente interessata a continuare a parlare di questo. Francesca Melandri Il tema dell’appropriazione è comunque un tema importante. La mia risposta penso di averla già data alla conferenza, se volete ve la riformulo. Ed è un po' questa che ho già anche anticipato prima quando parlavo di mio padre. In fondo sarebbe un’appropriazione temporale, quella di parlare di una guerra che non è stata la mia. Che diritto ho io di raccontare della guerra di mio padre, no? Che per altro è già stata raccontata da lui e tanti altri. Ecco, la mia risposta, ma anche questa non è normativa, è proprio una risposta personale, individuale e sono molto interessata a sentire le risposte degli altri, è di entrare nelle teste di qualsiasi altro essere umano e siccome io non riconosco le differenze di genere o di color di pelle o di classe come effettive barriere tra gli esseri umani, non penso che ci dividano. Cioè, ci dividono nella pratica, abbiamo poi esperienze molto diverse, ma non penso che creino categorie diverse e sicuramente non penso che creino gerarchie tra gli esseri umani. Certamente non lo credo. Dunque, io penso che appunto «Homo sum, humani nihil a me alienum puto», come diceva Terenzio e quindi, essendo io un essere umano, ogni esperienza umana mi riguarda. In realtà poi io dirò di più: io sono un essere vivente quindi io sento che mi riguarda anche l’esistenza degli animali e delle piante. Anche di loro vi posso parlare. Quindi io penso di avere, rivendico il diritto del mio sentirmi in comunione con qualsiasi essere umano, qualsiasi essere vivente. Con gli esseri non viventi, ecco, identificarmi in una roccia mi viene difficile, ma magari un giorno ci riuscirò, non lo so (ride). L’unica cosa che è molto importante è che la mia motivazione sia autentica e non oppressiva, non dominante, non prepotente, non di sostituzione della mia voce a quella di qualcun altro. Ma sia una sincera e onesta offerta della mia voce che racconta quelle cose. Christine Ott Grazie, abbiamo bisogno di risposte così decise. Francesca Melandri Perché io sento a volte nelle opere che definirei di appropriazione culturale un altro elemento. L’elemento di sfruttamento economico. Quello sì è da considerare ed è molto importante. Io definirei, non so se chiamarlo appropriazione culturale, comunque, se di una cultura diversa, di un'esperienza altra, voglio prendere solo quello che è cool, bello, vendibile, ma non riconosco il prezzo che viene pagato per quella coolness, quel valore, il prezzo di essere stati oppressi, di essere stati perseguitati, DOI 10.24053/ Ital-2023-0023 «Scrivere sul passato per raccontare il presente»: A colloquio con Francesca Melandri 49 di essere stati come categoria, appunto, che ha subito persecuzioni. Allora li sto facendo appropriazione culturale. Faccio un esempio pratico. Mia madre era di Torino. La famiglia di mia madre, gli antenati di mia madre, erano ebrei sefarditi, dalla Spagna dopo la cacciata del 1492, la cacciata di Isabella di Spagna. Quindi andarono verso est e si fermarono in Piemonte e infatti c’è una grande comunità ebraica in Piemonte. Solo che gli antenati di mia madre si erano convertiti già da molte generazioni e quindi non erano più praticanti dell’ebraismo da parecchie generazioni. Quindi da molte generazioni non sono, non erano più tecnicamente di origine ebraica. E durante l’occupazione nazista, durante le deportazioni degli ebrei con l’avallo dei fascisti locali, la mia famiglia non ha avuto nessuna persecuzione. Non rientravamo in quella categoria. Anche se uno guardasse al ‘sangue’, qualsiasi cosa significhi, probabilmente ci saremmo rientrati. Quindi, se io dicessi «Eh, ma anch’io sono un po' ebrea! », se io dicessi questo, io prenderei dell’ebraismo le cose cool. Siamo in effetti tutti bravi con le lingue. Stereotipiche qualità ebraiche. Però, né io, né mia madre, né mia nonna, né la mia bisnonna, abbiamo fatto l’esperienza fondativa della esperienza dell’identità ebraica che è quella di subire l’antisemitismo. Non abbiamo mai conosciuto la persecuzione in quanto ebrei. In altre parole, noi da generazioni non abbiamo più pagato il prezzo dell’essere ebrei. Soprattutto non lo stiamo pagando ora. Se io quindi mi dicessi «Eh, ma sono un pò ebrea anch’io! » farei una smaccata operazione di appropriazione culturale perché prenderei solo i vantaggi stando ben tranquilla che non devo pagare gli svantaggi. Ecco: questa è appropriazione culturale. Gloria Putrone Dai ringraziamenti alla fine del libro Sangue giusto ho ricavato l’immensa quan‐ tità di persone che l’hanno accompagnata durante il Suo lavoro investigativo. Ha incontrato anche degli ostacoli? E dopo la pubblicazione qual è stata la risonanza da parte dei governi? Francesca Melandri Diciamo, l’ostacolo in Italia non è la persecuzione o la censura. Ma qui dovrei parlare, ma questo non riguarda me o il mio lavoro o neanche i temi di cui parlo io, ma dovrei parlare, ma andrei fuori tema, del degrado del dibattito culturale italiano, che è molto superficiale, molto disattento. I governi non hanno nessun interesse. Per i governi la letteratura è così poco rilevante; non è un loro problema. Certo, poi nei regimi totalitari è diverso, ma io non vivo in un regime totalitario, quindi, non è proprio una cosa che considerano minacciosa o meritevole di critica. DOI 10.24053/ Ital-2023-0023 50 A cura di Christine Ott e Gloria Putrone Gloria Putrone Dal punto di vista dei lettori: che cosa desidera che i lettori capiscano o imparino da questa storia transgenerazionale? Francesca Melandri Questo non è come io mi pongo rispetto ai miei lettori. Non ho un’agenda di cose che i miei lettori devono provare, capire, pensare o sentire. Sono la coautrice di un romanzo di cui il mio coautore, la mia coautrice è chi mi legge. E quella persona, quel lettore, quella lettrice avrà un’esperienza che è unica, personale, di valore oppure non di valore, gli piace o non gli piace, gli dà qualcosa, non gli dà qualcosa e su questo io non solo sono molto consapevole di non avere controllo, ma non desidero avere controllo. Non è il mio compito secondo me. Gloria Putrone E per ultimo: Gramsci nei suoi Quaderni del carcere scrive «Tutti gli uomini sono intellettuali […] ma non tutti gli uomini hanno nella società la funzione di intellettuali». Come descriverebbe la Sua funzione da scrittrice nella società? Francesca Melandri Diciamo che potrei rispondere un po’ allo stesso modo. Che funzione io ho o non ho nella «società, non sono io che lo devo dire, è la società che me lo deve riconoscere. È come essere autorevoli. L’autorevolezza non è che uno un giorno si sveglia e sale su una scaletta e dice «Io sono autorevole! » No, non funziona così. Sono gli altri che ti attribuiscono autorevolezza, quindi anche qui, uno può mettere nel mondo i propri pensieri, i propri scritti, le proprie opere, poi se questo ha una funzione o no nella società, è la società che lo decide. Però, per dire una cosa in più: io scrivo sempre solo se su qualche tema, qualche vicenda, qualche fenomeno (e questo vale sia per i romanzi oppure in forma più breve per gli articoli e riguarda quindi, per esempio, quello che succede nella politica contemporanea), se ritengo che quello che io penso, le cose che ho da dire, ancora non siano state dette da nessuno. Cioè se quella cosa lì che io penso, non l’ho ancora letta da nessuna parte. E se penso che possa essere interessante, allora mi viene di scrivere un articolo. Ma se la mia opinione l’hanno già detta in tanti, ecco, quella non è la mia funzione di dire sì, sì, anch’io penso questa cosa, sì sì, anch’io faccio del gruppo di persone cool che pensa questa cosa. Perché quello è purtroppo lo fanno già in tanti. Sarebbe un ribadire chi sono io. «Anche io sono così! Anche io penso così! » Ma sarebbe di fatto un articolo su di me, non su quell’argomento. E io non ho nessun interesse a partecipare così al dibattito pubblico. Per questo io scrivo molti meno articoli di tanti miei colleghi. Però, chi mi legge, ecco magari non condivide neanche una parola di quello che scrivo, però una cosa la garantisco: se scrivo qualcosa è perché veramente ci ho pensato su. DOI 10.24053/ Ital-2023-0023 «Scrivere sul passato per raccontare il presente»: A colloquio con Francesca Melandri 51 Opere di Francesca Melandri Piedi freddi. Milano: Bompiani 2024. [Kalte Füße, trad. di Esther Hansen. Berlin: Wagen‐ bach 2024.] Sangue Giusto. Milano: Rizzoli 2017. [Alle, außer mir, trad. di Esther Hansen. Berlin: Wagenbach 2018.] Più alto del mare. Milano: Rizzoli 2012. [Über Meereshöhe, trad. di Bruno Genzler. München: Karl Blessing Verlag 2012 e Berlin: Wagenbach 2019.] Eva dorme. Milano: Mondadori 2010. [Eva schläft, trad. di Bruno Genzler. München: Karl Blessing Verlag 2011 e Berlin: Wagenbach 2018.] DOI 10.24053/ Ital-2023-0023 52 A cura di Christine Ott e Gloria Putrone 1 Der Roman und das spätere Vorwort werden im Folgenden unter Angabe der Seitenzahlen im Fließtext zitiert nach der Ausgabe: Italo Calvino, Il sentiero dei nidi di ragno [1947]. Con una prefazione dell’autore [1964], Torino: Einaudi 1972 (Nuovi Coralli, 16). Beim vorliegenden Beitrag handelt es sich um die überarbeitete Fassung eines am 9. November 2023 anlässlich des 100. Geburtstags des Autors bei der Deutsch-Italienischen Vereinigung e.-V. in Frankfurt a.-M. gehaltenen Vortrags. Beiträge Wo bauen Spinnen ihre Nester? - Zur jugendlichen Sicht und Stimme in Calvinos Roman Il sentiero dei nidi di ragno  1 Hermann H. Wetzel Il magico e il ʻtono fiabescoʼ nel Sentiero dei nidi di ragno sono strettamente legati alla prospettiva infantile del protagonista Pin. La prospettiva narra‐ tiva utilizzata da Calvino non è meramente infantile ma si differenzia in certi momenti in una vista e una voce, chi possono essere ambedue adulte o/ e infantili. Questo uso raffinato serve a evitare una presa di posizione autoriale troppo unilaterale di fronte agli evenimenti e si distingue da altri usi da parte di autori come Voltaire o Kertész. Der magische und ʻmärchenhafte Tonʼ in Il sentiero dei nidi di ragno ist eng mit der kindlichen Perspektive des Protagonisten Pin verbunden. Die von Calvino verwendete Erzählperspektive ist nicht nur kindlich, sondern unterscheidet sich in bestimmten Momenten durch eine Sichtweise und eine Stimme, die entweder erwachsen oder/ und kindlich sein kann. Diese raffinierte Gestaltung dient dazu, eine allzu einseitige Haltung des Autors gegenüber den Ereignissen zu vermeiden und unterscheidet sich von anderen Gestaltungsweisen durch Autoren wie Voltaire oder Kertész. DOI 10.24053/ Ital-2023-0024 2 Die deutsche Übersetzung wird im Folgenden unter Angabe der Seitenzahlen im Fließtext zitiert nach der Ausgabe: Italo Calvino, Wo Spinnen ihre Nester bauen. Roman. Deutsch von Thomas Kolberger, München: dtv 1994. 3 Vgl. dazu das erwähnte Vorwort von 1964, in Calvino 1972, S.-14. Auf dem Deckblatt zur deutschen Übersetzung 2 von Italo Calvinos Roman Il sentiero dei nidi di ragno steht als Quintessenz der kurzen Buchvorstellung: Mit seiner raffinierten, unheroischen Perspektive ist dieser Roman ein fröhliches Meisterwerk des Neorealismus, getragen vom Übermut kaum zwanzigjähriger Ju‐ gend. Aus der Sicht eines Kindes enthüllen Krieg, Sex, Heldentum und Politik ihre ganze Fragwürdigkeit. Tatsächlich hat der 1923 geborene Calvino den Roman unmittelbar nach Kriegsende unter dem noch frischen Eindruck seiner Resistenza-Erfahrungen geschrieben und 1947 veröffentlicht. Was es mit seiner „raffinierten, unheroi‐ schen Perspektive“, mit dem „fröhlichen Meisterwerk des Neorealismus“ und der „Sicht eines Kindes“ auf sich hat, wollen wir auf den folgenden Seiten erkunden. „Fröhliches Meisterwerk des Neorealismus“ Unter Neorealismus versteht man landläufig die Stilrichtung, die in Italien nach dem Zweiten Weltkrieg die Literatur, den Film und die Bildende Kunst dominierte. Sie thematisierte ähnlich wie der Naturalismus am Ende des 19. Jahr‐ hunderts die Lebensverhältnisse der sozial Unterprivilegierten, allerdings in einer betont volkstümlichen Sprache (Laienschauspieler, Dialekt etc.) und mit politisch linkem Engagement. Angesichts dieser Vorgaben sind „fröhliche“ Meisterwerke, wie man sie vielleicht im früheren pikaresken Roman finden kann, in dieser literarischen Strömung eher unwahrscheinlich. Obwohl die Autoren und Künstler überwiegend Anhänger der Kommunistischen Partei Italiens waren und deren künstlerische Imperative wie sozialistischer Realismus, engagierte Literatur kannten, war der Neorealismus ideologisch unabhängiger und undogmatischer als die Literatur im Ostblock. Calvinos Resistenza-Figuren sind, mit Ausnahme des Kommandanten Ferriera und des Kommissars Kim, alles andere als positive Helden, wie sie der sozialistische Realismus verlangt, 3 und schon gar keine fröhlichen. Sie bilden einen ziemlich undisziplinierten Haufen aus, in bürgerlicher Sicht, gescheiterten Existenzen, allen vorweg der Protagonist des Sentiero dei nidi di ragno, der Junge Pin, dessen Zukunft bei seinen sozialen Voraussetzungen mehr als ungewiss und wenig vorbildlich erscheint. DOI 10.24053/ Ital-2023-0024 54 Hermann H. Wetzel Als Fazit lässt sich festhalten: „fröhlich“? - eher nein, was nicht heißt, dass es nicht auch manchmal etwas zum Schmunzeln gibt. „Neorealistisch“? ja, mit Einschränkungen, auf die ich gleich kommen werde. Das Magische Angesichts des Etiketts „Meisterwerk des Neorealismus“ überrascht, abgesehen von der Wahl nicht nur eines, sondern gleich mehrerer Anti-Helden, schon der eigenartige Buchtitel - benennt der Titel doch nach einer weitgehend stillschweigenden, aber verbindlichen Konvention zwischen Autor und Käufer bzw. potentiellem Leser einen oder gar den zentralen Aspekt eines Werks. Il sentiero dei nidi di ragno bzw. auf Deutsch: [Der Weg,] Wo Spinnen ihre Nester bauen erscheint deshalb ungewöhnlich, weil wir es, wohlgemerkt, nicht mit einem zoologischen, speziell arachnologischen Fachbuch zu tun haben, sondern mit einem Roman über das Ende des Zweiten Weltkriegs in Italien, als überwie‐ gend kommunistische Partisanen gegen die mit den deutschen Okkupanten verbündeten faschistischen Milizen der Repubblica di Salò kämpften. Was haben denn Spinnennester mit dem Bürgerkrieg zu tun? Warum wählt Calvino als titelgebenden Schauplatz eines Teils der Handlung neben einem typisch neorealistischen, volkstümlichen Stadtviertel, neben einer Besatzer- und Milizenvilla sowie einem Partisanenlager gerade einen solchen geschichts‐ fernen Ort? Ein guter Schriftsteller gibt die Antwort auf solche Fragen immer im Text selbst, und dies nicht direkt, in der Art von ‘Ich will damit sagenʼ, sondern indirekt, indem er dem Leser durch die Schilderung alle notwendigen Elemente an die Hand gibt, um sich selbst einen Reim auf die Wahl des Orts zu machen. Schauen wir daher seine Beschreibung genauer an, um die Bedeutung des Orts zu verstehen: Calvino schildert eine Art Hohlweg am Rande der Stadt mit eigenartigen Erdlöchern, die in allen realistischen Details beschrieben werden, nicht um dem Leser eine Lehrstunde in Zoologie zu geben, sondern um ihm, wie es sich für ein literarisches Kunstwerk gehört, einen gezielten Assoziationshorizont zu eröffnen. Ci sono strade che lui solo conosce e che gli altri ragazzi si struggerebbero di sapere: un posto, c’è, dove fanno il nido i ragni, e solo Pin lo sa ed è l’unico in tutta la vallata, forse in tutta la regione: mai nessun ragazzo ha saputo di ragni che facciano il nido, tranne Pin. […] Lí, tra l’erba, i ragni fanno delle tane, dei tunnel tappezzati d’un cemento d’erba secca; ma la cosa meravigliosa è che le tane hanno una porticina, pure di quella poltiglia secca d’erba, una porticina tonda che si può aprire e chiudere. (S.-50 f.) DOI 10.24053/ Ital-2023-0024 Wo bauen Spinnen ihre Nester? 55 Da gibt es Wege, die nur er kennt, und die anderen Jungen würden alles dafür geben, sie kennenzulernen: einen Platz gibt es, wo Spinnen ihre Nester bauen, und den kennt nur Pin, und er ist der einzige im ganzen Tal, vielleicht der einzige weit und breit. Noch nie hat ein Junge gewusst, dass es Spinnen gibt, die Nester bauen, außer Pin. […] Dort, im Gras, bauen die Spinnen Höhlen, Tunnels, die mit einer Mörtelschicht aus trockenem Gras ausgemauert sind; aber das Wunderbare daran ist, dass die Höhlen ein Türchen haben, ebenfalls aus dem getrockneten Grasbrei, ein rundes Türchen, das man öffnen und schließen kann. (S.-54 f.) Der Weg ist offensichtlich ein abgelegener, geschichtsferner Ort, fern der menschlichen Zentren, an denen sich das gesellschaftliche Leben und die histo‐ rischen Ereignisse abspielen. Und warum erzählt uns Calvino gerade etwas über Spinnen, statt über Menschen? Spinnen gelten ja, folgt man den von der saggezza del popolo tradierten Vorurteilen, nicht gerade als die sympathischsten Tiere. Die landläufige Vorstellung schillert zwischen verletzlich zart und gleichzeitig potenziell gefährlich. Darin gleichen sie dem Protagonisten, der wie die Spinne, allerdings ins Menschliche transponiert, schwankt zwischen kindlich liebe- und schutzbedürftig und gleichzeitig rotzfrech-aggressiv, in Maßen sympathisch und gleichzeitig abstoßend. Aber es geht nicht nur um den Charakter der Spinnen, sondern in erster Linie um ihre geheimnisvolle, ja wunderbare («cosa meravigliosa») Bautätig‐ keit. Abgesehen von ihrer minutiös erklärten technischen Beschaffenheit sind Nester, besonders in den Augen des herumstreunenden, heimatlosen Pin, ein besonderer Ort: ein Ort der Sicherheit, der Geborgenheit, dessen Sicherheit durch die erwähnten verschließbaren Türen unterstrichen wird. Außerdem sind die Nester als Bruthöhle ein Ort der Zukunft. Aufgrund dieser Eigenschaften, Geborgenheit und Zukunftsgerichtetheit, bekommen sie für ihn in seiner kind‐ lichen Phantasie eine magische Aura, die sich allem mitteilt, was mit ihnen in Berührung kommt: Questi sono posti magici, dove ogni volta si compie un incantesimo. E anche la pistola [die er einem deutschen Matrosen gestohlen hat] è magica, è come una bacchetta fatata. E anche Cugino [Deckname eines Partisanen, dem er dort wieder begegnet] è un grande mago, col mitra e il berrettino di lana, che ora gli mette una mano sui capelli e chiede: - Che fai da queste parti, Pin? […] - Questi sono i miei posti, dice Pin. - Posti fatati. Ci fanno il nido i ragni. (S.-191) Dies ist eine magische Gegend, in der sich jedesmal ein Zauber erfüllt. Und auch die Pistole ist magisch, sie ist wie ein Zauberstab. Und Vetter ist ein mächtiger Zauberer, mit der Maschinenpistole und dem Wollmützchen, der ihm jetzt seine Hand auf den DOI 10.24053/ Ital-2023-0024 56 Hermann H. Wetzel 4 „Fu Pavese il primo a parlare di tono fiabesco a mio proposito, e io, che fino a allora non me n’ero reso conto, da quel momento in poi lo seppi fin troppo, e cercai di confermare la definizione“ (Vorwort von 1964, in Calvino 1972, S.-17). Kopf legt und fragt: „Was tust du denn hier, Pin? “ […] „Das hier ist mein Gebiet“, sagt Pin. „Ein verzaubertes Gebiet. Hier bauen die Spinnen Nester.“ (S.-214f.) Das Magische, das über die Spinnennester aufgerufen, auf diese Weise indirekt schon im Titel angesprochen und am Ende des Romans ausdrücklich genannt wird, spielt eine besondere Rolle als Ausdruck einer bestimmten Weltsicht. Heutzutage und auch zur Zeit der Abfassung des Romans schon gilt diese Weltsicht als kindlich, wenn nicht als kindisch. Märchen zählen zur Kinder‐ literatur, obwohl sie bekanntermaßen ursprünglich nicht auf eine kindliche Zuhörerbzw. Leserschaft beschränkt waren. Einigermaßen überraschend ist das Eingeständnis Calvinos in seinem Vorwort von 1964 (in einem Abstand von fast zwanzig Jahren zur Publikation), den „tono fiabesco“, 4 den Pavese schon gleich beim Erscheinen des Romans hervorgehoben hatte, selbst gar nicht bewusst verwendet zu haben (ein weiteres Argument dafür, dass man einen Autor nie fragen sollte, „Was wollten Sie damit sagen? “, sondern selbst genau analysieren sollte, was er tatsächlich gesagt hat). Calvino lässt Pin auf der Schwelle von der Kindheit zum Erwachsen-Sein stehen. Wie alt Pin genau ist, wird nicht gesagt. Als ein der Schule gerade erst entwachsener Lehrling bei einem Flickschuster und angesichts seines erwachenden Interesses für Sexuelles dürfte Calvino ihn als Dreizehn-, Vier‐ zehnjährigen konzipiert haben. Er wird weder von seinen Altersgenossen noch von den Erwachsenen so richtig akzeptiert. Er ist ein frühreifes Bürschchen, das von Waffen fasziniert ist und die Welt der Sexualität, der Gewalt und des Krieges zwar irgendwie dadurch ‘mitbekommtʼ, dass er seine als Prostituierte arbeitende Schwester belauscht und sich die brutalen Geschichten der Erwachsenen in der Kneipe anhört; aber seine Kennerschaft und sein Durchblick ist nur mit Hilfe zweideutiger Sprüche vorgetäuscht, und letztlich ist er vereinsamt und gehört nirgends dazu. Aus der Sicht des Jugendamts würde man ihn einen verwahrlosten Sozialwaisen nennen. Diese Verortung im sozialen Gefüge als ein eltern- und vorbildloses Stadt‐ dschungel-Kind hat in der ideologischen Ökonomie des Buches ihre Vorteile: Als ein subproletarischer Candide ist Pin kein reines Unschuldslamm oder gar ein Edler Wilder, sondern lediglich eine Art Schwamm, der ohne bewusste ideologische Vorprägung die Welt um sich herum aufsaugt, sie überwiegend ohne moralische oder politische Urteile zur Kenntnis nimmt und seine Beobach‐ tungen manchmal verwundert, weitgehend aber unverdaut wieder ausspuckt. DOI 10.24053/ Ital-2023-0024 Wo bauen Spinnen ihre Nester? 57 Seine ältere, auf der Straße arbeitende Schwester fällt als Erzieherin ebenso aus wie sein Lehrherr, der als Säufer und Kleinkrimineller meist im Gefängnis hockt. So wirken, im Gegensatz zum etwas älteren, kommunistisch geschulten Lupo Rosso oder Roten Wolf, einem Jungen, den er im Gefängnis kennenlernt, die Ereignisse auf ein kindliches Gemüt, das bar jeden Klassenbewusstseins oder gar politischer Begriffe ist.ʼ Dass Pin teilweise noch dem Reich der Kindheit angehört, bedeutet nach Freud, dass er zwischen dem Reich des Lustprinzips und dem Reich des Reali‐ tätsprinzips steht. Typisch dafür ist sein Umgang mit der schon erwähnten deutschen Marine-Pistole, mit dem geheimnisvollen Namen P 38, die er einem Kunden seiner Schwester entwendet. Er stiehlt sie, um zur Welt der Erwach‐ senen bzw. der Partisanen zu gehören und um angeben zu können. Er wird aber nicht ernst genommen und weiß im Gegensatz zum kampferprobten Roten Wolf gar nichts mit ihr anzufangen. Daher spielt er mit ihr, sie dient ihm zur märchenhaften Wunscherfüllung, die allerdings angesichts der Realität nur im Reich der Fantasie existiert. Die in eine „bacchetta fatata“ (Zauberstab) verwandelte Pistole vermittelt ihm ein Allmachtsgefühl, das er aber nur in der magischen Welt, allein und im Spiel ausleben kann, bis sie ungewollt losgeht und ausgerechnet einen Teil der Spinnennester zerstört, den bevorzugten Ort der kindlichen Magie, wo er sie versteckt. In dieser Szene wird der Konflikt zwischen der Märchenwelt des Kindes und der brutalen Realität des Bürgerkriegs, die den gesamten Roman bestimmt, wie in einem Brennglas zu einem eindrücklichen Bild: Der reale Schuss zerstört (teilweise) den magischen Ort. Die kindliche Faszination durch Waffen ist letztlich stärker als jede Art von politischem Einfluss, was darin sichtbar wird, dass ein anderer waffennärrischer Junge, Pelle, um an Waffen zu kommen, in die faschistische Miliz eintritt, während Pin durch seine Anhänglichkeit an den väterlichen Cugino, der ihn wie ein Kind an die Hand nimmt, zu den Partisanen geführt wird. Auch Cugino ist ein - allerdings erwachsener - Einzelgänger ohne eindeutiges Klassenbewusstsein, der einen privaten Krieg gegen die ‘Partei’ seiner untreuen Frau führt. Er übernimmt für Pin die Rolle des alle Probleme lösenden Wunderbaren aus dem Märchen, als Vater-Ersatz, Beschützer und Ernährer: Pin è contento. È davvero il Grande Amico, il Cugino. Il Cugino si rimette il mitra in ispalla e restituisce la pistola a Pin. Ora camminano per la campagna e Pin tiene la sua mano in quella soffice e calma del Cugino, in quella gran mano di pane. Il buio è punteggiato di piccoli chiarori: ci sono grandi voli di lucciole intorno alle siepi. […] DOI 10.24053/ Ital-2023-0024 58 Hermann H. Wetzel 5 Pasolini wird 30 Jahre später in „Delle lucciole“ („Von den Glühwürmchen“) angesichts der politischen Situation Italiens illusionslos vom Verschwinden der Glühwürmchen sprechen: vgl. Pasolini 1975. 6 Todorov 1970. E continuano a camminare, l’omone e il bambino, nella notte, in mezzo alle lucciole, tenendosi per mano. (S.-194 f.) Pin ist voller Freude. Er, Vetter, ist wirklich der große Freund. Vetter hängt sich die Maschinenpistole wieder über die Schulter und gibt Pin seine Pistole zurück. Jetzt gehen sie übers Land, und Pin hat seine Hand in Vetters weicher und ruhiger Hand, in dieser großen Hand aus Brot. Das Dunkel ist von kleinen Lichtpunkten durchsetzt: ganze Schwärme von Glüh‐ würmchen fliegen um die Büsche. […] Und sie gehen weiter, der große Mann und das Kind, in der Nacht, mitten unter den Glühwürmchen, und halten einander die Hand. (S.-218 f.) Die Glühwürmchen als märchenhafte Chiffre für Idylle und Glück 5 sorgen für einen fast schon kitschigen Schluss, der dem Kitsch gerade noch dadurch entgeht, dass die beiden in eine offene, ungewisse Zukunft aufbrechen, die angesichts der bisherigen Romanhandlung alles andere als märchenhaft rosig erscheint, da Pin alle Brücken hinter sich abgebrochen und sich mit seiner Schwester und den Partisanen überworfen hat. Der «tono fiabesco» ist bekanntlich kein einmaliges Phänomen in Calvinos Werk. Das Märchen und der Fantastische Roman spielen bei Calvino in der Folgezeit eine für einen angeblich neorealistischen Schriftsteller erstaunlich dominante Rolle. 1956, im Jahr der Niederschlagung des ungarischen Volksauf‐ stands (die politische Nagelprobe für viele europäische Kommunisten, auch für Calvino), veröffentlicht er eine Anthologie italienischer Märchen, die Fiabe italiane, und in den sechziger Jahren seine Trilogie I nostri antenati, in der realistische Details mit einer offensichtlich fantastischen Handlung kombiniert sind. Welche Funktion hat nun das Märchen im Kontext der neorealistischen Literatur? Tzvetan Todorov 6 unterscheidet auf dem Hintergrund der vorherr‐ schenden realistischen Literatur das Wunderbare vom Fantastischen: Während im Märchen das Wunderbare fraglos und selbstverständlich ist, wird es in einer realistisch-positivistischen Umgebung zum Fantastischen, zum letztlich Uner‐ klärlichen, das das Postulat einer grundsätzlich wissenschaftlich erklärbaren Welt in Frage stellt und das Todorov als das schlechte Gewissen einer durch und durch rationalistischen und positivistischen Weltsicht begreift. Das Wunderbare des Märchens und die fantastische Literatur des 19. Jahrhunderts sind jedoch DOI 10.24053/ Ital-2023-0024 Wo bauen Spinnen ihre Nester? 59 7 Der Deckname Kim ist angelehnt an den 1901 erschienenen, gleichnamigen Roman von Rudyard Kipling, dessen Held auch zu Beginn ein verwaister Straßenjunge im Alter Pins ist. 8 Vgl. im Vorwort von 1964: Calvino 1972, S.-11. nicht nur Vorläufer und Nachfahren des Realismus, sondern sie können als grundsätzliche Möglichkeiten der Weltsicht neben einer realistischen literarisch jederzeit reaktiviert werden. Calvino genügt schon unmittelbar nach dem Krieg, als er noch unter dem Ein‐ druck der kommunistischen Ideologie stand, eine ausschließlich rationalistische Weltsicht nicht, er möchte auch dem Unbegreiflichen und Unberechenbaren, dem Gefühl und dem Utopischen einen Platz einräumen. Im Sentiero führt er dementsprechende Überlegungen im neunten Kapitel anhand der Person des Politkommissars Kim 7 auch theoretisch aus, eines Erwachsenen, dessen Funk‐ tion als Politkommissar schon ein intellektuelles Reflexionsniveau verlangt. Calvino wurde vorgeworfen, 8 dieses Kapitel sei eine Art Fremdkörper innerhalb des sonst überwiegend von der Perspektive Pins beherrschten Romans. Doch Calvino wollte nicht auf diese ideologische Einbettung verzichten, da sie zum damaligen Literaturverständnis dazugehörte. Kim è studente, invece: ha un desiderio enorme di logica, di sicurezza sulle cause e gli effetti, eppure la sua mente s’affolla a ogni istante d’interrogativi irrisolti. C’è un enorme interesse per il genere umano, in lui: per questo studia medicina, perché sa che la spiegazione di tutto è in quella macina di cellule in moto, non nelle categorie della filosofia. Il medico dei cervelli, sarà: uno psichiatra […]. Poi, dietro agli uomini, la grande macchina delle classi che avanzano, la macchina spinta dai piccoli gesti quotidiani, la macchina dove altri gesti bruciano senza lasciare traccia: la storia. Tutto deve essere logico, tutto si deve capire, nella storia come nella testa degli uomini: ma tra l’una e l’altra resta un salto, una zona buia dove le ragioni collettive si fanno ragioni individuali, con mostruose deviazioni e impensati agganciamenti. (S.-138 f.) Kim è logico, quando analizza con i commissari la situazione dei distaccamenti, ma quando ragiona andando da solo per i sentieri, le cose ritornano misteriose e magiche, la vita degli uomini piena di miracoli. Abbiamo ancora la testa piena di miracoli e di magie, pensa Kim. Ogni tanto gli sembra di camminare in un mondo di simboli, come il piccolo Kim in mezzo all’India, nel libro di Kipling tante volte riletto da ragazzo. (S.-148 f.) Kim dagegen ist Student: er hat ein unbezähmbares Verlangen nach Logik, nach Gewissheit über Ursache und Wirkung, und doch ist sein Kopf ständig erfüllt von ungelösten Fragen. In erster Linie interessiert ihn die Menschheit: er studiert Medizin, weil ihm bewusst ist, dass die Erklärung für alles und jedes in dem Getriebe sich be‐ DOI 10.24053/ Ital-2023-0024 60 Hermann H. Wetzel 9 Vgl. Baudelaires „forêts de symboles“ aus den Correspondances. 10 Calvino spricht in der schon erwähnten späteren Vorrede sogar von einer „objektiven“ und „anonymen“ Erzählung (Calvino 1972, S. 19), von einer „direkten Beobachtung der Realität“, was Bosetti zum Widerspruch reizt: Pin sei eher ein „personnage-écran“, durch dessen Brille man die Realität schaue. Vgl. Bosetti 1997, S.-320. wegender Zellen liegt und nicht in philosophischen Kategorien. Arzt für den kranken Geist möchte er werden: Psychiater. […] Und dann, nach den Menschen, interessiert ihn die große Maschinerie der im Vormarsch begriffenen Klassen, die von den kleinen alltäglichen Taten angetriebene Maschinerie, in der andere Taten verbrennen, ohne Spuren zu hinterlassen: die Geschichte. Alles muss logisch sein, alles muss man mit dem Verstand erfassen können, in der Geschichte wie im Hirn der Menschen: doch dazwischen klafft ein Riss, eine dunkle Zone, in der die kollektiven Beweggründe zu individuellen Beweggründen werden mit ungeheuerlichen Abweichungen und unvorstellbaren Zusammenhängen. (S.-154 f.) Kim denkt logisch, wenn er mit den Kommissaren die Lage der einzelnen Einheiten erörtert, doch wenn er nachdenkt, während er allein über die Bergpfade geht, wird alles wieder geheimnisvoll und magisch und das Leben der Menschen voller Wunder. In unseren Köpfen spuken immer noch Wunder und Zaubereien, denkt Kim. Manchmal scheint es ihm, als gehe er durch eine Welt von Symbolen, 9 wie der kleine Kim im Herzen Indiens in dem Kipling-Buch, das er als Kind so oft gelesen hat. (S. 166) Die kindliche Perspektive und das damit verbundene Wunderbare ist Calvinos damalige erzähltechnische Reaktion, um die trotz aller marxistischen Erklä‐ rungsversuche letztlich zu komplexe und daher in Teilen unverständliche Wirklichkeit darzustellen und allzu eindeutige ideologische Festlegungen, wie sie von einem Erwachsenen und einem linken Autor in der Nachkriegszeit erwartet werden, zu vermeiden. 10 Jahre später wird Calvino gar von der Welt als von einem Labyrinth, einem Irrgarten sprechen, den er aber trotz aller Rätselhaftigkeit mit Hilfe seiner Werke zu vermessen und zu erforschen (wenn auch nicht zu erklären! ) unternimmt. „Raffinierte Perspektive“ Wie wir schon gesehen haben, ist die Erzählperspektive im Sentiero nicht durchgängig dieselbe. Ihre Gestaltung ist vielschichtiger, als es das Schlagwort der kindlichen Erzählperspektive suggeriert. Es gilt daher, die verschiedenen Ausformungen der Erzählperspektive in diesem Roman Revue passieren zu lassen, da ihre Vielfalt einen Hauptreiz des Werkes ausmacht. DOI 10.24053/ Ital-2023-0024 Wo bauen Spinnen ihre Nester? 61 Zunächst einmal erzählt Calvino in traditioneller realistischer Manier aus auktorialer Perspektive. Am Anfang des Romans schildert er das Stadtviertel, in dem Pin aufwächst, aus dem Hier und Jetzt des allwissenden Autors im sogenannten historischen Präsens: Per arrivare fino in fondo al vicolo, i raggi del sole devono scendere diritti rasente le pareti fredde, tenute discoste a forza d’arcate che traversano la striscia di cielo azzurro carico. (S.-29) Um bis auf den Grund der Gasse zu dringen, müssen die Sonnenstrahlen schnurgerade die kalten Mauern hinunter, Mauern, von Bögen auseinandergestemmt, die das sattblaue Himmelsblau durchqueren. (S.-29) Der Blick ist eindeutig derjenige eines Erwachsenen. Ein Kind würde mit Sicherheit nicht auf die beschriebenen Details des Sonnenstands und der architektonischen Beschaffenheit der Gasse achten. Noch offensichtlicher wird die auktoriale Perspektive, wenn Pin selbst von außen geschildert und sogar beurteilt wird: Pin ha una voce rauca da bambino vecchio: dice ogni battuta a bassa voce, serio, poi tutt’a un tratto sbotta in una risata in i che sembra un fischio e le lentiggini rosse e nere gli si affollano intorno agli occhi come un volo di vespe. (S.-30) Pin hat die heisere Stimme eines frühzeitig gealterten Kindes: er beginnt jeden Satz leise und ernst, dann bricht er unvermittelt in ein Lachen voller I-Laute aus, dass es wie Pfeifen klingt, und die roten und schwarzen Sommersprossen sammeln sich um seine Augen wie ein Wespenschwarm. (S.-30) Die Bemerkung „frühzeitig gealtert“ verweist wie auch die Vergleiche auf eine außerhalb stehende, wertende Redeinstanz. In anderen Fällen wird zwar auch von Pin in der dritten Person gesprochen, jedoch handelt es sich erkennbar um Feststellungen aus der Sicht Pins selbst. Pin prende la via del torrente. [So berichtet es der Autor aus der Distanz. Dann aber versetzt er sich ausdrücklich in seinen Protagonisten und blickt mit seinen Augen.] Gli sembra d’essere tornato alla notte in cui ha rubato la pistola. Ora Pin ha la pistola, ma tutto è lo stesso: è solo al mondo, sempre piú solo. Come quella notte il cuore di Pin è pieno d’una domanda sola: che farò? (S.-191) Pin schlägt die Richtung zum Wildbach ein. Er fühlt sich zurückversetzt in die Nacht, als er die Pistole gestohlen hat. Jetzt hat Pin die Pistole, aber nichts hat sich geändert: er ist allein auf der Welt, noch mehr allein. Wie in jener Nacht ist Pin ganz erfüllt von einer einzigen Frage: Was soll ich jetzt tun? (S.-214) DOI 10.24053/ Ital-2023-0024 62 Hermann H. Wetzel 11 Genette 2 1998. In der zitierten Stelle ist der Wechsel der Perspektive eigens markiert (durch «Gli sembra»; ‘ihm scheintʼ, ‘es ist ihmʼ, ‘er fühlt sich, als obʼ o.Ä.), doch in vielen Fällen ist das gar nicht nötig, die Art der Aussage allein schon verweist auf die Sichtweise Pins, denn ein Erwachsener, sei es nun der Autor oder sein Leser, verfügt normalerweise im 20. Jahrhundert nicht mehr über eine magische Weltsicht. Im Anschluss an das obige Zitat, das die Perspektive Pins wiedergibt, fährt Calvino, wie oben bereits im Zusammenhang zitiert, nach der Schilderung der Begegnung mit dem Cugino genannten Erwachsenen fort: Questi sono posti magici, dove ogni volta si compie un incantesimo. E anche la pistola è magica, è come una bacchetta fatata. E anche Cugino è un grande mago […]. (S. 191) Dies ist eine magische Gegend, in der sich jedesmal ein Zauber erfüllt. Und auch die Pistole ist magisch, sie ist wie ein Zauberstab. Und Vetter ist ein mächtiger Zauberer […]. (S.-214) Abgesehen davon, dass in einem Werk der Erzählliteratur grundsätzlich alles Erzählte vom Autor stammt, es sei denn, er zitiert ausdrücklich fremde Texte oder Stimmen, kann der Autor fremde Sichtweisen und fremde Reden fingieren. Man spricht dann von erlebter Rede, discorso indiretto libero, Bewusstseinsstrom usw. In Calvinos Roman ist dieses Verhältnis des Autors zu seinem Protagonisten besonders raffiniert gestaltet. Man weiß oft nicht, spricht nun Calvino oder spricht Pin oder sprechen gar beide. Pin, indem er tatsächlich an das Magische und Wunderbare glaubt, Calvino, indem er metaphorisch spricht, so wie wir von einem Ort behaupten, er habe etwas Magisches, selbst wenn wir nicht an Zauberei glauben. Das verallgemeinernde „Questi sono posti magici“ ist doppeldeutig: Pin nimmt das Magische wörtlich, ein Erwachsener würde es eher metaphorisch auffassen. Die Übersetzung „Dies ist eine magische Gegend“ (statt ‘Orteʼ, ‘Stellenʼ) verwischt die Doppeldeutigkeit und spricht eher dafür, dass nicht Pin spricht, sondern Calvino; ebenso verweist auch der Vergleich mit einem Zauberstab und der Begriff ‘magischʼ eher auf einen erwachsenen Sprecher, während die Metapher für den Cugino als ‘mächtiger Zaubererʼ eher auf die Sicht Pins schließen lässt. Der Erzähltheoretiker Gérard Genette 11 hat uns das notwendige theoretische Werkzeug für die Beschreibung und begriffliche Fassung solcher Phänomene an die Hand gegeben. Er hält den gebräuchlichen Begriff der Erzählperspektive für zu ungenau und schlägt eine Differenzierung vor in die Sicht(weise) auf das Erzählte und, davon unterschieden, in die Stimme, die es erzählt. Denn es ist ein Unterschied, ob ich etwas zwar mit den Augen eines Kindes sehe und zur DOI 10.24053/ Ital-2023-0024 Wo bauen Spinnen ihre Nester? 63 12 Die Organisation des Dritten Reichs, genannt nach dem deutschen Architekten Todt, war für Autobahn- und Festungsbauten zuständig. Wiedergabe eine kindliche Stimme, d. h. ein kindliches Vokabular, eine kindliche Syntax etc., wähle, oder aber, ob ich dafür Worte benütze, auf die ein Kind nie kommen würde. Der Blick und die Stimme eines jugendlichen Protagonisten wie Pin (oder einer anderen fiktiven Figur) kann selbst innerhalb einer auktorialen Perspek‐ tive zu Wort kommen, nämlich in der direkten Rede. Sie ist im neorealistischen Erzählen beliebt, manchmal sogar im Dialekt, da dieser als besonders authen‐ tisch gilt - obwohl es wohlgemerkt immer der Autor ist, der seine fiktiven Personen so sprechen lässt. Calvino ist zum Zeitpunkt der Niederschrift des Romans noch jung genug, dass man ihm die Authentizität der Jugendsprache in der direkten Rede ab‐ nimmt. An einigen Stellen wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Pin Begriffe der Erwachsenenwelt, vor allem Abkürzungen, nicht kennt, obwohl er bezeichnenderweise so tut, als seien sie ihm vertraut: etwa „CLN“ für das Comitato di Liberazione Nazionale; „Todt“ für die deutsche Organisation Todt 12 oder „GAP“ für Gruppi di Azione Partigiana. Per Pin le parole nuove hanno sempre un alone [ein Erwachsenen-Wort] di mistero [Kinder-Blick], come se alludessero [Erwachsenen-Wort] a qualche fatto oscuro e proibito [Kinder-Blick]. Un gap? Che cosa sarà un gap? --Sí che lo so cos’è, - dice. [Kinder-Sprache] --Cos’è? - fa Giraffa. --È quello che in-… te e tutta la tua famiglia. [ Jugend-Sprache] (S.-38 f.) Für Pin haben neue Worte stets den Nimbus eines Geheimnisses, als deuteten sie auf etwas Dunkles, Verbotenes. Ein Gap? Was mag wohl ein Gap sein? „Klar. Natürlich weiß ich, was das ist“, antwortet er. „Was denn? “ fragt Giraffe. „Was dich und deine ganze Familie am A…“ (S.-41) Als charakteristisch gelten besonders Kraftausdrücke wie «mondoboia» (zum Henker), doch verwendet sie Calvino relativ sparsam. Weitere Kennzeichen für die jugendliche Sprache sind neben einfachem, kindlichem Vokabular (etwa das Wort ‘mammaʼ, wo man von einem Erwachsenen ‘madreʼ erwarten würde) bestimmte Satzkonstruktionen wie die (z.T. mehrfache) pronominale Wiederaufnahme von Satzteilen. So z. B. zweimal im Zitat vom Schluss, wo die Übersetzung leider die kindliche Stimme weitgehend ausmerzt: DOI 10.24053/ Ital-2023-0024 64 Hermann H. Wetzel 13 Nuovo Zingarelli: „Mostrare il rossiccio, essere consunto, scolorito, detto di abiti e sim.“ 14 Voltaire 1964, S.-149-237. Te la ricordi, tu, tua mamma? - chiede Pin. „Du erinnerst dich noch an sie, an deine Mutter? “ fragt Pin. [Besser: „Du, erinnerst du dich noch an sie, an deine Mama? “] Oder: A vederle da vicino, le lucciole, - dice Pin, - sono bestie schifose anche loro, rossicce. 13 (S.-195) „Wenn man die Glühwürmchen aus der Nähe betrachtet“, sagt Pin, „sind auch sie bloß eklige rötliche Tiere.“ [Besser: „Wenn man sie aus der Nähe betrachtet, die Glühwürmchen“, sagt Pin, „sind sie auch nur eklige Viecher, hässliche.“] (S.-219) Varianten jugendlicher Perspektive Wirklich kindliche Blicke und gleichzeitig kindliche Stimmen sind, abgesehen von Kinderbüchern, selten und dann nur punktuell in wörtlich wiedergege‐ benen direkten Reden, da ein ganzer von einem Kind erzählter Roman zu unwahrscheinlich und wohl auch nicht interessant genug wäre. Ein Vergleich mit anderen berühmten Beispielen jugendlicher Perspektive lässt Calvinos Sonderstellung deutlicher hervortreten. Die berühmteste jugendlich-naive Perspektive in der Weltliteratur findet sich in Voltaires Candide. 14 Im Unterschied zu Calvino ist der Ton dort aber durchweg ironisch, d. h. der erwachsene und intellektuell überlegene Autor (Stimme) tut nur so, als gebe er Gedankengänge (Blick) des jungen Candide wieder, wobei aber immer an den Ironie-Signalen seiner Stimme und den Übertreibungen erkennbar bleibt, dass er sich vom Einfaltspinsel Candide und dessen naiver Übernahme der Leibnizschen Weltsicht distanziert. Wenn Candide angesichts der schlimmsten Kriegsgräuel oder selbst empfangener Prügel nach wie vor versichert, in der besten aller Welten geschehe nichts ohne Ursache, so hört man aus diesen offensichtlich allen eigenen Erfahrungen widersprechenden Äußerungen die Stimme seines philosophischen Lehrers Pangloss, der selbst den Sinn der Syphilis zu rechtfertigen weiß. Die Ironie prägt aber die gesamte auktoriale Perspektive, nicht nur die Person Candides, etwa wenn Voltaire sich über die zivilisatorische Rückständigkeit Westfalens amüsiert (denn die gelieferte Begründung dürfte selbst einem Naiv‐ ling wie Candide nicht einfallen): DOI 10.24053/ Ital-2023-0024 Wo bauen Spinnen ihre Nester? 65 15 Vgl. Dupriez 1980, S.-264 f. Monsieur le baron était un des plus puissants seigneurs de la Vestphalie, car son château avait une porte et des fenêtres. (S.-149) Der Herr Baron war einer der mächtigsten Herren Westfalens, denn sein Schloss hatte eine Tür und Fenster. (Übers. H.H.W.) Voltaires Ironie ist bissig, ja, gehässig gegenüber der Naivität, die als Dummheit erscheint. Calvino dagegen ist selten ironisch. Er setzt die naive Rede nicht ein, um sich aus einer überlegenen, (besser) wissenden Warte aus über sie lustig zu machen, sondern eher, um die in dieser aufscheinende Erwachsenenrede und die in ihr enthaltenen Bewertungen zu hinterfragen. In der Replik Pins auf einen Dialog mit den Erwachsenen in der Bar wird dies deutlich: - Quando viene il giorno che diventate piú furbi, - dice, - vi spiegherò come stanno le cose. [… M]ia sorella non va coi tedeschi perché tiene coi tedeschi, ma perché è internazionale come la crocerossa e alla maniera che va con loro poi andrà con gl’inglesi, i negri e tutti i sacramenti che verranno dopo -. (Questi son tutti discorsi che Pin ha imparato ascoltando i grandi, magari quelli stessi che ora parlano con lui. Perché ora tocca a lui spiegarlo a loro? ) (S.-37) „An dem Tag, an dem ihr ein bisschen mehr Grips habt als heute, erklär’ ich euch, was los ist. [… M]eine Schwester [geht] nicht mit Deutschen, weil sie zu den Deutschen hält, sondern weil sie international ist, wie das Rote Kreuz, und genauso, wie sie jetzt mit denen geht, wird sie nachher mit den Engländern gehen, mit den Negern und allen andern Sakramentern, die danach kommen.“ (Das alles sind Redensarten, die Pin von den Erwachsenen gehört hat, vielleicht sogar von denselben, die gerade mit ihm sprechen. Warum muss jetzt er ihnen das erklären? ) (S.-39) Definiert man Ironie 15 als falsche Naivität, eine Art Zitat, das der Sprecher (Autor) wiedergibt, um sich von der zitierten Rede zu distanzieren und sich gemeinsam mit dem Zuhörer / Leser darüber zu amüsieren, so haben wir es hier mit einem besonders raffinierten Fall zu tun. Denn die Ironie trifft nicht nur Pin, der ja seinerseits nur naiv einen billigen Kalauer aus der Erwachsenenwelt ernst nimmt. Beim Nachsatz in Klammern („Warum muss jetzt er ihnen das erklären? “) bleibt unentschieden, ob der Autor spricht, wie im Satz davor, oder ob sich Pin in seiner Naivität selbst die Frage stellt. Der erzähltechnische Kniff einer (teilweise) naiven Perspektive erlaubt es Calvino, sich sozusagen ‘dümmerʼ zu stellen, als er ist, bzw. sich klug zurückzuhalten, indem er erwartbare Beurteilungen und Reaktionen eines italienischen Nachkriegskommunisten und Autors vermeidet und sie dem Leser anheimstellt. DOI 10.24053/ Ital-2023-0024 66 Hermann H. Wetzel 16 Kertész 1990. Die Problematik bzw. die Chance einer Spaltung von Stimme und Blick verlagert sich in einer Ich-Erzählung auf die Spaltung in ein erzählendes Ich (der erwachsene Autor) und ein erzähltes Ich (der Autor als Kind), wie das etwa bei Imre Kertész 16 der Fall ist, der in Mensch ohne Schicksal aus der Distanz des inzwischen erwachsenen Holocaust-Überlebenden versucht, sich in die Situation seines fünfzehnjährigen Ich zurückzuversetzen, als er aus Ungarn nach Auschwitz deportiert wird. Er äußert sich über das Tragen des Judensterns mit dem Blick und der Stimme des Jungen, der allerdings schon zu spüren scheint, dass seine Sichtweise und Reaktion aus der Sicht der Erwachsenen „irgendwie“ unpassend ist. Wenn ich allein ging, fand ich es irgendwie sogar lustig, aber so war das ziemlich lästig. Ich könnte nicht sagen, wieso. (S.-10 f.) Dem Fünfzehnjährigen fehlen offensichtlich die Beurteilungskriterien zu einer realistischen Einschätzung der Situation. An der Selektionsrampe in Auschwitz vor dem berüchtigten Dr. Mengele sind die Reaktionen und Bewertungen des Fünfzehnjährigen völlig unangebracht, wenn man sie in Kenntnis der über Leben und Tod entscheidenden Bedeutung des Moments liest: Eine größere, ziemlich gemischte Gruppe hatte sich rechter Hand gebildet, und eine andere, kleinere und irgendwie gefälligere, wo ich auch schon einige Jungs von uns entdeckte, auf der linken Seite. Letztere schien gleich auf den ersten Blick - in meinen Augen jedenfalls - für mich geeignet zu sein. […] Ich empfand auch gleich so etwas wie Vertrauen zu dem Arzt, denn er war eine recht gute Erscheinung und hatte ein sympathisches langes glattrasiertes Gesicht, mit eher schmalen Lippen, mit blauen oder grauen, auf alle Fälle hellen, gutmütig dreinblickenden Augen. […] Die Jungs erwarteten mich schon triumphierend, vor Freude lachend. (S.-74 f.) Die Spaltung von jugendlichem Blick („schien gleich auf den ersten Blick“, „in meinen Augen jedenfalls“) und erwachsener Stimme gestaltet Kertész ab‐ sichtlich komplex. Die differenzierten Einschränkungen („irgendwie“, „schien“, „jedenfalls“, „so etwas wie“, „auf alle Fälle“) stammen wohl eher aus der Sicht des Erwachsenen, selbst wenn sie sich als Unsicherheiten des Jungen tarnen. Kertész macht sich jedenfalls nicht wie der ironische Voltaire hinter dem Rücken des Jungen zusammen mit dem Leser lustig, sondern er erzeugt eine fast unerträgliche Spannung zwischen der Unbedarftheit des Fünfzehnjährigen („ir‐ gendwie gefälligere“, „schien […] für mich geeignet zu sein“, „Vertrauen“, „recht gute Erscheinung“, „sympathisches […] Gesicht“, „gutmütig dreinblickenden DOI 10.24053/ Ital-2023-0024 Wo bauen Spinnen ihre Nester? 67 17 Hösle 2000. Augen“) und dem Wissen des Lesers (und des Autors), der über den tödlichen Ernst der heiteren („vor Freude lachend“) Szene Bescheid weiß. Um nicht auf diesem eher tragischen Ton zu enden, folgt abschließend noch ein weiteres Beispiel kindlich-jugendlicher Stimme und eines ebensolchen Blicks aus den Erinnerungen J. Hösles, 17 der wie ein altersmilder Voltaire über seine eigene kindliche Perspektive (diesmal Sicht und Stimme) berichtet, die eindeutig auf die kirchliche Indoktrination (bzw. das, was davon im kindlichen Hirn hängengeblieben ist) der naiven Seele zurückzuführen ist: Am schlimmsten war es für die katholischen Missionare, wenn sie in Afrika irgendwo hinkamen, wo schon evangelische gewesen waren. Die erzählten zwar ab und zu etwas von Jesus, aber ganz bestimmt nichts von der heiligen Maria. Und das Ärgste war, dass die Heidenkinder gar nicht wissen konnten, dass von dem, was ihnen von den evangelischen Missionaren erzählt worden war, nichts richtig stimmte. Und dann kam vielleicht noch einer, der erzählte alles wieder anders, weil er von einer anderen Sekte war. Da war es höchste Zeit, dass ein katholischer Pater kam und erklärte, wie es wirklich gewesen war. (S.-30) Die erzähltechnische Spaltung von (erwachsener) Stimme und (jugendlichem) Blick kann also zu unterschiedlichen Effekten eingesetzt werden: Sie kann Ausdruck gutmütig tadelnder (Hösle) bis sarkastischer (Voltaire) Ironie sein, aber auch Ausdruck verständnisvoller Sympathie (Calvino, Kertész). Der Autor Calvino fühlte sich jedenfalls zur Zeit der Abfassung des Romans seinem jungen ‘Helden’ Pin näher als der Erwachsenenwelt, der er inzwischen selbst angehörte. Bibliographie Primärliteratur Calvino, Italo: Il sentiero dei nidi di ragno [1947]. Con una prefazione dell’autore [1964]. Torino: Einaudi 1972 (Nuovi Coralli, 16). Calvino, Italo: Wo Spinnen ihre Nester bauen. Roman. Deutsch von Thomas Kolberger. München: dtv 1994. Hösle, Johannes: Vor aller Zeit. Geschichte einer Kindheit. München: C.H. Beck 2000. Kertész, Imre: Mensch ohne Schicksal. Deutsch von Jörg Buschmann. Berlin: Rütten und Loening 1990. Pasolini, Pier Paolo: „Delle lucciole“. Corriere della sera vom 1.2.1975. DOI 10.24053/ Ital-2023-0024 68 Hermann H. Wetzel Voltaire: Candide ou l’optimisme. In: ders.: Romans et contes. Texte établi et annoté par René Groos. Paris: Gallimard 1964 (Bibliothèque de la Pléiade, 3), S.-149-237. Forschungsliteratur Bosetti; Gilbert: L’enfant-dieu et le poète. Culte et poétiques de l’enfance dans le roman italien du XXe-siècle. Grenoble: ELLUG 1997. Dupriez, Bernard: Gradus. Les procédés littéraires. Dictionnaire, Paris: Union Générale d’Éditions 1980. Gérard Genette: Die Erzählung. München: Fink 2 1998. Todorov, Tzvetan: Introduction à la littérature fantastique. Paris: Seuil 1970. DOI 10.24053/ Ital-2023-0024 Wo bauen Spinnen ihre Nester? 69 Das italiano gastronomico im Lichte von Sprachkritik und Sprachpolitik: L’italiano e il buon gusto Antje Lobin Den gastronomischen Wortschatz des Italienischen prägen seit dem späten Mittelalter gleichermaßen fachsprachliche Elemente und Entlehnungen. Letztere stellen auch heute noch einen relevanten Bestandteil der Sprache in den Bereichen Küche und Gastronomie dar, wie mühelos den italie‐ nischen Standardwörterbüchern entnommen werden kann. In der Ge‐ schichte der italienischen Sprache sind sie immer wieder Gegenstand sprachreflexiver Hervorbringungen und sprachpolitischer Regulierungs‐ versuche gewesen. Im Zentrum des Beitrags stehen in diesem Kontext die sprachkritischen Positionen und sprachpolitischen Maßnahmen im Hinblick auf das italiano gastronomico, die im Zusammenhang mit der nationalen Einigung sowie mit dem Faschismus hervorgebracht wurden. Gegenstand der Betrachtung sind hierbei Pellegrino Artusis Scienza in cucina e l’Arte di mangiar bene. Manuale pratico per le famiglie (1891) sowie die Arbeit der Commissione per l’italianità della lingua (1941-1943). Hierbei wird herausgestellt, in welchem Maße die Entwicklungen im Bereich der Entlehnungen und Kreation von Ersatzwörtern in der ersten der beiden genannten Phasen für die zweite prägend war. Auch im 21. Jh. wird die Frage des Umgangs mit Fremdwörtern rege debattiert. Im Bereich der Gastronomie macht das Englische in jüngerer Vergangenheit der jahrhundertelangen Dominanz des Französischen mit seinem Prestige Konkurrenz. Allerdings bestehen wichtige Gebrauchsunterschiede, die von einer fundierten, differenzierten und auf Partizipation gerichteten Sprachkritik zu berücksichtigen sind. Fin dal tardo Medioevo, il lessico gastronomico italiano è stato caratteriz‐ zato da tecnicismi e prestiti. Questi ultimi rappresentano ancora oggi una notevole parte della lingua nei settori della cucina e della gastronomia, DOI 10.24053/ Ital-2023-0025 1 Vgl. auch Martellotti (2012), die Konzepte und Begrifflichkeiten von de Saussure auf den kulinarischen Code überträgt und für Letzteren auch diasystematische Markierungen ausmacht. 2 Beispielsweise trat die Lega Nord im letzten Jahrzehnt gegen eine wahrgenommene Überfremdung mit folgender Wahlwerbung auf: „Sì alla polenta No al couscous. Orgogliosi delle nostre tradizioni“. come si può facilmente notare nei dizionari dell’italiano dell’uso. Nella storia della lingua italiana, sono stati più volte oggetto di riflessioni linguistiche e di tentativi di regolamentazione. In questo contesto, il presente articolo si concentra sulle posizioni critiche e sulle misure di politica linguistica nei confronti dell'italiano gastronomico sorte durante il periodo dell'unificazione nazionale e del fascismo. Oggetto di studio sono la Scienza in cucina e l'Arte di mangiar bene. Manuale pratico per le famiglie (1891) di Pellegrino Artusi e il lavoro svolto dalla Commissione per l'italianità della lingua (1941-1943). In questa sede viene messa in evidenza la misura in cui gli sviluppi nell'ambito dei prestiti e della creazione di parole sostitutive nella prima delle due fasi citate sono stati incisivi per la seconda. La questione del trattamento dei prestiti resta nel XXI secolo oggetto di un acceso dibattito. Nel campo della gastronomia, l'inglese sta recentemente competendo con il prestigio del francese, che domina da secoli. Tuttavia, esistono importanti differenze d'uso che devono essere prese in considerazione da una critica linguistica fondata, differenziata e orientata alla partecipazione. 1 Einleitung Küche und Kochkunst sind in ähnlicher Weise wie die menschliche Sprache eines der kennzeichnenden Merkmale einer Kultur und eines Volkes. Die Über‐ einstimmungen, die intuitiv zwischen dem sprachlichen und dem kulinarischen Code ausgemacht werden können, haben dazu geführt, dass Letzterer als eigenes semiotisches System wie eine Sprache betrachtet wird, die sowohl ein Volk als auch ein Individuum, sowohl nach außen als auch nach innen, unterscheidet (Sergio 2017: 195). 1 Und beide Codes sind gleichermaßen empfänglich für Kritik, Instrumentalisierungen ebenso wie für ideologische Aufladungen. 2 Sprachkritik im Sinne beschreibender und bewertender Reflexionen lässt sich seit dem ausgehenden Mittelalter ausmachen, und die allmähliche Überda‐ chung der einzelnen italienischen Mundarten durch das Florentinische wurde fortlaufend von wertenden positiven und negativen Stellungnahmen begleitet. Historisch betrachtet, hat zunächst eine literarisch-ästhetische Argumentati‐ DOI 10.24053/ Ital-2023-0025 72 Antje Lobin onslinie dominiert, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch politische Bewer‐ tungsmaßstäbe abgelöst wurde (Krefeld 1988: 312). Insbesondere in der Folge der politischen Einigung 1861 wurde die unitarietà, die Einheitlichkeit, zum Schlüsselbegriff einer ideologisch motivierten exklusiven Sprachbewertung. Eine besondere Virulenz erfuhr die im 19. Jahrhundert aufgekommene ideolo‐ gisch-theoretische Rechtfertigung der italienischen Einheitssprache schließlich im Faschismus. Die Sorge um die italienische Nationalsprache zieht sich bis in die Gegenwart und ordnet sich aktuell in eine europäische Entwicklung ein, bei der die Frage der Identitätsfunktion zahlreicher europäischer Hochsprachen ins Zentrum rückt (Reutner/ Schwarze 2011: 199). Der vorliegende Beitrag richtet seinen besonderen Fokus auf die sprachkri‐ tischen und sprachpolitischen Positionen und Maßnahmen im Hinblick auf das italiano gastronomico, die im Zusammenhang mit der nationalen Einigung sowie mit dem Faschismus hervorgebracht wurden. Zentral ist hierbei Pellegrino Artusis Scienza in cucina e l’Arte di mangiar bene. Manuale pratico per le famiglie (1891) sowie die Arbeit der Commissione per l’italianità della lingua (1941-1943). In diesem Kontext wird auch aufgezeigt, wie prägend die Entwicklungen im Bereich der Entlehnungen und Kreation von Ersatzwörtern in der ersten der beiden genannten Phasen für die zweite war. Darüber hinaus soll ein Einblick in gegenwärtige Tendenzen gegeben werden. 2 Das italiano gastronomico - ein Blick in die Geschichte Die Sprache der Küche wurde lange Zeit nur mündlich tradiert, was es er‐ schwert, ihr Profil vollständig nachzuzeichnen (Sergio 2017: 193). In Westeuropa beginnt die schriftliche Überlieferung im 13./ 14. Jahrhundert, wobei die Texte über lange Zeit anonym blieben. Mutmaßlich die älteste überlieferte in italieni‐ scher Volkssprache verfasste Rezeptsammlung stammt aus den 20er Jahren des 14. Jahrhunderts und wird in der Biblioteca Riccardiana in Florenz aufbewahrt (Frosini 2009a: 80). Bereits im 13./ 14. Jahrhundert prägen den gastronomischen Wortschatz Phänomene, die kennzeichnend sind für den Ausbau einer Fach‐ sprache wie Spezialisierung gemeinsprachlicher bzw. Domänenwechsel bereits fachsprachlicher Elemente sowie Entlehnungen (Frosini 2009a: 81). Anschau‐ lich belegt ist die Annahme eines eigenen Wortschatzes des gastronomischen Bereichs auch in Boccaccios Decamerone in der dritten Novelle des achten Tages (z. B. formaggio parmigiano, maccheroni, raviuoli, brodo di capponi; Sergio 2017: 197). Grundsätzlich ist das gastronomische Italienisch von Beginn an von einem besonderen Zusammenspiel von regionalsprachlichen Elementen und Entlehnungen geprägt: DOI 10.24053/ Ital-2023-0025 Das italiano gastronomico im Lichte von Sprachkritik und Sprachpolitik 73 Nel linguaggio gastronomico italiano […] convivono due componenti solo apparen‐ temente antinomiche, in realtà costitutive ab ovo: l’elemento locale, identitario, è affiancato costantemente da un considerevole apporto esogeno, segno di costante mescolanza e di apertura verso le altre e differenti tradizioni. (Frosini/ Lubello 2023: 46) Eine erste konkrete namentliche Zuordnung kann mit Maestro Martino da Como und seinem Werk De arte coquinaria Mitte des 15. Jahrhunderts vorge‐ nommen werden (Frosini/ Lubello 2023: 24). Über den prägenden Charakter dieses Textes schreibt Lubello: Anche escludendo le testimonianze più antiche […], è certo che già il primo libro non anonimo, quello di Maestro Martino, della seconda metà del XV sec., si configura bene come Fachtext tanto a livello microtestuale (lessico e sintassi) quanto macrotestuale (organizzazione interna, partizione e ordine del testo ecc.). (2001: 232) In der Zeit von Renaissance und Humanismus bildet sich dann, verbunden mit der höfischen Kultur, eine regelrechte Kochkunst heraus. Besondere Erwäh‐ nung verdient das „erste große Fürstenkochbuch“ (Peter 2006: 86) Banchetti, compositione di vivande et apparecchio generale von Cristoforo Messi Sbugo, das 1549 in Ferrara gedruckt wird. Messi Sbugo überliefert darin zunächst die für ein Festmahl notwendigen Utensilien und Lebensmittel. Dem schließt sich die Auflistung der von ihm zwischen 1524 und 1548 ausgerichteten Bankette sowie eine Zusammenstellung von 323 Rezepten an (Peter 2006: 86). Diese strukturelle Dreiteilung wird für die zukünftigen Kochbücher modellbildend sein (Sergio 2017: 197). Die sprachliche Form der Banchetti ist die einer Koiné, die die dialektale Prägung der Po-Ebene mit lateinischen und toskanischen Bestandteilen sowie einigen - vorwiegend französischen, aber auch deutschen und spanischen - Entlehnungen verbindet (Sergio 2017: 198). Um dem wach‐ senden Bezeichnungsbedarf zu begegnen, machen Messi Sbugo sowie die Verfasser weiterer Abhandlungen im 16. Jahrhundert intensiven Gebrauch von Suffigierungen: Zahlreich dokumentiert sind Ableitungen auf -ata, so agliata ‘salsa a base di aglio’, farrata ‘torta di farro’, ginestrata ‘minestra a base di zafferano’ und perata ‘conserva di pere’ (Catricalà 1982: 158). Entlehnungen aus dem Französischen sind etwa anchioe (fr. anchois) ‘Sardelle’, cosciotto (fr. gigot) ‘Keule’ und macarello (fr. maquereau) ‘Makrele’ (Catricalà 1982: 159). Die sog. rivoluzione alimentare, die sich im 18. Jahrhundert in Westeuropa und v.a. in Frankreich zusammen mit einer Abkehr vom Ancien Régime voll‐ zieht, führt zu einem tiefgreifenden Wandel im Bereich gastronomischer Ab‐ handlungen und ihrer Sprache (Frosini 2009a: 83). Kennzeichnend für diesen Umbruch ist in Italien Il cuoco piemontese perfezionato a Parigi, der 1766 in Turin DOI 10.24053/ Ital-2023-0025 74 Antje Lobin veröffentlicht wird und ein frühes Beispiel für die Französisierung der Sprache der Küche darstellt (Peter 2006: 123). Belege hierfür sind hors d’œuvre, escalope, court-bouillon, bechamel, meringues usw. (Frosini 2009a: 83). In ganz besonderer Weise dazu geeignet, die französische Durchdringung der gastronomischen Sprache zu erfassen, ist die bedeutendste Abhandlung aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert, der Apicio moderno (1790) von Francesco Leonardi. Colia (2012: 52-53) charakterisiert den Apicio moderno und seinen Autor folgendermaßen: […] si tratta di un testo pienamente settecentesco, come dimostra la sua tendenza all’enciclopedismo e l’ammirazione nei confronti della cucina d’Oltralpe, ma unica‐ mente ampio, che superò quelli coevi italiani e francesi soprattutto per la quantità e varietà di piatti proposti; […] vi si ritrovano […] prime attestazioni di denominazioni […] e considerevoli riferimenti geografici e linguistici che disvelano in Leonardi una personalità attenta e curiosa, amante dei viaggi e delle letture, con in più una coscienza linguistica all’epoca senza pari tra i suoi colleghi. Zu den phonetischen Anpassungen französischer Ausdrücke an das Italienische, die in beeindruckender Dichte im Werk vorkommen, zählen: antrè, antremè, besciamella, consomè, escaloppe alla Riscelieù, fondù, orduvre, salsa ascè und torta alla Sciantigli. Der Autor scheint sich möglicher Verständnisschwierigkeiten in hohem Maße bewusst zu sein, „tanto che […] sente la necessità di includere nel Tomo Sesto una Spiegazione Generale De’ Termini Francesi, e una lista Di alcuni Termini Francesi, ed Italiani usitati nella Cucina in testa al Tomo Primo“ (Frosini 2009a: 84), u.a.: Consomè, vuol dire Brodo consumato. […] Suage, è questo un Brodo per Zuppe. […] Fricassé, specie di vivanda di Polleria brodettata. (Leonardi 1790: VI, 304-305) 3 Das gastronomische Italienisch im 19. und 20.-Jahrhundert: Sprachkritik und Sprachpolitik 3.1 Sprachreflexion und Sprachkritik bei Pellegrino Artusi Ende des 19. Jahrhunderts kommt es zu einem klaren Bruch gegenüber der Sprache bisheriger Rezeptsammlungen, die geprägt war von einem deutlichen infranciosamento (Frosini 2009a: 86). Im Jahr 1891 wird mit dem Erscheinen der Scienza in cucina e l’Arte di mangiar bene. Manuale pratico per le famiglie DOI 10.24053/ Ital-2023-0025 Das italiano gastronomico im Lichte von Sprachkritik und Sprachpolitik 75 3 In seinem Itabolario, einer Aufstellung von seit der nationalen Einigung für die italienische Sprachgeschichte relevanten Ausdrücken und Konzepten, ordnet Arcangeli dem Jahr 1891 denn auch den Begriff Cucina zu (2011: 76-78). 4 Eine 15. und letzte Auflage erschien 1911. 5 Maren Preiss spricht in einem Artikel für DIE ZEIT von Artusi als einem „kulinari‐ sche[n] Cavour“. (Maren Preiss: „Schlemmen für das Vaterland“, DIE ZEIT, 4.12.2003 [16.06.24].) von Pellegrino Artusi ein regelrechter Paradigmenwechsel ausgelöst, den Fro‐ sini (2009b: 321) sogar als kopernikanische Revolution bezeichnet. 3 Die erste Ausgabe der Scienza enthielt 475 Rezepte, die 14. und letzte zu Lebzeiten von Artusi erschienene Auflage von 1910 versammelte 790 Rezepte (Frosini 2009a: 86). 4 Artusi gilt als Begründer eines linguaggio culinario italiano moderno (Frosini 2009a: 87). Sein Anliegen einer einheitlichen gesprochenen Sprache legt er folgendermaßen dar: Dopo l’unità della patria mi sembrava logica conseguenza il pensare all’unità della lingua parlata, che pochi curano e molti osteggiano, forse per un falso amor proprio e forse anche per la lunga e inveterata consuetudine ai propri dialetti. (1891: Nr. 288, Cacciucco) In diesem Sinne kann die Scienza in cucina in einer Reihe mit anderen großen Werken genannt werden, die zur Herausbildung eines nationalen Italienisch nicht nur in der Schriftlichkeit, sondern auch in der Mündlichkeit beigetragen haben, z.B. Carlo Collodis Pinocchio (1881-1883) und Edmondo De Amicis’ Cuore (1886). Artusi propagierte das zeitgenössische Florentinisch als sprachliches Modell und trat mit dieser Anerkennung der kulturellen Vorrangstellung von Florenz gewissermaßen in die Fußstapfen von Alessandro Manzoni (Frosini 2009a: 87) bzw. leistete nach Camporesi (1995: XVI) einen noch größeren Beitrag zur Einigung Italiens: […] bisogna riconoscere che La Scienza in cucina ha fatto per l’unificazione nazionale più di quanto non siano riusciti a fare i Promessi Sposi. I gustemi artusiani, infatti, sono riusciti a creare un codice di identificazione nazionale là dove fallirono gli stilemi e i fonemi manzoniani. Artusi wird auch als Manzoni der lingua gastronomica italiana betrachtet. Der Vergleich wird von Camporesi (1995: XVI) angeführt und von Serianni (2009: 107) nochmals aufgegriffen. 5 Ähnlich wie es Manzoni mit den Promessi Sposi getan hat, überarbeitet auch Artusi sein Werk von Ausgabe zu Ausgabe im Sinne sprachlicher Gewandtheit und einer Loslösung von florentinischer Idiomatik DOI 10.24053/ Ital-2023-0025 76 Antje Lobin (Sergio 2017: 203). So ist auch von der ersten Ausgabe der Scienza an eine „Spiegazione di voci che essendo del volgare toscano non tutti intenderebbero“ (1891: IX) der Rezeptsammlung vorangestellt. Artusis Werk, das an vielen Stellen eine sprachkritische Prägung aufweist, zeugt in hohem Maße von seinem Sprachbewusstsein und seiner Sprachrefle‐ xion. So hatte Artusi beispielsweise eine klare Vorstellung von der großen Vielfalt an Geosynonymen in Italien (Sergio 2017: 203). Diese sind geradezu das Schlüsselelement der wunderbaren Erzählung der kulinarischen Geschichte Italiens: „la via maestra del meraviglioso racconto della storia culinaria del Bel Paese passa proprio per le tante denominazioni concorrenti - locali o nazionali“ (Arcangeli 2015: 9). Dass Geosynonyme und Polysemie jedoch auch zu Verständnisschwierigkeiten führen können, macht Artusi im Rezept zu Cacciucco deutlich: Cacciucco! Lasciatemi far due chiacchiere su questa parola la quale forse non è intesa che in Toscana e sulle spiagge del Mediterraneo, per la ragione che ne’ paesi che costeggiano l’Adriatico è sostituita dalla voce brodetto. A Firenze, invece, il brodetto è una minestra che s’usa per Pasqua d’uova, cioè una zuppa di pane in brodo, legata con uova frullate ed agro di limone. La confusione di questi e simili termini fra provincia e provincia, in Italia, è tale che poco manca a formare una seconda Babele. (1891: Nr.-288) In seiner Scienza in cucina geht Artusi aber vielfach auch über rein sprachre‐ flexive Beobachtungen hinaus. Vielmehr werden hier explizit sprachpolitische Positionen vertreten. Im Folgenden soll anhand einiger Beispiele illustriert werden, wie sich Artusi gegen den übermäßigen Einsatz von Lehnwörtern und insbesondere gegen den französischen Einfluss ausspricht. Im Rezept zu Krapfen heißt es beispielsweise: Proviamoci di descrivere il piatto che porta questo nome di tedescheria ed andiamo pure in cerca del buono e del bello in qualunque luogo si trovino; ma per decoro di noi stessi e della patria nostra non imitiamo mai ciecamente le altre nazioni per solo spirito di stranieromania. (1891: Nr.-115) Eine besondere Abneigung zeigt Artusi gegenüber der ampollosità, der Schwüls‐ tigkeit und snobistischen Konnotation, die er mit französischen Bezeichnungen verbindet (Sergio 2017: 204-205). Zu Salsa alla maître d’hôtel (1891: Nr. 78) schreibt er: „Sentite che nome ampolloso per una briccica da nulla! “ Und dem Rezept zu den Bocconi di pane ripieno (1891: Nr. 139) ist zu entnehmen: „Se scrivessi in francese, seguendo lo stile ampolloso di quella lingua, potrei chiamare questi bocconi: bouchées de dames; e allora forse avrebbero maggior DOI 10.24053/ Ital-2023-0025 Das italiano gastronomico im Lichte von Sprachkritik und Sprachpolitik 77 pregio che col loro modesto nome.“ Für die französische Bezeichnung einer Kartoffelzubereitung (1891: Nr. 278, Patate alla sauté) wird mit Verweis auf gutes Italienisch ebenfalls eine Alternative vorgeschlagen: „Che vuol dire, in buon italiano, patate rosolate nel burro.“ In Bezug auf purée führt Artusi - ergänzend zu seinen sprachpuristischen Ansichten - das Argument der Verständlichkeit ins Feld, die im Falle des Gebrauchs fremd- und fachsprachlicher Bezeichnungen leidet: Oramai in Italia se non si parla barbaro, trattandosi specialmente di mode e di cucina, nessun v’intende; quindi per esser capito bisognerà ch’io chiami questo piatto di contorno non passato di…; ma purée di… o più barbaramente ancora patate mâchées. (1891: Nr.-280, Passato di patate) Ein weiterer Beleg für die Ablehnung französischer Bezeichnungen, die sich hier mit einem expliziten Bekenntnis zur Nationalsprache verbindet, findet sich im Rezept zur Zuppa sul sugo di carne, das in der dritten Ausgabe der Scienza aus dem Jahr 1897 aufgenommen wurde: Certi cuochi, per darsi aria, strapazzano il frasario dei nostri poco benevoli vicini con nomi che rimbombano e non dicono nulla, quindi, secondo loro, questa che sto descrivendo, avrei dovuto chiamarla zuppa mitonnée. […] Ma io, per la dignità di noi stessi, sforzandomi a tutto potere di usare la nostra bella ed armoniosa lingua paesana, mi è piaciuto di chiamarla col suo nome semplice e naturale. (1911: Nr.-38) Als Verteidiger der bella ed armoniosa lingua paesana nimmt Artusi Anpas‐ sungen fremdsprachlicher Ausdrücke vor, um sie bestmöglich ins System des Florentinischen einzupassen (Frosini 2009a: 90-91). Beispiele für Anpassungen aus dem Französischen sind: bordò (fr. bordeaux), ciarlotta (fr. charlotte), cotolette (neben der Variante costolette; fr. côtelette), gruiera (fr. gruyère); Beispiele aus dem Englischen lauten: bistecca alla fiorentina (engl. beef steak), ponce (engl. punch), rosbiffe (neben der Variante roast-beef). Darüber hinaus wird Artusi selbst übersetzerisch und sprachschöpferisch tätig: Die sauce Ravigote benennt er um zur salsa verde, beignets werden zu ciambelline, entremets zu tramessi, und das soufflet wird übersetzt als sgonfiotto. Im Falle von ciambelline/ beignet argumen‐ tiert er explizit mit einer größeren Entsprechung zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem (1911, 190): „A me queste ciambelline furono insegnate col nome di beignets; ma la loro forma mi suggerisce quello più proprio di ciambelline, e per tali ve le offro.“ Im Sinne einer für sich in Anspruch genommenen Äquidistanz „sia da arroccamenti puristi che da quella che chiamava ‘stranieromania’“ (Sergio 2017: 204), behält Artusi in einigen Fällen den fremdsprachlichen Begriff auch bei, z.B. Krapfen, Strudel oder vol-au-vent. Ein Aspekt sei abschließend DOI 10.24053/ Ital-2023-0025 78 Antje Lobin 6 Zum reziproken Verhältnis von Ernährung und Onomastik vgl. Caffarelli (2002). 7 Für eine Bestimmung der Textsorte „Kochrezept“ sei verwiesen auf Langer (1995: 269). noch herausgestellt. Der Linie folgend, dass die Dinge Vorrang vor den Wörtern haben (Sergio 2017: 205), betont Artusi wiederholt, dass es ihm nicht um Namen gehe. 6 In diesem Sinne ist im Rezept zu Piccione all’inglese zu lesen: Avverto qui una volta per tutte che nella mia cucina non si fa questione di nomi e che io non do importanza ai titoli ampollosi. Se un inglese dicesse che questo piatto, il quale chiamasi anche collo strano nome di piccion paio, non è cucinato secondo l’usanza della sua nazione, non me ne importa un fischio: mi basta che sia giudicato buono, e tutti pari. (1891: Nr.-173) An anderer Stelle (1891, 198. Spalla d’agnello all’ungherese) schreibt Artusi: „Se non è all’ungherese sarà alla spagnuola o alla fiamminga; il nome poco importa purché incontri, come credo, il gusto di chi la mangia.“ Im Folgenden wird nun gezeigt werden, in welchem Maße die Ersatzformen, die auf Artusi zurückgehen, auch die späteren sprachpolitischen Maßnahmen prägten. Mitentscheidend dafür, dass sich die von Artusi vorgeschlagenen sprachlichen Formen durchgesetzt haben, war die Tatsache, dass die Leserschaft die Scienza in cucina nicht nur passiv rezipierte, sondern über postalische Korrespondenz aktiv an der Ausarbeitung der verschiedenen Ausgaben beteiligt war (Piacentini 2016: 185). Diese spezifische intertextuelle Dimension begüns‐ tigte zum einen die beständige Weiterentwicklung des Werkes, zum anderen etablierte sich eine regelrecht freundschaftliche Beziehung zwischen dem Autor und seiner Leserschaft, der italienischen Gesellschaft des frühen 20. Jahrhun‐ derts (Piacentini 2016: 185). In diesem Sinne ist der Einfluss von Artusi auch als Ergebnis einer aktiven, geradezu demokratischen Zusammenarbeit zu werten (Piacentini 2016: 185): Una conversazione continua e reciproca con i lettori […] sta alla base della Scienza in cucina, che presto diventa un’opera co-autoriale, scritta per le famiglie italiane - come recita il frontespizio - e con le famiglie italiane, oltre che un vero blog d’altri tempi. (Frosini/ Lubello 2023: 95) Exemparisch sei das Rezept zur Crema alla francese angeführt, das gleicher‐ maßen als Erzählung und als Rezept gelesen werden kann: 7 Eravamo nella stagione in cui i cefali delle Valli di Comacchio sono ottimi in gratella, col succo di melagrana, e nella quale i variopinti e canori augelli, come direbbe un poeta, cacciati dai primi freddi attraversano le nostre campagne in cerca di clima più DOI 10.24053/ Ital-2023-0025 Das italiano gastronomico im Lichte von Sprachkritik und Sprachpolitik 79 8 Das Dizionario moderno erlebt in 30 Jahren sieben Auflagen. Die achte Auflage erscheint posthum im Jahr 1942. Bis zur 10. Auflage im Jahr 1963 wurde das Wörterbuch sukzessive um einen Anhang mit Neologismen ergänzt (Frosini 2009a: 93). mite, ed innocenti quai sono, povere bestioline, si lasciano cogliere alle tante insidie e infilar nello spiedo. (1891: Nr.-214) 3.2 Fremdwortbekämpfung in der ersten Hälfte des 20.-Jahrhunderts Aufgenommen im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts, setzt sich der Kampf gegen die Gallizismen im Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg fort. Die sprachpuristischen Tendenzen werden zu dieser Zeit durch den Patriotismus befeuert (Capatti 1998: 796-797). Im Jahr 1908 beschließt der königliche Hof, dass die Lebensmittellisten des Palastes von nun an in der Landessprache und nicht mehr auf Französisch zu erstellen seien (Touring Club Italiano 1923: 691, ref. n. Capatti 1998: 764). In diesem Sinne beauftragt König Vittorio Emanuele III. eine Kommission aus Mitgliedern der Accademia della Crusca und weiteren Sprachwissenschaftlern damit, für bestimmte gastronomische Ausdrücke aus dem Französischen italienische Äquivalente vorzuschlagen (Touring Club Ita‐ liano 1923: 691-692, ref. n. Capatti 1998: 797). Der erste Gallizismus, für den die Crusca eine Alternative erarbeitet, ist menu, das durch lista ersetzt wird. Dieser Vorschlag setzte sich gegenüber anderen wie minuta, distinta, elenco, gastronota durch (Capatti 1998: 797). Dass diese sprachliche Maßnahme allerdings eher symbolischen Charakter hatte, belegt die Zusammenstellung eines Staatsbanketts, das vom Hause Savoia am 1. Januar 1908 gegeben wurde und dessen Bestandteile die französische Folie klar durchscheinen lassen: Ostriche. Consumato di selvaggina all’inglese. Piccole torte alla Principessa. Filetto di manzo alla Périgord. Petti di Pollo alla Lorenese. Poncio allo Sciampagna. (Cougnet 1911: 802, zit. n. Capatti 1998: 797) In eindrucksvoller Weise werden die Veränderungen, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts im italienischen Wortschatz vollziehen, im Wörterbuch Dizio‐ nario moderno - Supplemento Ai Dizionari Italiani von Alfredo Panzini erfasst (Frosini 2009a: 93). Jenseits seiner präskriptiven Orientierung kann dieses Wörterbuch bereits mit der ersten Ausgabe im Jahr 1905 als Indikator dafür erachtet werden, welche Fremdwörter Eingang ins Italienische finden würden. 8 Die Leistung dieses Supplemento Ai Dizionari Italiani für die Lexikographie hebt Della Valle (1993: 74) folgendermaßen hervor: DOI 10.24053/ Ital-2023-0025 80 Antje Lobin […] il dizionario panziniano indica una possibile via d’uscita ai lessicografi, quella del supplemento, dell’aggiornamento dei dizionari ufficiali, attraverso una documen‐ tazione neologica raccolta senza intenti prescrittivi, ma solo come testimonianza del cambiamento linguistico. Im Vorwort des Wörterbuchs bringt Panzini (1905: XVI) selbst die mögliche Notwendigkeit von Entlehnungen im Zusammenhang mit einer übergreifenden Entwicklung klar zum Ausdruck: E infine questa invasione, questo permeare, questa endosmosi, per così dire, di voci straniere, chi può assicurare che non rappresenti una necessità, un fenomeno di evoluzione complessa di questa «itala gente da le molte vite» di cui ciò che appare nel linguaggio è fatto parziale? In diesem Sinne nimmt Panzini eine beträchtliche Anzahl von Fremdwörtern aus dem kulinarischen Bereich in das Wörterbuch auf, z. B. brioche, dessert, marrons glacés, bitter, würstel etc. Er verweist aber ebenso in hohem Maße lobend auf Artusi und dessen lexikalische Überlegungen. Unter dem Eintrag s.v. entremets ist etwa zu lesen: Il signor P. Artusi, romagnolo e toscano, il quale per suo diletto publicò un pregevolis‐ simo ed accurato manuale di scienza culinaria tanto poco noto quanto meritevolissimo di essere noto (Firenze, S. Landi, 1891) traduce la voce francese con tramesso, cioè posto in mezzo alle vivande del pranzo. (Panzini 1905: s.v. entremets) Il signor P. Artusi nel citato manuale di Culinaria, scritto con grazia nostrana e purezza di lingua da far arrossire molti testi scolastici, (voglio dire i loro autori) propone in tale senso le voci crosta e crostare. (Panzini 1905: s.v. glassare) In den Jahren der faschistischen Regierung von Benito Mussolini (1922-1945) erhält die Nationalsprache eine entscheidende politische Funktion, denn die sprachliche unità bildet ein Hauptanliegen faschistischer Sprach-, Bildungs- und Medienpolitik (Reutner/ Schwarze 2011: 178). Am 27. Juni 1923 richtet Mussolini eine Nachricht an das Innenministerium, in der er ein Verbot fremdsprachiger Beschilderung ohne italienisches Äquivalent fordert. Dieses Dokument kann als erste Äußerung Mussolinis zu einer nationalistisch geprägten Sprachpolitik betrachtet werden (Raffaelli 1983: 128): Ma io credo che […] si debba più direttamente ed energicamente agire per combattere la predetta abitudine [la deplorevole e deplorata abitudine di molti commercianti italiani che usano parole e locuzioni straniere nelle insegne e mostre delle proprie botteghe], indizio di deficiente spirito e sentimento italiano. Nei regolamenti di polizia locale di alcune Città è vietato usare nelle insegne delle botteghe locuzioni DOI 10.24053/ Ital-2023-0025 Das italiano gastronomico im Lichte von Sprachkritik und Sprachpolitik 81 9 Die Reale Accademia d’Italia war per Gesetzesdekret am 7. Januar 1926 von der Regierung Mussolini gegründet und am 28. Oktober 1929 mit einer Rede Mussolinis in der Villa Farnesina eröffnet worden. 10 Das archivierte Material der Akademie wurde inzwischen systematisiert und inventa‐ risiert, vgl. Cagiano De Azevedo/ Gerardi (2005). 11 Nur am Rande sei angemerkt, dass der italienische Schriftsteller, faschistische Politiker und Begründer des Futurismus Filippo Tommaso Marinetti diese sprachpuristischen Ansichten teilte. In seinem Piccolo dizionario della cucina futurista schlägt er u.a. folgende Alternativbezeichnungen vor: peralzarsi für dessert, polibibita für cocktail, pranzoalsole für picnic und traidue für sandwich (Marinetti 1932: 247-252). esclusivamente straniere non accompagnate dalla corrispondente scritta italiana. Questo divieto dovrebbe essere esteso con una norma generale a tutti i Comuni del Regno e con criteri anche più rigorosi […]. (Raffaelli 1983: 128) In der Folge werden Fremdwörter zum Gegenstand zahlreicher Erlasse. Beson‐ ders hervorzuheben ist das Gesetz 2042 vom 23.12.1940, das die Verwendung von Fremdwörtern in Firmenbezeichnungen sowie sämtlichen Formen der Unternehmenskommunikation verbietet. Es handelt sich hierbei um eines der bedeutendsten Zeugnisse nicht nur der Sprach-, sondern auch der allgemeinen Kulturpolitik des faschistischen Regimes (Raffaelli 2009: 349). Im Rahmen der Ausarbeitung des Gesetzes stellte sich heraus, dass es zweck‐ mäßig wäre, den Fremdwörtern, die zu vermeiden sind, sogleich ein italienisches Ersatzwort zur Seite zu stellen. Diese heikle Aufgabe der Erarbeitung von italienischen Äquivalenten wurde der Reale Accademia d’Italia anvertraut, zu deren spezifischen Aufgaben die Verteidigung des italienischen Charakters der Sprache gehörte (Piacentini 2016: 152). 9 Um die genannte sprachliche Aufgabe zu bewältigen, wurde eine Commissione per l’italianità della lingua eingerichtet, die zwischen Februar 1941 und Juni 1943 zusammentrat. Zwischen Mai 1941 und Mai 1943 sind 15 Ersatzlisten im Bollettino di informazioni della Reale Accademia d’Italia veröffentlicht worden (Raffaelli 2009: 349). 10 Unter den ca. 2.000 Fremdwörtern stammen ca. 300, also 15%, aus dem Bereich der Küche (Raffaelli 2009: 356). Vor diesem Hintergrund wurde, dem Autarkiediktat der Zeit folgend (Sergio 2017: 206), in der achten Ausgabe des Dizionario moderno (1942) eine Liste von über 900 Fremdwörtern veröffentlicht, die es zu vermeiden galt. Etwa ein Fünftel davon gehört dem gastronomischen Bereich an, für die entsprechenden Ausdrücke wurden Ersatzlexeme vorgeschlagen, so brioche - brioscia, dessert - fin di pasto, marrons glacés - marroni canditi, bitter - amaro, würstel - salsiccia viennese etc. (Frosini 2009a: 94). 11 DOI 10.24053/ Ital-2023-0025 82 Antje Lobin Die Arbeitsweise der Commissione ließ eine angemessene theoretische Dis‐ kussion vermissen: Le proposte dei linguisti […] non si basano su teorie linguistiche e su metodi descrittivi di analisi e di verifica empirica. […]. Va rilevato per altro che quelle discussioni, pur svolgendosi in anni di grande fermento internazionale nel campo della teoria linguistica […], rimangono completamente estranee ai motivi di quel fermento. (Klein 1986: 119-120) Für die Ersatzbildungen im gastronomischen Bereich hat Raffaelli (2009: 359-361) die folgende Typologie aufgestellt: 1. grafische Anpassungen kaki > cachi, paprika > pàprica, wodka > vodka 2. grafische Anpassungen auf der Basis der italienischen Aussprache beignet > bignè, pique-nique > picnic, yoghourt > iogùrt 3. morphophonetische Anpassungen brioche > brioscia, praline > pralina, timbale > timballo brezel > bressadella/ bracciatello, escaloppe > scaloppina, poularde > pollastro 4. semantische Nachbildungen civet de lièvre > stufato di lepre, petit four > sfornatella, potage > zuppa, nougatine > nocellina 5. Umschreibungen béchamel > salsa bianca, dessert > fin di pasto, entre-côte > bistecca senz’osso, goulasch > spezzatino all’ungherese, scone > muffoletto al burro 6. Ersatzformen/ Wortschöpfungen bonbon > chicca, caramella mou > tenerella, cocktail > arlecchino Eine der schillerndsten Ersetzungen, die zu vielen Diskussionen geführt hat, ist arlecchino für Cocktail. Dieses Ersatzwort wurde von Bruno Migliorini, Mitglied sowie späterer Präsident der Accademia della Crusca, vorgeschlagen, was dem Vorschlag zugleich eine gewisse Autorität verlieh. Die Kommission hat sich für diese Form und gegen Anpassungen wie etwa cocteil und coccotello oder die wörtliche Übersetzung coda di gallo entschieden (Piacentini 2016: 175). In einer Rezension in Lingua Nostra zum Dizionario di esotismi von Antonio Jacono (1939) führt Migliorini (1940: 46) die Anforderungen an dieses Ersatzwort aus: Non mi sembra poi che i surrogati proposti (zozza plebeo e misce antiquario) abbiano la vitalità necessaria per arrivare a sostituire cocktail: occorre un nome fantasioso che costituisca in qualche modo l’equivalente di ciò che di suggestivo e di snobistico ha la forma esotica del nome: forse potrebbe essere più fortunato un arlecchino. DOI 10.24053/ Ital-2023-0025 Das italiano gastronomico im Lichte von Sprachkritik und Sprachpolitik 83 Die Diskussion endete nicht mit diesem Artikel, sondern wurde einige Zeit später in derselben Zeitschrift nochmals aufgegriffen. In „Arlecchino figlio di due padri“ - der Titel spielt auf Goldonis Servitore di due padroni an, denn offensichtlich war der Vorschlag zugleich auch durch das Akademie-Mitglied Riccardo Bacchelli eingereicht worden - erläutert Migliorini (1942: 45) nochmals sein Benennungsmotiv: Avevo pensato, nel proporre questo nome, all’aspetto multicolore della miscela (che e l’immagine su cui si fonda il nome di cocktail ‘coda di gallo’); e m’ero fondato sugli usi metaforici che già arlecchino aveva avuto in Italia (gelato di più colori, una specie d’amaranto tricolore) e in Francia […]. 3.3 Zur Nachhaltigkeit der Ersatzformen der Commissione per l’italianità della lingua In einer Studie zur Nachhaltigkeit der Arbeit der Commissione per l’italianità della lingua ist Piacentini (2016) zunächst der Frage nachgegangen, welcher Anteil des vorgeschlagenen Ersatzmaterials bereits in Artusis Scienza in cucina und Panzinis Dizionario moderno vorhanden war. Hierbei wird zum einen deut‐ lich, dass das Dizionario moderno grundlegendes Instrument für die Arbeit der Kommission war. Besonders ausgeprägt ist dessen Einfluss in den Kategorien der grafischen Anpassung (1), der grafischen Anpassung auf der Basis der italienischen Aussprache (2) sowie der morphophonetischen Anpassung (3) (Piacentini 2016: 179). Zum anderen offenbart sich, in welchem Maße sich die Kommission an denjenigen semantischen Nachbildungen (4), grafischen Anpassungen an die italienische Aussprache (2) sowie morphophonetischen Anpassungen (3) orientierte, die bereits Artusi vorgeschlagen hatte (Piacentini 2016: 180). Semantische Nachbildungen sind z.B. lingue di gatto (fr. langues de chat) und uova affogate (fr. œufs pochés), Anpassungen an die italienische Aussprache sind babà (fr. baba) und elisir (fr. élixir), und morphophonetische Anpassungen finden wir in bistecca (engl. beef steak) und ponce (engl. punch). Tatsächlich scheint also La Scienza in cucina den Maßstab für die Italianisierung von Fremdwörtern gesetzt zu haben. Beschränkt auf den gastronomischen Bereich kann festgestellt werden, dass sich die Mitglieder der Kommission in hohem Maße auf das Dizionario moderno von Panzini stützten, das sich seinerseits eindeutig an Artusi orientierte (Piacentini 2016: 180). Die Tatsache, dass Panzini ab der Ausgabe von 1931 das Lemma Artusi ins Wörterbuch aufnahm, bezeugt zudem die Bewunderung des dem guten Essen zugetanen Schriftstellers und Lexikographen Panzini für Artusi (Piacentini 2016: 177). DOI 10.24053/ Ital-2023-0025 84 Antje Lobin Per antonomasia libro di cucina. Che gloria! Il libro che diventa nome! A quanti letterati toccò tale sorte? Era l’Artusi di Forlimpopoli (1821-91), banchiere, cuoco, bizzarro, caro signore, e molto benefico, come dimostrò nel suo testamento; e il suo trattato è scritto in buon italiano. E non era letterato, ne professore. Eine weitere Frage, der Piacentini (2016: 181-184) nachgegangen ist, ist dieje‐ nige nach dem Erfolg oder Misserfolg der Ersatzformen der Kommission. Auf der Basis des Archivs der Tageszeitung La Repubblica, das Daten aus dem Zeitraum 01.01.1994-31.01.2014 umfasst, wurden die in Tab. 1 zusammengestellten Werte ermittelt. Typus des Ersatzworts der Kommission Fremdwort häufiger als Ersatzwort Ersatzwort häufiger als Fremdwort kein gemein‐ sames Auf‐ treten von Fremd- und Ersatzwort 1. grafische Anpassung 54,55% 36,36% 9,09% 2. grafische Anpassung auf Basis der ital. Aussprache 0% 71,43% 28,57% 3. morphophonetische An‐ passung 35% 52,50% 15% 4. semantische Nachbildung 23,34% 59,17% 17,50% 5. Umschreibung 45% 32,5% 22,5% 6. Ersatzform/ Wortschöp‐ fung 66,67% 0% 33,34% Tab. 1: Erfolg und Misserfolg der Ersetzungen der Commissione per l’italianità della lingua (Piacentini 2016: 182) Aufschlussreich ist insbesondere die Kategorie der grafischen Anpassungen auf der Basis der italienischen Aussprache (2). Hier ist kein einziger Fall belegt, in dem das Fremdwort häufiger vorkäme als das Ersatzwort. Entspre‐ chend scheinen die Sprachnutzerinnen und -nutzer gegenüber dieser Form der Substitution besonders empfänglich zu sein. Bei den morphophonetischen Anpassungen (3) ist das Ersatzwort in ca. 50% der Fälle häufiger belegt als das Fremdwort. Die semantischen Nachbildungen (4) setzen sich wiederum in der Alltagssprache v.a. aus zwei Gründen durch: Zum einen handelt es sich bei einem recht hohen Prozentsatz der Fremdwörter um sog. Luxuslehnwörter. Hier gab es im Italienischen vielfach eine ältere Bezeichnung für denselben Referenten. Zum anderen spielt die weltweite Bekanntheit und Behauptung der DOI 10.24053/ Ital-2023-0025 Das italiano gastronomico im Lichte von Sprachkritik und Sprachpolitik 85 italienischen Küche in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle. Die Vitalität des italienischen Gastronomiesektors hat letztlich dazu geführt, dass sich auch die Sprache der Küche ihres eigenen Potenzials bewusst wurde und so eine Abkehr vom Französischen erfolgen konnte (Piacentini 2016: 183). Bei den Umschreibungen (5) überwiegen eindeutig die Fremdwörter. Begründen lässt sich dies mit dem Prinzip der sprachlichen Ökonomie, denn die zum Teil weitschweifigen Umschreibungen laufen diesem Prinzip zuwider (Piacentini 2016: 184). Es stellt sich abschließend die Frage nach der Nachhaltigkeit, die die Maßnahmen der Sprachkommission hatten, und nach den Faktoren, die die Aufnahme der Ersatzwörter in die Alltagssprache begünstigt haben. Ebenfalls auf der Basis des Archivs der Tageszeitung La Repubblica hat Piacentini (2016: 185) einen prozentualen Abgleich vorgenommen und diejenigen Formen iden‐ tifiziert, die aus den Werken von Artusi und Panzini stammen und heute noch vital sind. Er kommt zu dem Schluss, dass das Vorkommen einer Ersatzform in den „Leit“-Texten Scienza in cucina und Dizionario moderno und eine damit einhergehende sprachhistorische Verankerung als stabilisierende Faktoren für die Etablierung der italienischen Variante ausgemacht werden können. Dies gilt insbesondere für grafische (1, 2) und morphophonetische Anpassungen (3) sowie für semantische Nachbildungen (4). So sind sämtliche Ersatzwörter aus dem Dizionario moderno, die durch grafische Anpassung gebildet wurden, und 80% derjenigen, in denen eine grafische Anpassung an die italienische Aussprache erfolgt ist, im Repubblica-Korpus belegt. Für die semantischen Nachbildungen (4) sind es für Artusi und Panzini je etwa ein Drittel. Eine frühe Studie (Cicioni 1984: 93; zit. n. Piacentini 2016: 186) hatte folgende Konstellationen erbracht, in denen ein von der Commissione per l’italianità della lingua gebildetes Ersatzwort - ganz unabhängig vom Sachbereich - gute Chancen hatte, sich in der Alltagssprache zu etablieren: a. Die grafischen und morphophonetischen Anpassungen kommen in Be‐ zeichnungen für weit verbreitete Referenten vor (z.B. ragù). b. Der fremdsprachliche Ausdruck ist zunächst wenig geläufig, da das Be‐ zeichnete wiederum in der italienischen Bevölkerung nicht sehr präsent ist; der Referent hat sich später in allen sozialen Schichten verbreitet, allerdings mit der italienischen Bezeichnung (z.B. cornetto anstelle von kipfel). c. Das Ersatzwort ermöglicht die Bezeichnung mehrerer Referenten, insbe‐ sondere im alltäglichen Wortschatz (z.B. addetto ‘Angestellter, Referent, Zuständiger, Attaché’). DOI 10.24053/ Ital-2023-0025 86 Antje Lobin d. Der italienische Neologismus folgt etablierten Wortbildungsmustern (z.B. Substantive auf -ista und auf -tore/ -trice wie investigatore anstelle von detective; polirematiche wie carro armato für tank). Auf der Basis seiner Untersuchungen modifiziert und erweitert Piacentini (2016: 186) nun diese Liste für den gastronomischen Bereich und benennt folgende Faktoren, die den Eingang eines Ersatzwortes in die Alltagssprache begünstigt haben: a. Das Fremdwort ist ein sog. Luxuslehnwort, denn es gibt im Italienischen eine spezifische Bezeichnung für denselben Referenten. b. Im Falle des Ersatzwortes handelt es sich um eine grafische, phonetische oder morphophonetische Anpassung des Fremdworts. c. Das Ersatzwort war in phonetischer Hinsicht nicht schwerfälliger als das entsprechende Fremdwort. d. Der Informationsgehalt des Ersatzworts ist nicht geringer als der des Fremdworts. e. Das Ersatzwort gehört nicht in die Kategorie der kreativen Schöpfungen, d.h. es ist keine von der Kommission ex novo geschaffene Bildung. f. Das Ersatzwort hat eine günstige sprachhistorische Verankerung, da es von Artusi in der Scienza in cucina verwendet und/ oder von Panzini in den Dizionario moderno aufgenommen wurde. 3.4 Gegenwärtige Tendenzen Auch im 21. Jahrhundert wird die Frage des Umgangs mit Fremdwörtern rege debattiert. Im Jahr 2002 kulminierten vielfältige Initiativen zur Sprachpflege und Sprachverteidigung in einem Gesetzentwurf zur Gründung eines Consiglio Superiore della lingua italiana. Das Streben nach Purismus einerseits und die Propagierung eines demokratischen und allseits zugänglichen Sprachmodells andererseits führten jedoch dazu, dass hieraus kein konsensfähiges Konzept entstand (Reutner/ Schwarze 2011: 200-201). Zwanzig Jahre später, am 23. Dezember 2022, wurde durch Fabio Rampelli, Abgeordneter der Fratelli d’Italia, ein Gesetzesvorschlag eingebracht, wonach der Gebrauch von Fremdwörtern mit einer Geldstrafe von fünf bis hunderttausend Euro belegt werden solle. Den acht Artikel umfassenden Disposizioni per la tutela e la promozione della lingua italiana e istituzione del Comitato per la tutela, la promozione e la valorizzazione DOI 10.24053/ Ital-2023-0025 Das italiano gastronomico im Lichte von Sprachkritik und Sprachpolitik 87 12 Vgl. <https: / / documenti.camera.it/ leg19/ pdl/ pdf/ leg.19.pdl.camera.734.19PDL0017640. pdf> (10.07.2024). Vgl. hierzu den Beitrag „Lingua italiana, FdI presenta una proposta di legge per multare chi si macchierà di forestierismo“ in La Repubblica vom 31.03.2023 - <https: / / www.repubblica.it/ politica/ 2023/ 03/ 31/ news/ lingua_italiana_pdl_fdi_multe _forestierismi-394415199> (10.07.2024). della lingua italiana  12 ist ein einführender Text vorangestellt, in dem bildreich die für das Italienische beklagte „Bedrohungslage“ entfaltet wird: L’uso sempre più frequente di termini in inglese […] è diventato una prassi comuni‐ cativa che, lungi dall’arricchire il nostro patrimonio linguistico, lo immiserisce e lo mortifica. (S.-1) Darüber hinaus wird von einer „intrusione di vocaboli inglesi nella nostra lingua che, spesso, rasenta l’abuso“ sowie von einer „infiltrazione eccessiva“ (S. 2) gesprochen. Als Konsequenz wird die Gefahr eines „collasso“ (S. 2) skizziert, der zum fortschreitenden Verschwinden des Italienischen führen könnte. Im Sinne uneigentlicher Rede in Anführungszeichen gesetzt, wird ein „‘inquinamento’“ beklagt, das zu ernsthaften Sorgen um den „stato di salute“ des Italienischen führe (S. 2-3). All dies stelle eine Bedrohung der demokrati‐ schen Teilhabe dar. Um dem zu begegnen und im Sinne einer „salvaguardia nazionale e difesa identitaria“ wird in diesem Gesetzesvorschlag zum Erhalt der italienischen Sprache die Einrichtung eines Comitato per la tutela, la promozione e la valorizzazione della lingua italiana gefordert (S. 3). Für das Italienische in kulinarischen und gastronomischen Kontexten relevant sind im Gesetzentwurf Art. 2.2. zur Sprache der Produkte und Dienstleistungen begleitenden Texte, Art. 3.1. zur Sprache im öffentlichen Raum sowie Art. 7.5 zur Sprache in der unternehmerischen Vermarktung: 2.2. Gli enti pubblici e privati sono tenuti a presentare in lingua italiana qualsiasi descrizione, informazione, avvertenza e documentazione relativa ai beni materiali e immateriali prodotti e distribuiti sul territorio nazionale. 3.1. Ogni tipo e forma di comunicazione o di informazione presente in un luogo pubblico o in un luogo aperto al pubblico ovvero derivante da fondi pubblici e destinata alla pubblica utilità è trasmessa in lingua italiana. 7.5. Il Comitato […] promuove […] l’uso corretto della lingua italiana e della sua pronunzia nelle scuole, nei mezzi di comunicazione, nel commercio e nella pubblicità. Zeitgleich mit diesem Gesetzentwurf hat die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni anlässlich der 15. Botschafterkonferenz am 22. Dezember 2022 eine Rede gehalten, in der sie explizit die Bedeutung der italienischen Sprache thematisiert und zum verstärkten Gebrauch des Italienischen aufruft: DOI 10.24053/ Ital-2023-0025 88 Antje Lobin 13 Il Presidente Meloni interviene alla XV Conferenza delle Ambasciatrici e degli Ambasciatori - <https: / / www.governo.it/ it/ media/ il-presidente-meloni-interviene-alla-xv-conferenz a-delle-ambasciatrici-e-degli-ambasciatori> (10.07.2024), 04’: 37’’-06’: 20’’. 14 Anglicismi e itanglese - <https: / / italofonia.info/ itanglese> (10.07.2024). 15 Il Dizionario delle Alternative Agli Anglicismi. Significati e sinonimi in italiano - <https : / / aaa.italofonia.info> (10.07.2024). Sicuramente questo è il nostro portato, è un portato fondamentale, una cultura complessa e profonda che passa anche dalla nostra lingua, perdonatemi per questa digressione, perché la lingua è uno straordinario, diciamo, diplomatico per la nostra cultura. E invece mi accorgo di come noi tutti, tutti, […] a partire dalla sottoscritta, che si considera una grande patriota, alla fine veniamo travolti dall’uso di queste parole straniere, no? I francesismi, gli inglesismi. Quando se ci pensate bene, per ciascuna di questa parola che noi utilizziamo riprendendola da una lingua straniera nel corrispettivo italiano esisterebbero probabilmente almeno quattro o cinque parole diverse. Perché la nostra è una lingua molto più complessa. È una lingua molto più carica di sfumature di quello che spesso si trova al di fuori di questi confini. Allora, utilizzare per noi il più possibile l’italiano - questo lo faccio come richiamo a me stessa, prima ancora che a tutti gli altri - utilizzare il più possibile la lingua italiana non solo vuol dire ovviamente valorizzare, difendere un elemento fondamentale della nostra cultura, ma significa anche difendere la profondità della nostra cultura, la nostra capacità di guardare il mondo, da sempre, attraverso una lente che ha sfumature molto più colorate di quelle che spesso vediamo al di fuori dei confini nazionali. È il portato della nostra cultura e sicuramente quello che fa la nostra grandezza. 13 Im Bereich des kulinarischen und gastronomischen Italienisch zeigen sich die sprachkritisch mit dem Begriff morbus anglicus bezeichneten Auswirkungen des Angloamerikanischen auf die italienische Sprache zunehmend deutlich. Ondelli (2017: 375) zufolge entspricht der Einfluss der Fremdsprachen auf diesem Gebiet nicht mehr den Beobachtungen, die traditionell in den einschlägigen Studien gemacht wurden. Das Französische als Prestigesprache scheint vielmehr endgültig abgelöst durch die Dominanz des Englischen (Ondelli 2017: 379). Auf dem Sprachportal italofonia.info bedient man sich zum Ausdruck der Ablehnung nicht integrierter Anglizismen eines Vergleichs aus dem Bereich der italienischen Küche. Hier heißt es in sprachkritischer Perspektive: „Parliamo di anglicismi crudi, non adattati, che per la diversa grafia e pronuncia stanno alla nostra lingua come l’ananas sta alla pizza.“ 14 Über das Portal wird u.a. das Projekt AAA - Alternative Agli Anglicismi betrieben. 15 Hier wird ein Dizionario delle alternative agli anglicismi bereitgestellt, das alphabetisch und nach Rubriken konsultiert werden kann. In der Rubrik Cucina werden 132 Einträge vorgestellt, DOI 10.24053/ Ital-2023-0025 Das italiano gastronomico im Lichte von Sprachkritik und Sprachpolitik 89 16 Der Text der Petition, die von 70.000 Personen unterzeichnet wurde, ist ebenso wie die zugehörige Korrespondenz mit der Accademia della Crusca in Marazzini/ Petralli (2015: 130-133) abgedruckt. 17 <https: / / accademiadellacrusca.it/ it/ contenuti/ gruppo-incipit/ 251> (10.07.2024). die zum Teil lediglich erläutert werden, für die zum Teil aber auch Äquivalente präsentiert werden. Exemplarisch seien hier einige Vorschläge angeführt: brownie quadretti/ dolcetti al cioccolato cake torta/ focaccia dolce chips patatine fritte foodie amante della cultura gastronomica, esperto di cucina, buongustaio, golosone, ghiottone, buona forchetta frozen yogurt gelato allo yogurt muffin focaccina dolce quick lunch pranzo veloce sandwich panino (imbottito), tramezzino smoothie frullato topping salsa, crema, decorazione, guarnizione, additivo Tab. 2: Beispiele für Ersatzformen aus dem Dizionario delle alternative agli anglicismi Die Accademia della Crusca behält ihrerseits die Entwicklungen hinsichtlich der Anglizismen beständig im Blick. Dort ist die Arbeitsgruppe Incipit beheimatet, die im Anschluss an eine Tagung zum Verhältnis von romanischen Sprachen und Anglizismen (Februar 2015; Marazzini/ Petralli 2015) und der hiermit in Verbindung stehenden Petition #Dilloinitaliano ins Leben gerufen worden war. 16 Zielsetzung und Auftrag der Arbeitsgruppe werden wie folgt beschrieben: Il gruppo ha lo scopo di monitorare i neologismi e forestierismi incipienti, nella fase in cui si affacciano alla lingua italiana e prima che prendano piede […]. Il gruppo “Incipit” ha il compito di esprimere un parere sui forestierismi di nuovo arrivo impiegati nel campo della vita civile e sociale. Il gruppo “Incipit” respinge ogni autoritarismo linguistico, ma, attraverso la riflessione e lo sviluppo di una migliore coscienza linguistica e civile, vuole suggerire alternative agli operatori della comunicazione e ai politici, con le relative ricadute sulla lingua d’uso comune. 17 DOI 10.24053/ Ital-2023-0025 90 Antje Lobin 18 <https: / / accademiadellacrusca.it/ it/ contenuti/ la-cucina-italiana-a-corto-di-ingre‐ dienti-linguistici-il-gruppo-incipit-non-lo-crede/ 6148> (10.07.2024). 19 Mitunter bieten die vorgeschlagenen Alternativen der Arbeitsgruppe ihrerseits Anlass zu Diskussionen. In ihrem Blog Terminologia etc. unterzieht Licia Corbolante die Bezeichnung ristorante domestico einer ausführlichen und kritischen Betrachtung und kommt zu dem Schluss, dass ristorazione privata eine passendere Alternative zu home restaurant gewesen wäre (Come dire home restaurant in italiano, 26.04.2017 - <https: / / www.terminologiaetc.it/ 2017/ 04/ 26/ significato-traduzione-home-restaurant> (10.07.2024)). 20 Vgl. Punkt 10 Made in Italy, cultura e turismo des Wahlprogramms der Fratelli d’Italia im Jahr 2022 (<https: / / www.fratelli-italia.it/ programmacentrodestr>, 10.07.2024) ebenso wie die Legge 27 dicembre 2023, n. 206 zu den Disposizioni organiche per la valorizzazione, la promozione e la tutela del made in Italy. Inzwischen sind 23 Pressemeldungen erschienen, z.B. zu poste italiane vs. delivery services, allertatore civico vs. whistleblower oder smart working vs. lavoro agile. Die 8. Mitteilung (20.01.2017) trägt den Titel La cucina italiana a corto di ingredienti linguistici? Il gruppo Incipit non lo crede. 18 Hintergrund ist der am 17. Januar 2017 verabschiedete Atto Camera 3258, der gastronomische Aktivitäten in Privatwohnungen regelt. Kritisiert wird in diesem Zusammenhang, dass im Gesetzestext nicht etwa der italienische Ausdruck ristorante domestico verwendet wird, sondern der Anglizismus home restaurant. 19 4 Schlussbemerkungen Bis zum heutigen Tag machen Fremdwörter einen relevanten Bestandteil der Sprache in den Bereichen Küche und Gastronomie aus, wie mühelos den italie‐ nischen Standardwörterbüchern entnommen werden kann. Und ebenso wie in der Vergangenheit sind sie fortwährend Gegenstand sprachreflexiver Her‐ vorbringungen und sprachpolitischer Regulierungsversuche. In der aktuellen Regierung wird gegenwärtig die Absolutsetzung des Italienischen verbunden mit sprachpolitischen Forderungen wieder lauter. Dass dies mitunter mit Wi‐ dersprüchen einhergeht, offenbart die Tatsache, dass der wahrgenommenen Überfremdung ausgerechnet mit dem englischsprachigen Etikett „Made in Italy“ begegnet werden soll. 20 Im gastronomischen Bereich ist seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum französischen Einfluss zunehmend der Einfluss des Englischen getreten. Dies wurde nicht zuletzt als Reaktion auf den Faschismus begünstigt, wie Piacentini (2016: 156) ausführt: il rigetto della società italiana nei confronti di tutto ciò che era stato il movimento e il regime fascista, fece sì che non solo l’autarchia linguistica fosse bollata come una delle pagine della storia linguistica più buie della nazione, ma che, proprio per contrapporsi DOI 10.24053/ Ital-2023-0025 Das italiano gastronomico im Lichte von Sprachkritik und Sprachpolitik 91 a questa ideologia, la permeabilità dell’italiano nei confronti dei prestiti aumentasse sensibilmente. Hinsichtlich der beiden wichtigen Spendersprachen Französisch und Englisch bestehen allerdings Gebrauchsunterschiede. Während die französischen Aus‐ drücke in hohem Maße fachsprachlich markiert sind und überwiegend aus früheren Jahrhunderten stammen, ist das englische Wortmaterial, das vornehm‐ lich eine jüngere Datierung aufweist, durch eine breitere und undifferenziertere Verwendung gekennzeichnet. Bis heute prägen französische Begriffe weitge‐ hend die Fachsprache der Gastronomie und gelten als Garant für Raffinesse und Internationalität. Die Entlehnungen aus dem Englischen und Angloameri‐ kanischen hängen wiederum mit der Übernahme des pro-amerikanischen Kon‐ sumverhaltens zusammen. Hier handelt es sich größtenteils um Bezeichnungen von Fastfood-Produkten bzw. entsprechenden Konsumgewohnheiten, z. B. chips (1989), hot dog (1950), popcorn (1958), snack (1959) (Frosini 2009a: 94-95). Wenn Sprachkritik über die bloße Bewertung von Sprachformen nach ästhetischen Kriterien hinausgehen soll und zu einer demokratischen Sprachauffassung beitragen möchte, dann müssen derartige Unterschiede in den Gebrauchsbe‐ dingungen differenziert betrachtet und die jeweiligen gesellschaftlichen und historischen Kontexte mitberücksichtigt werden. Bibliographie Arcangeli, Massimo (Hrsg.) (2011): Itabolario. L’Italia unita in 150 parole. Roma: Carocci. Arcangeli, Massimo (2015): „Premessa“. In: Arcangeli, Massimo (Hrsg.): Peccati di lingua. Le 100 parole italiane del gusto. Soveria Mannelli: Rubbettino, 9-13. Artusi, Pellegrino (1891): La Scienza in cucina e l’Arte di mangiar bene. Manuale pratico per le famiglie. Firenze: Pei tipi di Salvadore Landi. Artusi, Pellegrino (2020 [ 15 1911]): La Scienza in cucina e l’Arte di mangiar bene. Manuale pratico per le famiglie. Milano: Rizzoli. Caffarelli, Enzo (2002): „L’alimentazione nell’onomastica. L’onomastica nell’alimenta‐ zione“. 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DOI 10.24053/ Ital-2023-0025 94 Antje Lobin 1 Im Or.: „books of islands“, „island chorographies“, „island navigations“. Der auf das lateinische insularium zurückgehende italienische Begriff isolario wurde vor allem durch den Einfluss der italienischen Seemächte ab dem beginnenden 16. Jahrhundert gebräuchlich. Bekanntes Beispiel ist das Liber insularum arcipelagi (1420) des aus Florenz stammenden Mönchs Cristoforo Buondelmonti. Es beinhaltet vor allem die Darstellung griechischer Inseln und Inselgruppen des Ionischen und Ägäischen Meeres sowie einzelne zentrale Küstenorte, z.B. Konstantinopel, Athen (vgl. Tolias 2007: 264- 265). Dossier Italoromania und Mittelmeerinseln Jonas Hock / Laura Linzmeier Einleitung Das Primat des Kontinentalen, die Vorstellung, dass Inseln sekundär und peri‐ pher seien, wird seit einigen Jahren verstärkt in Frage gestellt. Dabei ist die Idee, den Blick weg vom Festland und hin zu Inseln zu lenken, nicht neu. Sogenannte isolarii - „cosmographic encyclopedia[s] of islands, with maps“ (Tolias 2007: 264) -, also inselorientierte Seekarten, verbreiteten sich insbesondere vom 15.-17. Jahrhundert im Mittelmeerraum, v. a. über Florenz und Venedig. Ein isolario konnte vereinzelt auch Textabschnitte aufweisen; fester Bestandteil waren Karten von Inseln und Küstengebieten, „arranged in the form of a thematic encyclopedia“ (ibid. 264). Die Ersteller bezeichneten ihre Darstellungen als Inselbücher, Inselchoreographien oder Inselnavigationen. 1 Die Fokuslegung auf Inseln bei der Erstellung der Seekarten erklärt sich wesentlich durch ihre strategische und politische Bedeutung. Größere Inseln des Mittelmeers bildeten oftmals den Sitz kleinerer und mittelgroßer Königreiche, die von größeren Mittelmeermächten umkämpft waren - man denke an die Königreiche Mallorca, Sizilien, Zypern oder Sardinien-Korsika (vgl. Vermeren 2023). Wo Grenzen auf See nicht darstellbar waren, halfen Inseln und ihre Visualisierung - „treated as unified, whole spaces“ (Steinberg 2005: 258) -, die Herrschaftsgebiete einzelner Mächte im mediterranen Raum abzustecken und DOI 10.24053/ Ital-2023-0026 2 Portolane sind ab dem Spätmittelalter entstandene „Segelbücher mit nautischen Infor‐ mationen über Häfen (lat. <portus>), Landmarken, Untiefen und Strömungsverhält‐ nisse, die dann mit Landkarten kombiniert wurden, die man auf Tierhaut oder Perga‐ ment zeichnete“ (Bohn 2011: 66) und kaum textuelle Elemente beinhalten. Isolarii sind - anders als portolani - nicht automatisch Navigationshilfen und können textlastiger sein (vgl. Campbell 1987: 380). Abb. 1: Agnese, Battista, Active 16th Century. Portolan Atlas of 9 Charts and a World Map, Etc. [1544] Map. Retrieved from the Library of Congress, <www.loc.gov/ item/ 98687206/ >. Credit Line: Library of Congress, Parallel Histories: Spain, the United States, and the American Frontier. zu definieren: „les îles jalonnaient l’espace méditerranéen, en contribuant à définir un partage de la mer entre Catalans, Génois et Vénitiens“ (Vermeren 2023). Die Insel bildete also schon immer eine zentrale Stabilitäts-, Ordnungs- und Orientierungseinheit im durch Bewegung und Nicht-Fixiertheit geprägten Mittelmeerraum (vgl. Steinberg 2005: 259). Das galt besonders, wenn sie be‐ wohnt, bebaut und bestellt werden konnte, aber auch unzugängliche oder unwirtliche Felsblöcke konnten zumindest als Bezugspunkte dienen. In den isolarii oder auch den portolani  2 zeigt sich dies in einer überdimensionalen Darstellung der Inseln, farblichen Hervorhebungen und Umrandungen (vgl. Abb. 1), d. h. einer regelrechten „dramatization of islands coastlines“ (Steinberg 2005: 258; vgl. auch Matei-Chesnoiu 2015: 138; Campbell 1987: 377-378). DOI 10.24053/ Ital-2023-0026 96 Jonas Hock / Laura Linzmeier 3 https: / / gouviles.hypotheses.org/ gouverner-les-iles. Nicht nur die isolarii selbst (vgl. auch Lestringant 2002), sondern auch große wie kleine Inseln des Mittelmeers in all ihren Facetten sind mittlerweile ganz grundsätzlich aus den geisteswissenschaftlichen Forschungen der Romanistik - insbesondere der Italianistik - und der Mediterranistik nicht mehr wegzu‐ denken. Exemplarisch genannt seien das Zibaldone-Themenheft Kleine Inseln (2013), die Sammelbände Konstruktionen mediterraner Insularitäten ( Jaspert et al. 2016), Lingue delle Isole - Isole Linguistiche (Retali-Medori 2016), Inseln der Romania: Traumbilder und Wirklichkeiten (Bremer et al. 2001) und Insularità e cultura mediterranea nella lingua e nella letteratura italiana (Salvadori Lonergan 2012) oder auch Projekte wie Gouverner les îles: territoires, ressources et savoirs des sociétés insulaires, XVI e -XXI e siècle  3 sowie das in Tübingen angesiedelte SFB-Teil‐ projekt Inselökonomien. Eine vergleichende Studie von Insel-Gesellschaften im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Diese Publikations-, Tagungs- und Forschungsprojekte, die sich mit (mediter‐ ranen) Inseln beschäftigen, versammeln meist verschiedene literatur-, kultur-, sprach- und geschichtswissenschaftliche Ansätze. Eine Auseinandersetzung mit italienischen und italoromanisch geprägten Inseln erfolgt dabei durchaus, allerdings wenig systematisch und mit dem Fokus auf Einzelstudien. Das mag mit einer gewissen Selbstverständlichkeit zusammenhängen, die Inseln in italia‐ nistischen bzw. italophonen Kontexten zukommt, aber auch mit deren schierer Vielfalt, die sich strengen Systematisierungs- und gar Definitionsversuchen widersetzt. Die spezifische islandness (Baldacchino 2007: 2-3) einer Insel ergibt sich dadurch, dass sie auf vielfältige Weise sowohl vom Menschen genutzt als auch mitgeformt wird, und so findet man eine „[…] remarkable diversity and hybridization of insular forms and expressions“ (Baldacchino 2005: 249). Bereits die Frage, was unter einer Insel zu verstehen ist, kann unterschiedlich beantwortet werden. Eine stark vereinfachende und auf das Geographische und Physikalische reduzierte Definition wäre die von der Insel als einer vollständig von Wasser umgebenen Landmasse (vgl. z.B. Royle/ Brinklow 2018: 3). Hierin wären kleinste Einheiten wie unbewohnte Fels- und Vulkaninseln, Archipele, Atolle, Riffe (vgl. ibid.: 4), künstliche durch Aufschüttung natürlichen Sediments entstandene Inseln sowie Binnensee- und Flussinseln inkludiert. Künstliche Plattformen (z.B. Bohrinseln) oder auch Inseln im metaphorischen Sinn wie DOI 10.24053/ Ital-2023-0026 Italoromania und Mittelmeerinseln 97 4 Auch wäre die Frage berechtigt, welche Bedeutung Halbinseln zukommt; vgl. den Bericht zur Tagung „Halbinseln und Isthmen als geographische Faktoren und Räume des Austausches oder Rückzuges“ vom Frühjahr 2023 in der Villa Vigoni: https: / / www.h sozkult.de/ conferencereport/ id/ fdkn-138466? utm_source=hskhtml&utm_medium=em ail&utm_term=2023-9&utm_campaign=htmldigest. 5 Gerade im italienischen Kontext mangelt es nicht an Beispielen, genannt seien hier lediglich: Militärische und administrative Stützpunkte (z.B. das venezianische Kreta im Mittelalter); Aussteigerorte für Künstler, Intellektuelle, Sekten, Unabhängigkeitsbewe‐ gungen etc. (z.B. Malu Entu vor Sardinien oder die Plattforminsel Isola delle Rose in der Adria im 20. Jahrhundert); Orte des Rückzugs wie Einsiedeleien und Klöster (z.B. San Lazzaro in der Lagune von Venedig seit 1717); Orte des Ausschlusses: Quarantäneorte, Gefängnisinseln (z.B. Asinara 1855-2002), Exilinseln, Erziehungslager, Strafkolonien (z.B. Pianosa 1858-1997), Verbannungsorte (z.B. Ventotene 1926-1939); Labororte für Experimente, Militärzonen (z.B. die Isole Pedagne vor Brindisi). 6 Vgl. auch https: / / uni-tuebingen.de/ forschung/ forschungsschwerpunkte/ sonderforschu ngsbereiche/ sfb-1070/ archiv/ zweite-foerderphase/ forschung/ projektbereiche/ teilproje kte/ c05/ . z.B. Enklaven oder Sprachinseln, die nicht von Wasser umgeben sind, wären hingegen ausgeschlossen. 4 Für eine primär sprach- und kulturwissenschaftliche Perspektive erweist sich jenseits der Frage exklusiver Definitionskriterien die - anthropozentrische - Orientierung an der Funktion von Inseln in Gegenwart und Geschichte als gewinnbringend: Inselgebiete, die als Lebens- und Arbeitsräume, Stützpunkte, Versorger, Zufluchtsorte oder Tourismusziele fungieren, weisen oftmals eine gewisse Größe, Menschendichte und Offenheit auf, während Aussteigerinseln, Klosterinseln, Gefängnis- und Krankeninseln sowie „Insellabore“ eher einen geringen physischen Umfang haben und dort die Anzahl und Mobilität der Be‐ wohner bzw. Besucher strenger reglementiert werden. 5 Sie sind auch aufgrund von Ressourcen-, nicht zuletzt Trinkwasserknappheit oftmals von benachbarten Inseln oder dem Festland abhängig. 6 Entsprechend spielt neben der Größe und dem Vorhandensein von Ressourcen vor allem bei Meeresinseln auch die Entfernung zum Festland bzw. zu weiteren Inseln eine Rolle: Die Distanz, die Meeresbedingungen (z.B. gefährliche Strömungen) oder auch die Zugangs‐ möglichkeiten (hohe Kliffe vs. Strand) prägen die Kontakt-, Handels- und Besiedlungsmuster einer Insel. Die Faszination für Inseln hängt nicht zuletzt mit der - vermeintlichen - Unhintergehbarkeit solch ‘harter’ geophysikalischer Faktoren zusammen. Es handelt sich dabei entsprechend um Attribute, die die Wahrnehmung von Inseln in der heutigen Alltagsvorstellung leiten und sie uns mit Abgelegenheit, Geschlossenheit, Rückständigkeit und Ausgesetztsein in Verbindung bringen lassen. Andererseits werden Inseln gerade darum auch mit der Vorstellung DOI 10.24053/ Ital-2023-0026 98 Jonas Hock / Laura Linzmeier 7 So kam erst kürzlich die Karibikinsel Anguilla zu Prominenz, da ihr die digitale Kennung, d. h. die Domain-Endung, „.ai“ zugeteilt wurde. Ganz zufällig handelt es sich hierbei ebenfalls um das Kürzel für „Artificial Intelligence“, was die Domain für Unternehmen besonders attraktiv macht und das Einkommen der nur 15.000 Einwohner starken Insel positiv beeinflusste (vgl. Lobe 2023). 8 Entsprechend haben wir vorgeschlagen, eine kollektivwissenschaftliche Perspektive auf Inselphänomene fruchtbar zu machen (vgl. MS ISLA 2022). 9 Gefördert vom Regensburger Center for International and Transnational Area Studies (CITAS), das mittlerweile im Department für Interdisziplinäre und Multiskalare Area Studies (DIMAS) aufgegangen ist. von paradiesischen Rückzugsorten, Ruhe und ‘Exotik’ verbunden (vgl. MS ISLA 2022: 134) sowie aktuell mit ‘wertvollen’ Geodaten (Steueroasen, Webdomains) assoziiert. 7 In den Island Studies hat sich für diese hypostasierende oder gar essentialisierende Außenperspektive auf einzelne Inselphänomene, die oftmals auf Gemeinplätze reduziert, der Begriff „islanding“ etabliert (vgl. MS ISLA 2022: 135). Ob dieser schlicht eine objektivere und unproblematische Innensicht entgegengesetzt werden kann, ist mindestens fraglich. Elaboriertere Ansätze wie das Konzept der islandscapes (Nimführ/ Otto 2020) plädieren für einen deterritorialisierten Zugang zu Inseln. Der aus der Archäologie stammende Begriff (Broodbank 2000) bezieht sich auf Wirkungskreise von Bewohnern und anderen Akteuren, die nicht auf die Insel selbst beschränkt sind, sondern sich auch auf benachbarte Inseln und das nahegelegene Festland bzw. gar globale oder virtuelle Räume erstrecken können: Some individuals thus produce islandscape by using their mobility, others by making use of their political or economic power. Islandscape, consequently, must not be understood as timeless and permanently existing but is rather contested, fluid and non-deterministic. By revealing that islandscape has different material and symbolic forms, functions and actors, this concept has clearly highlighted the limitations of ‘island-centrality’ accounts. (Nimführ/ Otto 2020: 197) Erst eine solche multilaterale Perspektive kann der Historizität und Konnekti‐ vität insularer Phänomene gerecht werden und läuft weniger Gefahr, Inselge‐ meinschaften zu statischen und passiven Einheiten zu verdinglichen. 8 Vor diesem Hintergrund gibt das vorliegende Dossier Einblicke in sprach-, literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Phänomene der Insula‐ rität im italienischen und mediterranen Kontext. Es handelt sich dabei um ausge‐ wählte italianistisch orientierte Ergebnisse, die während der mehrjährigen Ar‐ beit des Forschungsnetzwerks Mediterranean Studies on Island Areas (MS ISLA) 9 erarbeitet und diskutiert worden sind. Während der internen Arbeitstreffen und Workshops mit Gästen sowie anlässlich assoziierter Veranstaltungen wie DOI 10.24053/ Ital-2023-0026 Italoromania und Mittelmeerinseln 99 10 Wegen der andauernden Auswirkungen der COVID-Pandemie vom 6.-7. April 2022 als „Frühjahrsworkshop“ an der Universität Regensburg durchgeführt (Organisation: J. Hock/ L. Linzmeier). 11 Erstere als Ringvorlesung im Wintersemester 2021/ 22 an der Universität Regensburg ( J. Hock/ L. Linzmeier) in Kooperation mit der Mittelmeer-Plattform der Universität Konstanz (Andreas Guidi), zweitere im Wintersemester 2023/ 24 an der LMU München (L. Linzmeier). 12 Bzw.: Mediterranean Studies und Island Studies. der DRV-Sommerschule Inselromania und Mediterranität  10 oder der Vorlesungs‐ reihen Das Mittelmeer aus multidisziplinärer und transhistorischer Perspektive sowie Inselromania  11 wurde thematisch das Potential einer vergleichenden Perspektive auf Inseln bei weitgehender Beschränkung auf den Mittelmeerraum erkundet, fachlich-disziplinär die Spannung, die sich aus der Begegnung von mediterranistischen und nissologischen, also auf das - vergleichende - Stu‐ dium von Inseln ausgerichteten Ansätzen 12 mit unserer Verankerung in den Romanischen Einzelphilologien, insbesondere italienischer und französischer Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaft, ergab. Ist in den Island Studies etwa von einem bahnbrechenden rezenten relational turn die Rede (vgl. Pugh 2013 und 2016), wonach insulare Entitäten nicht mehr als absolute betrachtet werden sollen, fühlt sich selbst der strukturalistisch unbeschlagene Romanist zurück in die 1970er Jahre versetzt, da ausgehend von der Relationalität sprach‐ licher Zeichen Differentialität in zahlreichen Disziplinen als konstitutiv für Bedeutungsstrukturen erkannt wurde; werden in den Mediterranean Studies ottomanisch-arabisch-italienische Verflechtungen untersucht, die unsere Sicht auf die Geschichte des Mittelmeers auf den Kopf stellen, fühlen wir uns bei aller Kenntnis verschiedener romanischer Sprachen und Kulturen ungebührlich beschränkt auf eine Expertise, die meist doch nur die nördlichen bzw. westlichen Teile dieses Binnenmeers umfassen kann. Laura Linzmeier und Davide Soares da Silva eröffnen das Dossier mit ihrem linguistischen Beitrag „Lo spazio linguistico italo-romanzo in prospettiva insu‐ lare“, der einer Neuperspektivierung dienen soll, die italoromanische Inseln und ihr sprachliches Profil im Rahmen einer epochenspezifischen Einordung in den Fokus der Betrachtungen rücken und das Konzept der Italo-, Gallo-, Iberoromania anhand der Insel diskutieren möchte. In „Die Überwindung der Insel-Idylle auf Ventotene - Fabrizia Ramondinos L’isola riflessa“ verbindet Jonas Hock eine literaturwissenschaftliche Einzelstudie mit einer breiteren intellektuellengeschichtlichen Perspektive auf die Durchkreuzung des Phan‐ tasmas der Insel als Rückzugsort vor der Moderne. Den Abschluss des Dossiers bildet ein Interview mit Giovanni Ruffino, Professor (i.R.) für italienische Sprachwissenschaft an der Universität Palermo und Mitglied der Accademia DOI 10.24053/ Ital-2023-0026 100 Jonas Hock / Laura Linzmeier della Crusca, zur Wiederaufnahme des Projekts eines Atlante linguistico medi‐ terraneo (ALM), das in den 1950er Jahren begonnen worden war und nach Jahrzehnten des ‘Winterschlafsʼ nun zunächst in Buchform und mittelfristig auch digital vorgelegt werden wird. Bibliographie Baldacchino, Godfrey (2005): „Editorial: Islands - Objects of Representation“. Geografiska Annaler. Series B, Human Geography 87/ 4, 247-251. Baldacchino, Godfrey (2007): „Introducing a World of Islands“. In: Baldacchino, Godfrey (Hrsg.): A World of Islands: An Island Studies Reader, Charlottetown, Canada: Institute of Island Studies, University of Prince Edward Island, 1-29. Bohn, Robert (2011): Geschichte der Seefahrt. München: C.H. Beck. 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Die Ausführungen sollen verdeutlichen, dass Inseln wesentliche Bestandteile des sprachlichen Panoramas der historischen und heutigen Romania darstell(t)en und bedingt durch ihre Lage, Größe, Begrenztheit und weitere Faktoren einer besonderen Dynamik bei der Sprachraumbil‐ dung unterlagen/ liegen. Durch ihren unterschiedlichen Grad an - teils fremdbestimmter - Öffnung und Schließung waren/ sind Mittelmeerinseln u. a. Orte des intensiven Sprach- und Kulturkontakts. Der Beitrag möchte an der italoromanischen Insel orientierte Untersuchungsmöglichkeiten für die linguistische Forschung aufzeigen, die es zudem erlauben sollen, das Konzept der Italo-, Gallo-, Ibero-Romania neu zu denken, ohne dabei das Verständnis von ‚Insel‘ im geologischen Sinne vollständig aufzulösen. Il presente articolo tratta delle comunità insulari del Mediterraneo linguis‐ ticamente caratterizzate dall’italo-romanzo nel passato e/ o nel presente. Partendo dalla domanda Che cos’è esattamente un’isola? l’articolo offre una nuova prospettiva che mira a mettere a fuoco il profilo linguistico delle isole nel contesto di una classificazione specifica per ogni epoca. Questo approccio evidenzia che le isole rappresentano (o hanno rappresentato) delle componenti essenziali del panorama linguistico della Romània e sono (state) soggette a particolari dinamiche nell’ambito della formazione di varie aree linguistiche a seconda della loro posizione, delle dimensioni, dei limiti territoriali e di altri fattori. A causa dei diversi gradi di apertura e chiusura - in parte imposti dall’esterno - le isole del Mediterraneo sono (state), tra l’altro, luoghi sia di intensi contatti linguistici e culturali sia di isolamento DOI 10.24053/ Ital-2023-0027 1 Si veda anche il reader Inseln und Sprachen creato da studenti dell’università di Friburgo (2001/ 2002) sotto la direzione di Claus D. Pusch (https: / / romanistik.uni-freiburg.de/ pusc h/ Reader_Inseln.pdf). All’Università di Göttingen, inoltre, è stato recentemente istituito un corso di studi interdisciplinare denominato Kulturen und Sprachen des mediterranen Raums. 2 Non ci si soffermerà sul profilo e sull’eredità italo-romanza delle comunità insulari situate all’esterno dell’area mediterranea, ad es. delle isole eritree nel Mar Rosso. linguistico e socioculturale. L’articolo intende mostrare il potenziale della ricerca linguistica orientata alle isole italo-romanze, un progetto che porta anche a ripensare il concetto di italo-, gallo-, ibero-romània ecc. senza però abbandonare completamente il concetto di isola come entità geologica. 1 Premesse L’idea di un approccio linguistico alle isole (italo-)romanze, nata durante i lavori preliminari alla Summerschool Inselromania und Mediterranität (04/ 2022, Regens‐ burg), è maturata nel corso del semestre invernale 2023/ 24 attraverso la lezione monografica Inselromania tenuta da Laura Linzmeier presso la Ludwig-Maximi‐ lians-Universität München, nonché durante i numerosi incontri di lavoro del network di ricerca MS ISLA (Mediterranean Studies on Island Areas). Il workshop Romania Insularis - Mittelmeerinseln als Sonderfälle linguistischer Betrachtung, svoltosi alla LMU nell’aprile del 2024, ci ha permesso inoltre di condividere e discutere alcune delle idee qui esposte con esperti e colleghi romanisti. Il fatto che ad oggi gli studi e le ricerche che si occupano di isole (italo-)romanze siano assai numerosi (vedasi per un primo approccio la bibliografia citata nell’introduzione di Hock/ Linzmeier) 1 non sorprende affatto se si considera che le isole mediterranee assumono una posizione di estremo riguardo nel quadro complessivo della Romània. Nonostante la considerevole quantità di studi di cui già disponiamo, lo stato della ricerca risulta tuttavia ancora frammentario e i singoli studi si presentano in un certo senso ‘isolati’ gli uni dagli altri. Il presente contributo intende quindi proporre, facendo riferimento alle più indicative comunità insulari italo-romanze di oggi e di ieri, 2 un quadro concet‐ tuale che possa risultare utile a tutta una serie di studi finalizzati a ‘circoscrivere’ le isole dal punto di vista linguistico. Gettando uno sguardo sulle isole dalla prospettiva di una ancor giovane disciplina, gli Island Studies, vogliamo porre enfasi anche sulla funzione di lente focale che l’isola può svolgere (sez. 2). Rifletteremo poi su quelli che sono gli assunti impliciti del termine ‘italo-ro‐ manzo’ (sez. 3), proponendo una classificazione basata su criteri cronologici applicabile alle isole italo-romanze nel loro complesso (sez. 4). L’isola, come DOI 10.24053/ Ital-2023-0027 104 Laura Linzmeier / Davide Soares da Silva 3 Eurostat propone invece la seguente definizione di isola: «territories having: a minimum surface of 1 km²; a minimum distance between the island and the mainland of 1 km; a resident population of more than 50 inhabitants; no fixed link (for example, a bridge, a tunnel, or a dyke) between the island(s) and the mainland» (https: / / ec.europa.eu/ euro stat/ statistics-explained/ index.php? title=Glossary: Island_region, 14.01.2024; cfr. anche Redon 2019: 15). Naturalmente, bisognerebbe verificare se la percezione degli abitanti di un’isola cambia quando questa è collegata alla terraferma. si vuole mostrare, è spesso caratterizzata da una tale pluralità di costellazioni e situazioni (storiche) di contatto (cfr. Steinberg 2005: 258; Calvet 2016: 239) da non poter essere inquadrata in maniera soddisfacente nei canoni della storia linguistica nazionale, né tantomeno nelle categorie che tradizionalmente suddividono lo spazio linguistico romanzo. Si propone dunque un approccio che renda visibili i diversi scenari di contatto dal punto di vista di una storia linguistica in scala territoriale attraverso diverse epoche (cfr. Krefeld 2024) - una soluzione che porta, non da ultimo, a mettere in discussione alcuni termini e concetti comunemente in uso, ma non privi di criticità, quali varietà ‘autoctone’ e ‘alloctone’, ‘espansione dialettale’ ecc. (sez. 5). Suggeriremo, infine, di dare avvio a un dialogo interdisciplinare sull’utilità di un tale approccio regionale che si estende lungo diverse epoche (sez. 6). 2 Uno sguardo alle isole dalla prospettiva degli Island Studies Sulla base di criteri geografici e geofisici, l’isola può essere definita come una porzione di terraferma interamente circondata dall’acqua (v. ad es. Royle/ Brinklow 2018: 3; Treccani 2003). La breve distanza o il collegamento con altre isole o con il continente, ad es. tramite ponti o dighe percorribili, non rappresentano in questo senso un criterio di esclusione (si veda p.es. l’isola di Sant’Antioco). 3 Il confine tra terra e acqua, tra dentro e fuori, pur non essendo invalicabile, è comunque un fatto geologico imprescindibile nonché saliente: What defines an island is perhaps the barrier or conduit (depending on perspective or time) which lies between itself and the mainland (or another island), i.e., the sea. Therefore, emphasis should be placed on the sea, this being the most distinctive feature of island societies, and it should be an explicit component in any landscape characterization attempt. (Vogiatzakis et al. 2017: 3-4) Lo spazio vissuto e lo spazio linguistico di una comunità insulare sono delimitati fisicamente da confini naturali (che possono essere alterati solo dall’accumulo di sedimenti, da eruzioni vulcaniche, ecc.), non sono raggiungibili via terra (habitat DOI 10.24053/ Ital-2023-0027 Lo spazio linguistico italo-romanzo in prospettiva insulare 105 4 Escludiamo le isole fluviali e lacustri da ulteriori considerazioni. 5 Cogliamo l’occasione per ringraziare i partecipanti al nostro workshop Romania insularis (aprile 2024) per il loro input, che sarà discusso in modo dettagliato in altra sede. 6 Le isole non erano altrettanto bene integrate nella rete stradale dell’Impero Romano come lo erano invece gli insediamenti urbani e i centri abitati sulla terraferma (cfr. Krefeld 2024: 14). naturale per l’uomo), ma solo via acqua (habitat tendenzialmente ‘pericoloso’ per l’uomo o comunque inadatto alla sosta o alla permanenza) e nella maggior parte dei casi solo tramite l’utilizzo di adeguati mezzi di trasporto. Se non tenessimo in considerazione la fisicità di un’isola in modo appropriato, non saremmo in grado di comprendere a fondo le sue specificità: «Compared to the mainland, islands are physically bounded, more susceptible to externalities, and, depending on the size of the island, the human imprint […] is more evident» (Vogiatzakis et al. 2017: 2). Alla luce di tali considerazioni, sembra dunque lecito sollevare la seguente domanda: dal punto di vista linguistico, esiste una determinata ‘impronta umana’, per riprendere il termine di Vogiatzakis et al., derivante da processi che riguardano principalmente le isole mediterranee? 4 Secondo Calvet (2016: 235), i linguisti mostrano «une attention particulière à ces terres entourées d’eau considérées comme des laboratoires, voire des éprouvettes, leur espace réduit et nettement délimité facilitant la recherche». Se, in questa sede, è impossibile discutere nel dettaglio di tali questioni, i fattori decisivi per la configurazione linguistica delle isole italo-romanze qui considerate si possono riassumere nei seguenti punti: 5 1. Siccome in passato le isole non erano accessibili se non via acqua, la romanizzazione e latinizzazione di questi spazi hanno seguito un percorso diverso rispetto al continente. 6 Tuttavia, vedremo come l’isolamento non abbia portato né automaticamente, né unicamente al conservativismo linguistico (cfr. Krefeld 2024: 17-21). 2. A seconda della posizione geografica e delle dimensioni fisiche, alcune isole del Mar Mediterraneo rappresentavano importanti punti di riferimento per le diverse potenze marittime (snodi strategici, scali commerciali, ecc.). Ciò ha fatto sì che (più o meno volontariamente) gruppi di origine linguistica, culturale e sociale diversa entrassero in contatto tra di loro e rinegoziassero costantemente lo spazio linguistico (coesistenza o fusione, multilinguismo o ibridazione linguistica, ecc.). Anche la presenza o meno di un continuum dialettale può dipendere dal grado di vicinanza o di distanza fisica, nonché dal grado di intensità dei rapporti con altre isole o con la terraferma. 3. Imposti dall’acqua, i confini di un territorio insulare sono ipso facto facili da tracciare. Nel corso dei secoli, ciò ha comportato determinate conseguenze: DOI 10.24053/ Ital-2023-0027 106 Laura Linzmeier / Davide Soares da Silva 7 Un approccio di carattere linguistico e culturale esclude dal campo d’indagine le isole senza insediamento umano ossia le isole non abitabili, come appunto scogli, isole vulcaniche, ecc. Per la stessa ragione non si prendono in considerazione territori privi di fruibilità da parte dell’uomo, come le riserve naturali o i diversi habitat di animali selvatici, come la Spiaggia Rosa a Budelli, l’Asinara di oggigiorno, Lazzaretto Vecchio (v. Martinucci 2007a: 16; 2007b: 40). - Le isole del Mediterraneo sono state ripetutamente contese tra diverse potenze e hanno subìto frequenti mutamenti del proprio panorama linguistico (diverse varietà, lingue tetto distinte). - L’isola come entità ha svolto/ svolge un ruolo determinante per la costruzione dell’identità e per la percezione della propria lingua/ va‐ rietà come qualcosa di distinto da parte delle comunità (linguistiche) insulari. Le questioni riguardanti i diversi scenari di contatto e migrazione (p.es. a consegu‐ enza di invasione, esilio, fuga, turismo, ecc.) non sono ovviamente questioni che riguardano le isole in maniera esclusiva. Tuttavia, su di un’isola le sfide associate a queste circostanze sono particolarmente evidenti, dal momento che determinati fenomeni richiedono un tempestivo intervento non solo politico e umanitario, ma anche culturale e linguistico, dettato proprio dai vincoli in termini di spazio e risorse presenti su di un’isola - si pensi al caso esemplare di Lampedusa. Negli Island Studies, per questa sua caratteristica intrinseca di limitata ‘scalabilità’, l’isola viene spesso considerata come una sorta di lente focale («burning glas», cfr. ad es. MS ISLA 2022: 134; «espace laboratoire», Redon 2019: 117), che permette di cogliere in anticipo e in maniera più nitida determinati sviluppi e dinamiche sociali (ovviamente sempre a seconda delle dimensioni dell’isola in questione). Questi processi possono essere indicativi anche per numerosi altri contesti. Al fine di ‘abbordare’ l’isola mediterranea da una prospettiva linguisticodiatopica, in quello che segue ci concentreremo esclusivamente sulle isole che hanno consentito in passato o consentono oggi a comunità linguistiche (romanze) un insediamento (semi)permanente. 7 Tra di esse si possono anno‐ verare le isole che, grazie alla loro dimensione e alla loro ‘capienza’, ma anche all’autonomia in termini di approvvigionamento e di forniture energetiche, alla possibilità di sviluppo delle infrastrutture ecc., risultano adatte ad un insediamento umano permanente (p.es. Sicilia, Sardegna), ovvero si prestano a fungere da sede temporanea di basi militari e amministrative (ad es. Creta veneziana nel Medioevo) o da sede di scali commerciali (ad es. Curzola durante il dominio veneziano), nonché da miniera da cui estrarre materie prime (ad es. la Sardegna come granaio di Roma). DOI 10.24053/ Ital-2023-0027 Lo spazio linguistico italo-romanzo in prospettiva insulare 107 8 In certi casi, ma non sempre, la funzione di un’isola può essere direttamente legata alle sue caratteristiche geofisiche (per esempio quando isole difficilmente raggiungibili sono destinate a fungere da luogo di confino o esilio). 9 Come sottolinea anche Prifti (2011: 71, nota 1; corsivo nell’originale), «[i]l termine italo-romanzo è un termine collettivo per i dialetti italo-romanzi e per l’italiano» (tra‐ dotto dal tedesco: «Die Bezeichnung Italoromanisch versteht sich als Sammelbegriff für die italoromanischen Basisdialekte und das Italienische»). Vedi anche n. 26. 10 Ad oggi, esistono diversi conteggi delle isole politico-territoriali appartenenti all’Italia, il più ampio dei quali arriva ad identificarne oltre 800 (isole disabitate comprese). La Escludiamo dunque dalle successive considerazioni le isole utilizzate (magari solo in passato) come luoghi di isolamento permanente o temporaneo (volontario o involontario) in virtù delle loro ridotte dimensioni e quindi della loro più facile controllabilità, quindi i (non) luoghi utopici mete di artisti, intellettuali, sette, movimenti indipendentisti, ecc. (ad es. Malu Entu o l’Isola delle Rose nel secolo XX), i luoghi di raccoglimento per eremiti e ordini monastici (ad es. San Lazzaro dal 1717), i luoghi di confino (ad es. l’Asinara dal 1855 al 2002, Pianosa dal 1858 al 1997, Gorgona ad oggi), di esilio o deportazione (ad es. Ventotene dal 1926 al 1939). Queste forme di isolamento permettono certamente di indagare forme di comunicazione interessanti a livello diastratico (ad es. determinati gerghi), ma sono da considerarsi legate non tanto al fenomeno di ‘isola’ quanto piuttosto a quello di ‘isolamento’. Va osservato - pur non essendo possibile approfondire in questa sede i diversi sviluppi, alle volte anche contraddittori, che derivano da tali circostanze - che le isole possono svolgere più funzioni contemporaneamente (ad esempio come luogo adatto ad un insediamento permanente per la popolazione locale e, allo stesso tempo, come miniera di materie prime o come ‘granaio’ di una comunità colonizzatrice) e che queste funzioni possono anche cambiare nel corso della storia (ad esempio da isola che funge da base militare a isola-prigione). 8 3 Isole ‘italo-romanze’ Con il termine italo-romanzo ci riferiamo alle varietà sviluppatesi dal latino volgare sul suolo della penisola italiana e diffusesi sulle isole del Mediterraneo in tempi distinti, dopo diversi processi di contatto e dopo varie ‘fasi intermedie’ di espansione linguistica. Nonostante nella ricerca si tenda ad associare il termine italo-romanzo - inteso nella sua accezione storico-genealogica - alle varietà autoctone, ossia a quelli che si definiscono comunemente i dialetti primari (p.es. il siciliano), intendiamo utilizzare questo termine con un significato più ampio, comprendendo con esso anche la lingua italiana standard e le sue varietà regionali (definite spesso, facendo ricorso alla terminologia di Coseriu, dialetti terziari). 9 Le isole politicamente italiane 10 in cui si registrano insediamenti DOI 10.24053/ Ital-2023-0027 108 Laura Linzmeier / Davide Soares da Silva maggior parte di questi sono isole marittime (del canale di Sicilia, nel Mar di Sardegna, Mar Ligure, Tirreno, Ionio, Adriatico), altre sono isole lagunari (60 nella Laguna veneta, 3 nella Laguna di Grado, 2 nella Laguna di Marano), 35 isole lacustri, 5 isole fluviali, isole scomparse (4 nella laguna veneta, 3 altre). Cfr. p.es. https: / / www.viaggiando-italia.it/ oltre-800-isole-solo-unottantina-abitate-la-lista-completa-tutte-le-isole-ditalia-quale-v isiterete/ (04.10.2023). 11 «L’area sarda presenta, com’è noto, caratteristiche autonome rispetto alle parlate italo-romanze» (Giovine 2003: 588) e per molti aspetti risulta arbitraria addirittura un’attribuzione alla Romània occidentale piuttosto che a quella orientale (cfr. Hoinkes 2003: 135). Ciò chiarisce anche come in questi casi sia opportuno astenersi dall’utiliz‐ zare il termine «dialetti primari» (Coseriu), in quanto questi sono sempre definiti in relazione a un’unica lingua storica, che nel caso delle isole qui analizzate non era necessariamente ‘italiana’ in passato - ad esempio i dialetti sardi, che non sono dialetti dell’italiano, risultano tali in virtù di contingenze storico-politiche che li collocano oggi sotto la lingua tetto dell’italiano: «Solo in conseguenza alla Überdachung, la lingua tetto e le varietà sottostanti convergono in ‘lingue storiche’» (Krefeld 2024: 4; tradotto dal tedesco «Erst im Gefolge der Überdachung wachsen überdachende und überdachte Varietäten zu ‘historischen Sprachen’ zusammen»). 12 Le isole di cui in a) e b) rappresentano quello che Martinetti (2014: 3) definisce insularités italiennes: la Sicilia, la Sardegna e i tre arcipelaghi composti dalle restanti isole italiane («[a]chipel toscan», «[a]utres îles italiennes tyrrhéniennes», «îles italiennes adriatiques»; Martinetti 2014: 5). umani permanenti si possono considerare «italo-romanze» in virtù del ruolo giocato dall’italiano nelle scuole, nei media e nell’amministrazione, ecc., anche qualora le lingue autoctone ivi diffuse non siano univocamente assegnabili al ramo italo-romanzo (si veda il caso del sardo o del gallo-italico in Sicilia). 11 In modo analogo, su un’isola politicamente non italiana con una lingua tetto non italo-romanza come la Corsica può essere presente un idioma italo-romanzo (il còrso). Le isole mediterranee italo-romanze comprendono pertanto, dal punto di vista politico: a. comuni insulari che fanno parte di una determinata regione della terra‐ ferma (ad es. l’isola d’Elba), b. regioni italiane a statuto speciale (ad es. la Sardegna e la Sicilia), 12 c. territori di un altro Stato (ad es. la Corsica francese e le isole quarnerine della Croazia), d. territori di una italoromània submersa che oggi formano uno Stato auto‐ nomo (ad es. Malta) o appartengono ad un altro Stato (ad es. Creta). Nel prosieguo delle nostre riflessioni, ci soffermeremo nondimeno sulle criticità che si palesano non appena s’intenda differenziare tra gli idiomi neolatini ‘au‐ toctoni’ della rispettiva isola e quelli che vi sono giunti in un secondo tempo DOI 10.24053/ Ital-2023-0027 Lo spazio linguistico italo-romanzo in prospettiva insulare 109 13 Nella sezione 5 torneremo al significato di questo termine e, più in generale, alle difficoltà che s’incontrano nel classificare le lingue romanze, discutendo brevemente anche alcune classificazioni aggiuntive e/ o alternative a quella tradizionale basata prevalentemente su criteri geografici (v. Tagliavini 1998). La classificazione tradizionale vale ancora oggi, malgrado le inevitabili sfocature che comporta, da punto di riferimento per la linguistica romanza (cfr. Hoinkes 2003: 132-133). 14 «eine anachronistische Projektion der rezenten Diatopik des Italienischen auf die Geschichte» (Krefeld 2011: 142). tramite migrazione (varietà alloctone), piuttosto che, magari, idiomi ‘passati’ all’italo-romanzo per ibridazione o sovrapposizione. 13 4 Un approccio orientato alle epoche storiche A nostro avviso, la grande diversità delle costellazioni e situazioni di contatto delle isole del Mediterraneo non viene rappresentata in maniera adeguata dalla tradizionale storiografia linguistica nazionale, la quale suggerisce ancor oggi troppo spesso «una proiezione anacronistica dell’attuale diatopia dell’italiano nella storia» (Krefeld 2011: 142) 14 . Anche rispetto alle consuete classificazioni dello spazio linguistico romanzo, le isole rappresentano spesso un’eccezione, se non un vero e proprio fattore ‘di disturbo’, dal momento che si collocano al contempo nell’una e nell’altra categoria (si veda il caso della Sardegna tra Romània orientale e occidentale) o invitano a classificazioni alternative a quelle comunemente accettate (si veda ad es. la Romània intertirrenica o interadriatica, su cui torneremo a breve). Per poter descrivere i complessi profili linguistici risultanti dai processi di elaborazione (Ausbau), dalle situazioni di contatto e migrazione, dai fenomeni di Überdachung e dagli usi linguistici specifici che si possono trovare sulle diverse isole del Mediterraneo, sarà perciò più appropriato intraprendere una storiografia linguistico-areale che tenga in considerazione le differenze registrabili di epoca in epoca (cfr. Krefeld 2007; 2011: 142, «epochenorientierte Sprachraumgeschichte»). Inoltre, come vedremo a breve, risulta più sensato distanziarsi da un’ottica nazionale e concentrarsi piuttosto sulle realtà territoriali che si possono distinguere al di sotto e al di là del territorio nazionale (cfr. anche Krefeld 2024: 24). Ad un approccio che distingue tra diverse epoche ne va dunque aggiunto uno che getti uno sguardo altrettanto differenziato sulle singole realtà territoriali. Un tale accostamento alla storia linguistica potrebbe portare, nel caso delle isole mediterranee ‘italo-romanze’, alla seguente distinzione di partenza: A) presenza di comunità linguistiche italo-romanze in epoche passate (fino alla prima metà del secolo XVIII circa); DOI 10.24053/ Ital-2023-0027 110 Laura Linzmeier / Davide Soares da Silva 15 Una tale suddivisione rappresenta un primo approccio e andrà ulteriormente raffinata. 16 «vor allem durch die Mündlichkeit getragen[e] Gemeinsprachen» (Krefeld 2011: 142). 17 Non è marginale, a questo proposito, il ruolo svolto da Napoleone, le cui campagne portarono ad esempio alla dissoluzione della Repubblica di Venezia nel 1797 (cfr. Freeman 2008: 56). 18 Le isole che fanno parte della sola categoria A non godono oggigiorno di uno statuto legislativo che tuteli o garantisca la vitalità o la rivitalizzazione degli idiomi italo-ro‐ manzi una volta (ampiamente) diffusi nell’oralità. Tuttavia, sulla base della fitta rete di legami storici che in parte sussiste ancora oggi con l’Italia o con alcune regioni italiane (attraverso il commercio, il turismo, l’interscambio culturale, ecc.), su queste isole non sarebbe impossibile rinvenire, oltre ad attestazioni di varietà italo-romanze del passato, anche tracce di una italofonia ‘rivitalizzata’. B) presenza di comunità linguistiche italo-romanze in epoca moderna (a partire dalla seconda metà del secolo XVIII circa, ovvero dal principio della diffusione di una lingua nazionale). Riteniamo fondamentale tracciare una linea di demarcazione tra la prima e la se‐ conda metà del secolo XVIII, distinguendo così due macroepoche, 15 dal momento che il ruolo esercitato dalla diffusione della scritturalità non può considerarsi in egual misura indicativo per le koinè e le lingue territoriali diffusesi prima del secolo XVIII da un lato e la nuova lingua nazionale dall’altro (cfr. Krefeld 2011: 145). Nel primo caso, si trattava di «lingue comuni sostenute soprattutto dall’oralità» (Krefeld 2011: 142) 16 , ad esempio nei territori delle repubbliche marinare di Pisa, Genova e Venezia. Nel secondo caso, a partire dalla seconda metà del secolo XVIII, 17 ossia nel periodo caratterizzato dal consolidamento dello stato nazionale, si trattava invece di lingue tetto ufficiali o standard diffuse in primo luogo proprio tramite la scritturalità. Quest’ultima ha portato ad un livello completamente nuovo e diverso di integrazione delle lingue tetto nel quotidiano (ad es. attraverso l’alfabetizzazione scolastica e l’influenza dei media) e influenza ancora oggi il repertorio delle comunità linguistiche (bilinguismo, diglossia e/ o passaggio alla lingua dominante, convergenza al rispettivo standard nazionale da parte dei dialetti locali, ecc.) in maniera determinante. La distinzione qui proposta non esclude che alcune isole possano essere considerate, a seconda dell’interesse storico-linguistico, appartenenti sia alla categoria A che alla categoria B (ad esempio la Corsica, la Sardegna e le isole quarnerine), mentre invece altre isole, in particolare quelle che si possono ascrivere all’Italoromània (semi-)submersa, come Creta o Malta, sono accessibili solo in prospettiva storica, quindi rientrano solamente nella categoria A. 18 Vediamo dunque quali sono nel dettaglio le varietà italo-romanze appartenenti alle categorie A e B: DOI 10.24053/ Ital-2023-0027 Lo spazio linguistico italo-romanzo in prospettiva insulare 111 19 Tradotto dal tedesco «Domänen Handel, Religion und Bildung, geographisch ausge‐ hend vom Nordosten der Insel» (Haist/ Kailuweit 2021: 74). A) (Italo)romània storica A1 Varietà romanze sviluppatesi sulle isole prossime alla penisola italiana in seguito alla latinizzazione e che si trovavano nella sfera d’influenza di lingue territorial-veicolari italo-romanze (ad es. pisano, genovese, ve‐ neziano, ecc.) o che si sono sviluppate verso l’italo-romanzo attraverso processi di contatto duraturi e ibridazione con varietà italo-romanze: - le varietà romanze autoctone della Corsica sviluppatesi in direzione del toscano tramite l’adozione del pisano a livello sovraregionale (dal 1120 circa); - il sardo meridionale, la cui fonetica è fortemente influenzata dalle varietà toscane a partire dal secolo XIII (cfr. Krefeld 2011: 146; Lupino 2023: 128- 130); - la varietà autoctona dell’Elba, oggi per lo più ascritta al toscano (con tratti comuni al pisano e al còrso in particolare) (cfr. Schwarze 2000: 74-75) a seguito della forte influenza che la Repubblica marinara di Pisa ha esercitato sull’isola a partire dal 1000 d.C. ca.; - l’istroveneto, ossia «la variante istriana del veneziano coloniale» (Mattic‐ chio 2021: 143), che al più tardi a partire dal Cinquecento è andata sovrap‐ ponendosi ai dialetti romanzi autoctoni dell’Istria e delle isole quarnerine, influenzando anche i dialetti ciacavi; - il sassarese e il gallurese, varietà ibride sviluppatesi in condizioni di intenso e duraturo contatto tra il sardo settentrionale e il còrso (oltre che con il pisano e il genovese) a partire dall’Alto Medioevo (cfr. Maxia 2012: 41-42). Esempio per A1: Corsica Le varietà romanze che si sono originariamente sviluppate in Corsica in seguito alla latinizzazione (a partire dal 237 a.C.) hanno subìto una forte toscanizzazione durante il periodo della dominazione pisana (1077-1284) ed è sulla base del pisano che si sono sviluppate le varietà còrse. A partire dal 1120 circa il pisano era già in uso nei «domini del commercio, della religione e dell’istruzione, partendo geograficamente dal nord-est dell’i‐ sola» (Haist/ Kailuweit 2021: 74) 19 . Il toscano fu poi ampiamente utilizzato anche sotto il successivo dominio genovese (1284-1755): «Genova, anzi, DOI 10.24053/ Ital-2023-0027 112 Laura Linzmeier / Davide Soares da Silva 20 Nel secolo XVI la piccola isola di Tabarca, al largo della Tunisia, fu lasciata in concessione ad una famiglia di pescatori e commercianti di corallo genovesi, la quale attrasse numerose altre famiglie al suo seguito. A causa della sovrappopolazione nonché dello sfruttamento intensivo e del conseguente esaurimento dei banchi di corallo, nel 1738 Carlo Emanuele I concesse ad una parte degli abitanti di Tabarca di colonizzare l’isola di San Pietro, allora disabitata, nel sud-ovest della Sardegna. Dopo l’occupazione di Tabarca da parte del Bey di Tunisia nel 1741, alcune famiglie rimaste sull’isola furono tratte in salvo da Carlo Emanuele III a Carloforte (San Pietro), mentre nel 1769 altre famiglie ancora furono esodate su un’isoletta vicino ad Alicante (Illa Plana, ribattezzata poi in: Nueva Tabarca) da Carlo III (cfr. Toso 2017: 447-448). Mentre il tabarchino, un dialetto ligure, gode ancora oggi, nell’arcipelago sardo del Sulcis, di vitalità e di riconoscimento giuridico a livello regionale, la varietà genovese parlata a Nueva Tabarca si estinse completamente nel Novecento (cfr. Toso 2011). Cfr. per la Sardegna il progetto di storia digitale Colonizzazioni interne e Migrazioni, https: / / sto ria.dh.unica.it/ colonizzazioninterne/ it/ popolazionismi-regno-di-sardegna-xviii-mappa -dei-popolamenti. avrebbe agito da vettore efficiente della toscanizzazione (italianizzazione) dell’isola» (Lupino 2023: 132). Il genovese, dal canto suo, si affermò solo a Bonifacio. A2 Varietà romanze di gruppi linguistici e/ o sociali relativamente omogenei che si trovano in condizioni di extraterritorialità: - isole linguistiche italo-romanze su isole geologiche come il tabarchino a base ligure a Sant’Antioco e San Pietro in Sardegna, 20 il gallo-italico in Sicilia (San Fratello), il dialetto ligure di Bonifacio in Corsica, il fiorentino di Portoferraio sull’isola d’Elba, i dialetti veneti di alcuni comuni della Sardegna (p.es. ad Arborea); - varietà italo-romanze in uso presso un determinato gruppo sociale, profes‐ sionale o culturale più o meno omogeneo in uno specifico dominio d’uso: ad esempio, il veneziano come lingua dell’amministrazione a Creta dal 1204, il siciliano e, dal Cinquecento, il toscano come lingua dei tribunali e della letteratura a Malta. Esempi per A2: Creta e Malta Creta fu un’importante base strategica della Serenissima dal 1204 alla metà del secolo XVII. Se è vero che il greco fu adottato anche dalla maggioranza degli abitanti veneziani (cfr. Eufe 2019: 62-63), nelle città DOI 10.24053/ Ital-2023-0027 Lo spazio linguistico italo-romanzo in prospettiva insulare 113 maggiori era ampiamente diffuso il bilinguismo. Anche nell’amministra‐ zione, come attestano numerosi documenti d’archivio, si utilizzava una varietà italo-romanza di base veneziana con caratteristiche comuni a varietà dell’Italia settentrionale (cfr. Eufe 2019: 81). Anche se oggigiorno Creta va attribuita alla Italoromània submersa, l’influenza del veneziano e del toscano - il quale ha svolto un ruolo di rilievo come lingua di cultura dall’inizio del secolo XVI - si manifesta nella presenza di numerose forme italo-romanze tuttora in uso nel cretese e si ritrova soprattutto nel lessico della marineria, dell’artigianato, oltre che in quello relativo al gioco, al teatro, alla gastronomia, ecc. (cfr. Minniti Gònias 2018). A Malta, a partire dal Cinquecento, l’italiano (toscano) cominciò a sos‐ tituire il siciliano diventando via via lingua dominante della cultura. Dall’Ottocento, nonostante l’introduzione dell’inglese come lingua del‐ l’amministrazione, l’italiano rimase in uso nella giurisprudenza e ciò fino al 1934, data in cui presero il via la standardizzazione del maltese e il bilinguismo ufficiale maltese-inglese. Il contatto linguistico con varietà italo-romanze (siciliano e toscano) ha lasciato comunque segni indelebili, tanto che oggi una buona parte del vocabolario maltese è di origine italo-romanza (cfr. Sciriha 2013: 5-10). Con la promulgazione del Maltese Language Act nel 2005, l’italiano ha perso ogni funzione ufficiale, ma rimane una lingua straniera (di prestigio) che si insegna anche a scuola (cfr. Berruto 2001: 12; Brincat 2020; Sciriha/ Vassallo 2022: 2, 8). B) Italoromània moderna (a partire dalla seconda metà del secolo XVIII circa) B1 Varietà che rientrano nello spazio varietistico dell’italiano in seguito al processo di Überdachung da parte dell’italiano standard: - l’italiano regionale in uso sulle isole italiane (ad esempio, l’italiano regionale della Sardegna); - varietà insulari (sovra)locali senza un proprio standard di riferimento ufficialmente riconosciuto: siciliano, elbano, pantesco; - varietà insulari (sovra)locali con un proprio standard di riferimento uffici‐ almente riconosciuto, ad esempio il sassarese (dal 2022; cfr. Marras et al. 2022). DOI 10.24053/ Ital-2023-0027 114 Laura Linzmeier / Davide Soares da Silva 21 La Corsica è francese dal 1758. Il còrso ha sviluppato uno standard relativamente adattabile alle diverse varietà (langue polynomique) e largamente diffuso nei contesti ufficiali (istruzione, amministrazione, media) (cfr. Fabellini/ Linzmeier 2020: 279; Klöden 2021: 192). Esempio per B1: Varietà sarde Dopo che le varietà sarde sviluppatesi in seguito alla romanizzazione attraversarono varie fasi di almeno parziale Überdachung da parte del pisano, del genovese, del catalano e dello spagnolo, con il trattato di Londra (1718) la Sardegna passò ai duchi di Savoia. A conseguenza di ciò, nel 1727, Vittorio Amedeo II incentivò la diffusione dell’italiano, iniziativa che in principio ebbe un successo solo moderato vista la forte presenza dello spagnolo (cfr. Lupino 2023: 185-186). La lingua dell’istruzione e dei tribunali passò definitivamente all’italiano a partire dal 1760 (cfr. Lupino 2023: 179, 186). Dalla seconda metà del secolo XX le varietà sarde subirono quindi una «trasfigurazione dialettale» (Lupino 2023: 215) che le avvicinò all’italiano. D’altro canto, soprattutto a partire dalla seconda metà del secolo XX, si cerca di preservare il sardo con misure di rivitalizzazione (cfr. Marzo 2017: 57-58) e standardizzazione (in particolare la Limba Sarda Comuna a partire dal 2006). B2 Varietà italo-romanze che si trovano ‘sotto’ una lingua tetto non italiana: - varietà italo-romanze prive di un proprio standard di riferimento: il ge‐ novese a Bonifacio sotto la lingua tetto francese o l’istroveneto sulle Isole quarnerine sotto la lingua tetto croata (ma con bilinguismo ufficiale italiano-croato); - varietà locali con un proprio standard di riferimento: ad esempio la langue polynomique del còrso accanto al francese in Corsica. 21 Esempio per B2: l’istroveneto delle isole quarnerine In Istria e sulle Isole quarnerine (p.es. Lussino, Cherso, Veglia) si sviluppò e si diffuse l’istroveneto, principalmente a seguito della colonializzazione veneziana. Al più tardi a partire dal Cinquecento, nella scritturalità e nell'oralità di ambito ufficiale istriane era altresì presente il toscano. Sotto il dominio asburgico (1797-1918), le lingue diffuse in Istria godevano di uno DOI 10.24053/ Ital-2023-0027 Lo spazio linguistico italo-romanzo in prospettiva insulare 115 22 In Istria, l’italiano è lingua ufficiale assieme al croato (cfr. Matticchio 2021: 144-145). La CNI, «l’organizzazione unitaria, autonoma, democratica e pluralistica degli Italiani delle Repubbliche di Croazia e Slovenia», è composta da 53 Comunità degli Italiani (7 in Slovenia e 46 in Croazia) (cfr. https: / / www.unione-italiana.eu/ index.php/ it/ chi-siam o; 21.12.2023). 23 Cfr. https: / / www.lussinpiccolo-italia.net/ (05.10.2023). A Lussinpiccolo «[i]l sodalizio promuove corsi di lingua italiana per bambini, ragazzi e adulti, organizza attività culturali, ricreative e di socializzazione tra cui escursioni di studio in Italia, eventi e manifestazioni culturalmente rilevanti per valorizzare la storia la cultura e le tradizioni italiane» (cfr. https: / / www.unione-italiana.eu/ index.php/ it/ le-comunita-deg li-italiani-2/ item/ 281-lussinpiccolo; 21.12.2023). Il sito facebook della Comunità degli Italiani di Cherso/ Zajednica Talijana Cres è redatto principalmente in italiano e non in istroveneto (cfr. https: / / www.facebook.com/ groups/ 1724207137851033/ ; 21.12.2023). 24 Cfr. https: / / www.serenissima.news/ la-croazia-riconosce-la-lingua-istroveneta-ora-sol o-in-italia-la-lingua-veneta-e-senza-tutela/ (21.12.2023). 25 Sarà interessante seguirne gli sviluppi anche e soprattutto in merito alla costituzione di uno standard sovraregionale; cfr. https: / / www.istroveneto.com/ (21.12.2023). 26 Secondo Tagliavini (1964: 298) - «tenendo conto della ripartizione geografica, dei sostrati e di molti altri criterî» - l’italo-romanzo comprende il dalmatico (con feno‐ status paritario: l’italiano (toscano) rappresentava una lingua di prestigio e fu utilizzato nell’amministrazione e nell’istruzione fino alla fine del secolo XIX, quando venne sostituito dal (serbo-)croato (cfr. Linzmeier/ Soares da Silva 2023: 85-86; Matticchio/ Tamaro 2020: 185). L’istroveneto, dal canto suo, rimase in uso nei domini informali e nell’oralità. Oggigiorno, l’eredità italo-romanza è tutelata attraverso una serie di norme giuridiche che garantiscono - almeno formalmente - il bilinguismo croato-italiano. 22 La diffusione dell’italiano viene incentivata dalla Comunità Nazionale Italiana, oltre che attraverso l’effetto dei continui scambi e contatti con l’Italia (turismo, cultura, commercio, ecc.). 23 L’istroveneto, a sua volta, è riconosciuto e tutelato in Croazia e in Slovenia dal 2021 24 e, pur non disponendo ancora di un proprio standard e pur non facendo parte dei curricula scolastici, è tuttavia promosso tramite molteplici eventi culturali (cfr. Matticchio/ Melchior 2024: sez. 2, n. 12). 25 5 Italoromània e Inter-Romània? Le isole del Mediterraneo rendono evidente come la comune interpretazione delle tradizionali classificazioni «di natura areale» ( Jacob 2003: 150, tradotto dal tedesco «arealer Natur») in Italoromània, Galloromània, Iberoromània, Balcano‐ romània - termini coniati da Tagliavini 26 - oscuri in buona parte le complesse e DOI 10.24053/ Ital-2023-0027 116 Laura Linzmeier / Davide Soares da Silva meni appartenenti al dominio balcano-romanzo), l’italiano, il sardo e il ladino. Nel dominio linguistico ‘italiano’, Tagliavini (1964: 334; cfr. 338) distingue l’italiano (= «La parte principale del dominio linguistico che abbiamo chiamato italo-romanzo») e tre macro-gruppi dialettali: dialetti alto-italiani/ settentrionali (cioè i dialetti gallo-italici, il Veneto, l’Istriano), dialetti centro-meridionali e dialetti toscani (inclusi i dialetti còrsi). Di tutt’altro tenore è la prospettiva di Pellegrini, per il quale è decisivo il ruolo dell’italiano come lingua di riferimento (p.es. culturale): per Pellegrini (1975 [1973]: 56s.), i sistemi linguistici dell’italo-romanzo includono «[…]le varie parlate della Penisola e delle Isole che hanno scelto, già da tempo, come ‘lingua-guida’ l’italiano». Si tratta di «cinque gruppi di parlate ‘italo-romanze’ caratterizzate da una notevole autonomia dialettale»: italiano settentrionale/ cisalpino (inclusi anche il ligure, il veneto, l’istrioto), il friulano, i dialetti «centromeridionali», il sardo «con l’appendice del corso», il toscano («col corso toscanizzato»)» (Pellegrini (1975 [1973]: 68). Anche Muljačić (2003: 7) si dimostra in gran parte d’accordo con questa delimitazione termi‐ nologica quando afferma che «[l]’italo-romanzo non è all’inizio dello sviluppo storico. Piuttosto, è dovuto all’espansione del fiorentino > italiano» (tradotto dal tedesco: «das Italoromanische steht nicht am Anfang der historischen Entwicklung. Es ist vielmehr der Expansion des Florentinischen > Italienischen zu verdanken»). 27 Tradotto dal tedesco: «All diesen Einteilungen, seien sie auf grobe binäre (Ost-West, Nord-Süd) oder ternäre Scheidungen oder auf subtilere Untergruppierungen aus, haftet eine gewisse Willkür bei der Auswahl der zur Abgrenzung herangezogenen Isoglossen an: Es gibt jeweils auch Isoglossen, die andere Einteilungen nahe legen würden» ( Jacob 2003: 150). stratificate dinamiche di genesi e di sviluppo delle lingue romanze. A sostegno di una classificazione areale vengono spesso addotti criteri di storia linguistica non solo esterna (cfr. Jacob 2003: 150), ma anche interna (ivi inclusi cambiamenti tipologici) (cfr. Hoinkes 2003: 125). Molte varietà diatopiche romanze, tuttavia, non sono ascrivibili univocamente a un sottogruppo piuttosto che a un altro. Le singole classi, inoltre, non sono sempre distinguibili l’una dall’altra. Con le parole di Jacob, [t]utte queste sommarie classificazioni, siano esse di natura binaria (est-ovest, nord-sud) o ternaria, siano esse volte a identificare più diramazioni ancora, sono caratterizzate da una inevitabile arbitrarietà nella scelta delle isoglosse utilizzate per la demarcazione. Esistono isoglosse che suggeriscono anche altre categorizzazioni ( Jacob 2003: 150). 27 Thomas Krefeld (2007: 68) definisce queste classificazioni come «pseudo-sto‐ riche, pseudo-geolinguistiche e criptonazionali perché fondate anch’esse sui territori delle quattro grandi lingue nazionali». Data l’assolutizzazione di determinati parametri (mediante l’oscuramento di determinati altri), tali clas‐ sificazioni permettono solo difficilmente di descrivere ad es. delle varietà di transizione, motivo per cui sono stati proposti ulteriori raggruppamenti (ad esempio il gruppo gallo-italico, il Romanzo Alpino; cfr. Lausberg 3 1969: 53, DOI 10.24053/ Ital-2023-0027 Lo spazio linguistico italo-romanzo in prospettiva insulare 117 28 Una latinità arcaica che unisce la Sardegna e la Corsica è attestata anche da Rohlfs (Rohlfs 1941: 9-10, cfr. anche Krefeld 2011: 144). 55). Le molteplici realtà dello spazio romanzo, tuttavia, mostrano come una chiara sistematizzazione delle singole aree linguistiche insulari sia difficilmente realizzabile su questa base categoriale. La latinizzazione (e, in un secondo tempo, l’italoromanizzazione) è avvenuta isola per isola, in una determinata fase storica e secondo determinate modalità. Quali fatti storici sono quindi da considerare decisivi per poter parlare oggi di varietà italo-romanze? Lausberg (1969: 68) attesta per la Sardegna e per la Corsica (così come per la Lucania-Calabria e l’Africa) una latinità arcaica, 28 per la Sicilia (e l’Italia meridionale), invece, una latinità d’influenza greca. Tuttavia, più che la latinizzazione, è l’intenso contatto verificatosi nel Mediterraneo durante l’Alto Medioevo a rappresentare il fattore decisivo per l’italoromanità delle varietà autoctone: successive sovrapposizioni da parte di lingue romanze di contatto possono aver contribuito ad avvicinare le lingue autoctone in vario modo al ramo ‘italo-romanzo’ (o, al contrario, ad allontanarle da esso), oppure possono aver lasciato dietro di sé una forte frammentazione dialettale (cfr. Krefeld 2011: 144-146), come nel caso dell’influenza toscana sul campidanese nell’Alto Medioevo o in quello dell’attuale italianizzazione del sardo (cfr. Gaidolfi 2017). Riferendosi alle lingue e alle varietà della Balcania, Prifti (2016: 204) sottolinea anche come il «modo tendenzialmente monolitico di percepire la romanità», visione tutt’oggi prevalente, non permetta di descriverne in maniera soddisfac‐ ente i diversi strati autoctoni e secondari. Ciò diventa particolarmente chiaro nel caso delle varietà ibride: il sassarese, ad esempio, viene considerato una varietà ibrida sardo-italo-romanza. La Corsica, altro esempio, si trova oggi all’interno dello spazio varietistico del francese, di modo che il còrso, tradizionalmente ascritto all’italoromània, rientra nella sfera d’influenza gallo-romanza - ed esistono infatti varietà di contatto ibride come il francorsu (matrice francese) e il corsancese (matrice còrsa) (cfr. Klöden 2021: 195), che si collocano quindi tra il «gallo-romanzo» e «l’italo-romanzo». I frequenti cambiamenti della lingua tetto tipici delle isole mediterranee e le numerose situazioni di contatto linguistico dovute a frequenti immigrazioni - spesso in uno spazio molto limitato (cfr. la metafora della lente focale) - hanno creato le condizioni ideali per far sorgere fenomeni di transizione e forme ibride, il che dimostra ancora una volta che i confini linguistici non sono un dato di fatto, ma sono in continua evoluzione (cfr. Linzmeier 2019: 37-38; Fabellini/ Linzmeier 2020). Risulta inoltre evidente che nelle isole del Mediterraneo (si vedano gli esempi della Sardegna e della Sicilia) coesistono DOI 10.24053/ Ital-2023-0027 118 Laura Linzmeier / Davide Soares da Silva 29 Tradotto dal tedesco «Wie man sieht, wirkten ‚alte’ und ‚neue’ Romanisierungsbewe‐ gungen in vielfältiger Weise zusammen» (Krefeld 2024: 24). 30 Ad es. nel còrso le terminazioni del presente indicativo sono -emu/ -emi (cantemu) (non da -AMUS) e -enu/ -ini (vendenu) (non da -UNT). Si registra poi -enel participio presente (luccichente) e nel congiuntivo imperfetto (cantessi). A questo proposito Chiorboli (1997: 1218) parla, riferendosi a Lüdtke (1956: 52-53) - che basava le sue riflessioni sulla morfologia verbale -, di «[…] un système qui s’oppose à l’italien et a fondé l’identification d’une zone intertyrrhénienne». Sempre Chiorboli (1997: 1220) accoglie l’idea di Nesi (1988: 807) di «[…] un programma per la rivisitazione del problema delle concordanze tosco-corse che tenga conto in modo più compatto di un areale tirrenico le cui caratteristiche lessicali possano esser considerate originali e parzialmente indipendenti dalle pressioni toscane sul corso», traendone la seguente conclusione: «ce point de vue rejoint celui d’une aire «intertyrrhénienne» définie comme un nouveau cadre possible pour la classification du corse à partir de traits morphosyntaxiques» (Chiorboli 1997: 1220). forme o varietà più conservatrici dovute all’isolamento con forme o varietà innovative sviluppatesi in seguito al contatto linguistico (cfr. anche Krefeld 2024: 17-21): «Come si può vedere, i movimenti di romanizzazione ‘vecchi’ e ‘nuovi’ hanno interagito in vari modi» (Krefeld 2024: 24). 29 Le complesse situazioni linguistiche che si riscontrano sulle diverse isole meritano pertanto di essere analizzate di caso in caso individualmente. Un altro metodo di classificare lo spazio linguistico insulare italo-romanzo è quello di individuare una serie di tratti comuni che consentano - almeno in una fase successiva all’attribuzione ad A) e/ o B) - di collocare le isole linguisticamente più complesse in raggruppamenti linguistici non rigidi, ma in un certo senso ‘sciolti’. Tuttavia, è evidente che un tale approccio porta a diverse interpretazioni a seconda del criterio a cui si attribuisce maggior rilevanza: quello linguistico-strutturale (fonetica, morfologia, lessico) o quello storico-cronologico (proto-romanzo, stratificazione secondaria). Un metodo di classificazione già praticato, ma che proprio a causa di questa criticità non si è ancora affermato appieno, sarebbe quello di raggruppare le aree linguistiche sulla base di caratteristiche comuni esistenti in un preciso momento storico. Chiorboli (1988: 62; 1992: 148; 1997: 69) ha delineato ad es. una Romània Intertirrenica, che, sulla base di caratteristiche fonetiche e specialmente morfo‐ logiche sviluppatesi dalla latinità arcaica, comprende il dialetto elbano, i dialetti delle isole còrse 30 , quelli delle isole e delle zone meridionali del Tirreno e del sardo (cfr. anche Schwarze 2000: 83). Questa classificazione rende giustizia, per esempio, al còrso, che viene tradizionalmente considerato vicino al toscano (cosa che vale soprattutto per il còrso settentrionale), nonostante le varietà meridionali mostrino più tratti comuni con varietà italomeridionali e sarde (cfr. Haist/ Kailuweit 2021: 72; Klöden 2021: 188). Per descrivere aree linguistiche DOI 10.24053/ Ital-2023-0027 Lo spazio linguistico italo-romanzo in prospettiva insulare 119 31 Infatti anche Chiorboli (1988: 82) sottolinea: «Dans cette zone que nous avons appelée Intertyrrhénienne (et qui comme toutes les aires linguistiques ne saurait être considérée comme un bloc monolithique), il est clair que chaque langue conserve plus ou moins (ou acquiert) des caractéristiques propres, résultat d’évolutions intrasystémiques et de facteurs externes forcément divers». 32 Lupino (2023: 131) considera il sassarese e il gallurese «due parlate non sarde». analoghe e non meno complesse si sono coniati anche i termini di Romànita Interadriatica (Lausberg 1967: 32; «interadriatische Romanität») o Romània Circumadriatica (Tekavčić 1979). Pur non del tutto convincente, si tratta di un tentativo comprensibile di trovare una categoria in cui far rientrare diverse lingue/ varietà insulari allo stesso tempo. A causa dei processi di contatto linguistico altamente dinamici che vi si riscontrano, le isole vanno tuttavia sempre analizzate individualmente, e sorge pertanto in questi approcci areali una serie di idiosincrasie che lasciano insoddisfatta una linguistica alla ricerca di categorie: 31 tramite una prospettiva intertirrenica, interadriatica, ecc. si spera di rendere visibili determinati feno‐ meni sovraregionali (nel senso di uno Sprachbund), ma allo stesso tempo si fa sparire l’individualità di ciascuna isola dietro a somiglianze e simmetrie apparenti. Molto spesso infatti, queste ultime non sono che dei semplici relitti di una determinata stratificazione linguistica, tanto interessanti per quanto riguarda gli scenari di contatto storici, quanto privi di un effetto significativo sulla tipologia delle lingue in questione. Resta quindi da chiedersi quale sia il valore aggiunto di una simile prospettiva. Ulteriori concetti che forse andrebbero ridiscussi in sede di analisi delle aree insulari sono quelli di ‘alloctono’ vs. ‘autoctono’. Mentre, ad esempio, l’algherese (varietà catalana) è unanimemente classificato dagli studiosi come una varietà alloctona della Sardegna, lo stesso non vale per il gallurese, spesso classificato come sud-còrso (ad esempio Lai/ Dalbera-Stefanaggi 2005: 33) o come varietà ibrida sardo-còrsa, considerato comunque «autoctono» (v. ad es. Prifti 2021: 555). Sebbene sia la migrazione dalla Corsica ad essere responsabile della comparsa di questa varietà, in Sardegna il gallurese non è apparentemente considerato come ‘straniero’. È dovuta questa tendenza forse al fatto che la distanza tra la Sardegna e la Corsica (12 km) non consente di tracciare una vera e propria linea di confine? O piuttosto al fatto che le caratteristiche còrse del gallurese non sono sufficienti a definire la lingua come non sarda? 32 Un altro esempio: lo spazio varietistico del siciliano comprende non solo le varietà siciliane della Sicilia ma anche il pantesco - una varietà del trapanese - diffuso a Pantelleria. Tuttavia, il pantesco non è una varietà autoctona emersa con la latinizzazione (come il siciliano), ma si è diffuso solo a partire dal DOI 10.24053/ Ital-2023-0027 120 Laura Linzmeier / Davide Soares da Silva secolo XVIII in seguito a flussi migratori (cioè secondariamente) dalla Sicilia occidentale a Pantelleria. Sebbene l’isola abbia condiviso una storia comune con la Sicilia a partire dal secolo XII e genovesi, catalani, ma anche siciliani abbiano vissuto nei pressi del castello e del porto, fino al secolo XVII la lingua diffusa all’interno dell’isola era l’arabo. Di conseguenza, il pantesco non è un dialetto autoctono, bensì alloctono, importato dalla Sicilia attraverso migrazione e sviluppatosi localmente a seguito di contingenze politiche soprattutto a partire dal secolo XVIII. A rigore, si tratta quindi di un’isola linguistica situata su di un’isola - situazione paragonabile a quella del tabarchino (cfr. Staccioli 2015: 194-196; Brincat 2000). Questo mostra, non da ultimo, come anche la mera contiguità geografica attuale - che può essere data anche laddove vi sia un tratto di mare tra due zone limitrofe, come nel caso delle varietà sardo-còrse e del gallurese - non è sempre spiegabile come risultato di un processo di successiva espansione geografica. 6 Quale profitto trarre dallo studio delle isole ‘italo-romanze’? Con il presente contributo si è cercato di gettare uno sguardo sullo spazio lingu‐ istico italo-romanzo da un’angolatura diversa, ponendo al centro dell’attenzione le isole del Mediterraneo e le comunità insulari in cui sono diffuse, o lo erano in un recente passato, la lingua italiana e/ o varietà italo-romanze. Abbiamo proposto un criterio di ordinamento cronologico entro il quale collocare - al di là di ogni differenza e peculiarità - le diverse isole d’influenza italo-romanza, predisponendone l’analisi dello specifico profilo linguistico in prospettiva sia diacronica, sia sincronica, lungo diversi fattori e diverse funzioni individuate. Prendere in esame l’isola nella sua natura geofisica ci porta a evidenziarne le diverse interconnessioni e ad esplorare i fenomeni di ibridazione che si verificano all’interno e anche al di là dei tradizionali confini della Romània. A proposito delle isole - come già sottolineato da Krefeld (2011; 2024) - sembra più sensato intraprendere una storia linguistica in scala territoriale, da accostare e, per certi versi, da contrapporre alla storia linguistica nazionale, differenziando inoltre lungo diverse epoche. L’isola, infine, ci proietta all’interno di quel campo di tensioni che sussiste tra interconnessione e isolamento, caratteristico, ci sembra, di molte (anche se non certo di tutte le) realtà insulari. Vorremmo concludere sollecitando una riflessione sull’idea che l’isola mediterranea - a seconda delle sue dimensioni e delle sue funzioni - non solo possa mostrare diversi gradi di stratificazione romanza, ma può anche essere un campo d’indagine particolarmente adatto, DOI 10.24053/ Ital-2023-0027 Lo spazio linguistico italo-romanzo in prospettiva insulare 121 viste le sue limitazioni spaziali, allo studio del contatto linguistico e dei fenomeni d’ibridazione (lente focale). Tali studi potrebbero essere a loro volta il punto di partenza per indagare scenari comunicativi simili in cui si incrociano la diversità linguistica e le limitazioni spaziali. Vi sono certamente molti aspetti che non si sono potuti approfondire in questa sede e che potrebbero potenzialmente contraddire determinate categorizzazioni o descrizioni, aspetti legati magari a percezione (che può anche contraddire l’analisi strutturale e tipologica di un sistema linguistico), senso di appartenenza e atteggiamenti delle comunità linguistiche, ma anche legati all’interazione linguistica tra gli abitanti di una determinata isola e altri attori sociali come i lavoratori stagionali o i turisti che la ‘invadono’ durante il periodo estivo. Nonostante le diverse vicende storico-linguistiche delle isole mediterranee non permettano troppe generalizzazioni, desideriamo tuttavia concludere invitando a prendere parte ad un dibattito sull’utilità di una tale categorizzazione. Invi‐ tiamo inoltre ad approfondire l’idea secondo cui l’isola di piccole e medie dimensioni possa essere considerata una sorta di laboratorio in cui studiare pro‐ cessi sociali altamente dinamici e le loro ripercussioni linguistiche (formazione di koiné, ecc.), applicando magari determinati criteri d’analisi e determinate categorizzazioni ad altri contesti in cui si registrano simili addensamenti di popolazione (isole linguistiche, città portuali, corti, ecc.). Bibliografia Berruto, Gaetano (2001): «Italienisch». Sociolinguistica 15, 72-95. Brincat, Joseph M. (2000): «‘Malta e Pantelleria: affinità e diversità storico-linguistiche’ in Pantelleria e il Mediterraneo». Atti del Convegno, Pantelleria, 16 luglio 2000. ⟨http: / / pasarchiviostorico.altervista.org/ malta-pantelleria-affinita-diversita-storico-linguis tiche/ ⟩ (30.10.2023). Calvet, Louis-Jean (2016): La Méditerranée. Mer de nos langues. Paris: CNRS Editions. 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DOI 10.24053/ Ital-2023-0027 126 Laura Linzmeier / Davide Soares da Silva Die Überwindung der Insel-Idylle auf Ventotene - Fabrizia Ramondinos L’isola riflessa Jonas Hock «sulle isole, le scrittrici vedono i fantasmi» Nadia Terranova Nel XX secolo, alcuni intellettuali europei scoprirono le isole come luoghi di ritiro dalla modernità. Mentre Denis de Rougemont, Walter Benjamin o Ernst Jünger cercavano soprattutto l’alterità degli idilli arcaici, L’isola riflessa di Fabrizia Ramondino diventa un prisma per riflettere sul profondo intreccio che lega anche la più piccola isola a contesti globali di oppressione e sfruttamento. Il libro su Ventotene non testimonia una fuga dal mondo, bensì un affinamento dello sguardo sul mondo (e su sé stessi), ispirata da una quotidianità disincantata sull’isola e un’immersione nella storia di oltre 2000 anni di confino ed esilio. Im 20. Jahrhundert entdeckten einige europäische Intellektuelle Inseln als Rückzugsorte vor der Moderne. Während Denis de Rougemont, Walter Benjamin oder Ernst Jünger vor allem die Andersartigkeit archaischer Idyllen suchten, wird Fabrizia Ramondinos Lʼisola riflessa zu einem Prisma, das es ermöglicht, über die tiefgreifenden Verflechtungen nachzudenken, die selbst die kleinste Insel mit globalen Zusammenhängen der Unterdrü‐ ckung und Ausbeutung verbindet. Das Buch über Ventotene zeugt nicht von einer Flucht aus der Welt, sondern vielmehr von einer Verfeinerung des Blicks auf die Welt (und auf sich selbst), inspiriert durch einen nüchternen Alltag auf der Insel und ein Eintauchen in die Geschichte von über 2000 Jahren Verbannung und Exil. Im Italienischen bezeichnet isola auch einen Baukomplex, der auf allen Seiten von Straßen umgeben ist und damit besonders gut erreichbar. Dass Inseln, ob in Meeren, Seen oder Flüssen, isoliert seien, ist eine recht neue Vorstellung. Von der Antike bis weit in die Neuzeit hinein war die Erreichbarkeit über das Wasser DOI 10.24053/ Ital-2023-0028 1 De Rougemont 1937, S.-16. vielmehr conditio einer Offenheit, die sich in oft ausgeprägter Konnektivität niederschlug. Der Konnektivitätsgrad war und ist dann selbstverständlich re‐ lativ, abhängig vom Interesse an einer Insel und den sie Bewohnenden - und von deren Drang nach außen. Dass noch ein felsiges Eiland, auf dem ein paar Ziegen dem Seefahrer für kulinarische Abwechslung sorgen können, jahrhundertelang öfter besucht wurde als manch weniger unwirtliche Flecken terraferma, davon zeugen die zahlreichen Cap(b)reras, Capraias etc. nicht nur im Mittelmeer. Mit zunehmender Erreichbarkeit abgelegener oder schwer zugänglicher Orte insbesondere im Laufe der infrastrukturellen Sprünge ab dem 19. Jahrhundert gewinnen Inseln rund um Europa im 20. Jahrhundert dann an Attraktivität als potentielle Residuen (noch) nicht durchindustrialisierter Idylle, die als vermeint‐ lich blinde Flecken der Moderne zu entdecken seien und doch, ironischerweise, schon im Moment ihrer ‘Entdeckung’ unwiederbringlich integriert sind. Der utopische Reiz des Archaischen war dabei nicht selten mit materiellen Vorteilen verbunden, die gerade dem notorisch klammen Intellektuellen willkommen sind. Insulare Idyllen als Rückzugsorte der Moderne Was suchen bzw. suchten Intellektuelle auf Inseln? Die soziologische Antwort wäre zunächst: Günstigere Lebensbedingungen als in den Metropolen. Prototyp für einen solchen ‘Sparaufenthalt’ ist Denis de Rougemont, bekannt vor allem für sein Buch über „die Liebe und das Abendland“ und den intellektuellen Begleitsound zur europäischen Integration, der seinen Aufenthalt auf der Île de Ré zwischen November 1933 und Juli 1934 unter dem Titel Journal d’un intellectuel en chomage minutiös dokumentierte und reflektierte. So führt er genau Buch über Einnahmen (wenige, meist durch Zeitschriftenartikel) und Ausgaben (ein Fässchen Wein, Holz zum Heizen, Petroleum für die Lampen, Briefmarken und Zigaretten). Zu Beginn seines Tagebuchs legt de Rougemont die Matrix fest, nach der er seinen Inselaufenthalt bewerten will: 1 - (problème matériel) - si l’on peut vivre loin des villes sans emploi ni gain assuré, et se procurer tout de même le strict nécessaire par des articles, traductions etc. […]-; 2 - (problème psychologique) - si ce régime est favorable ou non à la maturation d’une œuvre ; […] - s’il endort ou s’il excite l’esprit […]-; 3 - (problème social) - si les contacts inévitables et quotidiens entre un «intellec‐ tuel» de ma sorte et les habitants du pays, se révèlent bons, mauvais, ou simplement indifférents […]. 1 DOI 10.24053/ Ital-2023-0028 128 Jonas Hock 2 Ebd., S.-27-f. 3 Ebd., S.-120. 4 Ebd., S.-28. 5 Vicente Valero ( 2 2017) hat Benjamins Ibiza-Aufenthalt eine ausführliche Studie ge‐ widmet, auf die ich mich hier weitgehend stütze. 6 Allerdings heißt es weiter: „Wie kompliziert in Wirklichkeit seine Verhältnisse waren, habe ich erst Monate später erfahren.“ (Scholem 3 1990, S. 227). Tatsächlich hatten die politischen Verhältnisse und Benjamins prekäre Situation ihn zu seinem 40ten Geburtstag, den er vereinsamt auf Ibiza verbrachte, in eine tiefe Existenzkrise gestürzt. 7 Auf Französisch sind die verschiedenen Texte mit Ibiza-Bezug als Récits d’Ibiza in einem Band zusammengestellt (Benjamin 2020); die deutschen Originale sind über die Die Île de Ré an der französischen Westküste bei La Rochelle, heute Luxusur‐ laubsort, war in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts ein verlorenes Eiland mit verschlafenen Fischernestern und Bauerndörfern. Sofort als Städter erkennbar, aber sichtlich arm, erregt der Intellektuelle den Argwohn der Inselbewohner und lässt den Postbeamten verzweifeln, der nicht weiß, ob ein Manuskript als Drucksache oder als Brief zu frankieren ist. In Bezug auf die Inselerfahrung wird de Rougemont schnell grundsätzlich: Pourquoi les hommes vivent-ils sur des îles ? Quand nous sortons pour une promenade et que nous mesurons toute l’étroitesse de notre domaine, la mer partout à dix minutes et ces marécages hostiles, nous souffrons de ne pouvoir prolonger en pensée notre marche jusqu’au pays voisin. Cette liberté insulaire est une liberté négative. Elle nous met à l’abri du monde et nous ramène tout physiquement à nos limites. 2 An sich selbst beobachtet der Autor, er werde v. a. durch die Ferne von Paris „plutôt irritable, intellectuellement“ 3 , da er sich sozusagen von der verdichteten Metropolenexistenz entwöhnt. Das selbstgewählte Inselexil ist kein Urlaub, aber Reflexionstiefe und Selbstfindung zuträglich: „Tout ici me ramène à moi seul.“ 4 Ähnlich wie de Rougemont und beinahe zur gleichen Zeit wie dieser entdeckt Walter Benjamin Ibiza als Denkort für sich, wo er erstmals 1932 unschlagbar günstig einige Monate zu verbringen gedenkt, die nicht nur dem Lesen, Schreiben und Denken, sondern auch langen Spaziergängen gewidmet sein werden. 5 Auch für Benjamin sind die günstigen Lebenshaltungskosten aus‐ schlaggebend: „unvorstellbar billig - für weniger als zwei Mark pro Tag! “ hält Gershom Scholem beeindruckt fest, auf den Benjamin trotz der „Arbeitsfülle“ in seinen Briefen „ausgeruht“ wirkt. 6 Tatsächlich sind die beiden Insel-Aufent‐ halte 1932 und 33 produktive Phasen. Es entstehen kurze Erzählungen bzw. Denkbilder wie jene der „Ibizenkischen Folge“, aber auch die Arbeit an der Berliner Chronik und der Berliner Kindheit um neunzehnhundert beginnt auf der Insel. 7 Die Konfrontation mit einer Inselgesellschaft an der Schwelle zur DOI 10.24053/ Ital-2023-0028 Die Überwindung der Insel-Idylle auf Ventotene - Fabrizia Ramondinos L’isola riflessa 129 Gesammelten Schriften verteilt, die „Ibizenkische Folge“ etwa in Benjamin IV.1 1991, S.-402-409. 8 Vgl. z.-B. Hausmann 2019. 9 Benjamin II.1 1991, S.-218. 10 Vgl. Valero 2 2017, S.-119. 11 Benjamin VI 1991, S.-448. Moderne, wo Benjamin die Ungebrochenheit der Erzählkunst erlebt, die mit alltäglichen, die mündliche Weitergabe von Erfahrung erfordernden manuellen Arbeiten verbunden ist, wird ihn nicht nur zu eigenen Erzählexperimenten, sondern später u. a. zur Studie Der Erzähler anregen. Auch die Funktionalität der berühmten weißen fincas, die immer nach dem gleichen Prinzip gebaut sind, sich aber nie vollständig gleichen, inspiriert Benjamin - wie so manche Architekten und Avantgardisten in jenen Jahren 8 - zum Nachdenken über das Wohnen, aber auch grundlegender über „Erfahrung und Armut“. So kann die nachfolgende Passage des in den Ibiza-Jahren entstandenen Artikels gleichzeitig als Diagnose des Bewohnens modernster Glasbetonarchitektur, wie es der Text‐ zusammenhang vorsieht, gelesen werden und als Abstrahierung von Benjamins Inselerfahrung: Erfahrungsarmut: das muß man nicht so verstehen, als ob die Menschen sich nach neuer Erfahrung sehnten. Nein, sie sehnen sich von Erfahrungen freizukommen, sie sehnen sich nach einer Umwelt, in der sie ihre Armut, die äußere und schließlich auch die innere, so rein und deutlich zur Geltung bringen können, daß etwas Anständiges dabei herauskommt. 9 Das Zeitfenster für die Möglichkeit der Erfahrung von Erfahrungsarmut - zumindest im basalen Sinne von Reizreduzierung - auf der drittgrößten Balea‐ rischen Insel schließt sich jedoch rapide: Im Sommer 1932 gibt es im Dörfchen San Antonio, wo Benjamin unterkommt, weder Licht noch fließendes Wasser. 1933, beim zweiten Aufenthalt, hat bereits rege Bautätigkeit eingesetzt, die tou‐ ristische Erschließung bringt auch massive Preissteigerungen mit sich; General Francisco Franco besucht die Insel, wobei Benjamin ihm vermutlich begegnet; 10 wie vernetzt Ibiza bereits war, zeigt ein Tagebucheintrag vom ersten Aufenthalt über den Preisverfall für Eidechsen, die „ein internationaler Modeartikel“ 11 geworden waren, und dessen Auswirkung auf die Ökonomie der Eidechsenjagd auf der Insel: Archaik gab es schon seit den 1920er Jahren auch zum Verschicken für das heimische Terrarium. Auch Ernst Jünger hat von den 1920er bis 60er Jahren zahlreiche Inseln, insbesondere im Mittelmeer, bereist und darüber geschrieben: Sizilien (Aus der Goldenen Muschel), Rhodos (Ein Inselfrühling) und mehrfach Sardinien (Am Sa‐ DOI 10.24053/ Ital-2023-0028 130 Jonas Hock 12 Alle in Jünger 1960; vgl. Grundlegend zu Jüngers Reiseschriften Weber 2012, v. a. das Kapitel VI. mit dem bezeichnenden Titel „Mediterrane Refugien“. 13 Vgl. die präzise Analyse von Hagestet 2007. 14 Vgl. Benedetti 2019, v.-a. S.-112-114. 15 Vgl. zu Sardinien Vogel 2007. 16 Jünger 1955, S.-125. 17 Die Primärtextnachweise von Ramondino 1998 erfolgen durchgehend in Klammern ohne weitere Angabe als die Seite. razenenturm; Serpentara; San Pietro). 12 Zeigt sich an Rhodos, das Jünger 1938 mit seinem Bruder besucht, während es unter italienischer Herrschaft steht, schon die Spannung zwischen der dem Massentourismus zustrebenden Insel und dem die Massenkultur verachtenden Ästheten, der doch nicht umhinkommt, die touristischen Infrastrukturen zu nutzen 13 , betreibt er im Sizilien-Buch eine re‐ gressive Substantialisierung der Insel, deren durch Sonne und Boden induzierte vormoderne Lebensform die sicilianità zum Bollwerk gegen Faschismus und Moderne überhaupt werden lasse. 14 Den Höhepunkt erreicht die Jünger’sche Inselglorifizierung dann in den Sardinien-Büchern, in denen die archaische Insel zum letzten Rückzugsort stilisiert wird, wo der Mensch noch zu sich selbst und damit auch zu wahrem Denken kommen kann. 15 Diese mehrfach wie‐ derholte Sardinien-Erfahrung wird, obgleich die zunehmende infrastrukturelle Erschließung auch diese Insel nicht verschont, zu einer Art Insel-Mythologie universalisiert, wobei er die Unversehrtheit der Inseln metonymisch zu der ihrer Bewohner setzt und zum Schluss kommt: „Es gibt noch zahllose Inseln auf dieser Erde und in ihren Meeren, und auf vielen wohnen Menschen, weiße, braune und schwarze, die unversehrt sind und an denen man sich noch das Maß nehmen kann.“ 16 Die Inselidylle ist hier Ausgang für eine Anthropologie der Unversehrtheit mit Anklängen an rousseauistische Naturzustände. Denken jenseits der Idylle: L’isola riflessa Die Suche nicht nach Unversehrtheit, aber nach Heilung einer Versehrung ist es auch, die Fabrizia Ramondino auf eine Insel führte, wobei deren Name, nach zahlreichen durchaus unmissverständlichen Andeutungen, erst ab der Hälfte des den Aufenthalt reflektierenden Buches fällt: „qui a Ventotene“ (81). 17 Der Titel L’isola riflessa lässt zunächst im Vagen, wie die Reflexivität der Insel zu verstehen ist, wer oder was wovon gespiegelt wird oder spiegelt: die Insel die Figur (der Erzählerin bzw. Autorin) oder die Figur die Insel und diese die Welt? Auf jeden Fall ist die Erzählerin, die sich in einer existentiellen Krise auf die Pontinische Insel begibt, erfüllt von einer zunächst den Obigen gar nicht unähnlichen Sehnsucht nach Insel-Idylle, die gespeist ist von jener DOI 10.24053/ Ital-2023-0028 Die Überwindung der Insel-Idylle auf Ventotene - Fabrizia Ramondinos L’isola riflessa 131 18 Vgl. Ebermeier/ Hock 2023, S.-245. 19 Vgl. Giorgio 2005, S.-78-79. 20 Ebd., S.-87. Tabula-rasa-Imago und Streben nach entlastender Peripheralität (im Sinne eines ‘Abseits vom eigentlichen Geschehen’ - in Bezug auf Raum und Zeit, also auch Geschichte), welche so verlockend mit dem Begriff der Insel verbunden ist. Ab der ersten Seite zeigt sich jedoch, dass Ramondino um die Durchkreuzung dieser Hoffnung weiß - und zwar nicht nur aufgrund eines auf beeindruckende Weise in das Buch geflochtenen Wissens um die Palimpsesthaftigkeit der Mit‐ telmeerinsel, 18 auf der die Trümmerhaufen der Vergangenheit sich auf kleinstem Raum stapeln und doch für die Nichtwissenden weitgehend unsichtbar bleiben, sondern auch aufgrund der Wahrnehmungsschärfung, für die die Insel nicht Garantie, aber Katalysator ist - und für die es eine Sensibilität braucht, deren Verlust das reflektierende Ich der Isola riflessa bei so mancher Inselbegegnung hellsichtig und scharf vorführt. Die durch Erfahrungsreduktion bewusst herbei‐ geführte Fokussierung auf einzelne Situationen, manchmal auf kleinste visuelle Einzelheiten, wird der Erzählerin zum Sprungbrett für Assoziationen, die sie in wenigen Zeilen weit fort und unter anderer Perspektive wieder zur Insel zurücktragen. So kommt sie etwa von der Beobachtung einiger Touristinnen, die Akanthusblüten gepflückt haben, zur Erinnerung an frühere Spaziergänge an der Amalfiküste, wo diese so zahlreich zu finden sind, über Gaddas Recht‐ fertigung seines „barocken“ Schreibens damit, die Natur selbst sei barock, und eine Überlegung zum Verhältnis von Natur und Kultur anhand des Wortes „‘Buchenwald’: bosco di faggi“ (13) bis zur Feststellung, dass die confinati auf Ventotene - wie Eremiten und Piraten in früheren Zeiten - das Wissen um den Vitamin-C-Reichtum von Wildem Fenchel gut hätten gebrauchen können, womit sie wieder zur konkreten Pflanzenwelt der Insel zurückkehrt. Gleichzeitig schwindelerregend und doch nie beliebig sind diese Ketten, deren Glieder auf unterschiedlichste Weisen zusammengefügt werden; meist sind es Analogien, aber auch Chronologien, Synästhesien oder Etymologien bis hin zu harten Aneinanderfügungen ohne Übergang - nur kausal oder chrono(topo)logisch linear entwickelt sich keine der Erzählschleifen. Entspre‐ chend grob müssen Sortierversuche vorgehen. Adalgisa Giorgio arbeitet in einem grundlegenden Aufsatz zwei Leitmotive heraus: Einsamkeit (inklusive Ausschluss, Exil, Gefängnis etc.) und die Opposition von Natur vs. Kultur, 19 betont aber explizit: „The text does not present simplistic oppositions such as island, tradition, authentic values and good versus Italy, modernity, corruption and evil.“ 20 DOI 10.24053/ Ital-2023-0028 132 Jonas Hock 21 Einer Gattungszuordnung gehe ich bewusst aus dem Weg. Solche Spannungen, Binäroppositionen gar, herauszuarbeiten, die den Text 21 durchziehen, kann einen ersten Zugang zur thematischen Breite bieten, auch wenn es bedeuten mag, an der Komposition des Buches vorbeizugehen. Der Ein‐ samkeits-Komplex bekommt eine historische, geographische, gesellschaftliche und persönliche Dimension, die alle miteinander verwoben werden. Letztere wird, unmittelbar nach dem Incipit, über einen extravaganten Vergleich mit einer Jahreszeit eingeführt: Der Frühling sei müde: „Forse […] [la primavera] non riesce, la poveretta, a liberarsi - così come io stessa - e strattonata di qua e di là, a sua volta strattonando gli altri, cerca il suo varco tra le stagioni.“ (S. 7) Was zunächst poetisch eingeführt wird, erhält bald die Klarheit klinischer Diagnose, „osservazione clinica: […] sindrome depressiva. […] Per sollevarmi, almeno per qualche ora, bevo.“ (S. 30) Depression und Alkoholismus sind es, die am Ende der zwei Drittel umfassenden Parte prima in einem Suizidversuch der Protagonistin kulminieren. Mit Pillen und Armagnac im Magen schwimmt sie hinaus ins Meer, muss jedoch erbrechen und wird vermutlich von der Strömung zurückgespült. Der Inselaufenthalt stellt sich an diesem Punkt nicht als heilsam, sondern als beinahe tödlich heraus. Und doch beginnt die Parte seconda mit der Rückkehr auf die herbstliche Insel, die gleichzeitig als „luogo del delitto“ und schützender Uterus eingeführt wird, was nicht allzu fern ist von de Rougemonts liberté insulaire négative (s.-o.): Non è stato per provarmi o per tornare sul luogo del delitto che mi trovo di nuovo sull’isola in questo tardo autunno. Né per autoconfinarmi, come scherzano alcuni amici, ché oggi in Italia, più sto in pubblico, più mi sento in esilio; e quasi tutto mi sembra turpe e corrotto, seppure non ancora abbastanza, come quando dal frutto marcio si libera il seme. Ma come volessi sentirmi un feto circondato dal mare, al quale i rumori del mondo giungono attutiti e nuovi e strani: mentre è protetto, cresce e sa che per legge di natura un giorno quel grembo gli sarà troppo stretto e dovrà uscirne. (S.-126) Zwischen den beiden Kapiteln des Buches hatte ein anderer Inselaufenthalt eine Wende gebracht: ein Centro di salute mentale auf Ischia, dessen Leiter Alfonso L’isola riflessa gewidmet ist. Er wird mit seinem centro und den dort entfalteten Heilkräften zum Fluchtpunkt, an dem Natur und Kultur, abgeschlossene Ein‐ samkeit und befreiende Offenheit vermittelt werden: Se si considera la superficie, il Centro di salute mentale dell’isola vicina è un luogo minuscolo rispetto alla mia isola. Ma se si considera quanto vi avviene, è infinitamente più vasto. Alfonso ha reso visibile quanto era invisibile. Ha allargato l’orizzonte, DOI 10.24053/ Ital-2023-0028 Die Überwindung der Insel-Idylle auf Ventotene - Fabrizia Ramondinos L’isola riflessa 133 22 Die in großen Teilen, und insbesondere in ihrer Konzeption, der berühmten trinären Perspektive auf longue durée, moyenne durée und histoire événementielle, in deutscher Kriegsgefangenschaft entstand (vgl. Schöttler 2012). 23 Braudel 10 2017, S.-14. quindi. Ha liberato tanto i malati mentali che i sani di mente dall’oblio. E il pino davanti all’ingresso, con la sua scritta «Pino trattato», è come creasse un legame tra i mali dell’uomo e quelli della natura, tanto gli uni che gli altri ormai più dall’uomo che dalla natura provocati. (S.-143-f.) Das ist das narrative und vielleicht auch das rhetorische Zentrum des Buches: Der Wendepunkt für das Ich fällt zusammen mit der Erkenntnis, dass auch die Natur nicht unversehrt und die Versehrtheit zudem menschengemacht ist. Von hier aus wird nun das konzeptionelle Zentrum erkennbar. Tiefenbohrung Auf den mehr als 1000 Seiten von Fernand Braudels Studie über La Méditer‐ ranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II  22 kommt Ventotene nur ein einziges Mal vor - bei der Beschreibung, wie der türkische Korsar Dragut zwischen Ventotene und Ponza einige spanische Schiffe kapert, die von Neapel ausgelaufen sind. 23 Der Insel kommt dabei lediglich die Rolle zu, die Ortsbestimmung anzuzeigen. Im Vergleich zu solch einem historiographischen Monumentalwerk, das sich vorgenommen hatte, den Mittelmeerraum von der longue durée seiner geomorphologischen Bedingungen bis zu den einzelnen Ereignissen einer Epoche zu entfalten, nimmt sich Ramondinos Buch wie die Tiefenbohrung an einer präzisen Stelle aus. Entscheidend ist nun, wie der Text die historischen Schichtungen des Bohrkerns entfaltet. Die Anwesenheit auf der Insel und die Suche nach der Erfahrungsarmut ist dabei nur der erste Schritt, Bedingung für das Freilegen der Tiefenschichten, wobei der Neben- oder fast Null-Saison eine wichtige Rolle zukommt: Anche ora che l’isola è semideserta e che gli elementi hanno spazzato via i turisti e le loro cose, bisogna con cura, come si liberassero i vari strati di un palinsesto, staccare da sé le immagini delle doppie case vacanziere, del nuovo molo, delle scritte ammiccanti su locali e botteghe chiuse, soprattutto quelle formatesi nella memoria durante l’estate, per scoprire gli antichi miti e leggende sorti intorno alle isole, beate o maledette, di utopia o del tesoro, di idilli o naufragi, di avventure o scoperte, di fuga dalla civiltà o dal proprio passato, o di ritrovamento di nuove civiltà e di speranza nel proprio futuro. (S.-121) DOI 10.24053/ Ital-2023-0028 134 Jonas Hock 24 Vgl. Fabbrini 2022, S.-26. Die Freilegung der „vari strati di un palinsesto“ ist Verfahrensweise und Effekt von Ramondinos Text - wobei die einzelnen Schichten gerade nicht in ihrer historischen Faktizität stehengelassen werden, sondern durch die oben beschriebene Darstellung mittels Assoziationsketten in beständigen, wenn auch prekären, immer wieder neu kalibrierten Bezug zueinander gesetzt und damit gedeutet. Das ergibt konzentrische Kreise rund um die Insel, die jedoch auch spiralförmig in die historische Tiefe gehen und immer die Befreiung der menschlichen Existenz aus Gefangenschaft oder auch nur Begrenzung zum Gegenstand haben. Bereits die von Kaiser Augustus erbaute sogenannte Villa Giulia, die seiner Tochter - daher der Name - ebenso zum Verbannungsort wurde wie seiner Enkelin Agrippina und weiteren Frauen aus den römischen Kaiserfamilien, wird von Ramondino gleichzeitig mit dem daneben liegenden Feld eingeführt, auf dem Altiero Spinelli, der 1940, nach bereits mehr als zehn Jahren Haft, vom Faschistischen Regime auf die Insel verbannt wurde, Kartoffeln anbauen durfte (S. 9). Weite Teile der Isola riflessa kehren immer wieder zu den verschiedenen Etappen der Verbannung und Einsperrung, aber auch des Rückzugs auf Vento‐ tene zwischen Römerzeit und 20. Jahrhundert zurück: Die Villen der Römer sowie der antike Hafen waren von Sklaven gebaut worden, im Mittelalter zogen sich Mönche auf die Insel zurück, von denen Ramondino direkt den Bogen zu den confinati schlägt, wenn sie sich fragt: „si riunivano in informali cenobi, come, durante il confino fascista, si riunivano in varie ‘mense’ separate comunisti, militanti di Giustizia e Libertà, socialisti, federalisti, anarchici? “ (S. 39). In der Frühen Neuzeit ist die Insel Gegenstand eines ‘Rousseauistischen Experiments’ unter Ferdinando IV, der im Jahr 1768 mehrere hundert Menschen aus den ärmsten Vierteln von Neapel dort ansiedeln lässt, damit Isolation und Naturkontakt sie in den tugendhaften Naturzustand zurückversetze. Doch: „L’Arcadia si trasformò ben presto in carcere“ (S. 51), und das Projekt endete mit Zwangsarbeit für die eine, Rückdeportation für die andere Hälfte der unfreiwil‐ ligen Inselgemeinschaft. Derselbe König ließ gegen Ende des 18. Jahrhunderts dann das Gefängnis auf der kleineren Nachbarinsel Santo Stefano bauen, das nicht nur die Eigenheit hat, sich als erste und einzige italienische Haftanstalt an Jeremy Benthams Panopticon zu orientieren, sondern auch noch äußerst präzise dem Teatro San Carlo in Neapel nachempfunden ist, wobei die Logen durch Zellen ersetzt sind. 24 In einer Traum- oder Delirium-Sequenz begegnet die Erzählerin auf einer Terrasse drei Inhaftierten vergangener Zeiten: „Nei tre uomini silenziosi che siedono al tavolo a fianco, protetti come me dal grande DOI 10.24053/ Ital-2023-0028 Die Überwindung der Insel-Idylle auf Ventotene - Fabrizia Ramondinos L’isola riflessa 135 25 Auf S.-64 wird Foucault auch explizit genannt. 26 Sanna 2018, S.-102. 27 Am explizitesten auf S. 140: „La superficie del campo di concentramento di Buchenwald, considerando le baracche, le costruzioni delle SS, i luoghi di lavoro, la ferrovia speciale per arrivarvi, è più o meno simile a quella dell’isola. Il campo fu creato appena qualche anno prima di quelle dei confinati di Ventotene.“ ombrellone bianco dalla pioggia, riconosco Settembrini, Pellico e Bini.“ (S. 59) Es handelt sich um den über Jahre auf der Insel Nisida, aber auch auf Santo Stefano internierten Luigi Settembrini, um den bekannten Autor von Le mie prigioni und den von den dreien am wenigsten prominenten Carlo Bini, der über seine Gefangenschaft auf Elba das Manoscritto di un prigioniero schrieb - die Bücher und Schriften der drei befragt Ramondino auf der Suche nach Antworten auf die existentielle Frage nach dem Verhältnis von Schicksal und Entscheidung, nach der Gefängniserfahrung; und in einer foucaulthaften Wendung 25 blendet sie in ihre eigene Klinik-Erfahrung über: „E io, che non sono mai stata in carcere, ho ricordato i miei ingressi in ospedali e nelle sale operatorie“ (S. 59), auch wenn sie diese „grossolana analogia tra il carcere […] e gli ospedali“ (S. 61) im Anschluss leicht relativiert. Ähnlich wie die Schriften ihrer drei ‘Geister’ entfaltet Ramondinos Text den ambivalenten Zusammenhang zwischen Begren‐ zung, gar Freiheitsentzug und intellektuellem, den Geist kurzzeitig befreienden Höhenflug. Adele Sanna fasst es wie folgt: Ramondino chiarisce come paradossalmente lo stesso confino poteva costituire la possibilità per chi fosse stato forzatamente costretto all’isolamento di mettere a frutto i propri talenti intellettuali e stringere rapporti stimolanti e produttivi con altri confinati. 26 Darum kehren die Überlegungen auch immer wieder zu den antifaschistischen confinati Ernesto Rossi, Altiero Spinelli und Eugenio Colorni zurück, die mit dem sogenannten Manifest von Ventotene Per un’Europa libera e unita 1941 einen Entwurf für die europäische Integration mittels föderalistischer Union verfassten, der von Colornis Ehefrau Ursula Hirschmann in einem Hühnchen versteckt von der Insel geschmuggelt wurde. In keiner Weise idealisiert Ramon‐ dino die Bedingungen, unter denen das Dokument entstand und betont: „i nostri confinati erano costretti all’ozio. Ma il loro ozio era relativo: dovevano continuamente ingegnarsi per sopravvivere“ (S. 44). Doch selbst wenn sie, in einer der immer wiederkehrenden Assoziationen, Ventotene mit dem Konzen‐ trationslager Buchenwald überblendet 27 , dann um am Ende vor allem über Jorge Semprun, „il più pirata che conosco“ (S.-46), und sein Schreiben zu sprechen. DOI 10.24053/ Ital-2023-0028 136 Jonas Hock 28 Dass das keine Fatalität sein muss, zeigt die Verlagsbuchhandlung Ultima Spiaggia, die seit 2001 der Insel nicht nur eine libreria gibt, sondern zahlreiche ‛Ventoteniana’ verlegt, darunter auch Anthologien zum seit 2012 bestehenden Literaturfestival Gita al Faro, vgl. Gita al faro 2022. 29 Gemeint ist wohl Amado mio, der mit dem Satz beginnt: „La più bella delle maglie di Marzins comparve verso sera.“ (Pasolini [1982], S. 197); in der Erzählung „Douce“ kommt ein Angelo vor, der „una bellissima maglia grigio-azzurra“ trägt ([1947], S. 165). Was bleibt von diesen Leben, ihren Gefangenschaftserfahrungen und den Bü‐ chern, die davon zeugen? Ramondino ist hier zutiefst pessimistisch. Die Bücher der confinati beispielsweise seien weder auf der Insel noch in Buchhandlungen großer Metropolen mehr verfügbar: „Questa cancellazione del passato [è] in gran parte riuscita“ (S. 89). 28 Am Ende kommen Touristen. Die geschichtsträch‐ tige Insel? „È diventata un luogo qualsiasi.“ (S. 54) Ventotene ist ein Hort des Massentourismus, wo selbst in der Nebensaison Kriegs-Reenactment, Vogeljagd oder die Verfügbarkeit von Drogen bei dauerhafter Präsenz absurd vieler untätiger carabinieri und finanzieri zwielichtige Gestalten anlocken: „L’orma del presente sembra ricalcare quella del passato.“ (S. 68) Selbst die jugendlichen federalisti, die jährlich auf der Insel deren unverhofftes europäisches politisches Erbe ehren sollen, hinterlassen vor allem Müll (S. 17). Pasolinianisch mutet die Kulturkritik Ramondinos an, die Pier Paolo sogar einmal direkt zitiert, wenn sie anhand des Incipit seines Romans Angelo  29 über die Schwierigkeit der Übersetzung von maglietta ins Deutsche sinniert, um abschließend festzustellen, dass der „erotismo della maglietta pasoliniana“ (S. 70) heute, da alle schlabbrige T-Shirts tragen, ohnehin nicht mehr vorstellbar sei, wenn selbst die Gefängnisse auf Uniformen verzichten, da die Menschheit sich ganz von allein uniform anziehe und, das schwingt mit: verhalte. Diese schneidende Kritik trifft selbst die Kinder, die in ihrem imitierenden Spiel zwar unwissend („non lo sanno“), aber folgenschwer das Theaterstück des Welthandels im Kleinen proben: I bambini espongono sui muretti piante e conchiglie scelte ogni anno con minor cura e le vendono. In cambio le dipingono con colori stridenti e banali motivi o le ornano con adesivi, offendendole senza saperlo. Non le compro più per compiacerli, come usavo prima. Né predico o suggerisco loro alcunché. Mi sembra vano. Imitano quanto li circonda. Anche sull’isola infatti si tenta di riprodurre il super‐ mercato mondiale. E i colori dell’isola perdono sempre di più quelle caratteristiche mediterranee […]. (S.-77) Mehr noch als der Versuch einer Wiederverzauberung dieser verblassenden Welt ist L’isola riflessa die Dokumentation der autobiographischen, soziolo‐ gischen, historischen und landschaftlichen Tiefenbohrung Ramondinos. Die DOI 10.24053/ Ital-2023-0028 Die Überwindung der Insel-Idylle auf Ventotene - Fabrizia Ramondinos L’isola riflessa 137 30 Montale [1925], S.-11. 31 Siehe u.-a. Gruarin 2018; Razzano 2021. 32 Siehe allgemein zu Ramondino den Eintrag im Dizionario Biografico - Treccani (Alfon‐ zetti 2016), für einen deutschsprachigen Überblick Reichardt 2002; vgl. auch Giorgios Artikel (2005), in dem sie Ramondinos Zurückweisung der Vereinnahmung als scrittrice neapoletana aufgreift, ihr Ventotene aber als eindeutig „a Neapolitan island“ (S. 74) liest - „a supplement or an excess of Naples“ (S.-75). eingangs erwähnte, beim Akanthus ihren Ausgang nehmende Assoziationskette endet übrigens mit einer Sentenzfolge, an deren Ende die Erzählstimme sich in einen Raum zwischen Montale und die von ihm zurückgewiesenen, zwischen Li‐ guster und Akanthus wandelnden poeti laureati  30 aus „I limoni“ einzuschreiben scheint: L’Ananke, la necessità, viene prima di etica, estetica, scienza. La natura è maestra, la civiltà solo raramente discepola. Ma i fiori di acanto, oggi, sono solo bellezza. (S.-13) Conclusio: Fabrizia Ramondino, scrittrice napoletana Seit einigen Jahren häufen sich die Forderungen, das Gesamtwerk Fabrizia Ramondinos möge durch Aufnahme in Mondadoris „Meridiani“-Reihe geadelt werden. 31 Sie ist zwar kein Geheimtipp mehr, hat ihren Platz in Feuilleton und Literaturwissenschaft aber vor allem über genau die zwei Attribute erhalten, die sie selbst ablehnt - nämlich, dass sie eine Neapolitanische Autorin sei, die sich zudem in eine Tradition weiblicher Schriftstellerinnen, von Elsa Morante über Anna Maria Ortese bis Natalia Ginzburg einreihe. 32 Dass condizione femminile und napoletanità (was auch immer man darunter verstehen möge) so häufig die Perspektive auf Ramondinos Werk dominiert haben, ist weder illegitim noch muss es andere Aspekte ihres Schreibens verstellen. Die immer wiederkehrende Wendung „mia isola“ zeugt gerade nicht von einer aneignenden Haltung, sondern vielmehr von einer immer schon dagewesenen Zugehörigkeit zu jener zwar administrativ zu Latium, historisch aber zu Neapel gehörenden Insel. Zugehörigkeit, die sich auch in einer Zugewandtheit insbesondere gegenüber den Frauen auf der Insel niederschlägt - ob isländische Touristinnen, junge Mütter, Hotelchefinnen oder Zimmerfrauen. In ihrem Vorwort zur Neuausgabe von Ramondinos Guerra di infanzia e di Spagna betont Nadia Terranova, dass das Ende dieses Romans, der von der Kindheit der Autorin auf Mallorca während des Spanischen Bürgerkriegs inspiriert ist, unweigerlich an Elsa Morantes Isola di Arturo erinnert, wenn mit dem Verlassen der Insel gleichzeitig der Raum der Kindheit aufgegeben DOI 10.24053/ Ital-2023-0028 138 Jonas Hock 33 Terranova 2022; zu den zwei Inselbüchern Ramondinos als Paradigma ihres Gesamt‐ werks vgl. das Kapitel „Le due isole“ in Sepe 2010, S.-1-44. 34 Nicht umsonst nennt Ramondino (2000) auf die Frage nach ihrem ‛Jahrhundertbuch’ Gramscis La questione meridionale. 35 Ich greife hier die Kategorien von Giorgio (2005, S. 88) auf, die von „personal vicissitudes […], the history of Southern Italy and Italy, […] the universal postmodern condition“ spricht. 36 Als solche lässt Ramondino allein die vergängliche „utopia dell’amore“ einzelner Momente gelten, etwa wenn man ein Neugeborenes auf dem Arm hat (135). 37 Sepe 2010, S.-36. 38 Giorgio (2005, S. 75) liest den Titel entsprechend als Verweis nicht nur auf die Zirkularität der Erzählung, sondern auch auf die Selbstreferentialität von Literatur. wird. 33 In der Isola riflessa wird diese Referenz gleich zu Beginn zurückgewiesen: „Siamo molto lontani dall’‘Isola di Arturo’“ (S. 30). Und doch steht auch hier am Ende ein Perspektivwechsel, bei dem die Insel aus der Ferne, vom Festland aus betrachtet wird: „vedo l’isola dal continente, distinguendola fra le altre, così come ogni nomade del deserto distingue l’una dall’altre oasi e la realtà dell’oasi dal miraggio.“ (S.-152) Die Wirklichkeit von der Fata Morgana, vom Blendwerk trennen - wenn das Schlussbild für das gesamte Buch stehen kann, so ist diese Scheidung eine mühsame Arbeit auf mindestens drei Ebenen: dem Selbst, der Geschichte (Süd-)Italiens 34 und der condizione umana in der Postmoderne. 35 Der Insel - der Welt und sich selbst - ist nur mit solch klarem Blick beizukommen, sie ist weder Idylle noch Utopie 36 und auch kein Rückzugsort mehr, denn, wie Sepe es treffend formuliert: „l’utopia, ma anche la speranza, nelle pagine della Ramondino, sembrano talvolta languire di fronte allo sfacelo che il mostro della globalizzazione produce“. 37 Für den Prozess der Blickschärfung kam Ventotene dabei eine entscheidende Rolle zu, doch es ist nicht der Zufluchtsort, den die Insel als Topos verspricht. Erst das Schreiben, das Schreibheft selbst wird Ramondino zur Insel, die die Insel nicht sein konnte: „Il quaderno, la mia piccola isola.“ (S.-147) 38 Nach der Insel, jenseits der Idylle, bleibt die Literatur. Bibliographie Alfonzetti, Beatrice: „RAMONDINO, Fabrizia“, in: Dizionario Biografico degli Italiani, Vol. 86 (2016), https: / / www.treccani.it/ enciclopedia/ fabrizia-ramondino_(Dizionario-Biog rafico)/ (13.1.2024). Benedetti, Andrea. „Das Mittelmeer bei Ernst Jünger: Mythos und ‘Fülle des Augen‐ blicks’“, in: The Mediterranean as a Source of Cultural Criticism: Myth, Literature and Anthropology, hrsg. von Andrea Benedetti und Ulrich van Loyen, Milan: Mimesis 2019, S.-91-127. DOI 10.24053/ Ital-2023-0028 Die Überwindung der Insel-Idylle auf Ventotene - Fabrizia Ramondinos L’isola riflessa 139 Benjamin, Walter: Récits d’Ibiza, traduction et présentation de Pierre Bayart, Paris: Riveneuve 2020. Benjamin, Walter: „Ibizenkische Folge“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 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Ernst Jüngers Reisetagebücher (1934-1960), Berlin: Matthes und Seitz 2012. DOI 10.24053/ Ital-2023-0028 Die Überwindung der Insel-Idylle auf Ventotene - Fabrizia Ramondinos L’isola riflessa 141 A colloquio con Giovanni Ruffino A cura di Jonas Hock e Laura Linzmeier Giovanni Ruffino è stato Professore ordinario di Linguistica italiana nella Facoltà di Lettere e Filosofia dell’Università di Palermo, di cui è stato Preside dal 1998 al 2007. I suoi campi di ricerca sono principalmente la dialettologia, la geografia linguistica, la sociolinguistica e la lessicografia. È presidente del Centro di studi filologici e linguistici siciliani e responsabile del progetto ALS - Atlante Linguistico della Sicilia. Ha svolto un ruolo fondamentale nel recupero e nel rilancio del progetto ALM. Dal 2017 è accademico ordinario dell’Accademia della Crusca. Domanda Può raccontarci come e quando è nato il progetto di un Atlante Linguistico Mediterraneo? Giovanni Ruffino La nascita del progetto dell’Atlante Linguistico Mediterraneo si sviluppò in anni lontani attraverso varie fasi e una storia assai complessa. Si può dire che tutto quanto sia nato da una domanda che l’ideatore del progetto, Mirko Deanović, si era posto negli anni Trenta del secolo scorso, e cioè se fosse possibile applicare il metodo della geografia linguistica anche alle relazioni tra lingue diverse in contatto in vasti territori. La domanda che Mirko Deanović andava ponendosi era nata dalla verifica di singolari coincidenze lessicali nell’ambito della terminologia marinara del proprio dialetto di Dubrovnik (Ragusa) e il lessico dei pescatori di una località linguadociana dell’Herault, di matrice romanza. Deanović si era soffermato, in particolare, sul confronto tra il lessico dei pescatori di Grau d’Agde e quello di Dubrovnik in occasione del 5º Congresso internazionale di studi romanzi, svoltosi a Nizza nel 1937. Venne così via via delineandosi e rafforzandosi l’idea e la proposta di un atlante interlinguistico che, pur suscitando l’interesse dei linguisti delle varie DOI 10.24053/ Ital-2023-0029 aree, incontrò ostacoli diversi - non ultima l’esplosione bellica - sino a quando, in occasione dell’VIII Congresso di studi romanzi, svoltosi a Firenze nel 1956, l’idea poté tradursi in progetto grazie alla condivisione di illustri studiosi dalla Penisola Iberica, alla Grecia, ai Balcani. Particolarmente prezioso fu l’apporto di Gianfranco Folena il quale, nella sua qualità di direttore dell’Istituto per le lettere, la musica e il teatro della Fondazione Giorgio Cini di Venezia, poté favorire il patrocinio della prestigiosa Fondazione con la conseguente definizione del progetto, con un questionario di 851 quesiti per 165 punti d’inchiesta. I rilevamenti nei numerosi punti d’inchiesta furono condotti prevalentemente nella prima metà degli anni Sessanta da linguisti illustri quali Manuel Alvar e Francesc de B. Moll per i punti spagnoli; G. Massignon per quelli francesi; Carlo Battisti, Manlio Cortelazzo, Oronzo Parlangeli, Carlo Tagliavini e Giovanni Tropea per quelli italiani; Mirko Deanović per quelli iugoslavi; Anastasios Karanastasis per quelli greci; Ivan Petkanov per i due punti bulgari e Marius Sala per i tre punti rumeni; Giovanni Oman per i punti magrebini e libanesi; Joseph Aquilina per Malta. Negli anni Settanta, il complessivo impegno andò attenuandosi sino alla interruzione che si protrarrà per oltre un quarantennio. Tale interruzione fu causata sia dalla scomparsa di alcuni protagonisti, sia da un minore interesse della Fondazione Cini. Recentemente, grazie all’impegno del Centro di studi filologici e linguistici siciliani, il programma editoriale è stato riavviato, assieme alla ripresa degli appuntamenti congressuali e alla pubblicazione del “Bollettino” dell’ALM. Domanda Il progetto originale si basava su un questionario notevolmente dettagliato: l’approccio era puramente sincronico o avevano una certa rilevanza anche le forme di epoche passate? Giovanni Ruffino L’Atlante Linguistico Mediterraneo obbedisce sotto ogni aspetto a un progetto ge‐ olinguistico, per quanto ampio e riferito a un contesto plurilingue. Ne consegue un approccio sostanzialmente sincronico. La prospettiva storica e diacronica sono trattate e sviluppate negli studi che fiancheggiano l’Atlante, a cominciare dai tanti approfondimenti contenuti nei volumi del «Bollettino» dell’ALM o prodotti in occasione dei sei convegni, l’ultimo dei quali tenutosi a Palermo nell’ottobre del 1975. Domanda Quando e perché il progetto è stato riavviato? DOI 10.24053/ Ital-2023-0029 144 A cura di Jonas Hock e Laura Linzmeier Giovanni Ruffino La nuova generazione dei linguisti italiani ed europei non si era mai del tutto rassegnata alla interruzione. Avevo personalmente colto in più occasioni tale rammarico, tanto che decisi di esprimere la proposta di recupero a nome del Centro di studi filologici e linguistici siciliani, in occasione del Convegno «Mare Loquens», tenutosi a Zara nel settembre del 2013. Le ragioni che più volte hanno sollecitato il Centro siciliano a spingere per una ripresa, risiedono anche nella considerazione della centralità linguistico-culturale che la Sicilia occupa nel Mediterraneo. Negli anni successivi al Convegno di Zara, furono avviati intensi contatti tra un Comitato promotore, costituito da Giovanni Ruffino (Palermo), Franco Crevatin (Trieste), Tullio Telmon (Torino), Annalisa Nesi (Firenze), Michele Cortelazzo (Padova), Carla Marcato (Padova), Riccardo Contini (Napoli) Nikola Vuletic (Zara), Enrique Gargallo Gil (Barcellona). Dopo un lungo e intenso periodo di valutazioni e discussioni, anche in occasione degli incontri congressuali di Palermo e Grado, è stato sottoscritto un protocollo d’intesa tra la Fondazione Giorgio Cini di Venezia e il Centro di studi filologici e linguistici siciliani, al quale è stata affidata la pubblicazione delle inchieste (già pubblicato nel 2023 il 1º volume con le risposte ai quesiti 1-113, a cura di F. Crevatin, G. Ruffino, T. Telmon, A. Barbon, V. Retaro), e il 1º volume della Nuova Serie del «Bollettino» dell’ ALM. È stato così saldato, anche se non ancora compiutamente, un debito con i nostri grandi maestri. Domanda L’antropologia mediterranea, che presumibilmente ha svolto un ruolo di rilievo nella concezione del progetto originario, è mutata considerevolmente dagli anni 60 a oggi. Questi mutamenti hanno avuto un impatto sul quadro teorico e hanno portato anche a una nuova concezione, per certi aspetti dell’Atlante? Giovanni Ruffino La storia millenaria del Mediterraneo è contrassegnata da dinamiche etnolin‐ guistiche ed etnoantropologiche ininterrotte, non di certo a partire dagli anni Sessanta del secolo scorso. Come è noto, tali dinamiche hanno determinato nei secoli situazioni singolari, complesse, talvolta problematiche se non oscure, che richiedono le più adeguate ricostruzioni storico-socio-linguistiche. Ma alla base permane la domanda se, al cospetto di una circolazione plurilingue e multietnica nell’intero bacino Mediterraneo, si possa ragionevolmente parlare di una ‘identità mediterranea’. Si può ben dire che il progetto muove proprio da questa specialissima idea di identità e che le molteplici conseguenze della DOI 10.24053/ Ital-2023-0029 A colloquio con Giovanni Ruffino 145 permanente circolazione plurilingue (a partire dai rapporti tra latinità, grecità, dialetti berberi arabizzati e tra questi e le varietà romanze) emergono via via dall’analisi delle risposte ai quesiti del questionario, situazioni singolari e imprevedibili, come quella riscontrata nel punto algerino di Mers-el-Kebir, dove il lessico marinaro e peschereccio risulta essere di matrice napoletana. Tutto ciò accade anche perché la diffusione delle parole attraverso percorsi marittimi è cosa ben diversa dalla diffusione lungo percorsi terrestri. Domanda Il vocabolario marittimo si è certamente evoluto negli ultimi decenni. Intendete rivisitare e aggiornare le forme lessicali del questionario in futuro? Giovanni Ruffino Come è stato più volte sottolineato, l’obiettivo attuale è quello di pubblicare integralmente i materiali delle inchieste effettuate nel secolo scorso. È altresì evidente, anche sulla base di verifiche a campione, che in questi ultimi decenni il lessico marinaro e peschereccio si è profondamente modificato, anche per la fles‐ sione dell’attività cantieristica e peschereccia in non poche località. È comunque esclusa l’ipotesi di mettere in cantiere un Atlante Linguistico Mediterraneo del terzo millennio. Tuttavia verifiche, controlli, aggiornamenti, ampliamenti potranno essere pubblicati nella nuova serie del «Bollettino» dell’ALM, aperto alla collaborazione di tutti. Domanda Alcuni atlanti linguistici elaborati nel XX secolo, come l’AIS, sono stati digita‐ lizzati e resi disponibili online. Esistono approcci analoghi per l’ALM? Giovanni Ruffino Posso confermare che è attualmente in preparazione un portale digitale nel quale potranno essere integralmente consultati e verificati i materiali raccolti nel corso delle inchieste. Saranno anche inseriti tutti quei documenti utili a ricostruire la storia della grande impresa geolinguistica. Domanda Secondo Lei, dopo aver lavorato tanti anni con il materiale ALM, quali temi futuri pensa possano derivarne per la linguistica mediterranea? Giovanni Ruffino In primo luogo i più ampi approfondimenti tra lingua e storia, attraverso la ricostruzione dei percorsi linguistici che emergono dai materiali raccolti e da eventuali aggiornamenti. Un altro tema potrebbe essere quello di una rassegna, DOI 10.24053/ Ital-2023-0029 146 A cura di Jonas Hock e Laura Linzmeier Jetzt bestellen onde Das italienische Kulturmagazin Italienische Artikel mit praktischen Vokabelhilfen - Für alle Sprachniveaus - Einzeln oder im Abo vertrieb@onde.de Onde e.V. - Italien erleben onde_ev www.onde.de con ogni opportuno approfondimento, di quanto è stato raccolto nei musei del mare esistenti non soltanto in Italia. DOI 10.24053/ Ital-2023-0029 A colloquio con Giovanni Ruffino 147 Biblioteca poetica Preghiera - Bittgebet: Das Schlussgedicht von Giuseppe Ungarettis L’Allegria (1931), makrotextuell und intertextuell zwischen Petrarca, Leopardi und Baudelaire Henning Hufnagel Traducendo la poesia finale de L’Allegria di Giuseppe Ungaretti, ne inter‐ preto il luogo macrotestuale e lo spazio intertestuale. Preghiera è tanto legata al tema e alla metafora del naufragio, fondamentale per la raccolta, quanto presenta una riflessione poetologica sul ruolo del poeta e sul fare arte per segnare, come poesia finale, il punto di arrivo di questo fare arte - e, forse, anche la partenza per nuovi, vecchi lidi: L’Allegria finisce su una nota opposta al Canzoniere petrarchesco, modello implicito di Vita d’un uomo, non sulla «pace», ma su un «grido». Quel grido informe è però formulato - in un’occasione unica nella raccolta - nella metrica tradizionale, quasi ‘salvandosi attraverso la forma’, come scrisse Hugo Friedrich a proposito di Baudelaire, princeps della poesia moderna. Infatti, dimostro come, in Preghiera, Ungaretti si rifà al sonetto À une passante - invertendo i campi di riferimento sensuale, rifacendosi così in seconda istanza a L’infinito di Leopardi, famoso ‘naufragar’ della poesia italiana. Indem ich das Schlussgedicht von Giuseppe Ungarettis L’Allegria über‐ setze, interpretiere ich seinen makrotextuellen Ort und seinen intertex‐ tuellen Raum: Preghiera ist ebensosehr mit der Schiffbruchs-Thematik und -Metaphorik verbunden, die für Ungarettis Gedichtband grundlegend ist, wie das Gedicht eine poetologische Reflexion über die Rolle des Dichters und das Machen von Kunst darstellt, um, als Schlussgedicht, den Schlusspunkt eines solchen Kunstmachens zu markieren - und, vielleicht, auch den Aufbruch zu neuen, alten Ufern. DOI 10.24053/ Ital-2023-0030 1 Vgl. Corti 1975, Santagata 1979, Cappello 1998. 2 Schneider 2007, S.-50-51. L’Allegria endet im Gegensatz zu Petrarcas Canzoniere, dem impliziten Modell von Vita d’un uomo, nicht mit dem „Frieden“, sondern auf einem „Schrei“. Dieser formlose Schrei wird jedoch - einmalig im Gedichtband - in traditioneller Metrik formuliert, gleichsam in „Rettung durch die Form“, wie Hugo Friedrich über Baudelaire als Begründer moderner Dichtung geschrieben hat. Tatsächlich bezieht sich Ungaretti in Preghiera auf das Sonett À une passante - dreht dabei aber die Bezugsfelder von Seh- und Gehörsinn um. Damit bezieht er sich in zweiter Instanz auf Leopardis L’infinito, den wohl berühmtesten 'Schiffbruch' der italienischen Dichtung. Übersetzen heißt interpretieren, und um einen Text zu interpretieren, zieht man in der Regel seinen Kontext, seine Kontexte heran: sprachliche und außersprach‐ liche, Gattungskontexte und intertextuelle, historische und biographische und andere mehr. Wenn man ein Gedicht interpretiert, das Teil eines Gedichtzyklus ist, ist es angeraten, einen besonderen Kontext nicht zu vergessen: seinen Ort in diesem Zyklus. Dies ist ein spezieller textueller Kontext, in den dieser Text als sein Teil eingebettet ist: der Makrotext. Maria Corti hat das textlinguistische Konzept des Makrotexts in den 1970er Jahren an Italo Calvinos Sammlung von kleinen Prosaerzählungen Marcovaldo ovvero Le stagioni in città (1963) entwickelt. Am meisten Wirkung hat es indes in der Lyrik-Forschung entfaltet, insbesondere an Petrarca und den petrarkistischen Canzonieri. 1 Ein Gedichtzy‐ klus ist in diesem Sinne ein Makrotext, innerhalb dessen „jeder Einzeltext eine Mikrostruktur darstellt, die ihre Funktion und ihren Informationsgehalt aus der Interdependenz mit der ihr übergeordneten Makrostruktur bezieht“. 2 Wenn ich im Folgenden das Schlussgedicht von Giuseppe Ungarettis L’Al‐ legria, betitelt Preghiera, als Bittgebet übersetze, interpretiere ich daher zuerst seinen makrotextuellen Ort und dann seinen intertextuellen Raum: Preghiera, so wird sich zeigen, ist ebenso sehr mit der Schiffbruchs-Thematik und -Meta‐ phorik von Ungarettis Gedichtband verbunden wie eine poetologische Reflexion über die Rolle des Dichters und das Machen von Kunst, um, als Schlussgedicht, den Schlusspunkt eines solchen Kunstmachens zu markieren - und, vielleicht, auch den Aufbruch zu neuen, alten Ufern. 1 1916-1931: Der lange Weg zu L’Allegria Der Gedichtzyklus, der Giuseppe Ungarettis selbst zusammengestellte, durchaus ‘makrotextuelleʼ Gesamtausgabe seiner Gedichte eröffnet, Vita d’un DOI 10.24053/ Ital-2023-0030 150 Henning Hufnagel 3 Vgl. zu den ‘Klippenʼ bei der Übersetzung von „allegria“ Wetzel 2019. 4 Curtius 1948, S.-136-138. Zum Topos ausführlicher Heydenreich 1970. 5 Vgl. auch zum Folgenden https: / / www.libreriapontremoli.it/ filemanager/ vetrina/ il-por to-sepolto.php# (30.07.2024) uomo (ab 1942 und beständig erweitert bis 1965, fünf Jahre vor seinem Tod), ist L’Allegria betitelt. Er entspricht der endgültigen Sammlungsform, die Ungarettis erste, vor allem auf die Zeit des Ersten Weltkriegs zurückgehenden Gedichte gefunden haben, 1931 publiziert unter eben jedem Titel L’Allegria. Es bedurfte allerdings mehrerer Zwischenschritte und Fassungen, bis sie unter diesem Titel, in dieser Gestalt und Anordnung, mit ihrer vierten ihre endgültige Gestalt gefunden haben. Ungarettis erster Gedichtband, seine erste eigenständige Publikation über‐ haupt, trug den Titel Il porto sepolto. Er ist 1916 erschienen, also mitten im Krieg, in Udine, also nicht weit von der Front, noch in ihrem militärisch geprägten Hinterland, in einer selbst für einen Lyrikband bescheidenen Auflage von 80 Exemplaren, kuratiert (und finanziert) von Ungarettis Freund und Kameraden Ettore Serra, den er im letzten Gedicht des Bandes, Commiato, ‘Abschiedʼ, auch adressiert - in einem Schlussgedicht, im Gegensatz zu Preghiera, von also zumindest vorderhand auch ganz pragmatischer Funktion. Drei Jahre später, 1919, ging Il porto sepolto in Allegria di naufragi auf. Wirkt ersterer Titel paradox, wie ein barockes Concetto - der Hafen ist gemeinhin der Ort, der zum Meer hin geöffnet ist; hier scheint er unterirdisch eingeschlossen -, wirkt letzterer, Leichtigkeit der Schiffbrüche, aufgrund des ‘unangemessenʼ scheinenden Gefühls der Heiterkeit und Leichtigkeit im Angesicht der Kata‐ strophe, weniger widersprüchlich denn befremdlich. 3 Beide Titel bauen indes auf dieselbe Meeres- und Seefahrtsmetaphorik, wie sie ein alter literarischer Topos ist, den Curtius in seinem Klassiker der Kontinuitätslinien, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, denn auch nicht fehlen lässt. 4 1923 sollte Ungaretti zu dem Titel Il porto sepolto im Übrigen noch einmal zurückkehren. So schmucklos die Ausgabe von 1916 war - eher eine Broschüre denn ein Buch, doch im überraschend großen Quartformat -, so prächtig war die Neuausgabe, welche die meisten der etwas mehr als 30 Gedichte von 1916, in überarbeiteter Form, mit einigen unveröffentlichten sowie vor allem mehr als 20 Texten kombinierte, die in Allegria di naufragi bereits erschienen waren, 5 handgedruckt, erneut unter den Auspizien des wohlhabenden Ettore Serra, und nun, auf Luxuspapier, in triumphalem, noch einmal größerem Großquart: 34 cm hoch statt 25 cm wie 1916, 133 statt 47 Seiten lang. Die wohl einzige Bibliothek, die beide Ausgaben von Il porto sepolto in ihrem Bestand hat, ist die der Accademia della Crusca in Florenz. DOI 10.24053/ Ital-2023-0030 Preghiera - Bittgebet: Das Schlussgedicht von Giuseppe Ungarettis L’Allegria (1931) 151 6 Vgl. jedoch Barenghi 1999, S. 131-173, insbesondere S. 145-151, der dafür argumentiert, dass Gamba den Buchschmuck in enger Absprache mit Ungaretti entworfen habe. 7 Wetzel 2019. Die 500 Exemplare hors commerce des bibliophilen Bands sind geschmückt mit Illustrationen und Zierleisten des Buchkünstlers und Holzschnitzers Francesco Gamba (1895-1970). Der Titel etwa ist ganz von einem Rankenwerk umwuchert, das auch an Wellen denken lässt, und die Meeressemantik spiegelt sich eben‐ falls im Verlagszeichen Serras, einem Anker, der, schamlos ambitioniert, das berühmte Zeichen des Aldus Manutius kopiert, des selbst humanistischen Dru‐ ckers der Humanisten, nur hat Serra dessen Delphin gegen eine Lilie und eine Panflöte getauscht. In auffälligem Kontrast mit den nicht gerade leichtgängigen Kriegsgedichten ist dieser Buchschmuck von einer schönheitstrunkenen Gedie‐ genheit, als könne er auch von Adolfo De Carolis stammen, der D’Annunzios Bücher ausgestattet hat (und den Holzschnitt um die Jahrhundertwende zum 20. wieder in der italienischen Verlagswelt zu künstlerischem Prestige verholfen hatte). D’Annunzio seinerseits hätte sich mit Serras Lilie und Panflöte ebenfalls identifizieren können - der Lilie des Verkündigungsengels Gabriele, überdies seines nur teilweise ausgeführten Romanzyklus’ der romanzi della giglia zum einen sowie der ‘panischenʼ Atmosphäre von Alcyone zum anderen, in dem sich auch das Gedicht La sampogna, Die Panflöte findet. Allegria di naufragi, der Buchtitel von 1919, dient 1923 als Titel der zweiten Abteilung, vor Porto sepolto und nach dem Einleitungsgedicht (gemäß der Schiffbruchs- und Meeresbildlichkeit: Sirene), und nach der im Gegensatz dazu verblüffend traditionell betitelten ersten Abteilung Elegie e madrigali, einem Titel, der Gamba offenbar inspiriert hat. 6 Allegria di naufragi voran steht der Holzschnitt einer Badenden, die ihr Haar auswringt. Ikonographisch ist sie die exakte Umkehrung eines Rückenakts aus dem symbolistisch wirkenden Gemälde Jeunes filles au bord de la mer (1879, Musée d’Orsay) von Pierre Puvis de Chavannes; wo dieser Rückenakt jedoch das Leintuch der Venus von Milo um die Hüften trägt, wendet der italienische Akt uns seine antikisch nackte Scham zu: Hat Hermann H. Wetzel an «‘Freude’ als Antwort auf die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs» ein Fragezeichen gemacht, 7 dürfte er dieses Bild als Illustration von Allegria di naufragi mit Frage- und Ausrufezeichen, „? ! ? “, kommentieren. Das Bild erklärt sich eher, wenn man bedenkt, dass es auf das Prosagedicht La donna scoperta folgt, das, modifiziert, vom Titel an: La scoperta della donna, 1931 ans Ende der Sammlung rückt, direkt vor das Schlussgedicht Preghiera. Preghiera steht also 1931 dort, wo 1923 das Bild der Badenden stand. Preghiera ist zwar 1923 bereits im Band enthalten - versehen mit einer Widmung DOI 10.24053/ Ital-2023-0030 152 Henning Hufnagel 8 Cupo 2011, S.-217. 9 Cupo 2011, S.-209, 219-220. an Carlo Carrà, bekanntlich einen der führenden Maler des Futurismus und, nach dem Krieg, der pittura metafisica. Den Band eröffnet überdies ein weiteres Fragezeichen: ein kurzes Vorwort von Benito Mussolini, der im Jahr zuvor auf Rom marschiert war und dort geputscht hatte; Ungaretti hatte Mussolini während des Krieges persönlich kennengelernt, außerdem war Ungaretti Paris-Korrespondent für Il popolo d’Italia, die Zeitung, die Mussolini 1914 gegründet hatte. Ungaretti hat Mussolini übrigens selbst zu dem Vorwort gedrängt. 8 Außerdem sind viele Gedichte ebenso wohletablierten wie auch avantgardistischen Künstlern und Autoren gewidmet - u.a. Paul Valéry und André Breton, Alberto Savinio und Jean Paulhan, Giorgio de Chirico und Carlo Carrà -, von denen Ungaretti die meisten während seiner Studienzeit in Paris seit 1912 persönlich kennengelernt hatte. Dies alles zusammen - Format, Buchschmuck, Vorwort und Widmungen - lässt den Band als Bemühung Ungarettis um ein self-fashioning als ‘Wichtigem Autor der europäischen Gegenwartʼ erscheinen. Außerdem brauchte er das Geld, wie Rosy Cupo schreibt. 9 Diese Verquickung mit Mussolini und seinem Faschismus, zusätzlich zu der Tatsache, dass Ungaretti, nicht lange nach dem Tod seines neunjährigen Sohnes, 1942, zum falschen Zeitpunkt, aus Brasilien nach Italien zurückkehrte und sich vom Regime auch noch, wie der genauso wie Ungaretti in Alexandria in Ägypten geborene Filippo Tommaso Marinetti, zum Accademico d’Italia machen ließ und überdies zum Literaturprofessor in Rom, hat gewiss dazu beigetragen, dass unter den poeti ermetici nicht Ungaretti, sondern 1959 Salvatore Quasimodo den Literaturnobelpreis bekam (Quasimodo, der während des Krieges das Johannesevangelium und Teile der Odyssee übersetzte, seit 1945 Mitglied des PCI war und daraufhin poésie engagée schrieb - La vita non è sogno). Dessen ungeachtet luden die Novissimi, die Lyriker der gleichnamigen Anthologie, einem zentralen Gründungsdokument der neoavanguardia - Nanni Balestrini, Alfredo Giuliani, Elio Pagliarani, Antonio Porta und Edoardo Sanguineti, im politischen Spektrum alle ‘linksʼ verortet, oder gar, wie Sanguineti, marxistisch engagiert -, keinen anderen als Ungaretti ein, an ihrer Seite den programmatisch epochemachenden Band-1961 vorzustellen. 1931 findet, wie eingangs vermerkt, der Band mit L’Allegria seinen endgül‐ tigen Titel und seine endgültige Gestalt, nunmehr über 70 Gedichte umfassend. Im Vergleich zu 1923 und wie 1919 rückt das Wort von der ‘Heiterkeitʼ also wieder auf die Titelseite, der ‘versunkeneʼ, nein, ‘begrabene Hafenʼ ins Buch DOI 10.24053/ Ital-2023-0030 Preghiera - Bittgebet: Das Schlussgedicht von Giuseppe Ungarettis L’Allegria (1931) 153 hinein; die Heiterkeit oder Leichtigkeit bezieht sich dadurch, noch immer befremdlich, auf beide Formen von Scheitern und Untergang, die des Schiff‐ bruchs wie des Hafens unter dem Sand, und darüber hinaus auch, hingegen unmittelbar verständlich, auf die Situation des Krieg und Tod noch einmal Davongekommenen. In L’Allegria bildet Il porto sepolto die zweite Abteilung von fünf. Diese Abteilungstitel werden in der Originalausgabe, im Unterschied zu allen anderen Fassungen, auch als Untertitel auf dem Cover genannt (Mailand, Preda Giulio Editore, 1931, 11,5x18cm klein, außer dem Verlagssignet ohne ästhetisierend-al‐ legorischen Schmuck, allein mit einer schlichten Kohlezeichnung vom Kopf des Autors von Amerigo Bartoli, der einst mit Giorgio de Chirico das Atelier geteilt hatte). Offenbar wollte Ungaretti die Neuerung der fünf Abteilungen hervor‐ heben und zugleich die Spannungen zwischen Buchtitel und Abteilungstiteln unterstreichen. In chronologischer Reihenfolge verarbeiten diese Abteilungen Ungarettis (Kriegs-)Erfahrungen zwischen 1914 und 1919. Die erste und die letzte Abteilung sind mit jeweils generischen Orts- und Zeitangaben versehen: Ultime eröffnet scheinbar paradox den Band, datiert „Milano 1914-1915“, Prime beschließt ihn mit „Parigi-Milano 1919“. In den dazwischenliegenden Abtei‐ lungen Il porto sepolto und Naufragi tragen die Gedichte neben ihrem Ort jeweils ein taggenaues, in Girovago zumindest monatsgenaues Datum. Die ‘ultimeʼ bedeuten indessen die letzten Gedichte zu Friedenszeiten, ‘primeʼ die ersten Gedichte nach Kriegsende, während ihre überraschende Reihung ebenso wie derselbe Ausgangs- und Endpunkt, Mailand, auf das Zyklische des Bandes verweist. Damit ist schon Ungarettis erster von ihm als vollständig erachteter Gedichtband bewusst narrativ strukturiert, wie es dann auch die Gesamtausgabe seiner Gedichte unter dem programmatischen Titel Vita d’un uomo sein wird. Die Textarchitektur von Vita d’un uomo dialogisiert durchaus mit Petrarcas Canzoniere: Ist dieser, cum grano salis, eine spirituelle Autobiographie, von Laura zu - möglicherweise - Maria, ist Ungarettis Vita d’un uomo eine sozusagen tex‐ tuelle Autobiographie, in welcher der Dialog mit der Tradition als Dialogizität immer stärker hervortritt, vom französischen Symbolismus auch in L’Allegria über barocke, mythologische, pastorale Bilderwelten in Sentimento del tempo (1936) zu Vergil und seinen Figuren in La Terra promessa (1950) und weiter. DOI 10.24053/ Ital-2023-0030 154 Henning Hufnagel 10 Ungaretti 1969, S.-97. 2 Ungarettis ‘Anti-Petrarkismus’: Preghiera als Schlussgedicht von L’Allegria Die Maß-Nahme an Petrarca ist indessen schon in L’Allegria deutlich. Sie ist schlagwortartig ein ‘Anti-Petrarkismusʼ, natürlich nicht im historisch korrekten Sinne einer Petrarca-Parodie als spöttische Umkehrung petrarkisch-petrarkis‐ tischer Topoi, sondern im gleichsam avantgardistisch korrekten Sinne einer ernsthaften Aufnahme und Umkehrung petrarkischer Strukturen und Seman‐ tiken. Die Liebes-als-Leidens-Geschichte des Canzoniere soll an ihrem Ende, mit Gedicht 366, der Gebets-Canzone an die Heilige Jungfrau, im Seelenfrieden zur Ruhe kommen; „pace“ ist in der Tat das letzte Wort des Canzoniere. Auch Ungarettis Allegria endet mit einer Preghiera, aber ganz anders als Petrarca schließt sie nicht auf einer Bitte um Beruhigung; statt Friede ist „grido“ das letzte Wort, und die Bitte des Gebets zielt unerwartet auf den Untergang, nicht auf die Bewahrung (dass ich mich für ‘Bittgebetʼ entschieden habe statt für ‘Gebetʼ, ist in der Ungewöhnlichkeit der Bitte begründet, die so unterstrichen wird, doch in erster Linie dadurch, dass das Wort dreisilbig ist, wie „preghiera“). Die Bitte zielt noch immer auf die Gefahr des „naufragio“, einer Seefahrt, die nun eigentlich, am Ende des Textes, mit der Heimkehr in den Hafen beendet werden müsste, wie es der Topos vorsieht und z. B. das Ende von Ariosts Orlando furioso, zu Beginn des Canto XLVI, besonders eindrucksvoll realisiert, wo der Dichter-Erzähler über 19 Stanzen ausbreitet, wer alles seinem einlaufenden Schiffchen freudig von Quai und Ufer aus zuwinkt. Nein, bei Ungaretti steht: Preghiera Quando mi desterò dal barbaglio della promiscuità in una limpida e attonita sfera Quando il mio peso mi sarà leggero Il naufragio concedimi Signore di quel giovane giorno al primo grido 10 DOI 10.24053/ Ital-2023-0030 Preghiera - Bittgebet: Das Schlussgedicht von Giuseppe Ungarettis L’Allegria (1931) 155 11 Übersetzung: H.H. Bittgebet Einst sag’ ich: bin geweckt aus Blank und Blendung eklen Mischs und Maschs in schiere helle Sphäre donnerstarre Einst fühl’ nicht mehr ich meine eig’ne Schwere Dann sollst du Herr den Schiffbruch mir gewähren Jen’s tag’nden Tags beim ersten einen Schrei 11 Ohne das Gedicht im ganzen gebotenen Detail interpretieren zu können, will ich doch behaupten - in einer gewagten These -, dass Preghiera direkt mit Ungarettis hochberühmtem Kurzgedicht Mattina verbunden ist, das Ende des Bandes also mit seiner Mitte: in Evokation und Umkehrung von Mattina - Mat‐ tina steht ja in Naufragi, der zentralen Abteilung des Bandes. Dessen Thematik von Sonnenaufgang, Neuanfang, Lichtwerdung kehrt in den Schlüsselwörtern „barbaglio“, „limpida“, „giovane giorno“, aber auch „mi desterò“ wieder. Mit dem morgendlichen Neubeginn in Mattina korrespondieren negativ die zahlreichen Nachtbilder in Naufragi: Um Mattina häufen sich die Titel Dolina notturna, Dormire (klanglich quasi Variation von «dolina» und umgekehrt), Inizio di sera, Sempre notte, Un’altra notte, und Nacht, Müdigkeit und Verwandtes werden noch in weiteren Gedichten (etwa Natale und Giugno) thematisiert. Das Ende des Bandes verhandelt jedoch nicht den Gegensatz von Hell und Dunkel, der in Mattina impliziert ist. Es verhandelt vielmehr den Gegensatz von der chaotischen, blendenden Überfülle des Lichts („barbaglio“) einerseits, die zugleich mit einer promiskuitiven Unreinheit gleichgesetzt wird, und dem sanfteren Licht von „limpida“ andererseits, einem Wort, das neben ‘hellʼ eben ‘klarʼ und ‘reinʼ bedeutet. Die Dichotomie von ‘zu vielʼ und ‘angemessenʼ wird verstärkt durch die Dichotomie von Rein und Unrein, und beide werden überdies verstärkt durch den Gegensatz von Formlosigkeit und Form: einerseits dem barbarischen Brabbeln (ersteres heißt bekanntlich nichts anderes als letzteres), an das „barbaglio“ lautmalend anklingt (und das ich dementsprechend lautmalend nachgebildet habe, „promiscuità“ dabei noch einbeziehend, auch wenn das Ergebnis etwas sehr nach Stefan George klingt); andererseits der vollkommenen Kugel in dem über das Lateinischen vermittelten, kostbaren griechischen Lehnwort „sfera“. Mit dieser hellen Kugel könnte womöglich, hat man RVF 366 im Sinn, die Sonne gemeint sein; jene Canzone beginnt mit ihr, oszillierend zwischen der Gottesmutter und der Trinität: DOI 10.24053/ Ital-2023-0030 156 Henning Hufnagel 12 Petrarca 1996, S.-432. Vergine bella, che di sol vestita, coronata di stelle, al sommo Sole piacesti sí, che ’n te Sua luce ascose […]. 12 Ungarettis Vers 2 markiert also das Nicht-Sehen- und -Unterscheiden-Können qua Blendung, das ‘Kuddelmuddelʼ, ein Wort, das sich, als Durcheinander, zur wohlgefügten Form lautmalerisch genauso verhält wie „barbaglio“ zum klaren Strahl einer einzigen Lichtquelle; in Vers 3 die vollkommene geometrische Form der Kugel, vor der - und deren reinem Licht - man, in einer Vertauschung der attributiven Beziehungen ähnlich einer Enallage, doch gerechtfertigt vom gleichartigen Rhythmus, starr vor Staunen steht. Wie man in eine Kugel ‘hi‐ neinʼ („da…in“) erwachen könne, bleibt natürlich rätselhaft - wie man in der ‘Blendung der Promiskuitätʼ ‘schlafenʼ könnte, allerdings auch. Anders als Kugel könnte man „sfera“ gewiss auch als ‘Sphäreʼ im Sinne von ‘Bereichʼ oder ‘Schichtʼ verstehen (laut dem Wörterbuch Treccani ist dies allerdings erst die fünfte Bedeutung), was den Ortswechsel nachvollziehbarer machte. Meine deutsche Übersetzung, die das griechische Lehnwort beibehält, legt dieses Verständnis sogar vorderhand näher, aber es sind, sowohl im Deutschen wie im originalen Italienischen, beide Bedeutungen möglich und wohl auch beide angestrebt, da der Kontrast zwischen vollkommener Geschlossenheit und chaotischer Mischung der ortswechselnden Bewegung semantisch ja unterlegt ist. 3 Die Quadratur der Kugel: Die Baudelaire’sche ‘Rettung durch die Formʼ der traditionellen Metrik Diese Form darf man - wie sollte es anders sein? - auf die Formgebung qua Dichtung beziehen, eine Form, die zum Ende des Gedichtbands sich als prononciert harmonisch präsentiert, so harmonisch, vorderhand zumindest, wie ein Sonnenaufgang à la Mattina: nur etwas verdeckt durch das Abrupte der beiden versi tronchi zu Beginn (hier denn auch mit männlichen Ausgängen übersetzt, die versi piani mit weiblichen Versausgängen, bis auf den finalen „Schrei“, was mir aber semantisch vertretbar schien). Nicht verdeckt, sondern auffällig markiert wird diese Harmonie durch die Metrik: Sie steht hier ganz im Gegensatz zur Metrik anderswo im Band, insbesondere im Nachkrieg der Prime, unter deren sieben Gedichten nur eines die ansonsten typischen Kurzverse aufweist und vier gleich in poetischer Prosa stehen. Preghiera hingegen realisiert DOI 10.24053/ Ital-2023-0030 Preghiera - Bittgebet: Das Schlussgedicht von Giuseppe Ungarettis L’Allegria (1931) 157 13 Ungaretti 1988, S.-48. 14 Ungaretti 1969, S.-541. die traditionellsten Versmaße der italienischen Lyrik - ist das Gedicht doch gebaut aus einem Siebensilbler, gefolgt von fünf Elfsilblern, die ich in ihre deutschen Äquivalente mit strengen Hebungen und Senkungen übersetzt habe. Dieses Praktizieren der traditionellen Metrik an einer herausgehobenen Stelle von L’Allegria, sozusagen als dem letzten Wort des Bandes, ist umso erstaunlicher, als Ungaretti die besondere Neuheit seines darin enthaltenen Erstlings Il porto sepolto gerade mit seiner freien Metrik begründet hatte: „Non ho mai scritto ‘a ritmo di piedi, mai neanche da ragazzo“, hatte er 1916 in einem Brief an seinen Freund Giovanni Papini geschrieben 13 - Papini, der auch der erste Leser von Mattina gewesen ist, damals mit fünf statt zwei Versen und dem zweigliedrigen (übrigens auch an die Seefahrtsmetaphorik anknüpfenden) Titel Cielo e mare, denn im Manuskript liegt dieses Vor-Mattina in einem Brief an Papini vom 26. Januar 1917 vor, dem Datum, das Ungaretti auch in allen späteren Veröffentlichungen, dem Gedichttitel folgend, beibehalten hat. Sind Ungarettis settenario und endecasillabi ein retour à l’ordre, wie er nach dem Ersten Weltkrieg in so vielen Künsten festzustellen ist: Literatur, Musik, Bildender Kunst? Die Formel selbst lässt sich u. a. auf Jean Cocteau und seinen Essayband Le Rappel à l’ordre (1926) zurückführen, als Stichworte (quer zu Medien- und Sprachgrenzen) seien nur genannt: Neoklassizismus, Neue Sachlichkeit, La Ronda und Valori plastici, erstere eine Literatur-, letztere eine Kunstzeitschrift. Sogar ein derart radikaler Innovator wie der kubistische Picasso wurde in jenen Jahren von der Idee klassischer Ordnung erfasst. Kehrt also auch Ungaretti zur Ordnung zurück? Ja und nein. Ja, denn diese Erinnerung an die traditionelle Metrik verweist auf Sentimento del tempo, er‐ schienen zwei Jahre später, 1933, voraus, worin Ungaretti, so eine Selbstaussage, versucht habe, „una coincidenza tra la nostra metrica tradizionale e le necessità espressive d’oggi“ zu finden und „un antico strumento musicale“, die Lyra Leopardis und Petrarcas, „in chiave d’oggi“ zu stimmen 14 (was mutatis mutandis dem musikalischen Neoklassizismus in Frankreich unter Cocteaus Auspizien entspricht). Der Schluss von L’Allegria in Prime weist auf den Folgeband Sentimento del tempo auch insofern voraus, als die erste Abteilung dieses Bandes ebenfalls Prime betitelt ist, nun ganz unparadox. Umgekehrt: Nein, Ungaretti kehrt nicht zur Ordnung zurück, jedenfalls nicht in einem reaktiven oder gar reaktionären Sinne, denn das Gedicht behandelt den Gegensatz von Ordnung und Chaos, Zersplitterung und Ganzheit selbst; innerhalb des Gedichts ist DOI 10.24053/ Ital-2023-0030 158 Henning Hufnagel 15 Ungaretti 1969, S.-42, 43. 16 Elwert 1984, S.-55. diese Ordnung, ist diese Harmonie eine errungene, spannungsreiche, eine nur temporär für die Zeit der Rede erreichte. Zum einen haben die gegensätzlich wirkenden Vorbedingungen „Quando […] Quando […]“ dieselbe Konsequenz: den Wunsch nach erneuter Formauflösung, nach dem Untergang des poetischen Schiffchens. Dieser Wunsch folgt aus dem Erwachen aus der Promiskuität, das im Eintritt in oder im Erscheinen der vollkommenen Kugel als der Sphäre des Vollkommenen resultiert, also, so lässt sich, durchaus pathetisch, paraphrasieren-interpretieren, im Erwachen des vates aus der Selbstvergessenheit und in der Rückkehr zu seiner hohen Aufgabe. Derselbe Wunsch folgt auch aus einer fortgesetzten Selbstvergessenheit bzw. der Vergessenheit der Schwere seiner Aufgabe (und hat er diese Kugel, in die er selbst eingeschlossen ist, nicht zu tragen so wie Atlas, wie Herakles die ganze Welt? ). Wann würde er die Schwere seiner Aufgabe vergessen? - Wohl, wenn er anfangen würde, wie der ‘andereʼ vates, der Vorkriegs-Seher, wie D’Annunzio im Rausch seiner Laudi, in wenigen Monaten tausende Verse zu schreiben: wenn er diese Aufgabe zu leicht nehmen würde und dementsprechend, mene tekel uparsin, gleich Belsazar in Daniel 5 für zu leicht befunden würde. Ob Gelingen oder Versagen - die Konsequenz ist dieselbe. Zum anderen endet das Gedicht ganz wörtlich auf dem per definitionem formlosen Schrei: auf dem Wort „grido“, nachdem das Gedicht mit Versenden auf den tronchi-, den schreihaft-stoßhaften Lauten „-ò“ und „-à“ (im Deutschen in möglichst ‘hartenʼ Klängen) begonnen hatte. Deren Abruptheit ist umso auffälliger, als diese versi tronchi - in der italienischen Dichtung weit mehr Ausnahme als Regelfall - sofort aufeinanderfolgen und überdies die ersten regelhaften Verse des Bandes sind, die ersten solchen Verse im ersten durch‐ gängig traditionell versifizierten Gedicht - ja, laut Ungarettis Selbstaussage, überhaupt die ersten je von ihm geschriebenen traditionellen Verse darstellen. Ein endecasillabo zwischen anderen freien Kurzversen wie im Gedicht In Dor‐ miveglia - „come le lumache nel loro guscio“ - oder im direkt folgenden I Fiumi - „Mi tengo a quest’albero mutilato“ 15 - haben den für den Elfsilbler charakteristischen zweiten, beweglichen Hauptton auf der fünften Silbe, was Elwert zufolge „äußerst selten“ 16 ist, so dass sie Zufallsergebnisse sein dürften. Das letzte Wort „grido“ indessen scheint den Schrei auf den Begriff zu bringen, nachdem der Schrei sich als Phänomen in „-ò“ und „-à“ bereits zweifach realisiert hat. So erscheint das finale „grido“ als die in begriffliche Form gebrachte DOI 10.24053/ Ital-2023-0030 Preghiera - Bittgebet: Das Schlussgedicht von Giuseppe Ungarettis L’Allegria (1931) 159 17 Ungaretti 1969, S.-57. 18 Vgl. dazu Hufnagel 2023, insbesondere S.-106-110. Formlosigkeit der Anfangsklauseln. Damit ist das Thema des Gedichts im letzten Wort aufs Allerhöchste verdichtet. Überdies ist der Schrei für Ungaretti eine explizite Chiffre für Dichtung - für Dichtung am Rande des Todes, für den Dichter als Soldat, in der Lebensgefahr des Ersten Weltkriegs: „Sono un poeta / un grido unanime“, beginnt Italia, das letzte Gedicht von Il porto sepolto vor dem Commiato, dem ‘Lebewohlʼ an Serra, der als Verantwortlicher für den Druck das Buch hat materiell ‘erscheinenʼ lassen. Entsprechend ist das Gedicht Italia makrotextuell das letzte ‘Wortʼ, dass sich auf den geistigen Prozess des In-die-Welt-Bringens des Buches bezieht, also ein poetologisches Gedicht, in dem Ungaretti in der Tat über das Verhältnis zwischen dem Dichter als Individuum und dem Kollektiv der Nation reflektiert, unter deren Fahnen und in deren Uniform er kämpft. Selbst als fern von der Heimat, in der Hitze Ägyptens Geborener, fern der Heimat wie sonst nur die tropischen Pflanzen eines Gewächshauses (vermittelt durch Wagners Tristan-Treibhaus aus den Wesendonckliedern ein topisches Motiv des Symbolismus, das Ungaretti womöglich erinnert und umfunktiona‐ lisiert), ist er dieser Nation ein-geboren, natus, und dergestalt organisch-biolo‐ gisch begreift er sich als deren ‘Sprossʼ: „Sono un frutto / […] maturato in una serra“, Teil eines „popolo […] portato / dalla stessa terra / che mi porta / Italia“. Entsprechend ist ihm das Vaterland die ungebrochene Generationenfolge der Väter, materialisiert im Stoff der Uniform: E in questa uniforme di tuo soldato mi riposo come fosse la culla di mio padre 17 Der vordergründige Patriotismus dieser Zeilen mag an Maurice Barrès erinnern, der die Isonzo-Front übrigens auf einer interalliierten Propagandatour im Mai 1916 selbst besucht hat, 18 nur wenige Monate also, bevor Ungaretti sein Gedicht geschrieben hat, das auf den 1. Oktober 1916 datiert ist. Barrès, der es, damals schon Mitte 50, als seinen persönlichen Kriegsdienst ansah, möglichst jeden Tag einen patriotischen Zeitungsartikel zu schreiben, war damals der europaweit berühmte Hohepriester organischer Verkettung der Generationen im Bild der Verwurzelung, eines enracinement in la terre et les morts der Heimatregion - bei ihm Lothringen, was seinen besonderen Revanchismus und Kriegseifer erklärt DOI 10.24053/ Ital-2023-0030 160 Henning Hufnagel 19 Ungaretti 1974, S.-37. 20 Friedrich 1962, S.-29. 21 Für die folgenden Zitate: Baudelaire 1975, S.-92-93. -, aus denen die späteren Generationen erwachsen wie ein Baum, der umso stärker ist, je tiefer seine Wurzeln reichen - ein Bild, das vielfach in Barrès’ Texten wiederkehrt und auch seinem heute vielleicht noch, zumindest dem Namen nach, bekanntesten Roman zugrundeliegt: Les déracinés (1897), erster Teil der Trilogie des Roman de l’énergie nationale. Gegen Barrès wird Ungaretti am 13. Mai 1921, in dem berühmten Happening der Dadaisten, in welchem sie dem verhassten maître à penser, der in den Krieg geführt hat, den Prozess machen, neben Tristan Tzara als Belastungszeuge aus‐ sagen. - Letzte Frage des Gerichts: ob er, Ungaretti, seinen Landsmann Marinetti dem angeklagten Barrès vorziehe. Ungaretti antwortet, vernichtend für beide, er habe nur von einem gewissen Marinetti gehört, der als Handlungsreisender in‐ dustriell gefertigte Phalloi verkaufe, aber den kenne er nicht persönlich. 19 - Doch schon im Gedicht erscheint der Patriotismus à la Barrès bereits gebrochen, pro‐ blematisiert ja schon durch die Evokation des Treibhauses, als dessen künstliche Frucht sich der Sprecher selbst bezeichnet. Man hat sich zu vergegenwärtigen, dass Ungarettis Vater damals schon fast 30 Jahre tot war, umgekommen beim Bau des Suez-Kanals, als Ungaretti kaum das zweite Lebensjahr vollendet hatte: Antonio Ungaretti fern der Heimat gestorben wie Giuseppe Ungaretti dem Vaterland fern geboren, so dass er vaterlos, als Halbwaise, aufgewachsen ist und die Uniform als vaterländische Wiege des Vaters nur an einem schwachen Faden zu hängen scheint: Ungarettis Uniform als Wiege des mehrfach fernen Vaters ist ebenso gut dessen Sarg und Leichentuch, so wie auch die Soldaten an der Front ihres Todes stets gewärtig sein mussten; der „porto sepolto“ im ägyptischen Wüstensand mag auch auf den unter demselben Sand liegenden ‘babbo sepoltoʼ verweisen. Die Form als geronnener Schrei erscheint mithin auch im anderen Licht von Italia als ein Apotropaion der Formlosigkeit, als eine „Rettung durch Form“, wie sie Hugo Friedrich anhand von Baudelaire als Charakteristikum moderner Lyrik einführt. 20 Eine solch rettende Form ist paradigmatisch das Sonett von À une passante, 21 jenem emblematischen Gedicht der Moderne, welches die statuengleiche, doch bewegte Passantin dem stillstehenden Beobachter gegen‐ überstellt, der indes seine Haltung verliert, „crispé comme un extravagant“, im Spasmus des „Chocks“ (um die Schreibweise Walter Benjamins zu gebrauchen), den Schock des großstädtischen Gewimmels, in dem das Ich in überforderter Wahrnehmung sich aufzulösen droht (so bekanntlich Benjamins, zwischen DOI 10.24053/ Ital-2023-0030 Preghiera - Bittgebet: Das Schlussgedicht von Giuseppe Ungarettis L’Allegria (1931) 161 22 Vgl. Benjamin 1955, insbesondere der Aufsatz „Über einige Motive bei Baudelaire“. 23 Bohrer 1981, v.-a. 180-218. 24 Vgl. Eco 1963, Zingrone 1979. 25 Bohrer 1996, S.-161. Sozialem und Ästhetischen changierende Interpretation). 22 Die Passantin ver‐ schwindet, als „Fugitive beauté“, und mit ihr verschwindet die Schönheit, doch gerade dadurch bleibt das Gedicht: als das in die Schönheit der Form gebannte Verschwinden des Schönen. Die Bewegung bei Ungaretti verläuft umgekehrt: vom Chaos zum Schönen, vom „barbaglio“ zur „sfera“ - bevor dieses Ergebnis im finalen «grido» wieder unter den Vorbehalt der Auflösung gestellt wird: im Zeichen der Kriegskata‐ strophe gibt es modern kein ‘Verweile doch, du bist so schönʼ selbst des in künst‐ lerischer Form gebundenen, verschwundenen Augenblicks des Schönen. Wie als solle es diese Umkehrung signalisieren, findet man bei Ungaretti eine umge‐ kehrte Bezugnahme auf die bildgebenden Wahrnehmungssinne. Bei Baudelaire schält sich der visuelle Eindruck der Passantin aus dem akustischen Chaos einer Straßenszenerie heraus: „La rue assourdissante autour de moi hurlait“ konstituiert als erster Vers des Gedichts seine Situation. Das Vorübergehen ist schließlich in einer optischen Metaphorik des Lichts konzentriert - „Un éclair… puis la nuit! “ -; sein Effekt ist zeitlich im Modus der Plötzlichkeit konfiguriert, als Epiphanie, das unvermittelte Erscheinen des Inkommensurabel-Göttlichen, wie es, säkularisiert, ein typisches Darstellungsmuster der klassischen Moderne ist, Prousts „mémoire involontaire“, Woolfs „moments of being“ oder eben Joyces „epiphanies“, die „profane joy“ auslösen 23 (laut Umberto Eco hat Joyce das Wort aus D’Annunzios „Epifania del Fuoco“ übernommen, dem Titel des ersten Teils von Il Fuoco; 24 Joyce war ein begeisterter Leser des Romans gewesen, den er auf eine Stufe mit Flauberts Madame Bovary stellte - bis er in Italien das gesprochene Italienisch kennengelernt hat, weit weg von D’Annunzios artifizieller Diktion). Bei Baudelaire ist es hingegen eine negative Epiphanie, eine entleerte, ‘aufgehobeneʼ, wie Karl Heinz Bohrer schreibt, 25 da je schon vergangene Epiphanie; sie löst nicht Glück aus, sondern Trauer um die je schon verlorene Möglichkeit des Glücks. Für sie bedarf es dessen, was ich oben, mit Friedrich, die Rettung durch Form genannt habe; die Rede von der Trauer um das Glück ist das Pendant zur paradoxen Präsenz des verschwundenen Schönen in der Schönheit der Form. Ungaretti steht damit in direkter Nachfolge Baudelaires, aber er hat die Trauer in ihr Gegenteil, die ‘Allegriaʼ, getauscht, genauso wie er in Preghiera Baudelaires Abfolge der akustischen und optischen Bild- und Darstellungssphäre umkehrt: Das Erwachen - ein Augenaufschlag in einem Augenblick, ein plötzlicher DOI 10.24053/ Ital-2023-0030 162 Henning Hufnagel 26 Leopardi 1987, S.-112. Wechsel vom Schlaf des Vergessens zur bewussten Wachheit, wie „desterò“ in seiner Abruptheit unterstreicht - löst aus dem blendenden Licht-Chaos und führt in die gleichwohl noch immer helle, aber auch „attonita sfera“ - ‘attònitoʼ, sprachlos, bestürzt, erschüttert, leitet sich etymologisch von tonare, vom Don‐ nern her: dem akustischen ‘Echoʼ des optischen Blitzes, der bei Baudelaire („Un éclair…puis la nuit! “) die epiphanische Transformation markiert - und der noch in «limpida» wetterleuchten mag, zumal ‘attònitoʼ mit ‘limpidaʼ darüber verbunden ist, dass beide parole sdrucciole sind. Dieser Tausch, von Baudelaire zu Ungaretti, zwischen Auge und Ohr ist über die italienische Tradition, über Leopardis L’Infinito vermittelt. 4 Heiterer, süßer Schiffbruch: Leopardi Stilistisch manifestiert sich die transformative Gewalt der negativen Epiphanie in Baudelaires À une passante in der Abschlussstrophe, die ganz aus Figuren des stilus sublimis der Tragödie gebaut scheint: Ausrufen und Anrufungen und pointierten, sich spiegelbildlich entsprechenden und kontrastierenden Halbversen. Ailleurs, bien loin d’ici! trop tard! jamais peut-être! Car j’ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais, Ô toi qui j’eusse aimée, ô toi qui le savais! Auch Leopardis L’Infinito läuft auf eine Transformation im Zeichen des Sub‐ limen hinaus, hier jedoch nicht durch einen unvermittelten Schock, sondern durch eine unausgesetzt-fortgesetzte Reflexion - in Endlosschleife, bis sie sich ‘heißläuftʼ und im letzten Vers auflöst: „E il naufragar m’è dolce in questo mare“. Diese Transformation beginnt, umgekehrt zu Baudelaire und analog zu Ungaretti, mit einem akustischen Eindruck in Vers 9, während das Gedicht selbst, wiederum analog zu Ungaretti und umgekehrt zu Baudelaire, mit opti‐ schen Eindrücken einsetzt bzw. mit deren Begrenztheit: Sempre caro mi fu quest’ermo colle, E questa siepe, che da tanta parte Dell’ultimo orizzonte il guardo esclude. 26 Aus dieser Beschränktheit der optischen Wahrnehmung erwächst in L’Infinito die Vorstellung („nel pensier mi fingo“) von den „interminati / Spazi di là da quella [siepe]“, die durch „sovrumani / Silenzi“ gekennzeichnet sind - beides DOI 10.24053/ Ital-2023-0030 Preghiera - Bittgebet: Das Schlussgedicht von Giuseppe Ungarettis L’Allegria (1931) 163 27 Ungaretti 1974, S.-823. 28 Vgl. insbesondere den Beginn von Hartung 1993. 29 Baudelaire 1975, S.-129, 134. Über-Dimensionen, über das Menschenmaß hinausgehende Dimensionen, die durch die Überwölbung des Abstands zwischen zwei Versen im Enjambement noch unterstrichen werden. Die Begrenztheit des Sinneseindrucks bringt die Unbegrenztheit der geistigen Vorstellung hervor. Doch erst ein erneuter, nun‐ mehr akustischer Sinneseindruck - „E come il vento / Odo stormir tra queste piante“ - setzt den Reflexionsprozess in Gang, der Vorstellung und Wahr‐ nehmung einander gegenüberstellt („Vo comparando“) und in einer wahren Kaskade weitere Gegensätze und weitere Über-Dimensionen evoziert: Ewigkeit, Vergangenheit, Tod („e mi sovvien l’eterno, / E le morte stagioni“). An dieser Klippe der „Immensità“, dem Negation, dem ‘Un-Maß’, dem Jenseits des Men‐ schenmaßes, ‘scheitertʼ die Reflexion („il pensier mio“), erleidet den Schiffbruch, „il naufragar“, der als „naufragio“ ja auch für L’Allegria so bedeutsam ist. Ungaretti hat in einem Radiovortrag selbst auf eine mögliche Verbindung zwischen Leopardis Wort und seinem Abteilungstitel Naufragi hingewiesen, sie jedoch gleich wieder relativiert. 27 Deutlich ist die Verbindung zum französischen Symbolismus, ja, zu all jenen - immer sich an den antiken Topos erinnernden - poetisch-poetologischen Meerfahrten seit den Parnassiens, 28 bei Baudelaire, Rimbaud und Mallarmé, in denen das Scheitern der stete Schatten der Fahrt ist: So im Schlussgedicht der Fleurs du Mal, Voyage, aufgespannt zwischen der zweitletzten Strophe, die ebenfalls im Schlussgedicht einen Wunsch nach Un‐ tergang formuliert - „Ô mort, vieux capitaine, il est temps! levons l’ancre! / […] Nous voulons, tant ce feu nous brûle le cerveau, / Plonger au fond du gouffre, Enfer ou Ciel, qu’importe? “ - und der zweiten Strophe nach dem Beginn, die, in Zusammenschau mit Leopardi betrachtet, noch suggestiver wird: „Berçant notre infini sur le fini des mers“. 29 So auch im Bateau ivre, wo die Fahrt erst wirklich beginnt - poetisch zu werden beginnt -, als das Schiff kentert: L’eau verte pénétra ma coque de sapin Et des taches de vins bleus et des vomissures Me lava, dispersant gouvernail et grappin. Et, dès lors, je me suis baigné dans le Poème De la mer […], worauf nach allen Fährnissen der nochmalige Wunsch steht, in umgekehrter Verwendung des Topos am Schluss des Werks - umgekehrt zu Ariost, aber analog zu Baudelaires Voyage und zu Ungarettis Preghiera -, der Kiel des DOI 10.24053/ Ital-2023-0030 164 Henning Hufnagel 30 Rimbaud 2009, S.-162-164. 31 Mallarmé 1998, S.-4 und 376-369. 32 Wetzel 2019, S.-20. 33 Shakespeare 2005, S.-1234. Dichtungsschiffes möge entzweibrechen: „Ô que ma quille éclate! Ô que j’aille à la mer! “. 30 Und so schließlich auch in Mallarmés Œuvre, von Salut, das auf den Versen endet „Solitude, récif, étoile / À n’importe ce qui valut / Le blanc souci de notre toile“, bis hin zum Coup de dés, der auf dem Satz beginnt: UN COUP DE DÉS JAMAIS QUAND BIEN MÊME LANCÉ DANS DES CIRCONSTANCES ÉTERNELLES DU FOND D’UN NAUFRAGE - worauf dieser Satz selbst grammatikalisch Schiffbruch zu erleiden scheint in einem Anakoluth. 31 Quasi zur 100. Wiederkehr des Kriegsendes hat Hermann H. Wetzel auf der kreatürlichen Konkretheit von Ungarettis „naufragio“ bestanden: „das Scheitern [sei] als Todeserfahrung“ im Ersten Weltkriegs zu lesen, 32 die persönliche Erfahrung, ganz konkret, im Karst, des „Giuseppe Ungaretti / Soldato 19° fan‐ teria / Zona di guerra“, sic, zweimal unterstrichen, wie Ungaretti im Dezember 1916 das Exemplar 58 des Porto sepolto Aldo Palazzeschi gewidmet hat. Diese Widmung stützt Wetzels Argument noch einmal. Aber über diesem Punkt, si licet, unterschätzt Wetzel die Kugel: Läse man den Schiffbruch einseitig als Echo der Kriegserfahrung, hieße das, Ungaretti als Dichter - als vates ebenso wie als artifex, als der er sich durch seine Umarbeitungen, durch sein Feilen an Klang und Sinn und Kürze zeigt -, zu unterschätzen. Gerade die artistische Formgebung mag auch eine therapeutische Distanzie‐ rung von der traumatisierenden Ohnmachtserfahrung des Trommelfeuers sein, wie Baudelaires Sonett eine Bewältigung des sozialpsychologischen Chocks der Ichauflösung auf den Boulevards: Es ist der Wandel der fünf Buchstaben von «grido» in die fünf Buchstaben von „sfera“. Dies ist eine komplette Trans‐ formation, rund um den rollenden Fixpunkt des R - alles ändert sich, aber nichts geht verloren, nichts bleibt sich gleich, aber alles ist aufgehoben, wie in jenem anderen berühmten Schiffbruch, in Shakespeares Tempest (I,2): Ferdinands Vater scheint im Meer zu ertrinken, um zu Perlen und Korallen zu werden: „Nothing of him that doth fade, But doth suffer a sea-change Into something rich and strange“ 33 DOI 10.24053/ Ital-2023-0030 Preghiera - Bittgebet: Das Schlussgedicht von Giuseppe Ungarettis L’Allegria (1931) 165 - verwandelt ‘in ein reich und seltnes Gut’, wie August Wilhelm Schlegel übersetzt hat, kurz: in ein Gedicht. Bibliographie Barenghi, Mario: Ungaretti. Un ritratto e cinque studi, Modena: Mucchi 1999. Baudelaire, Charles: Œuvres complètes, Bd.-1, hrsg. v. Claude Pichois, Paris: Gallimard 1975. Benjamin, Walter: Schriften, Bd. I,2, hrsg. v. Theodor W. Adorno, Frankfurt a.M.: Suhr‐ kamp 1955. 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In questo saggio, quindi, esamineremo alcune routine nella loro traduzione dall’italiano al tedesco in dizionari e libri di testo selezionati, per verificare se sono congruenti a tutti i livelli linguistici rilevanti. In particolare, verranno sottolineate le differenze tra forma e funzione. Der idiomatische Bereich einer Sprache ist für Fremdsprachenlernende oft schwer zu erfassen. Während sich viele ein- und zweisprachige Wör‐ terbücher mit Sprichwörtern beschäftigen, wird den Konversationsrou‐ tinen wenig Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl diese auf kommunika‐ tive Handlungen mit rituellem Charakter innerhalb einer Gesellschaft hinweisen (vgl. Coulmas 1981, 16). In diesem Aufsatz werden daher einige Routinen in ihrer Übersetzung aus dem Italienischen ins Deutsche in ausgewählten Wörterbüchern und Lehrbüchern untersucht, um zu prüfen, ob sie auf allen relevanten sprachlichen Ebenen kongruent sind. Dabei werden insbesondere die Unterschiede zwischen Form und Funktion hervorgehoben. DOI 10.24053/ Ital-2023-0031 1 Für das Italienische können beispielsweise folgende einschlägige Wörterbücher ange‐ führt werden: Turrini/ Alberti (1995) und Castoldi/ Salvi (2004). Beispiele für bilinguale Sammlungen von Sprichwörtern wären hingegen Möller (2011) und Krieg (2018). 1 Einleitung Der idiomatische Bereich einer Sprache ist für Fremdsprachenlernende oft schwer zu erfassen. Vokabeltraining reicht nicht aus, um die Nuancen ritua‐ lisierter Ausdrücke in Gänze zu verstehen. Während sich viele mono- und bilinguale Wörterbücher mit Sprichwörtern auseinandersetzen, 1 wird den all‐ täglich gebrauchten Routineformeln wenig Beachtung geschenkt, obwohl diese ein Indiz für kommunikative Handlungen mit rituellem Charakter innerhalb einer Gesellschaft sind (vgl. Coulmas 1981, 16). Im vorliegenden Aufsatz werden daher die drei Routinen Come stai/ va? , Figurati! und Permesso? in ihrer Über‐ tragung vom Italienischen ins Deutsche in ausgewählten Wörterbüchern und Lehrwerken betrachtet, um zu prüfen, auf welchen sprachlichen Ebenen Kon‐ gruenzen vorliegen. Dabei werden vor allem die Unterschiede zwischen Form und Funktion herausgestellt. Zuerst wird die Stellung von Routineformeln in der Phraseologie beschrieben, bevor sowohl aus linguistischer als auch fremdsprachendidaktischer Perspek‐ tive auf das Problem des Übertragens von Routineformeln in andere Kulturen eingegangen wird. Es folgt eine Analyse der drei ausgewählten Routinen aus der Perspektive der Fremdsprachenlernenden des Italienischen mit der Erstsprache Deutsch, deren Grundlage drei zweisprachige deutsch-italienische Wörterbü‐ cher, drei Italienisch-Lehrwerke sowie drei einsprachige italienische Wörter‐ bücher bilden. Gleichzeitig werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede innerhalb der Ausführungen zu den Routineformeln in den unterschiedlichen Nachschlagewerken diskutiert und neue Möglichkeiten der Darstellung von Routinen in Wörter- und Schulbüchern entwickelt, durch die Rückschlüsse auf die jeweilige Kultur ermöglicht werden und aufgezeigt wird, ob, wie und wann eine Routine verwendet werden sollte. 2 Routineformeln als Phraseologismen Routineformeln zählen zu den kommunikativen Phrasemen. Nach Burger wird in der Phraseologieforschung zwischen drei hauptsächlichen Zeichenfunkti‐ onen von Phrasemen unterschieden: referentiell, strukturell und kommunikativ. Während sich das referentielle Phrasem auf Objekte, Vorgänge oder Sachver‐ DOI 10.24053/ Ital-2023-0031 170 Alina Lohkemper 2 Ein Beispiel wäre ʻSchwarzes Brettʼ. 3 Ein Beispiel wäre das präpositionale ʻim Hinblick aufʼ. 4 Auf die weitere Klassifikation der referentiellen und strukturellen Phraseme kann an dieser Stelle nicht en détail eingegangen werden. 5 Burger (2015, 14-26) unterscheidet zwischen der psycholinguistischen, strukturellen und pragmatischen Festigkeit. 6 Wobei auch hier der Übergang zu Festen Phrasen fließend ist (vgl. Burger 2015, 41-45). 7 Coulmas (1981, 119/ 120) unterteilt die Routineformeln in fünf Kategorien. Diese feingliedrigere Klassifizierung erschwert die Zuordnung der Formeln, da jede mehreren Kategorien zugleich angehören kann. Bevorzugt wird daher die Einteilung von Burger, obgleich dieser mehrere Funktionen einer Kategorie zuordnet und diese noch relativ unspezifisch sind. halte der fiktiven oder realen Welt bezieht, 2 hat ein strukturelles Phrasem 3 die Funktion, auf syntaktischer Ebene Relationen herzustellen. 4 Kommunikative Phraseme zeichnen sich hingegen dadurch aus, dass sie „bestimmte Aufgaben bei der Herstellung, Definition, dem Vollzug und der Beendigung kommunika‐ tiver Handlungen“ (Burger 2015, 31/ 32) übernehmen. Sie sind zumeist hochst‐ andardisiert und voraussagbar (vgl. Coulmas 1981, 13/ 14). Ein erstes Beispiel für diese Gruppe ist das kommunikative Phrasem ʻGuten Morgenʼ (vgl. ebd.). Jedes kommunikative Phrasem kann zwar als Routineformel bezeichnet werden, umgekehrt sind jedoch nur gewisse Routineformeln kommunikative Phraseme. Von den beiden für die Phraseologie im weiteren Sinne notwendigen Kriterien, Festigkeit 5 und Polylexikalität, erfüllen einige Routinen nämlich nur eine: Das Kriterium der Festigkeit scheint gerade bei Routinen durch ihren zumeist täglichen Gebrauch eindeutig gegeben (vgl. ebd., 14-17). Das Kriterium der Polylexikalität wiederum, das nur dann erfüllt wird, wenn ein Phrasem aus „mindestens zwei orthographisch getrennte[n] Wörter[n] [besteht und] der Satz […] die obere Grenze phraseologischer Wortverbindungen [bildet]“ (ebd., 15), trifft nicht auf alle Routinen zu, 6 wie z. B. das alleinstehende Wort ʻdankeʼ zeigt (vgl. ebd., 45). Somit stellen Routineformeln im Vergleich zu kommunikativen Phrasemen einen weiter gefassten Terminus dar. Burger (2015, 45/ 46) unterscheidet zwei Typen 7 von Routineformeln: 1. Gruß-, Glückwunsch- und andere Arten von ʻFormelnʼ 2. gesprächsspezifische Formeln bzw. Gesprächsformeln Die Formeln des ersten Typs werden auch als ʻRoutineformeln im engeren Sinneʼ gefasst. Diese haben eine situativ bestimmbare Funktion und „ein gewisses Maß an struktureller Festigkeit“ (ebd., 46); eine Grußformel, wie ʻhalloʼ, steht am Anfang eines Gesprächs und leitet eine Kommunikationssituation ein. Daneben gibt es auch Routinen, die sich ausschließlich auf spezifische Situationen DOI 10.24053/ Ital-2023-0031 Die Übertragung von Routineformeln in andere Kulturen 171 8 Zur Vertiefung schriftlicher Textroutinen siehe Feilke (1996; 2012). 9 Vgl. hierzu auch Donalies (2009); Coulmas (1981); Lüger (1993); Sosa (2006); Filatkina (2010). 10 Palm (1997, 33) nennt Routineformeln daher auch Sprechaktformeln. 11 Coulmas (1981, 14/ 15) begründet die Eliminierung der semantischen Dimension mit Wittgenstein, der den Gebrauch als Bedeutung ansieht. 12 Kontaktfunktion, Stärkung der Verhaltenssicherheit, Schibboleth-Funktion, Konventi‐ onalitätsfunktion. 13 Gesprächssteuerung, Evaluation, Metakommunikation, Entlastungsfunktion. beziehen und nur von bestimmten Personen geäußert werden, wie z. B. ʻDie Verhandlung ist hiermit geschlossenʼ. In vielen Fällen ist die Festigkeit der Routineformeln im engeren Sinne eine statischere als bei anderen Phrasemen. Trotz ihrer Häufigkeit in der mündlichen Kommunikation findet man diese auch im Schriftlichen 8 vor, wie z. B. ʻMit freundlichen Grüßenʼ am Ende von Briefen (vgl. ebd., 45/ 46). Der zweite Typ der Routineformeln weist einen hohen Grad an Variabilität und lexikalischem Freiraum auf (Bsp.: ʻdas will ich ganz deutlich sagenʼ) (vgl. ebd., 46/ 47). Die Festigkeit der Formeln äußert sich lediglich dadurch, „dass sie den Sprechern als abrufbare Einheiten zur Bewältigung wiederkehrender kommunikativer Aufgaben, insbesondere in exponierten bzw. kritischen Phasen der Kommunikation zur Verfügung stehen“ (ebd., 46). Vor allem metakommu‐ nikative Formeln, durch die das Wortfindungsproblem explizit angesprochen wird (wie z.B.ʻWie heißt das? ʼ), geben dem Sprechenden die nötige Zeit, eine treffende Formulierung zu finden (vgl. ebd., 47/ 48). Meist treten die Formeln im mündlichen Gebrauch auf, wie ʻwie schon gesagt wurdeʼ. Im Bereich der Gesprächssteuerung, der Textgliederung und der Beziehung zwischen den Gesprächspartner*innen können den Formeln verschiedene Funktionen zuge‐ schrieben werden, mit denen „immer wiederkehrende kommunikative Hand‐ lungen, die man als ʻkommunikative Routinenʼ bezeichnen kann“ (ebd., 45), 9 bewältigt werden. Für gewöhnlich stellt sich dabei eine Funktion als dominant heraus (Bsp.: ‘oder nicht? ’ = Übergabe der Sprecherrolle) (vgl. ebd., 47; Stein 1995, 239-243). Da Routineformeln sehr stark kontextgebunden sind, lassen sie sich innerhalb der Pragmatik besonders gut untersuchen. Die pragmatische Betrachtung 10 von Routinen gewinnt dadurch an Relevanz, dass diese ihre ursprüngliche Wortbe‐ deutung verloren, aber auch keine andere hinzugewonnen haben (De-Semanti‐ sierung). Somit ist es oft nur die kommunikative Funktion oder illokutionäre Kraft, aus der sich die Bedeutung einer Routine erschließt (vgl. Burger 2015, 45-48; Coulmas 11 1981, 72). Coulmas (1981, 94-108) teilt die verschiedenen kommunikativen Funktionen in soziale 12 und diskursive 13 ein, wobei viele DOI 10.24053/ Ital-2023-0031 172 Alina Lohkemper 14 Auf weitere und kleinschrittigere Einteilungen der Funktionen von Routineformeln, wie sie z.-B. Lüger (2007, 450-452) vornimmt, wird hier nicht eingegangen. 15 Abgesehen von regionalen, dialektalen und fremdsprachlichen Differenzen. 16 An dieser Stelle sei auf Jakobsons (1959, 233) Ausführungen zur interlingual translation verwiesen. dieser Funktionen gemeinsam auftreten können, aber unterschiedliche Aspekte beleuchten. 14 Obwohl einige Routineformeln einen Rest an semantischem Po‐ tential aufweisen (ʻGuten Morgenʼ), stimmt dieses oft nicht mit dem üblichen Sprachgebrauch überein, wie an der Routine ʻGuten xʼ verdeutlicht werden kann, in die die Tageszeiten ʻMittagʼ und ʻNachmittagʼ nicht eingesetzt werden. Somit divergiert die eigentliche von der durch die Routine evozierte Tageseinteilung (vgl. Burger 2015, 48). 15 3 Zum Problem des Übertragens von Routineformeln in andere Kulturen Ein Problem stellt nun die Übersetzbarkeit einer Routineformel von einer Ausgangsin eine Zielsprache dar. 16 Daher erfolgt zunächst eine Annäherung an den polyvalenten Übersetzungsbegriff. Che cosa vuole dire tradurre? La prima e consolante risposta vorrebbe essere: dire la stessa cosa in un’altra lingua. Se non fosse che, in primo luogo, noi abbiamo molti problemi a stabilire che cosa significhi ‘dire la stessa cosa’ […]. In secondo luogo perché, davanti a un testo da tradurre, non sappiamo quale sia la cosa. Infine, in certi casi, è persino dubbio che cosa voglia dire dire. (Eco [2003] 2010, 9) Mit diesen Worten beginnt Ecos Buch Dire quasi la stessa cosa. Esperienze di traduzione, der den Versuch, eine adäquate Definition für das gesamte Konzept der Übersetzung zu finden, problematisiert. Indem er bereits zu Beginn darstellt, dass eine Definition des Übersetzungsbegriffs zunächst simpel erscheint, aber die Umsetzung im Prozess des Übersetzens prekär ist, kann geschlussfolgert werden, dass es im semiotischen Sinne oftmals keine Eins-zu-eins-Übersetzung geben kann. Trotz aller Skepsis werden seit jeher Übersetzungen angefertigt und sind auch fester Bestandteil des Italienischunterrichts. Um die Spannweite des Übersetzungsbegriffs darzulegen, werden nachfol‐ gend die zwei Extrema der Übersetzungsdefinitionen vorgestellt, die als Konti‐ nuum gedacht werden können und dadurch eine neutrale Annäherung an den Übersetzungsbegriff erlauben. Die erste Definition bezieht sich dabei auf die lexikalische Äquivalenz, die bei einem Übersetzungsvorgang zwischen zwei DOI 10.24053/ Ital-2023-0031 Die Übertragung von Routineformeln in andere Kulturen 173 Sprachen hergestellt werden soll. Eine derartige Definition liefert Oettinger (1960, 104): Translating may be defined as the process of transforming signs or representations into other signs or representations. If the originals have some significance, we gene‐ rally require that their images also have the same significance, or, more realistically, nearly the same significance. Mit diesem Plädoyer für eine Wort-für-Wort-Übersetzung im Sinne der Substi‐ tutionsdoktrin weist Oettinger gleichzeitig auf die Tücken dieser Definition hin. Eine differierende Definition des Übersetzungsbegriff kann auf der rechten Seite des Kontinuums positioniert werden und bezieht sich auf die Überset‐ zung von einer Kultur in eine andere: „Äquivalenz bezeichne eine Relation zwischen einem Ziel- und einem Ausgangstext, die in der jeweiligen Kultur auf ranggleicher Ebene die gleiche kommunikative Funktion erfüllen (können)“ (Reiss/ Vermeer 1984, 139-140). Der hier verfolgte Ansatz bezieht sich nicht auf den Substitutionalismus, sondern basiert auf einer endlosen Hermeneutik (vgl. Schneiders 2007, 16): Substitutionsdoktrin-----------------------------Hermeneutik Eine allumfassende Darstellung des Übersetzungsbegriffs ist als theoretisches Konstrukt hilfreich, dient aber nur im geringen Maße bei der praxisnahen Umsetzung. Mithilfe der Definition Schneiders’ (2007, 225) kann aus fachwis‐ senschaftlicher Perspektive eine Übersetzung im pragmatischen Sinne erfasst werden. Schneiders versucht in einem Dreischritt, Merkmale der Substitutions‐ doktrin und der Hermeneutik in einem von ihm benannten prototypischen Vorgang zu vereinen. Eine Übersetzung sei demnach durch folgende drei Merkmale gekennzeichnet: 1. den Sprachenaustausch 2. das Beibehalten der Aussage 3. die Herstellung vergleichbarer Stücke zum Zweck der Vergleichbarkeit Die Grenzen einer derartigen Übersetzung, so Schneiders, lassen sich dadurch bestimmen, dass eines der Merkmale nicht zutrifft. Das dreigliedrige Modell birgt allerdings einige Tücken: ein Sprachenaustausch muss beispielsweise bei Fremdwörtern nicht stattfinden, wie an dem von Goethe geprägten Begriff ʻWeltliteraturʼ ersichtlich wird; die Entscheidung, ob eine Aussage beibehalten wurde oder nicht, ist zum einen ein subjektives Kriterium, zum anderen kann mit der Zeit eine Bedeutungsveränderung eintreten (auch: Skoposverschieden‐ heit) (vgl. ebd., 225); vor allem der dritte Punkt ist variabel und spielt auf die DOI 10.24053/ Ital-2023-0031 174 Alina Lohkemper 17 Snell-Hornby (2009, 42) spricht hier in Anlehnung an den linguistic turn von einem cultural turn. 18 Die sozio-ökologische Ebene zielt darauf ab, dass in beiden Gesellschaften die Routine überhaupt mit verbalen Mitteln realisiert wird (vgl. Coulmas 1981, 136). 19 Die Gebrauchsnorm bezieht auch die Frequenz, Präferenz und Natürlichkeit eines Ausdrucks in einer Sprachgemeinschaft mit ein (vgl. Coulmas 1981, 136). 20 Coulmas (1981, 15/ 134/ 135) spricht hier von funktional äquivalenten Entsprechungen. Diskrepanz zwischen einer wörtlichen und einer sinngemäßen Übersetzung an. Zudem sind die Begriffe ʻPrototypʼ und ʻGrenzenʼ, die Schneiders verwendet, wertend und deuten auf eine bessere bzw. schlechtere Übersetzung hin. Nichts‐ destotrotz erfasst Schneiders im Kern, welche Merkmale eine pragmatische Übersetzung aufweisen sollte. Die Übersetzung von Routineformeln wird nach Coulmas (1981, 137) durch drei Merkmale erschwert: 1. ihre Idiomatizität 2. ihre Situationsgebundenheit 3. ihre Bezogenheit auf Verhaltenskonventionen Übersetzungstheoretisch kann die Übertragung von Routinen von einer Aus‐ gangsin eine Zielsprache unter Berücksichtigung dieser drei Merkmale nur gelingen, wenn zum einen die zu erfüllenden Kriterien einer guten Übersetzung nach Schneiders sowie zum anderen die von der Hermeneutik bestimmte, der sinngemäßen Übersetzung zugewandte Seite des Kontinuums eine größere Bedeutung beigemessen wird: Die Unmöglichkeit einer letztgültigen Übersetzung bedeutet deren Endlosigkeit. […] Damit kann die Übersetzung als eine Möglichkeit betrachtet werden, wie man sich zum einen die eigene Lebenswelt verstehend aneignen kann, wie man zum anderen aber auch die fremde Kultur immer wieder neu zu verstehen versuchen kann. (Schildt 2010, 99) Wie Sapir (vgl. 1972, 194) schon feststellte, hat jede Kultur eigene Weltan‐ schauungen und wie Torop (vgl. 2000, 597/ 598) es formulierte, sollen Wörter nicht von einer Sprache in eine andere, sondern von einer Kultur in eine andere übersetzt werden. 17 Es geht um ein Verständnis der zu übersetzenden Bestandteile, um in einer anderen natürlichen Sprache etwas zu erzeugen, das auf semantischer, struktureller, stilistischer, sozio-ökologischer 18 Ebene und auf Ebene der Gebrauchsnorm 19 bei dem Zielleser die gleiche Wirkung auslöst wie bei dem Ausgangsleser (vgl. Coulmas 1981, 136; Eco 2006, 18). Somit steht die Wirkungsäquivalenz 20 im Gegensatz zur Bedeutungsgleichheit und rein DOI 10.24053/ Ital-2023-0031 Die Übertragung von Routineformeln in andere Kulturen 175 21 Aufgrund der Wirkungsäquivalenz sind Routineformeln hier weder sourcenoch target-oriented (vgl. Eco 2006, 200). 22 An dieser Stelle sei ein Beispiel aus dem Italienischen angeführt: Telefongespräche beginnen dort mit dem Ausruf Pronto! , der von demjenigen artikuliert wird, der das Gespräch entgegennimmt. In einem solchen Kontext könnte Pronto! mit ʻHallo! ʼ übersetzt werden (vgl. Pons 2001-2024 s.v. pronto). Ein regulärer L3-Lernender wird das Wort pronto allerdings aus verschiedenartigen Kontexten und vor allem in seinem adjektivischen Gebrauch kennen, in dem es ʻbereitʼ, ʻfertigʼ, und ʻschnellʼ bedeutet (vgl. ebd.). Somit divergiert der Gebrauch des Wortes pronto, wenn es im Zusammenhang mit Telefongesprächen verwendet wird, und hat nichts mehr mit dessen ursprünglicher Bedeutung gemein. 23 An dieser Stelle sei angemerkt, dass eine derartige Konvention erlernt werden muss, da die Unkenntnis dieses Gebrauchs zu anfänglichen Irritationen führen und das von Goffman (1967, 10-20) beschriebene Image in dieser Sprachgemeinschaft beschädigen könnte. Vermutlich würde ein unwissender L3-Lernender bei einem Telefongespräch ihm geläufigere Ausdrücke wie Ciao! (ʻHallo! ʼ) oder seinen Namen verwenden. sprachlichen Reversibilität als telos der Übersetzungstheorie im Vordergrund (vgl. ebd., 94; Ingenito 2012, 90). 21 Zudem kommt es darauf an, zugunsten welchen Aspekts (sprachlich oder kommunikativ) die Übersetzung vorgenommen wird (vgl. Eco 2006, 22). Da die Basis der hier betrachteten Routineformeln im engeren Sinn die mündliche Kommunikation ist, spielt der kommunikative sowie pragmatische Aspekt im Vergleich zur sprachlichen Betrachtung eine übergeordnete Rolle. Ein*e Übersetzer*in von Routinen sollte daher mehr als das bloße Vokabular beider Sprachen beherrschen, zumal die direkte Übersetzung eines Wortes nicht mit dessen Bedeutung verwechselt werden darf (vgl. Eco 2006, 99). Der/ die Übersetzer*in fungiert als Mittler zwischen zwei Kulturen und sollte die womög‐ lich verschiedenartigen Situationen, in denen bestimmte Routinen verwendet werden, kennen. Auch Lüger (2007, 445) weist auf dieses Problem hin und führt den Begriff der „kulturspezifischen Interaktionsnormen“ ein, die einem Sprechenden beider Sprachen bekannt sein sollten. Malinowskis (1923, 313) Position ist noch rigo‐ roser, wenn er behauptet, eine Routine erfüllte „a function to which the meaning of its words is almost completely irrelevant.“ Der pragmatische Gebrauch der Routinen erscheint der Bedeutung gegenüber prioritär. 22 Lüger (2007, 456) beschreibt diese Art der Anwendung mit dem Begriff ʻPolyfunktionalitätʼ. 23 Die linguistisch geprägten Übersetzungswissenschaften bilden sich auch in der Fremdsprachendidaktik ab. So hat das Feld der Übersetzung im weitesten Sinne durch dessen Nennung im Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen (2001) sowie dessen sofortiger Übernahme in die deutschen Curricula der modernen Fremdsprachen in Form des Konzepts der Sprachmittlung Eingang DOI 10.24053/ Ital-2023-0031 176 Alina Lohkemper 24 Ob es hier eigene Standards für die zumeist dritten Fremdsprachen bräuchte, wird immer wieder zur Debatte gestellt (vgl. Marxl/ Müller et al. 2024, 94). in den Italienischunterricht erhalten (vgl. GER 2001, 89-91; Rössler / Schädlich 2019, 5; Kolb 2016, 73-77). Eine Vielzahl der bereits genannten theoretischen Bezugspunkte (sinnge‐ mäße Übertragung, Kulturmittlung, Mündlichkeit und interaktional-pragmati‐ sche Relevanz) finden sich auch in der fremdsprachendidaktischen Diskussion wieder. Unter ‘Sprachmittlung’ wird „die adressaten-, sinn- und situationsge‐ rechte Übermittlung von Inhalten geschriebener und gesprochener Sprache von einer Sprache in die andere“ (Rössler 2008, 58) verstanden. Im Kernlehrplan des Landes NRW ist Sprachmittlung Teil der funktional kommunikativen Kompetenz und wird bereits im Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen als interaktive kommunikative Kompetenz hervorgehoben (vgl. MSB 2014, 18; GER 2001, 17). Ob Sprachmittlung als eine Fertigkeit oder eine eigene sowie überzuordnende Kompetenz zu verstehen sei, haben bereits Hallet (2008) und Kolb (2016) zur Diskussion gestellt und Sprachmittlung in ihren Beiträgen als komplexe Kompetenz modelliert. In den neuen Bildungsstandards für die erste Fremdsprache (Englisch/ Fran‐ zösisch) 24 (2023) wird Sprachmittlung um den Begriff der Mediation erweitert, was die Fremdsprachendidaktik u.a. vor ein terminologisches sowie ein wei‐ teres Problem der Modellierung stellt, wie aus dem Beitrag von Marxl/ Müller et al. (2024: 96/ 97) hervorgeht, die Mediation als ein vielen Kompetenzen übergeordnetes Prinzip verstehen. In ihrem Beitrag monieren die Fremdspra‐ chendidaktikerinnen, dass in den neuen Bildungsstandards und mit Einführung des Mediations-Begriffs eine Chance vertan wurde, diesen nicht nur auf die sprachliche, sondern v. a. auch auf die kulturelle Dimension zu beziehen (vgl. ebd., 96/ 99). So wird die Relevanz interkulturell kommunikativen Wissens zum Zweck optimaler Mittlung in den letzten Jahren auch in der Fremdsprachendi‐ daktik immer wieder betont (vgl. König / Müller 2019), weswegen die vier Wis‐ senschaftlerinnen konstatieren, dass „Sprachmittlung […] ohne Kulturmittlung [nicht ginge]“ (Marxl/ Müller et al. 2024, 100). Marxl, Müller et al. (2024, 100/ 101) sprechen sich zudem für eine Stärkung mündlicher Mittlung in informellen Situationen aus, die bereits in jüngeren Jahrgängen Teil des Unterrichtsgesche‐ hens sein müsste, was eine Stärkung des neo-kommunikativen Paradigmas zufolge hätte. Auch wird in den neuen Bildungsstandards der Fokus darauf gelegt, Lernende als sprachlich handelnde soziale Akteur*innen auszubilden, wodurch die Pragmatik hervorgehoben wird (vgl. KMK 2023, 6). DOI 10.24053/ Ital-2023-0031 Die Übertragung von Routineformeln in andere Kulturen 177 25 Da hier von Lernenden mit Deutsch als Erstsprache ausgegangen wird, deren L2 ver‐ mutlich Englisch ist, wird angenommen, dass diese Italienisch als dritte Fremdsprache erlernen. Das hier verwendete L3 bezieht sich auf das Erlernen von Fremdsprachen und darf nicht mit dem Modell des Zweitspracherwerbs (Bilingualismus) verwechselt werden. Wenn wir diese Prämissen nun in die Diskussion der Übertragung von Routineformeln von einer Kultur in eine andere mit einbeziehen wollen, so lässt sich diese der neuen Konzeption des Sprachmittlungs-Begriffs zufolge weniger als Sprachmittlung, sondern vielmehr als Teil der als „integrative Meta‐ kompetenz“ (Marxl/ Müller et al. 2024, 97) zu fassenden Mediation zuordnen, die neben der sprachlichen auch die kulturelle und pragmatische Ebene einbeziehen müsste (selbst wenn dies aus den offiziellen Dokumenten nicht hervorgeht). Demnach kann hier eher von einer (mediatorischen) Übertragung von Routi‐ neformeln im engeren Sinne gesprochen werden, da die Ausgangs- und die Zielkultur eine maßgebliche Rolle spielen, der situative Kontext nie außer Acht gelassen werden kann, es vorrangig darum geht, eine Wirkungsäquivalenz bei der Übertragung zu erzeugen, die Situation richtig zu interpretieren und auf bestehende sprachgebräuchliche Konventionen zurückgreifen zu können. Wie dargestellt bieten sowohl die fachwissenschaftliche als auch die fachdidaktische Diskussion genügend Bezugspunkte, um Routineformeln als ein Phänomen zu begreifen, das einer Übersetzung im klassischen Sinne entgegensteht und sprachliche, kulturelle sowie pragmatische Aspekte in sich vereint. Deren Abbild in Nachschlagewerken für Fremdsprachenlernende des Italienischen zu erforschen, erscheint daher höchst relevant. 4 Routineformeln in Wörterbüchern und Lehrwerken 4.1 Untersuchungsdesign Da es besonders L3-Lernenden 25 des Italienischen mit Deutsch als Erstsprache schwerfallen dürfte, die situationsadäquate Verwendung von Routineformeln zu erlernen, dieser aber für die fremdsprachliche Kommunikation sowie für den Kontakt zu italienischen Erstsprachler*innen essentiell ist, soll an dieser Stelle deren Perspektive eingenommen werden. Da Routineformeln situations‐ gebunden sind, werden zwei Szenarien in den Blick genommen: Zum einen könnten sich Lernende auf einem Schüleraustausch in Italien befinden und dort auf die Routinen gestoßen sein; zum anderen könnten Lernende im Rahmen einer mündlich-informellen Sprachmittlungsaufgabe im italienischen Anfangsunterricht nach den Routinen suchen. Zu diesen Zwecken greifen die DOI 10.24053/ Ital-2023-0031 178 Alina Lohkemper 26 Pons und Langenscheidt wurden in Deutschland gegründet, während Larousse ein französischer Verlag ist. Alle drei Online-Wörterbücher sind z.T. unter anderem Namen auch in Italien bekannt. Zum Aufbau von deutsch-italienischen Wörterbüchern siehe auch Marello/ Rovere (1999). 27 Die drei Lehrwerke lagen in gedruckter Form vor. 28 Während De Mauro und Battaglia in gedruckter Form vorlagen, wurde Treccani als Online-Version konsultiert. 29 Ein Vollständigkeitsanspruch kann auf Grundlage der Datenbasis nicht erhoben werden, doch lässt sich das Problem exemplarisch erläutern und nachvollziehen. Lernenden auf die ihnen bekannten Nachschlagewerke bzw. das Schulbuch zurück. Bei den drei hier beispielhaft gewählten Routineformeln handelt es sich um: 1. It. Come stai? / va? 2. It. Figurati! 3. It. Permesso? Das Korpus besteht aus drei zweisprachigen Online-Wörterbüchern von Pons, Langenscheidt und Larousse 26 sowie drei üblichen Italienisch-Lehrwerken (In Piazza - Ausgabe A, Ci siamo und Ecco) 27 . Die Informationen in den für Schüler*innen üblichen Nachschlagewerken werden mit denen dreier einspra‐ chiger italienischer Wörterbücher (De Mauro, Battaglia und Treccani) 28 vergli‐ chen. Bei der Wörterbuchrecherche wurde, wie es auch bei idiomatischen Wendungen üblich ist, unter dem ersten auftretenden Substantiv bzw. unter dem ersten semantisch signifikanten Wort gesucht. Bei der Lehrwerksrecherche wird zusätzlich nach der Routineformel als festem Phrasem geschaut. Ein Vergleich der Lemmata soll aufzeigen, inwieweit es L3-Lernenden über‐ haupt ermöglicht wird, mithilfe der üblichen und ihnen vertrauten Nachschla‐ gewerke die kulturspezifischen Verwendungsweisen der Routineformeln zu erfassen und inwieweit die drei hier exemplarisch untersuchten Routinen sprachlich mit ihren deutschen Entsprechungen übereinstimmen. Zudem sollen die Grenzen der Darstellungsweisen von Routinen in Wörterbüchern und Italienisch-Lehrwerken aufgezeigt und Möglichkeiten entwickelt werden, um Routineformeln fortan besser zu kategorisieren. 29 4.2 Korpusanalyse zu den drei exemplarischen Routineformeln 4.2.1 Come stai? / va? Anhand der Angaben, die zu den Routineformeln Come stai? und Come va? in den drei zweisprachigen Online-Wörterbüchern (Pons, Langenscheidt und DOI 10.24053/ Ital-2023-0031 Die Übertragung von Routineformeln in andere Kulturen 179 30 Die Suche in den Online-Wörterbüchern von Pons und Langenscheidt erfolgt sofort in beide Sprachrichtungen, während dies bei Larousse nicht möglich ist. Darüber hinaus können in dem Wörterbuch von Larousse keine Lemmata gesucht werden, die über ein Wort hinausgehen. 31 An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass es sich beim Italienischen um eine Pro-Dropbzw. eine Nullsubjektsprache handelt. Larousse) gemacht werden, lassen sich einige Rückschlüsse auf die Verwendung beider Routineformeln im deutsch-italienischen Vergleich ziehen: - Pons 30 Langenscheidt Larousse Come stai? Wie geht’s? Wie geht’s dir? Wie geht es dir? Wie fühlst du dich? Wie geht es dir? Wie geht’s? Come va? Wie steht’s? Wie geht’s? / Wie geht’s? Wie läuft’s? Tabelle 1: Übersetzungsvarianten der Routinen Come stai? und Come va? in den drei Online-Wörterbüchern von Pons, Langenscheidt und Larousse In den drei Wörterbüchern wird die Routineformel Come stai? mit ʻWie geht es dir? ʼ oder einer der Varianten übersetzt, bei der aufgrund einer Aphärese das [e] getilgt wurde (ʻWie geht’s? ʼ / ʻWie geht’s dir? ʼ). Hierbei handelt es sich nahezu um eine wörtliche Übersetzung: Lediglich das Verb stare bedeutet ʻstehenʼ und die ʻpersönlichereʼ zweite Person Singular wird im Deutschen mit der ʻunpersönlicherenʼ dritten Person Singular wiedergegeben. Auch die Routineformel Come va? wird, mit Ausnahme des Langen‐ scheidt-Verlags, in den Online-Wörterbüchern aufgegriffen. Übersetzt wird diese Phrase mit ʻWie steht’s? ʼ (Pons) oder mit ʻWie geht’s? ʼ (Pons/ Larousse). Die Routineformel Come va? wird in zwei der drei zweisprachigen Online-Wörter‐ büchern wörtlich übersetzt. 31 Prinzipiell können beide Routinen dazu verwendet werden, Personen nach ihrem Gesundheitszustand und ihren Lebensumständen zu fragen, nur lassen die Angaben in den Wörterbüchern einen minimalen Rückschluss auf die doch latent unterschiedliche primäre Verwendungsweise beider Routinen zu. In allen drei Online-Wörterbüchern wird darauf hingewiesen, dass sich die Routineformel Come stai? auf die Gesundheit eines Menschen bezieht. Dies wird auch an der Ergänzung ʻWie fühlst du dich? ʼ deutlich, die bei Pons zusätzlich zur eigentlichen Routine angeführt wird. Einzig im Wörterbuch von Larousse wird die Phrase mit Lebensumständen in Verbindung gebracht. DOI 10.24053/ Ital-2023-0031 180 Alina Lohkemper 32 ʻWie läuft’s? ʼ ist, wie bereits erwähnt, eine Alternative. Allerdings kann man diese Routine nur in sehr informellen Kontexten verwenden. Diese Bedeutungsfacette scheint eher von der Routine Come va? abgedeckt zu werden. Laut dem Wörterbuch von Larousse wird diese Phrase ausschließlich dazu verwendet, jemanden danach zu fragen, ob ihm seine Lebenssituation behagt, weswegen in diesem Wörterbuch auch die Übersetzung ‘Wie läuft’s? ’ gebraucht wird. Die primäre Verwendungsweise beider Routineformeln kann anhand zweier Beispielsätze des Pons-Verlags verdeutlicht werden: Come va il tuo lavoro / Come sta tuo marito? So kann sich die Routine Come sta xy? nur auf einen menschlichen Referenten, Come va xy? nur auf Gegenstände oder Sachverhalte beziehen. Bezüglich der Darstellung der Routineformeln Come stai? / Come va? in den drei ausgewählten Italienisch-Lehrwerken kann festgehalten werden, dass diese - kongruent zu der Darstellung in den zweisprachigen Wörterbüchern - (annä‐ hernd) wörtlich ins Deutsche übersetzt werden. Allerdings ist die Routineformel Come va? lediglich Bestandteil des Vokabelverzeichnisses der Ecco-Lehrwerks‐ reihe. Bei der Übertragung der Routineformel Come va? in das Deutsche ʻWie geht’s (denn so)? ʼ, weisen nur der Zusatz ʻdenn soʼ sowie die Aphärese darauf hin, dass Come va? in informelleren, primär mündlichen Kontexten gebraucht wird (leichte diaphasische sowie diamesische Differenz zu Come stai? ). Auf den aus den Wörterbüchern hervorgehenden primären Verwendungsbereich sowie unterschiedlichen Referentenbezug der beiden Routinen wird in keinem Lehrwerk eingegangen. Lediglich in der Ecco-Reihe findet sich ein expliziter Verweis auf die jeweils andere Routine und auch nur dort findet dank des Einbezugs der pragmatischen Ebene eine explizite Kontextualisierung statt. In allen drei einsprachigen Wörterbüchern (Treccani, De Mauro, Battaglia) finden sich konkrete Hinweise darauf, dass mit der Routineformel Come stai? der gesundheitliche Zustand des Gegenübers erfragt werden soll. Einzig im Wörterbuch von De Mauro wird darauf verwiesen, dass die Phrase auf die finanzielle Situation eines Menschen rekurrieren kann. Das kommunikative Phrasem Come va? bezieht sich hingegen neben der Gesundheit vor allem auf den Verlauf des Lebens und die Arbeit und ist somit semantisch weiter gefasst als Come stai? . Der unterschiedliche Referentenbezug wird hier expliziert. Für beide Routineformeln kann konstatiert werden, dass diese im Übergang vom italienischen in den deutschen Sprachgebrauch eher wörtlich übersetzt und mit dem deutschen Äquivalent ʻWie geht’s? ʼ wiedergegeben werden. 32 Dieses deckt sowohl die Frage nach dem Gesundheitszustand als auch die Frage nach der derzeitigen Lebenssituation ab. Streng genommen scheinen es aufgrund des DOI 10.24053/ Ital-2023-0031 Die Übertragung von Routineformeln in andere Kulturen 181 divergierenden Referentenbezugs genau diese beiden Anwendungsbereiche zu sein, anhand derer sich die beiden italienischen Routineformeln unterscheiden. Aus sprachökonomischer Sicht ist allerdings der äquivalente Gebrauch von Come stai? und Come va? vor allem als Floskel, die ein Gespräch einleitet, nicht überraschend, zumal im Italienischen wie im Deutschen diese Routineformel zumeist auf ein einfaches ʻGut! ʼ (Bene! ) hinausläuft und keinen detaillierten Bericht zum Gesundheitszustand bzw. Lebensumstand fordert. Ein expliziter Hinweis auf die jeweils andere Routineformel findet sich in keinem Wörterbuch und lediglich in einem Lehrwerk. Weitestgehend kann eine Übereinstimmung zwischen der italienischen Routine und ihrer deutschen Entsprechung auf lexikalischer, morphosyntaktischer, semantischer und pragmatischer Ebene konstatiert werden. 4.2.2 Figurati! Die Routineformel Figurati! wird in den drei konsultierten Online-Wörterbü‐ chern mit ʻNichts zu danken! ʼ, ʻKeine Ursache! ʼ und ʻGern geschehen! ʼ übersetzt: Pons - Langenscheidt Larousse Nichts zu danken! Keine Ursache! Gern geschehen! Stell dir vor! Denk nur! - Wo denkst du hin! Stell dir einmal vor! Nichts zu danken! Ach wo! (Natürlich nicht! ) Nichts zu danken! (Bitte! ) Keine Ursache (Bitte! ) Tabelle 2: Übersetzungsvarianten der Routine Figurati! in den drei Online-Wörterbü‐ chern von Pons, Langenscheidt und Larousse Der Pons-Verlag weist darauf hin, dass die Formel ausschließlich bei Personen verwendet werden darf, die man duzt. Daher werden auch die Formeln Figuri‐ amoci! (Plural) und Si figuri! (Höflichkeitsform) als Varianten angeführt. Als weitere Übersetzungsmöglichkeiten werden ʻStell dir (einmal) vor! ʼ und ʻDenk nur! ʼ bei Pons und Langenscheidt genannt, die auch durch die erweiterte Variante der Routineformel Figurati un po’! ausgedrückt werden können. Zudem werden ʻWo denkst du hin! ʼ und ʻAch wo! ʼ als Übersetzungen angegeben. Die Routineformel ist auf das reflexive Verb figurarsi (sich vorstellen, sich denken) zurückzuführen. Demnach sind ʻStell dir (einmal) vor! ʼ und ʻDenk nur! ʼ wörtliche Übersetzungen. Da es weitere Übersetzungsoptionen gibt, ist davon auszugehen, dass Figu‐ rati! in mehreren Kontexten verwendet werden kann. Neben der wörtlichen DOI 10.24053/ Ital-2023-0031 182 Alina Lohkemper Bedeutung, bei der man sein Erstaunen zum Ausdruck bringt, sind ʻNichts zu danken! ʼ, ʻKeine Ursache! ʼ und ʻGern geschehen! ʼ Antworten, die das Komple‐ ment eines Dankes sind. Damit ersetzt die Routineformel bei diesen Überset‐ zungsvarianten ein einfaches ʻBitteʼ. Während ʻNichts zu danken! ʼ und ʻKeine Ursache! ʼ den Grund für einen Dank leugnen, honorieren ʻGern geschehen! ʼ und ʻBitte! ʼ diesen eher (vgl. Coulmas 1981, 147/ 148). ʻKeine Ursacheʼ kann zudem komplementäre Reaktivformel in Entschuldigungs-Kontexten sein (vgl. Coulmas 1981, 110). Darauf verweisen auch die Angaben des Langenscheidt-Ver‐ lags come risposta (ʻals Antwortʼ) und des Larousse-Verlags Prego (ʻBitteʼ). Die Routineformeln ʻKeine Ursache! ʼ und ʻGern geschehen! ʼ sind zudem die einzigen der hier untersuchten, die im Wörterbuch Idiomatik Deutsch-Italienisch zu finden sind, in dem deutsche idiomatische Ausdrücke ins Italienische übertragen werden. Hier werden beide Ausdrücke synonym verwendet, als formell ausge‐ wiesen und ein Zusammenhang zu dem Wort ʻBitteʼ hergestellt. Übertragen werden die Formeln im Italienischen allerdings mit Non c’è di che! , Di niente! und Nulla! (Fenati / Rovere et al. 2011, 311/ 1083). Auch ʻWo denkst du hin! ʼ und ʻAch wo! ʼ sind keine wörtlichen Übersetzungen und können im Gespräch eher ein ʻNein! ʼ oder ein ʻSelbstverständlich! ʼ ersetzen. Figurati! wird demnach in drei verschiedenen Kontexten gebraucht: um Erstaunen zum Ausdruck zu bringen, um sich zu bedanken oder und um seine Zustimmung oder Ablehnung zu artikulieren. Die Routineformel ist kein Bestandteil der Vokabelverzeichnisse der hier in den Blick genommenen Italienisch-Lehrwerke. Lediglich im Lehrwerk Ci siamo findet sich das reflexive Verb figurarsi. Ein Bezug zu der in Italien sehr oft verwendeten Routineformel wird allerdings nicht hergestellt. Aus den einsprachigen Wörterbüchern geht hervor, dass die Routineformel zur Bejahung oder Verneinung verwendet wird. Die anderen beiden Bedeu‐ tungsoptionen werden hingegen nicht genannt. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, wie die Routine zumeist gebraucht wird. Für die Routineformel Figurati! lässt sich konstatieren, dass diese je nach Kontext auf drei unterschiedliche Arten ins Deutsche übertragen werden muss. Sowohl die wörtliche Übersetzung, die mit ʻStell dir vor! ʼ Erstaunen ausdrücken kann, als auch die Übertragung in Form eines bestimmenden ʻNein! ʼ oder ʻJa! ʼ sowie die Option, Figurati! anstelle eines ʻBitte! ʼ zu verwenden, stellen wirkungs‐ äquivalente Routinen in der deutschen Sprache dar. Die Routineformel tritt in mehreren Kontexten auf, in denen sie je eine andere Bedeutung trägt oder hat. Jede der drei Bedeutungen weist einen unterschiedlichen Kongruenz-Umfang im deutsch-italienischen Vergleich auf: So entspricht die italienische Routine dem deutschen Äquivalent ʻStell dir vor! ʼ auf lexikalischer, morphosyntaktischer, DOI 10.24053/ Ital-2023-0031 Die Übertragung von Routineformeln in andere Kulturen 183 33 Di niente! wäre eine nur in diesem Kontext synonym verwendete Routineformel. semantischer und pragmatischer Ebene, während die beiden weiteren Übertra‐ gungsoptionen (‘Nein! ’, ‘Ja! ’ und ‘Keine Ursache! ’, ‘Gern geschehen! ’) nur noch auf pragmatischer Ebene mit dem italienischen Äquivalent übereinstimmen und damit ihren Grad an Idiomatizität gesteigert haben. Dies bestätigt zumindest der Eintrag der deutschen Routinen im Wörterbuch Idiomatik Deutsch-Italienisch. Für die anderen beiden Bedeutungsoptionen von Figurati! gibt es jeweils eine deutsche Entsprechung. Die Aufteilung wäre demnach wie folgt: 1. Dt. Stell dir vor! = It. Figurati! ; Übereinstimmung auf lexikalischer, morpho‐ syntaktischer, semantischer und pragmatischer Ebene 2. Dt. Ja! / Nein! = It. Figurati! ; Übereinstimmung auf pragmatischer Ebene 3. Dt. Keine Ursache! / Gern geschehen! = It. Figurati! ; Übereinstimmung auf pragmatischer Ebene 33 4.2.3 Permesso? Neben der eigentlich hier untersuchten elliptischen Routineformel Permesso? konnten die vollständige Phrase È permesso? sowie die Variante Con permesso? in den Online-Wörterbüchern gefunden werden: - Pons Langenscheidt Larousse Permesso? / Darf ich? Gestatten Sie? Con permesso? Sie gestatten? Sie gestatten? / È permesso? / Gestatten Sie? Gestatten Sie? Tabelle 3: Übersetzungsvarianten der Routinen Permesso? , Con permesso? und È permesso? in den drei Online-Wörterbüchern von Pons, Langenscheidt und Larousse Dabei wurde Permesso? mit ʻDarf ich? ʻ, ʻGestatten Sie? ʼ, È permesso? mit ʻGe‐ statten Sie? ʼ und Con permesso? mit ʻSie gestatten? ʼ übersetzt. Keine dieser Übersetzungen stellt eine wörtliche dar: permesso ist das Partizip Perfekt des Verbs permettere. Eine wörtliche Übersetzung wäre demnach ʻErlaubt? ʼ. Die vollständige Routineformel È permesso? kann wörtlich mit ʻIst es erlaubt? ʼ übersetzt werden. Das permesso in der dritten Variante der Routineformel (Con permesso? ) ist hingegen ein Substantiv. Wörtlich übersetzt hieße diese Formel ʻMit Erlaubnis? ʼ. Eine Übersetzung durch ʻGestatten Sie? ʼ oder ʻSie gestatten? ʼ spielt zum einen darauf an, dass es sich bei dieser Formel um eine Höflichkeits‐ formel handelt, und deutet zum anderen auf den Gebrauch der Routineformeln DOI 10.24053/ Ital-2023-0031 184 Alina Lohkemper 34 ‚Fremd‘ bedeutet hier, dass es sich nicht um die eigenen vier Wände handelt. 35 Während die pragmatische Ebene in den meisten Lehrwerken wegfällt, stechen v. a. in den beiden anderen Lehrwerken Vokabellernstrategien (Antonyme, Mehrsprachigkeit) hervor, um das Verb permettere zu lernen. hin. Dieser kann auf Grundlage eines Beispielsatzes im Langenscheidt-Wörter‐ buch genauer bestimmt werden. Der Satz Permesso? - Avanti! (ʻDarf ich? - Herein! ʼ) verweist darauf, dass die Routineformel verwendet wird, bevor jemand etwas betritt. Im Wörterbuch von Larousse wird der Gebrauch aufgrund dieses Beispielsatzes noch expliziter herausgestellt: C’è qualcuno? È permesso? (ʻIst jemand da? Darf ich eintreten? ʼ). Hier wird die Routineformel È permesso? mit ʻDarf ich eintreten? ʼ übersetzt. Dies unterstreicht, dass es ausschließlich darum geht, ein Wirkungsäquivalent in der Zielsprache zu finden. Zudem ist der in den Beispielsätzen direkte Verweis auf das Betreten bspw. einer Wohnung ein Indiz dafür, dass es eine derartige Routine in der deutschen Sprache in diesem Kontext nicht gibt. In Italien wird die Routine verwendet, bevor man ein fremdes 34 Haus betritt. Man holt sich mit der Routineformel die Erlaubnis für das Betreten des Gebäudes ein, obwohl oftmals auf keine Reaktion gewartet wird, was auf das Floskelhafte der Routine hindeutet. Diese Routineformel wird nur im Lehrwerk Ci siamo genannt. Die beiden anderen Lehrwerke weisen lediglich auf das Verb sowie das Substantiv, nicht aber auf das kommunikative Phrasem hin. In Ci siamo wird die Routineformel ausschließlich in ihrer elliptischen Variante geführt und - wie in den zweispra‐ chigen Wörterbüchern -, wirkungsäquivalent mit ʻDarf ich? ʼ und ʻGestatten Sie? ʼ übersetzt, wodurch eine pragmatische Eindeutigkeit der Routineformel in ihrer Übertragung suggeriert wird. Einen Hinweis darauf, dass die Kontextuali‐ sierung der Routineformeln mit all ihren Facetten für Lernende des Italienischen mit Deutsch als Erstsprache nicht zu erfassen ist, stellt ein Zusatz in Klammern dar, in dem explizit auf die Verwendung, wie sie unten unter (1) dargestellt wird, hingewiesen wird. Die anderen unten dargestellten Kontexte (2)-(6) werden nicht expliziert. 35 In den einsprachigen Wörterbüchern werden die Angaben aus den zweispra‐ chigen bestätigt. Besonderer Fokus wird auch hier auf der Verwendung der Rou‐ tineformel beim Eintreten gelegt. Zudem wird in vier von fünf Wörterbüchern das Vorbeigehen an Personen genannt. Auch wird das kommunikative Phrasem gebraucht, um sich die Erlaubnis zum Rauchen, Weggehen oder Nehmen eines Gegenstandes einzuholen. Das Wörterbuch von Battaglia weist explizit darauf hin, dass mit der Routine Gesten unterstrichen werden sollen. Die Routine begleitet im Italienischen somit den Akt des Betretens und lässt diesen explizit akustisch wahrnehmbar werden. Obwohl in den verschiedenen DOI 10.24053/ Ital-2023-0031 Die Übertragung von Routineformeln in andere Kulturen 185 36 Dies merkt Coulmas (1981, 82) vor allem für die Verwendung von ʻDarf ich? ʼ an. 37 Hier kann nach Giacoma (2012, 83) von einer equivalenza zero (Null-Äquivalenz [Übersetzung der Verf.]) gesprochen werden. 38 Obwohl davon ausgegangen wird, dass es im Deutschen keine Entsprechung im eigentlichen Sinne gibt, wird mit der gleichen semantischen Ebene darauf verwiesen, dass Lernende mit Deutsch als Erstsprache die Bedeutung der Routineformel allein durch die Kenntnis der Vokabeln permettere / il permesso nachvollziehen können. Viel eher ist es die pragmatische Ebene, die unverstanden bleibt. Wörterbüchern deutsche Entsprechungen gefunden werden konnten (ʻDarf ich? ʼ, ʻSie gestatten? ʼ, ʻGestatten Sie? ʼ), ist anzuzweifeln, dass diese in demselben Kontext genutzt werden. Eine situativ übereinstimmende Routineformel exis‐ tiert im deutschen Sprachraum nicht, da man vor dem Betreten bspw. eines Hauses weder die im Deutschen archaisch wirkende Formel ʻSie gestatten? ʼ noch die Variante ʻDarf ich? ʼ verwendet. Sinngemäß handelt es sich beim kommuni‐ kativen Phrasem ʻSie gestatten? ʼ natürlich um eine deutsche Entsprechung; ohne pragmatischen Kontext ist diese allerdings schwer bzw. nicht zu verstehen. 36 Der prioritäre Kontext der italienischen Routine hingegen ist den Sprechenden dieser Gemeinschaft geläufig. Einen ähnlichen Gebrauch in beiden Sprachen findet man allerdings in den anderen genannten Anwendungsbereichen der Routineformel vor: Wenn man an einer Person vorbeigehen möchte, rauchen, weggehen oder etwas nehmen will, wird die Routine auch im deutschen Sprachraum verwendet. Allerdings scheint auch hier das kommunikative Phrasem ʻSie gestatten? ʼ im Vergleich zu ʻEntschuldigung? Darf ich? ʼ das Nachsehen zu haben. Diese Entwicklung kann auch im Italienischen beobachtet werden, wo die Routine Permesso? allmählich durch ein Posso? (ʻKann ich? ʼ) in den zuletzt genannten Kontexten ersetzt wird. Dennoch bleibt die sprachliche Untermalung des Betretens eines Raumes ein ausschließlich in der italienischen Kultur verankertes Phänomen. Demnach ist Permesso? im Vergleich zu Figurati! zwar auch mehreren Kontexten zuzuordnen, allerdings hat Permesso? dabei immer dieselbe Bedeutung: 1. Dt. keine Entsprechung 37 = It. Permesso? (Betreten eines Raumes etc.); Übereinstimmung auf semantischer Ebene 38 2. Dt. Entschuldigung? / Darf ich? = It. Permesso? (Vorbeigehen an einem Menschen); Übereinstimmung auf semantischer und pragmatischer Ebene 3. Dt. Gestatten Sie? / Darf ich? = It. Permesso? (Rauchen); Übereinstimmung auf semantischer und pragmatischer Ebene 4. Dt. Gestatten Sie? / Darf ich? = It. Permesso? (Wegnehmen eines Gegen‐ standes); Übereinstimmung auf semantischer und pragmatischer Ebene DOI 10.24053/ Ital-2023-0031 186 Alina Lohkemper 39 Für den spanisch-deutschen Vergleich hat Sosa Mayor (2006) dies schon getan. 5. Dt. Darf ich? = It. Permesso? (Weggehen); Übereinstimmung auf semanti‐ scher und pragmatischer Ebene 6. Dt. Darf ich? = It. Permesso? (generell um Erlaubnis bitten); Übereinstim‐ mung auf semantischer und pragmatischer Ebene 5 Conclusio und Ausblick Die detaillierte Analyse der drei exemplarisch gewählten Routineformeln be‐ züglich ihrer Form und Funktion hat gezeigt, wie sehr sich kulturelle Vielfalt bereits in vermeintlichen Floskeln alltäglicher Kommunikation niederschlägt und wie wichtig es ist, dieses Verschmelzen der sprachlichen, kulturellen sowie pragmatischen Ebene Fremdsprachenlernenden bereits zu Beginn beizubringen: Di esempio in esempio, pian pianino, possiamo giungere così al vero e proprio tradurre, cioè da lingua a lingua, che dunque non sarà riprodurre formalmente il linguaggio altrui, ma trasporlo da una forma culturale ad un’altra, giacché ogni lingua considerata storicamente, ci appare come il prodotto elaborato della tradizione di una particolare forma di cultura. (Terracini in Marx 2006, 9) Routineformeln helfen demnach, Sprachen vollständig zu erfassen und Aus‐ drücke situationsgebunden zu verstehen und anzuwenden. Daher ist es vor allem die von Malinowski (1949, 315) beschriebene phatische (kontaktknüp‐ fende) Funktion, die die Routineformeln erfüllen und die diese gerade für Leute, die mehr über diese lernen wollen, besonders wichtig werden lässt. Aufgrund der Analyse konnten Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei der Übertragung einer Routineformel auf den verschiedenen sprachlichen Ebenen aufgezeigt werden. Die Beschreibung der Daten aus den Wörterbüchern und Lehrwerken hat gezeigt, wie variabel Routineformeln dargestellt und in ihrer Exklusivität hervorgehoben werden. Daraus kann der Schluss gezogen werden, dass spezielle zweisprachige Wörterbücher allein für Routineformeln 39 sowie mehr explizite Verweise auf Routineformeln in den Vokabelverzeichnissen von Italienisch-Lehrwerken sinnvolle Projekte für die Zukunft darstellen. Des Weiteren hat die Analyse gezeigt, wie wichtig eine ausdifferenzierte Darstellung der Routinen in Wörterbüchern und Italienisch-Lehrwerken ist, um eine situa‐ tionsbezogen korrekte Anwendung schon beim Vokabeltraining zu erlernen. Somit würde die hier exemplarisch vorgenommene Darstellung der Routinen nicht nur deren Erlernen erleichtern, indem sofort deutlich würde, auf welcher Ebene diese mit der Routine in der Ausgangssprache kongruiert, es wäre auch DOI 10.24053/ Ital-2023-0031 Die Übertragung von Routineformeln in andere Kulturen 187 eine neue Unterteilungsmöglichkeit für Routineformeln gegeben, die sogar in Schwierigkeitsgrade gegliedert werden könnte. Denn auf je mehr sprachlichen Ebenen die Routinen übereinstimmen, desto einfacher wird es vermutlich sein, sie zu erlernen. Vor allem kulturelle sowie pragmatische Aspekte werden bei der Darstel‐ lung der Routineformeln in Wörterbüchern und Italienisch-Lehrwerken oft unberücksichtigt gelassen. 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DOI 10.24053/ Ital-2023-0031 Die Übertragung von Routineformeln in andere Kulturen 191 1 Rudolf Lill, Geschichte Italiens in der Neuzeit, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesell‐ schaft 3. Aufl. 1986, S.-277. 2 Rolf Wörsdörfer, Krisenherd Adria 1915-1955. Konstruktion und Artikulation des Natio‐ nalen im italienisch-jugoslawischen Grenzraum, Paderborn: Brill Schöningh Verlag 2004. Buchbesprechungen und Kurzrezensionen Rolf Wörsdörfer: Isonzo 1915/ 17. Völkerschlachten am Gebirgsfluss, Paderborn: Brill Schöningh Verlag 2022, 302 Seiten, 28 Abb., 4 Karten, € 29,90 Jürgen Charnitzky Der Krieg in Oberitalien ist als „wohl der sinnloseste des ganzen Weltkriegs“ bezeichnet worden. Es erscheine unbegreiflich, so Rudolf Lill in seiner Ge‐ schichte Italiens in der Neuzeit, „daß Italien und Österreich, die einander soviel verdankten, wegen einiger Provinzen Hunderttausende in Kampf und Tod schickten.“ 1 Obwohl ein Nebenschauplatz des Ersten Weltkriegs, fielen den Kriegshandlungen an der Südwestfront der Donaumonarchie in dreieinhalb Jahren rund 650.000 Italiener und 974.000 für Österreich-Ungarn kämpfende Soldaten zum Opfer. Die zentralen Kampfhandlungen zwischen Adriaküste und Schweizer Grenze mit ihren blutigen Stellungs- und Abnutzungsschlachten von der voralpinen Karstlandschaft bis ins Trentino und Hochgebirge der Dolomiten fanden entlang des Flusses Isonzo (slowenisch Soča) statt, wo allein 400.000 italienische Soldaten an erlittenen Verwundungen und kriegsbedingten Erkrankungen starben. Rolf Wörsdörfer, Privatdozent an der TU Darmstadt und Autor einer umfassenden Studie über den Krisenherd Adria im Zeitraum 1915-1955 2 , nimmt in seiner jüngsten Monographie die zwölf Isonzoschlachten zwischen Juni 1915 und Oktober 1917 zum Anlass, das Kriegsgeschehen auf diesem „verheerendsten Nebenschauplatz in der gesamten Kriegsgeschichte“ (S. 35) mit seinen vielfältigen Auswirkungen auf die kämpfenden Streitkräfte, auf Strategie und Taktik der militärischen Befehlshaber, auf Politik, Wirtschaft DOI 10.24053/ Ital-2023-0032 und Zivilgesellschaft in beiden Ländern sowie nicht zuletzt auf die geschundene Natur darzustellen. Die Geschichte des Ersten Weltkriegs ist ein in der internationalen Ge‐ schichtswissenschaft vieldiskutiertes Thema, und die Kampfhandlungen an den jeweiligen Fronten sind von den nationalen Historiographien der beteiligten Länder aus unterschiedlichen Blickwinkeln intensiv erforscht worden. Dies gilt auch für die Kämpfe in Oberitalien, über die vor allem von deutsch-öster‐ reichischer, italienischer und slowenischer Seite zahlreiche Untersuchungen und Erfahrungsberichte vorliegen. Wörsdörfer bewegt sich daher auf einem zu guten Teilen intensiv beackerten Gelände. Was seine Arbeit auszeichnet ist der breitflächige und systematische Ansatz sowie die kritische und verglei‐ chende Auswertung eines in seiner Dichte und Vielfalt beispiellosen Quellen‐ materials an Aufzeichnungen, Briefen, Tagebüchern und Erinnerungsschriften „deutschösterreichischer, reichsdeutscher, italienischer, slowenischer, tschechi‐ scher, deutschböhmischer, kroatischer, ungarischer und Schweizer Provenienz.“ Auf der Grundlage dieser „Ego-Dokumente“ (S. 13) gelingt es Wörsdörfer über die rein militärgeschichtliche Schilderung des faktischen Kriegsgeschehens hinaus, ein eindrucksvolles und facettenreiches Bild von den Empfindungen, Erfahrungen und wechselseitigen Perzeptionen der Kriegsteilnehmer und Zi‐ vilpersonen beider Kriegsparteien zu zeichnen, deren persönliche Erlebnisse und subjektive Wahrnehmungen ihren Niederschlag auch in der europäischen Belletristik gefunden haben. Ein ausführliches Vorwort (S. 7-22) erläutert Entstehungsgeschichte, Ziel‐ setzung, Aufbau und Methodik der Untersuchung, die sich vornimmt, „die unterschiedlichen Deutungen des Kriegsgeschehens an die historischen Ereig‐ nisse zurückzubinden.“ Diese sollen „mit Orten, Strukturen, Fakten, Bildern, Personen, Worten und Handlungen zusammengebracht und damit kontextua‐ lisiert werden.“ (S. 9). Die Darstellung selbst ist in sechs Kapitel gegliedert. Das erste befasst sich mit der innenpolitischen Lage in Österreich-Ungarn und Italien am Vorabend des Krieges und verfolgt den Weg beider Staaten in den bewaffneten Konflikt. Äußerst aufschlussreich ist der mit der Kapitelüber‐ schrift „Graugrün“ vs. „Feldgrau“ angestrengte Vergleich der Kräfteverhältnisse und Zusammensetzung beider Streitkräfte, die im Falle Österreich-Ungarns besonders kompliziert ausfiel. So kämpften im Vielvölkerheer der Donaumon‐ archie neben Deutschösterreichern und Magyaren auch Tschechen, Slowaken, Rumänen, Polen, Ruthenen (Ukrainer), Slowenen, Kroaten, Bosniaken und selbst „österreichische Italiener“ aus dem Trentino, dem Küstenland und aus Dalmatien - eine multiethnische Gemengelage, die mit ihrem babylonischen Sprachwirrwarr Armeeführung, Kommando- und Verwaltungsstrukturen vor DOI 10.24053/ Ital-2023-0032 194 Jürgen Charnitzky besondere Herausforderungen stellte. Wörsdörfer, der auch über slowenische Sprachkenntnisse verfügt, untersucht sowohl die zum Teil von Stereotypen geprägten Beziehungen der ethnischen Gruppen zueinander als auch ihre Haltung zum Krieg sowie ihre Stellung und Funktion im Heer. Verglichen mit der Multiethnizität der österreichisch-ungarischen Truppenverbände, die allein schon den von der slowenischen Zeithistorikerin Nataša Nemec verwendeten, von Wörsdörfer übernommenen Begriff der „Völkerschlacht“ rechtfertigt, er‐ schien das königliche Heer Italiens auf den ersten Blick homogener, doch wirkte hier, wie Wörsdörfer zeigen kann, „eine spezifisch italienische Ausprägung der sozialen Frage mit all ihren aktuellen Implikationen tief in die Streitkräfte und insbesondere in die Infanterieregimenter“ hinein (S. 37). Zu berücksichtigen sei außerdem, „dass Italien europaweit zu den Ländern mit der stärksten und aktivsten Antikriegsopposition“ zählte und seit Beginn des Libyenkriegs 1911 in etlichen Regionen „Streiks und Demonstrationen gegen den Kolonialkrieg, die Monarchie und den Militarismus“ stattgefunden hatten (S. 37). Die Masse der italienischen Soldaten stellten Landarbeiter und Tagelöhner, zu denen über 300.000 nach Italien zurückgekehrte Arbeitsmigranten und Auswanderer kamen. Nur einen geringen Prozentsatz machten dagegen die knapp 3.000 italienischen Freiwilligen aus der Donaumonarchie aus. Die Tatsache, dass diese von Italien angegriffen worden war, also einen Verteidigungskrieg führte, und dass der umkämpfte Raum besonders von den in angrenzenden Gebieten lebenden Deutschösterreichern, Slowenen und Kroaten als zu verteidigende Heimat empfunden wurde, sorgte bei den auf österreichisch-ungarischer Seite kämpfenden k. u. k. Truppen zudem für eine stärkere Motivationslage als bei den italienischen Soldaten, von denen die meisten aus vom Kampfgebiet weit entfernten Regionen kamen, den Waffengang als „unausweichliches Übel, einem Unwetter oder Erdbeben ähnlich“ empfanden und die keine Vorstellung davon besaßen, wo die Städte Trient und Triest überhaupt lagen, deren „Erlösung“ im Sinne des Irredentismus als Kriegsziel ausgegeben war (S.-45). Das zweite, „Aufmarsch am Karst“ betitelte Kapitel, setzt ein mit einem ver‐ gleichenden Porträt der beiden Oberbefehlshaber der gegnerischen Streitkräfte an der Isonzo-Front, Luigi Cadorna auf italienischer und Svetozar Boroević von Bojna auf österreichisch-ungarischer Seite. Strategie und Führungsquali‐ täten Cadornas sind in den zeitgenössischen Quellen und in der Literatur heftig kritisiert worden. Die militärische Laufbahn des erst im Juli 1914 zum Chef des italienischen Generalstabs berufenen generalissimo war, wie Wörs‐ dörfer hervorhebt, „eine reine Schreibtischkarriere ohne operative Erfahrung“ (S. 72). Gramsci bezeichnete ihn als „Bürokraten“, der die Realität verleugnete, DOI 10.24053/ Ital-2023-0032 Rolf Wörsdörfer: Isonzo 1915/ 17. Völkerschlachten am Gebirgsfluss 195 3 Gramsci hielt Cadorna allerdings für einen besseren Politiker als Sidney Sonnino. An‐ ders als der italienische Außenminister und die Regierung in Rom, die bis zur Niederlage von Caporetto den Nachbarstaat nur deutlich schwächen, aber nicht auflösen wollten, zielte Cadorna nach Gramscis Einschätzung, auf die sich auch Wörsdörfer beruft (S. 86), von Anfang an darauf ab, das Nationalitätengemisch des österreich-ungarischen Heeres als Sprengsatz zu nutzen, um die Donaumonarchie zu zerschlagen. Vgl. Antonio Gramsci, Quaderni del carcere I, a cura di Valentino Gerratana, Quaderno 2 (1929-1933), Torino: Einaudi 1975, S.-260 f. 4 In seiner Beurteilung der Führungsqualitäten Cadornas, die auch zu den von Wörs‐ dörfer angeführten Belegen passt, spricht Sergio Spagnolo wiederholt davon, Cadorna habe seine Kommandogewalt, ohne Rücksicht auf seine Berater zu nehmen, „wie ein Diktator“ ausgeübt und mit seinen Befehlen ein regelrechtes „Klima von Angst und Schrecken“ verbreitet. Vgl. Adolfo Baiocchi, Uno dei tanti, riedizione a cura di Fabrizio Corso, Mitja Juren et al., Basaldella di Campoformido (UD): Comitato Pro Chiesa Di Plave 2016, S.-10 f. und 13. wenn sie nicht mit seinen strategischen Hypothesen übereinstimmte. 3 Sein Führungsstil galt als schroff und diktatorisch, ohne Einfühlungsvermögen für die kämpfenden Truppen. 4 Nicht zuletzt aufgrund seiner Fehlentscheidungen endete die 12. Isonzo-Offensive des italienischen Heeres im Oktober 1917 in der katastrophalen Niederlage von Caporetto, die zur Entlassung Cadornas und zu seiner Ablösung durch General Armando Diaz führte. Cadornas Ge‐ genspieler, der weniger bekannte, aus dem ungarischen Kroatien stammende „Austro-Serbe“ Boroević, galt dagegen als „größter Stratege des Defensivkriegs“, den Österreich-Ungarns Generalstabschef Conrad von Hötzendorf zu den vier besten Armeechefs der Monarchie zählte. Doch auch der „Löwe vom Isonzo“, der wie Cadorna die vordersten Frontabschnitte nie aufgesucht hatte, blieb, wie Wörsdörfer zeigen kann, von Kritik nicht verschont, da die relative Stabilität der österreich-ungarischen Stellungen an der Südwestfront bis zum Oktober 1917 nur mit einem „hohen Blutzoll“ von Offizieren, Unteroffizieren und Mann‐ schaften seiner Isonzoarmeen erreicht wurde, denen Boroević ohne Rücksicht auf Verluste höchsten Einsatz abverlangte (S. 78). Der restliche Teil des zweiten Kapitels widmet sich den Kriegslandschaften im Karst, im Hügelland und im Hochgebirge der karnischen und julischen Alpen, Naturgegebenheiten, die den Ausbau von Stellungen und Unterkünften, die Heranschaffung von Kriegsgerät und die Kampfhandlungen unmittelbar beeinflussten. Weitere Abschnitte be‐ schreiben den soldatischen Alltag in den Schützengräben, Freizeit und Versor‐ gung der Truppen, Bestattung gefallener Soldaten und Begräbnisstätten sowie die religiöse Betreuung durch Militärseelsorger und Feldrabbiner. Interessant ist ein Vergleich über die Rolle der Religionen in den Streitkräften Italiens und der Donaumonarchie. Das im Verlauf der Einigungsbewegung gegen die katholischen Habsburger und gegen den Kirchenstaat entstandene Königreich DOI 10.24053/ Ital-2023-0032 196 Jürgen Charnitzky 5 Marco Mondini, Il capo. La grande guerra del generale Luigi Cadorna, Bologna: Il Mulino 2019 (Deutsche Ausgabe: Der Feldherr. Luigi Cadorna im „Großen Krieg“ 1915-1918, Berlin: De Gruyter Oldenbourg 2022); ders., La guerra italiana: partire, raccontare, tornare 1914-1918, Bologna: Il Mulino 2014. Italien war eher durch „die Werte der Säkularisation und des Laizismus“ geprägt, doch war es schon im Verlauf des Libyenkriegs, wie Wörsdörfer unter Berufung auf neuere Studien des italienischen Militärhistorikers Marco Mondini 5 feststellt, zu einer „schleichenden ‚Rekatholisierung‘ des zuvor streng laizistischen Kgl. Heeres gekommen“ (S. 108). Auf der anderen Seite entsprach dem Völkergemisch im österreich-ungarischen Heer zwar auch eine „Pluralität der Religionen und Konfessionen“, doch hebt Wörsdörfer hervor, dass dessen ungeachtet Kaiserhaus, Offizierskorps, Unteroffiziere und Mannschaften aufs engste mit der katholischen Kirche verbunden waren, der zwischen 75 und 80-Prozent aller Angehörigen der k.-u.-k. Streitkräfte angehörten (S.-109). Mit der Überschrift „Industrieller Krieg um Görz“ eröffnet das dritte Kapitel den ereignisgeschichtlichen Teil des Buches, der auch die beiden folgenden Kapitel „Schulterstöße und Durchbruch“ und „Vom Isonzo zum Piave“ umfasst und ganz den Kampfhandlungen entlang der Isonzofront von der ersten italieni‐ schen Offensive am 23. Juni 1915 bis zum Kriegsende mit all ihren Auswirkungen auf Mensch, Tier und Natur gewidmet ist. Die sechs Offensiven, mit denen das italienische Heer im August 1916 nach verlustreichen Kämpfen die strategisch wichtige Stadt Görz im österreichischen Küstenland (seit 1919 Gorizia in Italien) eroberte, offenbarten bereits die ganzen Schrecken des totalen Krieges mit seinen von einer auf Hochtouren laufenden Rüstungsindustrie produzierten Vernichtungswaffen. Neben der Bedeutung von Maschinengewehren für die Kriegführung unterstreicht Wörsdörfer die herausragende Rolle der Artillerie, die mit schweren Mörsern, Feldhaubitzen, Granat- und Minenwerfern, auf italienischer Seite auch mit Schiffsgeschützen, die von der Isonzomündung aus abgefeuert wurden, ein anonymes Töten über größere Distanzen ermöglichte. Mit ihrer verheerenden Feuerkraft schossen diese großkalibrigen Waffen nicht nur feindliche Stellungen vor einem Infanterieangriff sturmreif, sondern sorgten auch für ein Massensterben von Soldaten und die Verwüstung ganzer Land‐ striche. Über die zahllosen Opfer der Angriffe mit Giftgas, das sich bis in die letzten Winkel der Unterstände und der als Unterkünfte in den Fels gesprengten Kavernen ausbreitete und das auch für den Tod zahlreicher Nutztiere verant‐ wortlich war, fehlen bis heute verlässliche Zahlen. Mit der 10. Isonzo-Offensive kamen ab Mai 1917 als neue Waffen die gefürchteten Flammenwerfer hinzu. Im Sommer des gleichen Jahres wurden vom Befehlshaber der 2. Armee der italienischen Streitkräfte General Luigi Capello nach deutschem und österrei‐ DOI 10.24053/ Ital-2023-0032 Rolf Wörsdörfer: Isonzo 1915/ 17. Völkerschlachten am Gebirgsfluss 197 6 „La grande guerra“, so auch die italienische Bezeichnung des Krieges. Zu seiner Deutung aus italienischer Sicht vgl. Bruna Gherner, La storia della grande guerra, Milano: Vallardi 2020; Mario Isnenghi, Giorgio Rochat: La grande guerra 1914-1918, Bologna: Il Mulino 4. Aufl. 2014; Antonio Gibelli, La grande guerra degli italiani 1915-1918, Milano: Biblioteca Universale Rizzoli 2. Aufl. 2014. Große Popularität in Italien erreichte Mario Monicellis Film „La grande guerra“ von 1959 mit Vittorio Gassmann und Alberto Sordi in den Hauptrollen, der ein facettenreiches Bild des Krieges mit all seinen tragischen, zuweilen auch berührend tragikomischen Zügen zeichnet. chischem Vorbild Sturmtruppen für den Nahkampf mit vor der Frontlinie operierenden Einzelkämpfern aufgestellt, die sogenannten „Arditi“, die nach dem Krieg die Kerngruppen der faschistischen Squadre d’azione bilden sollten. Alle Maßnahmen halfen nicht, die verheerende Niederlage des italienischen Heeres in der zwölften Isonzoschlacht nach dem mit Gasattacken forcierten Durchbruch der deutsch-österreichisch-ungarischen Streitkräfte bei Caporetto (deutsch Karfreit, slowenisch Kobarid) am 24. Oktober 1917 abzuwenden. Über 10.000 gefallene, 30.000 verwundete, 300.000 in Gefangenschaft geratene Soldaten, ebenso viele Versprengte und 66.000 Deserteure waren das desaströse Ergebnis für die italienische Armee, die bei ihrem Rückzug bis hinter den Piave „ein apokalyptisches Szenario“ (S. 185) hinterließ. Die Streitkräfte der Mittel‐ mächte dagegen, darunter ein württembergisches Gebirgsbataillon, in dem der spätere Generalfeldmarschall Rommel als Oberleutnant diente, beklagten bei der als Operation „Waffentreue“ bezeichneten Offensive „nur“ 5.000 Tote, besetzten ganz Friaul und Teile Venetiens, im Ganzen ein der Fläche von Slowenien ent‐ sprechendes Gebiet von 20.000 Quadratkilometern, und erbeuteten zahlreiches wertvolles Kriegsmaterial. Das Trauma von „Caporetto“ wirkte lange nach. Noch heute wird der Ortsname in Italien für jedwede demütigende Niederlage verwendet. Erst ein Jahr später wendete sich das Blatt in der Schlacht bei Vittorio Veneto mit dem das Ende der Donaumonarchie besiegelnden Sieg der italienischen Armee am 4. November 1918 über die inzwischen von Meutereien ungarischer und slawischer Truppenteile, Desertionen und Versorgungsschwie‐ rigkeiten geschwächten Streitkräfte Österreich-Ungarns. Die Vorgänge zwischen den mit „Caporetto“ und „Vittorio Veneto“ bezeich‐ neten Eckdaten in der Geschichte des „Großen Krieges“ 6 bilden einen zentralen Abschnitt in Wörsdörfers Darstellung und sind ausführlich und anschaulich beschrieben (S. 165-212). Bei der verwirrenden Vielzahl der das ganze Buch durchziehenden, minuziös aufgelisteten Kampfplätze mit slowenischen Orts-, Fluss- und Bergnamen, die nur Einheimischen vertraut sein dürften, droht zuweilen allerdings die Übersicht verloren zu gehen. Die im Buch abgedruckten vier Kartenausschnitte ermöglichen zwar eine erste topographische Orientie‐ rung, doch sind längst nicht alle der im Text erwähnten Örtlichkeiten dort DOI 10.24053/ Ital-2023-0032 198 Jürgen Charnitzky verzeichnet. Wörsdörfer bietet aber nicht nur eine detaillierte Beschreibung der Kampfhandlungen, sondern bezieht nahezu alle relevanten Aspekte des Kriegsgeschehens mit ein: Kriegspropaganda, Nachschub und Transportwege, Kriegsneurosen wie der shell shock, Choleraepidemie, ausgelöst durch den Mangel an sauberem Wasser, Versorgung von Kranken und Verwundeten, Ge‐ horsamsverweigerungen, Aufstände, Desertionen, Plünderungen, Requirierung von Kriegsgerät und Lebensmitteln, Militärjustiz und innenpolitische Krisen an der jeweiligen Heimatfront werden auf der Grundlage des Quellenmaterials und der maßgeblichen Sekundärliteratur aus allen erdenklichen Blickwinkeln beleuchtet und komparativ dargestellt. Das sechste Kapitel, „Nachleben einer Front“, untersucht abschließend die Nachwirkungen des Krieges zwischen Alpen und Adria in der Erinnerungs‐ kultur der beteiligten Länder. Schon 1919 beabsichtigte der italienische Gene‐ ralstab, die gesamte Kriegslandschaft am Isonzo „in eine sogenannte Zona sacra (‘heiliges Gebietʼ) zu verwandeln“ (S. 216), ein Vorhaben, das sich jedoch nicht einfach umsetzen ließ, galt es doch „zwischen 2.600 und 2.900 Begräbnisstätten von unterschiedlicher Größe“ an den ehemaligen Frontlinien neu zu organi‐ sieren, wobei es bei der Umbettung von Gefallenen, wie Wörsdörfer berichtet, zu Exhumierungen „mit einer ethnisch-nationalen Entmischung der Toten“ kam (S. 218). In Italien hat besonders das faschistische Regime den Totenkult um die gefallenen Soldaten und die Glorifizierung des Siegs von Vittorio Veneto mit Denkmälern, Nekropolen, Soldatenfriedhöfen, Ausstellungen und Museen vorangetrieben. Als größtes Kriegerehrenmal wurde in den dreißiger Jahren westlich des Monte Sei Busi die monumentale Gedenkstätte von Redipuglia errichtet, die für 100.000 gefallene Soldaten und, wie Wörsdörfer anmerkt, „eine (! ) Krankenschwester“ zur letzten Ruhestätte wurde (S. 219f.). In Österreich, wo das Österreichische Schwarze Kreuz schon seit 1919 mit „Pilgerfahrten zu den Heldengräbern“ den „Schlachtfeldtourismus“ einleitete, entstand nach der Errichtung der ständestaatlichen, austro-faschistischen Diktatur unter Engel‐ bert Dollfuß, der als Kommandant einer Maschinengewehrabteilung am Isonzo gekämpft hatte, das Heldendenkmal am Äußeren Burgtor in Wien, während unter dem NS-Regime in Deutschland die bis 1917 erzielten Erfolge des österrei‐ chisch-ungarischen Vielvölkerheers in einen „von ‚Truppen der verschiedensten deutschen Stämme‘ errungenen Sieg umgelogen wurden“ (S. 221-225). Zu den Nachwirkungen der Kämpfe an der Isonzofront zählten auch die auf Seiten beider Kriegsgegner verbreiteten stereotypen und pejorativen Bezeichnungen für den ehemaligen Kriegsgegner, von denen einige wie „Itaker“ (Italiener) oder „crucchi“ (Österreicher oder Deutsche) lange Zeit auch nach dem Zweiten Weltkrieg in Gebrauch waren. DOI 10.24053/ Ital-2023-0032 Rolf Wörsdörfer: Isonzo 1915/ 17. Völkerschlachten am Gebirgsfluss 199 Wörsdörfers quellengesättigte Darstellung ist eine verdienstvolle, die bisher vorliegenden Studien zum „Großen Krieg“ bereichernde Arbeit, der man auch ein italienisches und slowenisches Lesepublikum wünscht. DOI 10.24053/ Ital-2023-0032 200 Jürgen Charnitzky 1 Dei carteggi leopardiani esistono le seguenti edizioni: Epistolario di Giacomo Leopardi con le iscrizioni greche Triopee da lui tradotte e le lettere di Pietro Giordani e Pietro Colletta. Raccolto e ordinato da Prospero Viani. 2 voll. Firenze: Le Monnier 1849; Epistolario di Giacomo Leopardi. Nuova Edizione ampliata con lettere dei corrispondenti e con note illustrative a cura di Francesco Moroncini. 7 voll. Firenze: Le Monnier 1934-1941; Giacomo Leopardi: Epistolario. A cura di Franco Brioschi e Patrizia Landi. 2 voll. Torino: Bollati Boringhieri 1998. Carteggio Giacomo Leopardi - Carlo Pepoli (1826- 1832). A cura di Andrea Campana e Pantaleo Palmieri. Firenze: Olschki 2023, pp.-160, € 35,00 Franca Janowski Il progetto della casa editrice Olschki, patrocinata dal Centro Nazionale Studi Leopardiani, di dar vita ad una collana di 20 volumi di carteggi leopardiani è meritevole e degno di interesse. 1 L’impostazione dell’opera obbedisce a criteri non convenzionali; infatti la pubblicazione non seguirà un ordine cronologico ma intende bensì privilegiare «le corrispondenze di maggiore spessore e con‐ sistenza» e creare «un ideale bilanciamento tra lo studio dei documenti e gli approfondimenti di natura storica» (copertina). I prossimi volumi, annunciati come in preparazione, sono dedicati al conte vicentino Leonardo Trissino e all’abate romano Francesco Cancellieri. Il piano dell’opera comprende oltre ai membri della famiglia Leopardi, a Ranieri e a altre personalità di rilievo come Giordani, Stella, De Sinner, anche nomi meno noti. Resta l’interrogativo, perché cominciare con Bologna e con una corrispondenza come quella con Carlo Pepoli che Campana non esita a definire di poco rilievo («fra queste lettere non ve n’è alcuna che sia memorabile nel mondo della letteratura», p.-78)? I curatori di questo primo volume, Andrea Campana e Pantaleo Palmieri, affermati studiosi di Leopardi, sanno congiungere il rigore filologico ad una grande apertura verso la realtà socioculturale dei primi decenni dell’Ottocento, colta anche nei suoi aspetti più quotidiani e scurrili. Il pubblico che si vuole raggiungere non è ristretto agli ‘addetti ai lavori’, ma comprende una vasta area di interessati all’opera leopardiana. DOI 10.24053/ Ital-2023-0033 2 Nel ’24 era uscita a Bologna un’edizione delle canzoni di Leopardi per i tipi di Nobili e Comp., che comprendeva tra l’altro il Bruto Minore e l’Ultimo canto di Saffo. Nel ’25 il Nuovo Ricoglitore aveva pubblicato gli Idilli. Nel ’26 presso la Stamperia delle Muse del Brighenti si ha un’edizione di alcuni canti fra cui L’Epistola al conte Pepoli. L’Antologia del Vieusseux aveva stampato nel 1827 tre Operette Morali, ma la prima edizione, comprendente 20 testi, uscirà nello stesso anno a Milano presso lo Stella. L’edizione riveduta e corretta vede la luce solo nel 1834 presso Piatti, dove l’edizione dei Canti era già uscita nel ’31. 3 Questo pensiero era già stato espresso più volte precedentemente. Cfr. Zib. 1387, 1436-7 e 2523-4. Le citazioni dello Zibaldone sono da: Zibaldone di pensieri. 3 voll. Ed. critica e annotata a cura di Giuseppe Pacella. Milano: Garzanti 1991. 4 La poesia fu pubblicata a Bologna nel 1826 e poi nel 1831 nell’edizione Piatti e nell’edizione Starita del 1835 senza indicazione di genere. Campana informa: «Il testo di Al conte Carlo Pepoli più aderente a quello effettivamente letto nella serata del Casino Il volume si compone di tre parti: un’introduzione, il carteggio Leopardi-Pe‐ poli e un’appendice. L’introduzione illustra in quattro paragrafi rispettivamente: il soggiorno di Leopardi a Bologna, la personalità di Carlo Pepoli, il carteggio, l’attività di Pepoli come editore delle lettere di Leopardi. L’appendice riporta: i versi di Pepoli l Fiori, stralci dalla Cronaca di Francesco Rangone, l’elenco dei soci del Casino bolognese dei nobili. Nel primo saggio Palmieri si sofferma ad analizzare i soggiorni bolognesi di Leopardi. Il poeta raggiunge la città emiliana il 13 luglio del 1825 e vi si ferma per nove giorni, per poi proseguire per Milano dove vuole incontrare il suo editore Stella. Segue un lungo soggiorno dal 26 settembre del ’25 al 3 novembre del ’26 interrotto dal rientro a Recanati. Nel 1827 si trattiene a Bologna dal 26 aprile al 20 giugno, data in cui si trasferisce a Firenze. Che cosa si aspetta il giovane recanatese reduce dal soggiorno romano e già noto come autore degli inni patriottici, insigne grecista e soprattutto per la sua immensa erudizione di cui Pietro Giordani aveva ampiamente tessuto le lodi negli ambienti cittadini? 2 Nella memoria del lettore si affaccia l’ultimo pensiero dello Zibaldone, che risale al soggiorno fiorentino (4 dicembre del 1832, Zib. 4526), in cui Leopardi osservava: 3 La cosa più inaspettata che accada a chi entra nella vita sociale, e spessiss. a chi v’è invecchiato, è di trovare il mondo quale gli è stato descritto, e quale egli lo conosce già e lo crede in teoria. L’uomo resta attonito di vedere verificata nel caso proprio la regola generale. L’esperienza bolognese è stata il primo e vero contatto di Leopardi con la vita sociale. Infatti qui a differenza che a Roma non è protetto dalla famiglia e deve affrontare situazioni e circostanze nuove e per lui conturbanti come ad esempio la famosa serata del 27 marzo 1826 in cui legge di fronte ad un ampio pubblico l’Epistola a Carlo Pepoli. 4 L’evento ci è noto sia grazie a una DOI 10.24053/ Ital-2023-0033 202 Franca Janowski è fissato nell’autografo della Biblioteca Jagellonica dell’Università di Cracovia» (p. 63 nota). Di pratica consultazione per l’opera leopardiana è il volume: Giacomo Leopardi: Tutte le poesie e tutte le prose. A cura di Lucio Felici e Emmanuele Trevi. Roma: Newton & Compton 1997. Si veda: XIX Al conte Carlo Pepoli, pp.-140-144. 5 Leopardi: Tutte le poesie e tutte le prose, p.-1314. 6 Francesco Rangone: Serata dei Felsinei - stralcio dalla cronaca di Francesco Rangone, in: Appendice, pp.-147-148. 7 Appendice, p.-48. lettera di Leopardi al fratello Carlo del 4 aprile del ’26, 5 sia nella descrizione di Francesco Rangone 6 . Colpisce lo scarto tra le due valutazioni. Mentre Leopardi afferma: «Mi dicono che i miei versi fecero molto effetto», Rangone constata: 7 «dette avrà certamente delle bellissime cose ma niuno le comprese». Palmieri aiuta a penetrare nello spirito che anima la differenza di giudizio mettendo in evidenza l’intenzionalità che caratterizza l’epistolario della stagione bolognese. A suo parere la lettura autorizza a riconoscere una «volontà di raffigurazione di sé nei confronti dell’ambiente in cui lo scrivente vive e di conseguenza del destinatario della missiva» (p. 24). Stilisticamente questa intenzione traspare da elementi specifici quali «assertività, certe insistenze, il compiacimento di sé, sia pure mediate dall’ironia». A Bologna il poeta manifesta un grande impegno intellettuale e la volontà di esercitare «un suo ruolo intellettuale fino ad essere percepito come organico alla compagine culturale del classicismo felsineo», p. 24. Va tuttavia sottolineato «che per tutto il periodo bolognese l’interesse primario di Leopardi non è la scrittura creativa, bensì la pubblicazione di opere già composte o in parallelo l’esercizio di traduzione, in vista di un rapido esito editoriale» (p.-21). A introdurlo nella società culturale bolognese fu Carlo Pepoli. La sua figura è documentata dal saggio di Andrea Campana che caratterizza il rampollo di una delle più antiche famiglie bolognesi come patriota e poeta. Del suo pensiero politico vengono messi in luce soprattutto il liberalismo e «l’idea di una fratellanza universale, che aveva le sue scaturigini tanto dalle opere di Dante e Petrarca quanto dagli insegnamenti di Cristo» (p. 41). Coinvolto nei moti insurrezionali del 1831, Pepoli fu imprigionato e poi costretto all’esilio prima a Parigi e poi a Londra e ritornò definitivamente in Italia solo ad indipendenza raggiunta, meritandosi nell’Ottocento la fama di martire della libertà. La sostanziale differenza dell’ideologia di questo classicista liberale e spiritualista dalle convinzioni di Leopardi non escluderebbe una vicinanza di cui si può trovare un’eco nella Ginestra (p. 42). Dai contemporanei Pepoli venne apprezzato per i suoi componimenti poetici patriottici, anche se la sua fama era legata soprattutto al talento musicale di librettista di Bellini e di Rossini e alle canzoni. Campana mette in luce l’apertura europea di Pepoli e ricorda DOI 10.24053/ Ital-2023-0033 Carteggio Giacomo Leopardi - Carlo Pepoli (1826-1832). 203 8 Emilio Russo: Ridere del mondo. La lezione di Leopardi. Bologna: Il Mulino 2017, pp. 18 s. 9 Il 3 giugno del ’26 Leopardi annota nello Zibaldone, 4179-80: «Tre stati della gioventù: 1. speranza, forse il più affannoso di tutti. 2. disperazione furibonda e renitente. 3.-disperazione rassegnata». il libretto sulla guerra civile inglese scritto per il melodramma di Bellini, I Puritani, o il componimento La Miosotide Palustre. Fiore della memoria. Leggenda episodica alla Ch.C.T. Carniani Malvezzi, ispirata ad una leggenda tedesca narrata anche in un Lied di Anton Bruckner. Forse è possibile rilevare in questa poesia un simbolismo che lo avvicina a Novalis (die blaue Blume) e al romanticismo tedesco. Il terzo e più denso saggio dell’introduzione, «un carteggio anomalo» di Cam‐ pana, approfondisce la tematica dell’ideologia di un Leopardi calato nel contesto bolognese dell’epoca della Restaurazione. In questa luce una delle questioni salienti è quella della discrepanza fra le inquietanti riflessioni dello Zibaldone e la serena testimonianza epistolare. Fra i messaggi che il poeta affidava al suo libro segreto e le testimonianze dell’ambiente classicista e liberale che lo aveva accolto, esiste una profonda differenza. Se si studiano infatti le pagine dello Zibaldone composte a Bologna tra l’ottobre del ’25 e il luglio del ’26 si è confrontati con tematiche sublimi che rispecchiano in tutta la loro radicalità una concezione pessimistica del mondo. Anche tenendo conto che Leopardi possiede «un’intelligenza capace di delineare sin dalle prime pagine dello Zibaldone le questioni decisive, e poi di ritornarvi a ondate negli anni seguenti» 8 resta il fatto che nel periodo bolognese viene formulata la sua forse più lucida analisi della situazione esistenziale vista nella sua materialità e finitudine. Si pensi alle famose pagine di Zib. 4174-75 sul giardino in souffrance con le riflessioni sull’infelicità universale in cui combatte l’ottimismo leibniziano e il delirio spiritualistico, astraendo da ogni possibile redenzione o illusione escatologica. Il Leopardi bolognese sembra essersi trovato nello stato di una «disperazione rassegnata» 9 . Il 3 novembre del ’25, Zib. 4149-50 aveva annotato: «Io sono, si perdoni la metafora, un sepolcro ambulante, che porta dentro di me un uomo morto, un cuore sensibilissimo che più non sente ecc.». Merito del saggio è di attirare l’attenzione su testi che Leopardi legge a Bologna e che contribuiscono a rafforzare il suo materialismo. Oltre a Cabanis e agli Enciclopedisti, il poeta utilizza ad esempio la Geschichte der neuern Philosophie, 1800-1804 di Johannes Gottlieb Buhle che aveva ottenuto in prestito nella traduzione italiana da Pepoli. Il filosofo tedesco aveva dato largo spazio nell’opera allo stoicismo e all’epicureismo. La tesi di Campana è che «le frequentazioni bolognesi abbiano rafforzato letture o convinzioni precedenti» (p. 62). II Leopardi che arriva a Bologna non è più «un poeta classicista liberale ma un filosofo del negativo, già DOI 10.24053/ Ital-2023-0033 204 Franca Janowski 10 Leopardi: Tutte le poesie e tutte le prose, p.-1310. 11 Carlo Pepoli: Prose e poesie. 2 voll. Bologna: Zanichelli 1880; nel primo volume è conte‐ nuta l’importante prefazione di Cesare Albicini, pp. I-LXX. Carlo Pepoli: Ricordanze biografiche. Corrispondenze epistolari. Vol. I: Lettere di Giacomo Leopardi. Vol. II: Lettere di Vincenzo Bellini. Bologna: Tipografia Fava e Garignani 1881. disilluso circa ogni forma di stato o programma partitico, già ateomaterialista» (p. 60). Nell’ottica di questa convinzione viene interpretata l’Epistola a Pepoli, che Leopardi presentò in una «lettura pubblica difficile» (p. 62). Nella fatidica serata del 27 marzo, il poeta era cosciente di parlare a più pubblici: i Felsinei, il ceto dei nobili di Bologna, la rappresentanza della chiesa; vale a dire, i nuovi letterati e i vecchi letterati (p. 65). Chiaro è il facit: dovevano esserci elementi interni all’Epistola a Pepoli atti a spingere l’ambiente bolognese a un rigetto generalizzato. Le intenzioni del recanatese erano due: congedarsi da una parte da una lirica di vecchio stampo in nome di una lirica diversa, esistenziale e filosofica e svincolarsi dall’altra da tutto il coefficente politico. Il discorso del componimento implica, cioè, «un disimpegno strategico» in nome di un impegno metafisico. Leopardi è ormai lontano «dalle forme del progressismo politico che si stava facendo strada nella cultura italiana» (p. 67). Sullo sfondo di questo episodio, essenziale per la comprensione, è il riferimento alla lettera che il poeta invia il 4 marzo 1826 a Vieusseux che lo invitava a collaborare dal suo osservatorio, in veste di «Hermite des Apennins», alla sua famosa rivista. Leopardi risponde di considerarsi un ignorante nella filosofia sociale e aggiunge: Tenete dunque per costante che la mia filosofia […] non è di quel genere che si apprezza ed è grande in questo secolo, è bensì utile a me stesso, perché mi fa disprezzare la vita e considerar tutte le cose come chimere. 10 Pepoli fu anche editore delle lettere leopardiane. A questo tema di Pepoli editore, Palmieri dedica l’ultimo saggio del volume, che fornisce un’analisi dettagliata delle numerose pubblicazioni dell’autore e patriota. Si apprende che nel 1846 l’esule londinese contribuisce alla diffusione delle lettere leopardiane, grazie all’invio di missive in suo possesso, a Prospero Viani che pubblicherà nel ’49 il primo epistolario leopardiano. Nel 1881, l’anno della morte di Pepoli, escono a Bologna, all’interno di un’opera dedicata alla sua corrispondenza, le Lettere a Giacomo Leopardi. 11 Le lettere sono 8. Alle 10 pagine delle lettere ne seguono 5 di annotazioni; particolarmente interessante è la quarta che fa la storia dell’Epistola dedicatagli da Leopardi. Pepoli afferma tra l’altro che il manoscritto originario datogli da Leopardi gli sia stato rubato. Dopo l’esauriente introduzione, la parte centrale del libro affronta il carteggio. Le lettere di Leopardi a Pepoli sono 8 e datano dal 1 aprile 1826 al 6 agosto DOI 10.24053/ Ital-2023-0033 Carteggio Giacomo Leopardi - Carlo Pepoli (1826-1832). 205 12 L’Eremo. Versi a Giacomo Leopardi di Carlo Pepoli in morte di Livia Strocchi. Bologna: Nuovi tipi di Emidio dall’Olmo 1828. Esistono due poemetti di questo nome. 1830; quelle di Pepoli a Leopardi sono 14, dal 14 febbraio 1826 al 30 novembre 1832. Gli autori precisano che il testo è corredato da un corredo esegetico che approfondisce i risvolti storico-critici o filologici, pur riducendo all’essenziale il raffronto con i contributi pregressi. Ogni lettera viene attentamente scandagliata e fornisce utili indicazioni. Ad esempio il breve biglietto del 4 febbraio del ’26, con cui si apre la corrispondenza, accenna ad un numero del Nuovo Ricoglitore e offre l’occasione per informare sulle riviste che Leopardi legge o in cui pubblica in quegli anni e in tal modo fa luce sul «cortocircuito intellettuale» innescato dalla sua presenza a Bologna. Ragguagli di costume sui rapporti con le signore intellettuali di Bologna come la bellissima Cornelia Rossi Martinetti stuzzicano l’attenzione: «Andremo all’adorazione di questa dea passibile e mortale» scrive ironicamente Pepoli (lettera 5), o anche le descrizioni delle serate al Casino dei nobili «dove l’aristocrazia celebrava i suoi riti» danno un tocco di colore. Non manca però la messa in rilievo di connessioni con significativi passaggi dello Zibaldone che Leopardi stende in quel periodo. Per quanto concerne il rapporto personale fra Leopardi e Pepoli sono degne di attenzione le lettere scambiate in riferimento alle composizioni letterarie di quest’ultimo. Pepoli aveva inviato a Leopardi i versi del poemetto l’Eremo  12 . Nella lettera 9 del 17 novembre del ’27, Pepoli scrive all’amico per chiedere licenza di pubblicare l’opera che gli aveva fatto pervenire tramite Brighenti: «Ora questi versi li ho diretti a te per darti argomento dell’onore in che tengo la tua sapienza, e dell’amore che ti porto, e della gratitudine che ti serbo per quell’epistola che mi scrivesti.» Dalla risposta di Leopardi appare chiaro che il poeta non li aveva letti e anche nel seguito è parco di lodi o di approfondimenti critici. Tuttavia non è forse giustificato il rigore del commento degli editori alla lettera del Leopardi da Pisa del 25 febbraio del ’28. «Sembra che in questa lettera Leopardi entro il giro di poche righe non perda l’occasione di scavare un ulteriore solco divisivo fra sé e Pepoli, dopo l’Epistola del ’26 a lui dedicata che stabiliva fra l’animo dei due una precisa differenziazione» (p. 120). La lettera, la 12, non mi sembra, come affermato, «fredda e sbrigativa». Leopardi scrive: Mio carissimo. Non prima che l’altro ieri ebbi da Firenze i tuoi versi, i quali ho letto e riletto con piacer grande, prima perché son cose tue, poi perché mi dimostrano l’amore che mi porti, finalmente perché mi allettano assai quella malinconia dolce, e quella immaginazione forte e calda che vi regnano. DOI 10.24053/ Ital-2023-0033 206 Franca Janowski Certo, il libro lo suggerisce, quello fra Leopardi e Pepoli non fu un sodalizio. Ma ci si può chiedere che cosa legò veramente Leopardi e Ranieri? Per gli autori appare chiaro che l’amicizia fra Leopardi e Pepoli non fu una vera amicizia, troppo diverso era l’entusiasmo del giovane Pepoli pronto a sacrificare tutto alla causa patriottica dall’amaro scetticismo del Leopardi. Ciò spiegherebbe il silenzio fra i due dopo la partenza da Bologna. Concludendo, si può dire che questo volume di carteggi leopardiani rappre‐ senti un valido apporto alla ricerca. Infatti, l’esame di un ampio fondo di materiali, noti o poco noti, frutto di diligenti ricerche sempre sottoposte al vaglio di una rigorosa valutazione, permette di penetrare nello spirito di testi leopardiani meno scandagliati dalla critica, come ad esempio l’Epistola a Carlo Pepoli. L’incastro dei diversi tasselli storici, filologici, linguistici e sociologici dà vita ad un coerente panorama di senso, anche se non a tutti gli interrogativi c’è una risposta. Il risultato rende giustizia al periodo bolognese leopardiano che, lungi da essere una parentesi di poca rilevanza, viene visto come una «tappa conclusiva del suo percorso, come snodo decisivo» (p.-32). Si attendono con impazienza gli ulteriori volumi che possono arricchire di altri tasselli un percorso di vita che non cessa di aprire nuovi orizzonti di conoscenza. DOI 10.24053/ Ital-2023-0033 Carteggio Giacomo Leopardi - Carlo Pepoli (1826-1832). 207 Anne-Kathrin Gitter: Der christliche Metacode im Spätrealismus. Die produktive Rezeption von Dante Alighieris Divina Commedia bei Conrad Ferdinand Meyer, Wilhelm Raabe und Ferdinand von Saar. Baden Baden: Rombach Wissenschaft 2023, 385 Seiten, € 79,00 Anne-Marie Lachmund Kaum ein Name durchwandert so stark die Literatur- und Mediengeschichte und überschreitet dabei munter Gattungsgrenzen und Referenzsysteme wie Dante Alighieri bzw. dessen berühmtestes Werk Divina Commedia, die Göttliche Komödie. Ein Mittelalterstoff, der sich beständig in die deutschsprachige Lite‐ ratur webt. Anne-Kathrin Gitter widmet sich in ihrer Dissertationsschrift an der Schnittstelle von Germanistik und Italianistik jener produktiven Rezeption Dantes und begibt sich auf die Spuren der intertextuellen Verweise im deut‐ schen Spätrealismus. Mit ihrer zeitlichen Eingrenzung und ihrem Fokus auf literaturhistorische und außerliterarische Zusammenhänge schließt die Arbeit nicht nur eine Forschungslücke, sondern stellt auch die besondere Qualität jener Dante-Diskurse im deutschsprachigen Raum von 1870-1900 heraus, der von Umbruchszeiten, Unsicherheiten und Säkularisierungstendenzen geprägt war. Einleitend stellt sie die Wirkmacht der auratischen persona Dante heraus, welche als Modell und Identifikationsfigur (S. 16) fungiert und Vorbildcharakter für viele Autor: innen - bis heute - hat. Somit stellt sich auch die breite Rezept‐ ionskraft heraus, da die Divina Commedia auch säkulär unter den Vorzeichen der Moderne gelesen werden kann (S.-14). Hierbei macht Gitter die Anschluss‐ fähigkeit ihrer Studie an bestehende Forschungsarbeiten transparent, stellt jedoch heraus, dass in diesen Dante häufig die Funktion eines „Bildungszitats“ zugestanden wird, ohne die fundierte und innovative Verarbeitung des Stoffes angemessen anzuerkennen (S.-25). DOI 10.24053/ Ital-2023-0034 Der Aufbau der Arbeit ist dabei so klar wie stringent und einleuchtend: An einen theoretischen Teil, der den historischen Hintergrund und litera‐ risch-methodologische Aspekte der Rezeptionsforschung, Intertextualität und Raumtheorie umfasst, schließen sich Textanalysen kanonisierter, einschlägiger Autoren des deutschsprachigen Spätrealismus an, denen allesamt „inhaltliche und formale Transpositionen zu einer eindeutigen Dante-Reminiszenz“ (S. 24) gemein sind. Sie widmet sich demnach Conrad Ferdinand Meyer, Wilhelm Raabe und Ferdinand von Saar und betrachtet die Rolle des Prätextes sowohl aus gattungsspezifischer Perspektive als auch hinsichtlich der in den ausgewählten Texten getragenen Positionierung Dantes, was wiederum Rückschlüsse auf das deutsche Italienbild seinerzeit ermöglicht. Da literaturhistorische Einordnungen und zeitliche Eingrenzungen - hier im Fall des Spätrealismus - nicht immer eindeutig und trennscharf vollzogen werden können, nähert sich Gitter dem in der Dissertation vertretenen Begriff des Spätrealismus mittels Gegenüberstellung und Abwägung von fünf Positio‐ nierungen (Moritz Baßler, Martin Nies, Micheal Titzmann, Marianne Wünsch). Hierzu gliedert sie gründlich die Positionierungen autorenbezogen auf und arbeitet so Gemeinsamkeiten heraus, die sie schließlich zu einer Definition kondensiert, die stringent Anwendung findet. Qualitativen Paradigmen der Transparenz und intersubjektiven Nachvollziehbarkeit Folge leistend, besticht die Textanalyse der transtextuellen Bezüge durch Systematik und Struktur, wenn das heuristisch-hermeneutische Vorgehen von einem Kriterienkatalog angeleitet wird, der extraals auch intratextuelle Bezüge erfasst. Hier zeigt sich die Informiertheit der Verfasserin, geisteswissenschaftliche bewährte Verfahren mit Paradigmen der qualitativen und quantitativen Methoden der (Sozial-)For‐ schung zu ergänzen und diese flexibel im Sinne eines Methodenpluralismus für das philologische Desiderat fruchtbar zu machen. Um den transtextuellen Bezügen Dantes nachspüren zu können, braucht es jedoch zunächst Motive, Bilder und Topoi aus dem Dante’schen Universum, gespickt von allegorischen und moralisierenden Jenseitsvisionen, denen sich in der im Korpus festgelegten Werke gewidmet wird: Hierzu gehören das Weltgericht bzw. Richterfiguren, das Motiv des Weltenwanderers und Pilgers, der durch das Beschreiten unbekannter Wege eine höhere Bewusstseinsebene zu erreichen sucht, die Höllentopografie welche sich über Vorhölle bis hin zu Paradiesgärten erstreckt (S. 24). Neben jene „intratextuellen“ (S. 23) Aspekte gesellen sich auch die extra- und paratextuellen Referenzen auf Dante zu einem komplexen Verweiszusammenhang, welcher von einer Vereinnahmung im deutschnationalen Kontext geprägt ist: im 19. Jahrhundert dominieren die romantische Rezeption, in der nicht nur die Ikonografie eine entscheidende DOI 10.24053/ Ital-2023-0034 210 Anne-Marie Lachmund Rolle spielt, sondern auch die Wandelbarkeit des Ausnahmeautors, der flexibel für die zeitgemäßen Belange eingesetzt wird. Mal wird Dante im Rahmen eines nationalen Denkmalskult rezipiert, der das Land und die Sprache vereint, mal als Papstkritiker, Franzosenfeind oder nordischer Denker und somit Prophet der Reformation (S. 112, 133). Später als „Germane“ (S. 136) in „nationalistisch und deutsch-völkisch gesinnten Diskursen von ʻRassenkundlernʼ wie Ludwig Wilser (1850-1923), Houston Stewart Chamberlain (1855-1927), Hans F. K. Günther (1891-1968), Alfred Rosenberg (1893-1946) und Ludwig Woltmann (1871-1907)“ (S. 136) figuriert, kulminiert das spezifisch deutsche Interesse am Genius in der Gründung der deutschen Dante-Gesellschaft (S. 125). Ähnlich dem Dichterfürsten Goethe steht Dante wie kein Zweiter für die Begründung einer Nationalliteratur und eines Kulturkanons und reiht sich so in die Liga „großer Männer“ bzw. Staatsmänner (S.-140) ein, was die Inszenierungsmecha‐ nismen und auratischen, enigmatischen Popularisierungsverfahren offenlegt. Die detaillierten Analysen zeigen indes auch auf, dass eine literarische Strömung immer in deren gesellschaftlichen und vor allem politischen Dimensionen begriffen werden muss und am Beispiel Deutschlands bzw. Italiens kulturelle Eigenheiten erst das Gesamtbild komplettieren. In den sich anschließenden ausdifferenzierten Close Readings von elf Texten werden die Bilder, Motive und Räume thematisch geordnet, um durch „stoffliche Reduktion und transtextuelle Strategien“ die Transpositionen Dantes in Prosa‐ texte auf der Ebene der Tiefenstruktur zu zeigen (S. 169). So wird sich u. a. den Feuer- und Lichtverhältnissen, den Wanderungen, den Höllenbewohner: innen und -orten gewidmet, aber auch ganz explizit die Reminiszenz auf Dante als Erzählinstanz höchst persönlich in Die Hochzeit des Mönchs (1883) von Conrad Ferdinand Meyer erörtert. Somit zeigt die Verfasserin nicht nur die Lesarten der Autoren des deutschsprachigen Spätrealismus und wie diese in ihren eigenen Texten Dante verarbeitet haben, sondern auch die Stilisierung und Dichterverehrung in der deutschen Literatur. Statt einen religiösen Konnex konstatiert die Autorin ein „Spiel“ (S.-120) mit einem poetisierten Material und dessen strategischer fragmentarischer Umformung, denn „Codes und Mythen des Christlichen und Katholischen tauchen in signifikanter Menge in der spätrealistischen Literatur auf.“ (Ebd.) Auf jede autorenbezogene Textanalyse folgt ein Zwischenfazit, welches die Kernerkenntnisse zusammenfasst und systematisch kondensiert. Schließlich führt Gitter die einzelnen Textstränge kohärent zusammen und beantwortet schlussendlich die Frage der Systemreferenz im Gattungswechsel von Dichtung in Prosa oder Dramatik und stellt nochmals die eklektische palimpsestartige Qualität des Ausgangstextes heraus. DOI 10.24053/ Ital-2023-0034 Anne-Kathrin Gitter: Der christliche Metacode im Spätrealismus 211 In der Kombination aus text- und kontextorientierten Verfahren gelingt es Anne-Kathrin Gitter, die „lange Rezeptionstradition der Divina Commedia extra- und intratextuell sicht- und beschreibbar zu machen“ (S. 85), wodurch die vor‐ liegende Dissertationsschrift vollumfänglich überzeugt. Damit unternimmt der Band eine Neupositionierung im literaturwissenschaftlichen Feld und bereitet innovativ Gedankenanstöße zur Rezeptionsforschung germanistisch-italianis‐ tischer Leitfiguren auf. Anne-Kathrin Gitter hat nicht nur einen aufschlussreichen, sondern darüber hinaus einen kenntnis- und lehrreichen Band vorgelegt, der so informativ wie klar und stringent strukturiert ist. Darüber hinaus besticht die Untersuchung mit einem mannigfaltigen, breit aufgestellten Kontextwissen, das u. a. in den Fußnoten angeboten wird, um Hintergründe einzuordnen, respektive zu kontu‐ rieren und um Schlüsselautor: innen und -werke kennenzulernen, mithilfe derer das Verständnis rund um den Diskurs weitreichend vertieft und differenziert wird. DOI 10.24053/ Ital-2023-0034 212 Anne-Marie Lachmund 1 „Die erste Übersetzung [München 1565 (342)] verdanken wir Lorenz Kratzer“ (343). Die Herausgeberin korrigiert bzw. konkretisiert somit die Aussage von Beyer, der davon spricht, dass „[d]as Buch vom Hofmann […] bereits 1560 erstmals in die deutsche Sprache übersetzt“ wurde (Andreas Beyer (1996): „Vorwort“. In: Castiglione, Baldassar: Der Hofmann. Lebensart in der Renaissance. Aus dem Italienischen von Albert Wesselski. Mit einem Vorwort von Andreas Beyer. Berlin: Wagenbach. 5-9, hier 9). Baldassar Castiglione: Der Hofmann. Deutsche Übersetzung von Il Cortegiano durch Johann Engelbert Noyse 1593. Herausgegeben von Federica Masiero. Berlin: Weidler Buchverlag (Bibliothek seltener Texte Band 16), 364 Seiten, €-60,00 Kerstin Roth Mit ihrer Edition des Hofmanns in der deutschen Übersetzung von Johann Engelbert Noyse bietet Federica Masiero ein Lese- und Arbeitsbuch, das insbe‐ sondere durch akribische Genauigkeit in der Darstellung überzeugt. Baldassar Castigliones (1478-1529) Il libro del Cortegiano, ein bedeutender Text der höfischen Dialogliteratur, wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt, so auch mehrfach ins Deutsche (342). Ausgangspunkt für die hier vorliegende Ausgabe ist der „kritisch revidiert[e] Text der zweiten Übertragung von Il libro del Cortegiano (Venedig 1528) in die deutsche Sprache“ (vierte Umschlagseite). 1 Der zu besprechende Text umfasst in der Editionsfassung zunächst einen Abdruck des ursprünglichen Drucks mit der Jahresangabe 1593 sowie eine Transkription des ausführlichen Titels zur Linken der Druckabbildung. Es folgt das Vorwort von Engelbert Noyse, weiterhin die vier Bücher des Hofmanns sowie ein Nachwort der Herausgeberin. Ein wenig verwirrend erscheint das von der Herausgeberin erstellte Inhaltsverzeichnis, in dem das erste, das ander, das dritt und das viert Buch Vom Hofmann genannt werden, denn wie durch den Kolumnentitel der Edition und den Inhalt deutlich wird, handelt es sich DOI 10.24053/ Ital-2023-0035 2 Vgl. <https: / / mdz-nbn-resolving.de/ details: bsb00039858> (letzter Zugriff: 02.02.2024). 3 Vgl. Schmidt, Herbert (2020): „Fremde, ausländische, verlateinte, korrumpierte latei‐ nische Wörter. Bezeichnungen für Fremdwörter im 16. Jahrhundert“. In: Bopp, Domi‐ nika/ Ptashnyk, Stefaniya/ Roth, Kerstin u. a. (Hrsg.): Wörter - Zeichen der Veränderung. Berlin/ Boston: De Gruyter, 93-123, hier 109. beim dritt Buch vom Hofmann eigentlich um das Buch Von der Hof Frawen - dies ist auch im durch das Münchner Digitalisierungszentrum bereitgestellten Digitalisat zu lesen. 2 Auf den linken Seiten des Digitalisats steht Das dritt Buch, auf den rechten Von der Hof Frawen. Federica Masiero hat sich der Herausforderung gestellt, diesen umfänglichen Text akribisch und detailgenau abzubilden. Dies erfreut umso mehr, als durch die diplomatische Transkription auch sprachhistorische Details mit Hilfe dieses Werks analysiert werden können. Noyse variiert beispielsweise in der Schrei‐ bung des Adjektivs fromm (53), genauso findet sich auch fromb (185). Alle Eingriffe durch die Herausgeberin werden im Anhang des Bandes ein‐ zeln aufgeführt (346-352). Bereits im deutschsprachigen Ausgangstext werden Namen (z. B. Pigmalion (183)), Bezeichnungen wie Gratia, Disposition oder Affectation (alle 53) oder auch andere Fremdwörter, wie hier aus dem Französi‐ schen entlehntes Accomodiert (185) in der Darstellung durch unterschiedliche Drucktypen hervorgehoben. Die abweichende Drucktype verweist darauf, was im jeweiligen Kontext als Fremdwort aufgefasst wurde. Bei einem deutsch‐ sprachigen Ausgangstext in Fraktur wird im Regelfall zur Hervorhebung eine Schreibung in Antiqua genutzt. Diese Darstellungsform entspricht den Druck-Gepflogenheiten im 16. Jahrhundert, auch wenn dies nicht in allen Fällen immer konsequent durchgeführt wird. 3 Indem sich die Herausgeberin für die Verwendung von Kapitälchen entschieden hat, heben sich diese Namen und Bezeichnungen noch deutlicher vom Haupttext ab als im Digitalisat. Anhand eines Auszugs aus dem Text werden im Folgenden die Charakteris‐ tika der Edition ein wenig erläutert: […] Vnd es kündte sich zutragen/ daß sich einer/ vonn einer offentlichen vnd gar zu klaren Torheit <N 6r =96> enthielte/ als da waͤre wie jr sagt: wann einer gienge den Mo‐ reßkendantz auff dem Platz zudantzen/ vnnd sich danach nit enthalten kündte/ sich selbst one not/ vnd wann es schon nit zur sach dient/ zuloben: ein verdrießliche vnschamhafftigkeit zugebrauchen: bißweiln ein wort zusagen/ vermainend die Leut dadurch zulachen bewoͤgen […] (80) Doppelkonsonanten wie bei vonn oder vnnd werden beibehalten, Synkopen wie bei bißweiln oder Apokopen wie bei sach oder Leut auch exakt übertragen. Weiterhin wird nit im Gegensatz zum Neuhochdeutschen nicht, genauso wie DOI 10.24053/ Ital-2023-0035 214 Kerstin Roth 4 Die Form gienge erinnert ans Mittelhochdeutsche. Sie entspricht unter anderem der 3. Pers. Sg. im Konj. Prät. des Wurzelverbs gên, was dem hier vorliegenden syntaktischen Kontext entsprechen würde. Die Form ist im Plural auch heute noch als Dialektbeleg aufzufinden, so z.-B. bei Bayerns Dialekte Online (<https: / / bdo.badw.de/ suche? beleg=Die%20gebruoder%20zesamen%20giengen&option s[exact]=1&options[case]=1&options[highlight]=0>; letzter Zugriff: 02.04.2024). 5 Ein älterer Dialektbeleg zu (ein)dantzen findet sich auch bei Bayerns Dia‐ lekte Online (<https: / / bdo.badw.de/ suche? beleg=einDantzen&options[exact]=1&op‐ tions[case]=1&options[highlight]=0>; letzter Zugriff: 02.04.2024). zahlreiche Schreibungen mit ai, z. B. vermainend, nicht angepasst. Hochgestellte Vokale werden genauso abgebildet wie im Original, gleiches gilt für die Virgeln. Diese Darstellungsweise ermöglicht es, direkt mit der Edition zu arbeiten (ohne den sonst oft notwendigen Rückgriff auf das Digitalisat), um beispielsweise sprachwissenschaftlich-sprachhistorische Fragestellungen hinsichtlich der Gra‐ phemik direkt zu konkretisieren. Auch Fragen, die regionalsprachliche Veror‐ tungen betreffen, können mit der vorgelegten Edition beantwortet werden, denn sowohl die Bewahrung des Vokals a in Wörtern wie vermainend als auch die bereits genannten Syn- und Apokopen verweisen auf einen Sprachgebrauch des Deutschen, der eher dem heutigen Süddeutschland zuzuordnen ist. Auffällig sind auch Formen wie gienge  4 oder zudantzen  5 , in welchem das d anstelle eines t beibehalten wurde. Auch der Druckort der Übersetzung, Dillingen an der Donau, beim Drucker Johann Mayer (343) fügt sich passend in diese Argumentation. Die gewählte Varietät des Deutschen zeugt von und zielt auf ein Publikum, dass mehrheitlich dem oberdeutschen Sprachraum zuzuordnen ist. Der Übersetzer Johann Engelbert Noyse von Campenhouten (so der vollstän‐ dige Name) ist zum Zeitpunkt der Abfassung seiner Übersetzung von Beruf wohl Hofsekretär (343). Die Herausgeberin der Edition verweist explizit auf die Beschäftigung von Noyses sowie auf den Beruf des ersten Übersetzers ins Deutsche, Lorenz Kratzer - er war zum Übersetzungszeitpunkt Mautzöllner -, da auf Grund der Berufe davon ausgegangen werden kann, dass beide „Versionen nicht aus einem akademischen, sondern aus einem städtischen Kreis“ stammten (343). Leider erfährt die interessierte Leserschaft nicht mehr über die beiden Übersetzer, sondern wird auf die Vorworte zu den beiden Übersetzungen sowie ältere Forschungsliteratur verwiesen (343). Es ist verständlich, wenn auch bedauerlich, dass sich die Herausgeberin gegen einen direkten Kommentar mit Erläuterungen in Fuß- oder Endnoten entschieden hat. So bleibt ungeschulten Leserinnen und Lesern möglicherweise unklar, worum es sich beispielsweise bei Moreßkendantz (80) handelt. Zwar wird aus dem Kontext der im Text geschilderten Diskussion deutlich, dass es sich um einen Tanz handeln muss, da das Verb dantzen im Wortumfeld aufgeführt wird DOI 10.24053/ Ital-2023-0035 Baldassar Castiglione: Der Hofmann 215 6 Vgl. Gschwandtner, Charlotte (2017): Moresca. Vielfalt und Konstanten einer Tanzpraxis zwischen 15. und frühem 17.-Jahrhundert. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag. und dem Moreßkendantz (auch aus syntaktischen Gründen) zugeordnet werden muss. Dennoch hätte eine kurze Fußnote mit einem direkten Verweis auf diese Tanzpraxis der Frühen Neuzeit hier weiterhelfen können. 6 Dies sei lediglich als ein Beispiel genannt, wo und wie erläuternde Kommentare die Edition noch etwas freundlicher für die Leserschaft hätten gestalten können. Auch das mit gut vier Seiten doch sehr knappe Nachwort hätte durchaus etwas länger ausfallen dürfen. Selbstverständlich existiert bereits eine Viel‐ zahl an Forschungsliteratur, deren vollständige bibliographische Erfassung im Rahmen einer Edition nicht erwartet werden kann, wie die Herausgeberin selbst in der ersten Fußnote des Nachworts expliziert (341). Dennoch wären einige wenige einführende und kontextualisierende Worte zum Inhalt des Textes für die Rezipientinnen und Rezipienten sicherlich von Interesse gewesen. Zusammenfassend sei das Folgende festgehalten: Die Benutzung der hier vorgelegten Edition setzt Vorwissen von Seiten der Leserschaft voraus. Kontext‐ wissen muss über andere Quellen erschlossen werden. Um ein etwas breiteres Publikum über den akademischen Kontext hinaus zu erschließen, wären erläu‐ ternde Fußnoten sicherlich eine gute Option, aber auch nochmals deutlich mehr Arbeit gewesen. Der Anspruch der Herausgeberin, einen akribisch genauen Text publizieren zu lassen, mag zu dieser verständlichen Entscheidung geführt haben. Als Lese- und Arbeitsbuch insbesondere für den Unterricht des Frühneuhoch‐ deutschen und auch im Bereich der Komparatistik, hier dann im Vergleich mit dem italienischen Original, erscheint die Edition sehr geeignet. DOI 10.24053/ Ital-2023-0035 216 Kerstin Roth Deutsches Studienzentrum in Venedig. 50 Jahre Wissenschaft und Kunst - Brücken am Canal Grande. Hrsg. von Helen Geyer, Marita Liebermann, Michael Matheus. Regensburg: Schnell und Steiner 2023, 447 Seiten, € 69,00 Katharina List 22 auf 28 cm, deutlich über zwei Kilogramm: Großformatig, gewichtig und äußerst prächtig ist der Band, mit dem das Deutsche Studienzentrum in Venedig auf das halbe Jahrhundert seiner Geschichte zwischen der Eröffnungsfeier im Mai 1972 und dem Jubiläumsjahr 2022 zurückblickt. Herausgegeben wurde die mit reichem Bildmaterial ausgestattete Festschrift - darunter viele Fotografien von Julia Schambeck und Clemens Kusch - von Marita Liebermann, deren Amts‐ zeit als Direktorin des Studienzentrums 2023 endete, gemeinsam mit Michael Matheus und Helen Geyer, bis 2021 respektive Vorsitzender und stellvertretende Vorsitzende des Vereins Deutsches Studienzentrum in Venedig e.V. Die Beiträge des Bands bieten nicht nur einen facettenreichen Streifzug durch fünfzig Jahre Centro, wie das Studienzentrum familiär genannt wird, sondern erzählen zunächst zwei Vorgeschichten deutscher Institute in Venedig: So gab es schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch den Kunsthistoriker Gustav Ludwig Überlegungen und Versuche zur Gründung eines interdisziplinären und internationalen Istituto storico veneziano; tatsächlich realisiert, wenn auch nur für kurze Zeit, wurde das ganz anders ausgerichtete Deutsche Institut, das zwischen 1944 und 1945 während der Zeit der deutschen Besatzung Norditaliens in erster Linie Propagandazwecken diente. Auch in den weiteren Sektionen des Bands entsteht ein lebendiges, aber kein beschönigendes Bild des Studienzentrums und auch von Venedig selbst; so wird zum Beispiel die wohlbekannte Problematik der regelmäßigen Wasser- und konstant wachsenden Touristenströme nicht ausgespart. Drei Beiträge zeichnen die Anfänge und wichtige Entwicklungen des Studienzentrums bis heute nach: Ohne dass die ‘Jahrhundertflutʼ von 1966 direkter Auslöser gewesen DOI 10.24053/ Ital-2023-0036 wäre, geschah die Gründung des heutigen DSZV gewissermaßen in ihrem Kiel‐ wasser, hatten die Überschwemmungen doch internationale Aufmerksamkeit auf Venedig gelenkt, seine prekäre Situation deutlich vor Augen geführt und damit auch die Bereitschaft erhöht, sich dort mit längerfristigen Projekten zu engagieren. Nichtdestotrotz dauerte es noch mehrere Jahre, bis nach Zu‐ ständigkeitskonflikten, Finanzierungs- und Konstruktionsfragen 1972 das von Anfang an durch die Fritz Thyssen Stiftung und die Bundesrepublik Deutschland geförderte Studienzentrum im Palazzo Barbarigo della Terrazza am Canal Grande den ersten Stipendiaten beherbergen konnte. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten wurden die Beziehungen zu venezianischen Institutionen auf- und ausgebaut, bereits 1979 kamen zu den Stipendien für wissenschaftliche Forschungsprojekte Künstlerstipendien hinzu - eine Kombination, die bis heute charakteristisches Merkmal des Studienzentrums ist -, und die Bestände der Institutsbibliothek vergrößerten sich konstant. Unter anderem in einem neuen Austarieren von Kunst und Wissenschaft erfolgten Veränderungen in Struktur und Ausgestaltung des Zentrums und eine Überarbeitung der Vergabeverfahren für Stipendien; immer wieder stellten sich dabei Fragen der Finanzierung und von Zuständigkeiten. Zu den letzten Neuerungen gehören eine eigens angemie‐ tete Atelierwohnung und der 2021 eingeführte Premio Palazzo Barbarigo für herausragende wissenschaftliche Arbeiten im Bereich der Venedigforschung, der vom sehr aktiven Verein der Freunde und Förderer des DSZV finanziert wird. Dem Sitz des Studienzentrums, dem Palazzo Barbarigo della Terrazza, Domizil der Stipendiatinnen und Stipendiaten während ihres Aufenthalts in Venedig, widmen sich ein architektonisch und ein kunsthistorisch ausgerichteter Beitrag, von denen der erste Entstehung, Um- und Neubauten des aus der Mitte des 16. Jahrhunderts stammenden Palazzo selbst, der zweite seine vor allem mit dem Namen Tizian verbundene malerische Ausstattung im Verlauf der Jahrhunderte rekonstruiert. Nach einer Einführung von Marita Liebermann, die die im Studienzentrum alltäglich gelebte Inter- und Transdisziplinarität in ihren Chancen, aber auch den Herausforderungen darstellt, bietet der zweite Teil des Bands vor allem einen ausführlichen Überblick über die vielfältige auf Venedig bezogene For‐ schung, die über die Jahrzehnte am und dank des Studienzentrums entstehen konnte, sowie über die Kunststipendien. Anhand der Forschungsprofile, die von Mitgliedern des Kuratoriums, des Vorstands oder des Wissenschaftlichen Beirats verfasst wurden, die das Studi‐ enzentrum teils selbst mit einem Stipendium kennengelernt hatten, ihm oft seit langer Zeit verbunden sind und deren Begeisterung für das Centro und DOI 10.24053/ Ital-2023-0036 218 Katharina List seine Arbeit aus ihren Beiträgen spricht, entsteht ein Panorama der beteiligten Fachrichtungen und der geförderten Projekte. Diese decken eine große Band‐ breite geisteswissenschaftlicher Fächer ab: Die Byzantinistik, die in Venedig etwa in der Biblioteca Marciana und im Staatsarchiv interessante und noch nicht erschlossene Quellen findet; die spätantike und mittelalterliche Kunstge‐ schichte, deren oft breit angelegte Projekte die transkulturellen Verflechtungen Venedigs in der Vormoderne zeigen; die Kunstgeschichte der frühen Neuzeit und die Bau- und Architekturgeschichte, in der beispielsweise Projekte in Zu‐ sammenarbeit mit der venezianischen Denkmalpflege realisiert wurden. Für die Geschichtswissenschaft im Mittelalter und der Renaissance ist Venedig wegen der großen Zahl erhaltener schriftlicher Quellen ein besonders interessantes Forschungsfeld; aber auch zur Geschichte der frühen Neuzeit sowie zum 19. und 20. Jahrhundert wurden Projekte durchgeführt, verbunden mit zahlreichen interdisziplinär ausgerichteten Tagungen. Neben der Musikgeschichte und den sogenannten ‘Kleinen Fächernʼ ist schließlich die Literatur- und Sprachwissen‐ schaft ein zentrales Forschungsfeld, in dem sehr verschiedenartige Projekte aus unterschiedlichen Philologien bearbeitet wurden und zahlreiche Editionen oder Kommentierungen entstanden sind. Oft fächerübergreifend werden die Themenschwerpunkte des Direktorats entwickelt, wie der letzte von Marita Liebermann zum sehr venezianischen Thema der Brücken, die sich nun auch im Titel der Festschrift wiederfinden. Zu diesen Schwerpunkten werden jeweils Tagungen und Workshops organisiert, und die entstehenden Veröffentlichungen finden in einer der Buchreihen Platz, in denen bei unterschiedlichen Verlagen Publikationen aus dem Umkreis des Studienzentrums erscheinen. So unterschiedlich die bearbeiteten Projekte in den verschiedenen Fachrich‐ tungen auch sind, die Forschungsprofile zeigen doch einige Gemeinsamkeiten: Häufig lässt sich die Darstellung zugleich als eine kurze Geschichte des ent‐ sprechenden Fachs mit der Herausbildung neuer Forschungsthematiken oder der Entwicklung neuer Ansätze lesen; deutlich wird weiterhin die Bedeutung von in Venedig konsultierbarem Quellenmaterial für die verschiedensten For‐ schungsarbeiten sowie die Tatsache, dass vom DSZV geförderte Projekte nicht selten aufeinander aufbauen oder voneinander profitieren können. Fast alle Profile betonen außerdem, dass für die jeweiligen Fächer in Venedig noch viel Interessantes zu tun bleibt. Nicht zuletzt resultiert aus den Stipendien, die auch zu wissenschaftlicher Netzwerkbildung führen, oft eine dauerhafte Verbundenheit mit dem und ein Engagement für das Centro. Alles dies entwickelt sich nicht nur in einem interdisziplinären und inter‐ nationalen, v.a. deutsch-italienischen Dialog, sondern auch im Dialog von DOI 10.24053/ Ital-2023-0036 Deutsches Studienzentrum in Venedig 219 Wissenschaft und Kunst: Eine wichtige Rolle spielt im Studienzentrum die Kunstförderung in den Bereichen Architektur, Bildende Kunst, Literatur und Musik. Die Begegnungen und der Austausch dieser unterschiedlichen Diszi‐ plinen wird durch das verbindende Element Venedig erleichtert, und auch in diesen Bereichen kommt es regelmäßig zur Zusammenarbeit mit veneziani‐ schen Institutionen, woraus sich zum Teil sogar interessante Anschlussförde‐ rungen für Stipendiatinnen und Stipendiaten ergeben. In seinem Beitrag „Venedig - ein Sehnsuchtsgedächtnis“ schreibt der Kom‐ ponist und ehemalige Künstlerstipendiat Moritz Eggert: „Viele Menschen ent‐ wickeln eine Art Sucht nach Venedig“. Tatsächlich scheint eine solche nicht nur bei fast allen in irgendeiner Form an dem Band Beteiligten und im Centro Engagierten diagnostizierbar, sondern vor allem lässt sie sich bei der Lektüre dieser reichen Festschrift, beim Eintauchen in ein halbes Jahrhundert Studien‐ zentrum ohne jede Schwierigkeit nachvollziehen. DOI 10.24053/ Ital-2023-0036 220 Katharina List Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissen- Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus schaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissen- Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theoschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und logie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik Caroline Lüderssen (Hrsg.) Zum poetischen Werk von Salvatore A. Sanna „...col rosso in dominante...“ 2020, 202 Seiten €[D] 54,00 ISBN 978-3-8233-8406-9 eISBN 978-3-8233-9406-8 BUCHTIPP Dieser Band versammelt Aufsätze und Rezensionen zur Lyrik von Salvatore A. Sanna (1934-2018). Sannas erster Gedichtband erschien 1978 mit dem Titel Fünfzehn Jahre Augenblicke, es folgten weitere Bände, das Gesamtwerk erschien 2004 im Gunter Narr Verlag unter dem Titel Fra le due sponde/ Zwischen zwei Ufern und auf Italienisch im Verlag Il Maestrale, Nuoro (2014). Sanna hat selbst den Begriff der „Letteratura de-centrata“ geprägt, er verfasste seine Gedichte auf Italienisch, veröffentlichte seine Texte aber immer zweisprachig italienisch/ deutsch, um auch das des Italienischen nicht mächtige Lesepublikum zu erreichen. Die hier vorgelegte Sammlung mit Texten in italienischer und deutscher Sprache erlaubt erstmals eine Zusammenschau der kritischen Texte über Sannas Lyrik. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 9797-0 \ info@narr.de \ www.narr.de DOI 10.24053/ Ital-2023-0036 Deutsches Studienzentrum in Venedig 221 Mitteilungen Erinnerung an Peter Brockmeier (Kassel, 12.04.1934 - Berlin, 01.06.2024) Wenige Wochen nach seinem 90. Geburtstag verstarb Peter Brockmeier am 1. Juni 2024 in Berlin, wo er seit der Übernahme eines Lehrstuhls für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität im Jahr 1980 und ab 1995 an der Humboldt- Universität gelehrt hatte. 1971 war er nach dem Studium der Komparatistik, Anglistik und Germanistik in München und Tü‐ bingen, das er mit der Promotion in Tübingen (Prof. Kurt Wais) abschloss, nach einem Aufenthalt als Lektor in Venedig (1960-64) und nach der Habilitation an der TU Darmstadt (Prof. Walter Naumann) auf den Lehrstuhl für Französische und Italienische Literaturwissenschaft an die Universität Mannheim berufen worden, wo er sich beim Aufbau der jungen Universität Verdienste erwerben konnte. Die repräsentativen Gemächer des kurfürstlichen Schlosses Karl-Theo‐ dors boten nicht nur den passenden Rahmen für den jungen Ordinarius (wenn auch ohne den Muff eines Talars und ohne Chef-Allüren), sondern auch für einen angesichts der damaligen Studentenproteste spannungsgeladenen, mit Maschinengewehren geschützten Voltaire-Kongress im Jahr 1978 zum 200.-To‐ desjahr (Voltaire und Deutschland: Quellen und Untersuchungen zur Rezeption der französischen Aufklärung, 1979) mit zwei so gegensätzlichen Festrednern wie dem wegen seiner NS-Vergangenheit umstrittenen baden-württembergi‐ schen Ministerpräsidenten Filbinger und dem Pariser Politologen Grosser. Der Epoche der Aufklärung galt neben der Literaturgeschichtsschreibung Brockmeiers wissenschaftliches Interesse schon seit seiner komparatistischen Dissertation (Darstellungen der französischen Literaturgeschichte von Claude Fauchet bis J. F. de Laharpe und F. Bouterwek, 1963). Folgerichtig widmete er sich auch praktisch der Literaturgeschichtsschreibung mit seiner gemeinsam mit Kollegen verfassten dreibändigen Französischen Literatur in Einzeldarstel‐ lungen (1981/ 82), die mit textbezogenen exemplarischen Interpretationen ganz dezidiert die Absicht verfolgte, «die Erörterung der Zusammenhänge zwischen Sozialgeschichte und Literaturgeschichte nicht auf der dürren Weide der [da‐ mals so beliebten] Methodendiskussion im Kreis herum zu führen» (Vorwort). Neben dem anglistischen Schwerpunkt Beckett galt Brockmeiers besondere Zuneigung der italienischen Literatur, hier in erster Linie der Novellistik der Renaissance (Lust und Herrschaft. Studien über gesellschaftliche Aspekte der Novellistik: Boccaccio, Sacchetti, Margarete von Navarra, Cervantes, 1972). Sein Bemühen, seriöse wissenschaftliche Texte stilistisch reizvoll auch für ein breiteres interessiertes Publikum zu verfassen, war so erfolgreich, dass es ihm gelang, in Hamburg auf rosa Papier gedruckt zu werden. Das Bedürfnis, nicht nur für den engen Kreis der Wissenschaftler zu schreiben, ließ ihn nicht nur praktische Kompendien verfassen, so den Wege der Forschung-Band der Wiss. Buchgesellschaft zu Boccaccios Decameron (1974) und die Bände über Villon (1977) und Beckett (2001) in der Sammlung Metzler, sondern vor allem auch Übersetzungen mit Kommentaren in den beliebten zweisprachigen Reclam-Ausgaben: Voltaire, L’Ingenu, 1982; Petrarca, Canzo‐ niere, 50 Gedichte, 2006; Boccaccio, Decameron (zunächst probeweise zwanzig ausgewählte Novellen 1988; dann 2012 die vollständige Sammlung, nur deutsch). Dieser unprätentiöse, uneitle Dienst an den Texten, in der Form nicht immer ge‐ dankter, unspektakulärer Übersetzungs- und Kommentararbeit, charakterisiert Brockmeiers wissenschaftlichen Stil, der einhergeht mit selbstdistanziertem Humor. Es soll sogar einen Romanisten (nicht den Verfasser dieser Zeilen) geben, der unter anderem durch die ansteckende Heiterkeit, die aus Peter Brockmeiers Dienstzimmer in den kafkaesken Flur des Mannheimer Schlosses drang, für eine lebenslange Beschäftigung mit der Romanistik gewonnen wurde. Hermann H. Wetzel 224 Mitteilungen L’UNIVERSITÀ PER STRANIERI DI PERUGIA. Storia di un ateneo aperto al mondo È stato pubblicato nel giugno 2024 dalla Treccani il volume L’università per stranieri di Perugia. Storia di un ateneo aperto al mondo, a cura di Salvatore Cingari, Valerio De Cesaris, Gabriele Rigano e Roberto Vetrugno. Il volume, con l’introduzione del Rettore della Stranieri, Valerio De Cesaris, è suddiviso in cinque sezioni: La storia dell’Università per Stranieri di Perugia, Le discipline, Dal passato al futuro, Montessoriana, Appendice documentaria. Nelle sezioni raccoglie i diversi contributi di studiosi di varie discipline, anche di docenti dell’ateneo, scritti in occasione dei due convegni svolti nel 2023 per celebrare il centenario dell’università, come pure importanti documenti presenti nel suo archivio, tra cui le lezioni inedite di Maria Montessori, a cui è dedicata una sezione, ed un interessante materiale fotografico. Due furono i momenti fondativi dell’Università: i Corsi di Alta Cultura, iniziati nel 1921, a cui seguirono nel 1922 i Corsi di Lingua Italiana, come primo nucleo di quella che poi divenne la Regia Università Italiana per Stranieri con i due regi decreti del 1925 e 1926. Con questo copioso volume di oltre 800-pagine si è voluto dare una testimo‐ nianza storica del suo sviluppo e del suo particolare ruolo come ʻambasciatriceʼ della cultura e della lingua italiana nel mondo attraverso riflessioni che non hanno trascurato di mettere in luce ed approfondire anche il suo complesso rapporto con il regime fascista, del cui progetto di un’italianità declinata in chiave nazionalistica ne fu interprete e promotrice. Questa sua fase iniziale, funzionale poi al regime, venne in qualche modo relativizzata in precedenti studi storici, che prediligevano sottolineare una sua autonomia dal fascismo, mentre diversi contributi presenti nel volume hanno messo in luce la presenza di una tendenza nazionalistica nella Stranieri già dalla sua istituzione, che facilitò la sua adesione al fascismo, pur non sottovalutando importanti aspetti tesi a coniugare il territorio umbro, ricco di tradizioni etrusche, romane e poi francescane, ad un anelito universalistico, che avrebbe dovuto rimarcare la peculiarità della cultura Italica. Per questa analisi critica e in gran parte chiarificante, presente nel volume, che non trascura di delineare momenti di alta cultura non legati a finalità politiche anche grazie all’apporto di docenti non coinvolti con il fascismo, assume grande significato il periodo di reggenza dell’antifascista Aldo Capitini, il teorico del pacifismo italiano, dopo la liberazione di Perugia nel 1944, che tentò di trasformare l’ateneo in una istituzione che, spogliata di velleità nazionalistiche, si apriva al mondo. Secondo Capitini la diffusione della cultura italiana tramite la sua lingua sarebbe servita a promuovere il dialogo interculturale ed al contempo a promuovere Mitteilungen 225 l’educazione democratica dei cittadini, a prescindere dal loro livello di istruzione. La sua reggenza, una parentesi breve e non sempre priva di contrasti, non portò al raggiungimento di tutti i suoi obiettivi, ma, pur nei mutamenti politici in Italia e nel mondo, l’apertura internazionale della Stranieri e la diffusione della cultura italiana all’estero costituirono le due finalità peculiari dell’ateneo. È su questi fondamenti che, nel 1948, il rettore Carlo Sforza, allora ministro degli Esteri, tenne il celebre discorso «Come fare l’Europa? », prefigurando un’Europa unita, e confermava il nuovo ruolo dell’ateneo come promotore della collaborazione tra i popoli. Questa vocazione continuò almeno fino alla fine degli anni Ottanta, quando forti cambiamenti globali hanno spinto la Stranieri a ripensare al suo ruolo nel contesto italiano ed internazionale, che vide come apice di una serie di riforme organizzative e formative l’anno 1992, quando con la legge n. 204 veniva parificata come università, grazie all’istituzione della Facoltà di Lingua e Cultura Italiana. Nello stesso anno con una convenzione del Ministero degli Esteri ed un accordo con gli istituti italiani di cultura veniva cementato il suo ruolo internazionale nella certificazione delle conoscenze della lingua italiana. A questa ed ad ulteriori trasformazioni dell’ateneo si focalizzano i contri‐ buti della seconda e terza sezione, che mettono in luce il valore educativo dell’internazionalizzazione anche in un piccolo ateneo, come l’istituzione di nuove discipline aperte a tematiche internazionali, l’ampliamento della rete dei partenariati nel mondo, la riorganizzazione della didattica della lingua italiana, assunta anche come medium di un’italianità presente nel mondo imprenditoriale e delle comunicazioni. Ed è nella tavola rotonda conclusiva della terza sezione, dal titolo «L’Università per Stranieri e la comunicazione della cultura italiana nel mondo: dall’‘Umbria verde’ al mondo globalizzato», a cura di Salvatore Cingari, che viene fatto un bilancio di questo divenire nel corso di 100 anni della Stranieri, come pure, attraverso quesiti aperti, si delineano nuovi sviluppi di ricerca tra passato e presente, in rapporto alla tradizione culturale italiana e l’altro. Una missione istituzionale di cui è anche testimonianza la sezione del volume dedicata al rapporto tra l’Università e Maria Montessori. Maurella Carbone 226 Mitteilungen Übersicht: Literaturpreise in Italien 2024 Premio Strega: Donatella Di Pietrantonio: L’età fragile, Torino: Einaudi 2023. Premio Speciale alla Carriera Campiello: Paolo Rumiz. Premio Campiello Opera Prima: Fiammetta Palpati: La casa delle orfane biance, Milano: Laurana Editore 2024. Premio Campiello Natura - Premio Venice Gardens Foundation: Emanuela Evangelista: Amazzonia. Una vita nel cuore della foresta, Roma/ Bari: Laterza 2023. Premio Letterario Viareggio-Répaci: Narrativa: Silvia Avallone: Cuore nero, Milano: Rizzoli 2024; Poesia: Stefano Dal Bianco: Paradiso, Milano: Garzanti 2023; Opera prima: Alice Valeria Oliveri: Sabato champagne, Milano: Solferino 2023; Saggistica: Vincenzo Trione: Prologo celeste. Nell’atelier di Anselm Kiefer, Torino: Einaudi 2023. Premio Internazionale Flaiano di Narrativa 2024: Cristina Battocletti: Epigenetica, La nave di Teseo 2023- Premio internationale Flaiano di Narrativa Under 35 - BPER: Greta Olivo: Spilli, Torino: Einaudi 2023. Premio Internazionale Flaiano di italianistica „Luca Attanasio“ 2024: „This is what I live for: An Afro-Italian Hip-Hop Memoir, by Amir Issaa, edited by Clarissa Clò, San Diego State University Press 2023; Mara Josi: Rome, 16 October 1943: History, memory, literature, Oxford: Legenda 2023. Premio internazionale Flaiano speciale di Narrativa: Ferzan Ozpetek: Cuore nascosto, Milano Mondadori 2024. Premio Flaiano internazionale di Poesia: Massimo Morasso: Frammenti di nobili cose, Bagno a Ripoli (Firenze): Passigli Editori 2023. Premio internazionale Flaiano di poesia under 30: Gabriele Guzzi: Un volto da un vuoto, Ancona: Pequod 2023. Premio internationale Flaiano speciale di poesia: Silvia Bre. Premio Mondello Opera Italiana: Claudia Durastanti: Missitalia, La nave di Teseo 2023; Giovanni Grasso: Il segreto del tenente Giardina, Milano: Rizzoli 2024; Marco Cassardo: Eravamo immortali, Milano: Mondadori 2023. Premio Elsa Morante per la narrativa: Silvia Avallone: Cuore nero, Milano: Rizzoli 2024. Mitteilungen 227 Autorinnen und Autoren dieser Nummer Maurella Carbone, Frankfurt am Main Jürgen Charnitzky, Dr., Ludwigshafen Paolo Frosio, Frankfurt am Main Jonas Hock, Dr., Universität Regensburg Henning Hufnagel, PD. Dr., Universität Zürich Franca Janowski, Dr., Universität Stuttgart Gudrun Jäger, Dr., Frankfurt am Main Barbara Kuhn, Prof. Dr., Universität Eichstätt Anne-Marie Lachmund, Dr., Technische Universität Dresden Laura Linzmeier, Dr., Universität Regensburg Katharina List, Dr., Universität Eichstätt Antje Lobin, Prof. Dr., Universität Mainz Alina Lohkemper, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Caroline Lüderssen, PD Dr., Goethe-Universität Frankfurt Dacia Maraini, Rom Francesca Melandri, Rom/ Berlin Christine Ott, Prof. Dr., Goethe-Universität Frankfurt Francesco Pozzebon, Goethe-Universität Frankfurt/ Università Ca’ Foscari, Venedig Antonio Prete, Prof. Dr., Università di Siena Gloria Putrone, Goethe-Universität Frankfurt Kerstin Roth, Universität Hamburg Giovanni Ruffino, Prof. Dr., Università di Palermo Gabriella Sica, Rom Davide Soares Da Silva, Dr., Universität Regensburg Hermann H. Wetzel, Prof. Dr., Universität Regensburg 228 Mitteilungen Stauffenburg Verlag GmbH Postfach 25 25 D-72015 Tübingen www.stauffenburg.de ZIBALDONE Zeitschrift für italienische Kultur der Gegenwart Zibaldone, No. 77 Frühjahr 2024 Die Po-Ebene und ihre Flusslandschaften 2024, 159 Seiten, kart. ISBN 978-3-95809-720-9 EUR 16,00 Aus dem Inhalt: Paolo Rumiz: Auf dem Po durch ein unbekanntes Italien Franceseco Petrarca: Po, ben puo’ tu portartene la scorza / Wohl kannst du, Po, forttragen meine Rinde (Sonett 180) Alberto Montanari et al.: Warum die Dürre am Po 2022 die schlimmste der letzten zwei Jahrhunderte war Vera Marie Fänger: Die Po-Ebene: Italiens Risottokultur und ihre literarische und filmische Darstellung Anke Auch: Der große Fluss in der kleinen Welt Don Camillos Benedetta Mannino: Ein früher Roman von Italo Calvino Die Darstellung des Flusses in I giovani del Po Tünde Wallendums: Das Bild des Po in Lehrwerken für Italienisch als Fremdsprache Debora Gay: Flusslandschaften im Roman Il Mulino del Po und in seinen Verfilmungen Jonas Hock: Rom liegt nicht am Meer - aber am Wasser! Interview mit Birgit Schönau über ihr Buch Die Geheimnisse des Tibers Italienisch Zeitschrift für italienische Sprache und Literatur 45. Jahrgang - Heft 2 Verbandsorgan des Deutschen Italianistikverbands e.V. | italianistikverband.de Herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Deutsch-Italienischen Vereinigung e.V., Frankfurt/ M. | www.div-web.de Gefördert von der Frankfurter Stiftung für deutsch-italienische Studien | www.italienstiftung.eu Begründet von Arno Euler † und Salvatore A. Sanna † Herausgeberinnen und Herausgeber Sprachwissenschaft: Ludwig Fesenmeier, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen, ludwig.fesenmeier@fau.de Daniela Marzo, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, daniela.marzo@romanistik.uni-freiburg.de Literaturwissenschaft: Marc Föcking, Universität Hamburg, marc.foecking@uni-hamburg.de Barbara Kuhn, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, barbara.kuhn@ku.de Christine Ott, Goethe-Universität Frankfurt am Main, c.ott@em.uni-frankfurt.de Didaktik: Jacopo Torregrossa, Goethe-Universität Frankfurt am Main, torregrossa@lingua.uni-frankfurt.de Interviews und Biblioteca poetica: Caroline Lüderssen, Italienstiftung, italienisch@div-web.de Wissenschaftlicher Beirat Martin Becker (Köln), Domenica Elisa Cicala (Eichstätt), Sarah Dessì Schmid (Tübingen), Frank- Rutger Hausmann (Freiburg), Gudrun Held (Salzburg), Peter Ihring (Frankfurt am Main), Antje Lobin (Mainz), Florian Mehltretter (München), Sabine E. Paffenholz (Koblenz/ Boppard), Edgar Radtke (Heidelberg), Christian Rivoletti (Erlangen), Michael Schwarze (Konstanz), Isabella von Treskow (Regensburg), Winfried Wehle (Eichstätt), Hermann H. Wetzel (Passau) Redaktion Caroline Lüderssen (v.i.S.d.P.) Arndtstraße 12, 60325 Frankfurt am Main Tel. 069/ 746752, E-Mail: italienisch@div-web.de Verlag Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG, Dischingerweg 5, D-72070 Tübingen www.narr.de eMail: info@narr.de Anzeigenverwaltung Oliver Solbach, Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG, solbach@narr.de, Tel. +49 (0)7071 97 97 12 Printed in Germany Erscheinungstermine: Frühjahr und Herbst Bezugspreise € 24,00 jährlich, für Privatpersonen € 17,00 jährlich. Einzelheft € 14,00. Alle Preise inkl. MwSt. und zzgl. Versandkosten. Die Mindestabodauer beträgt ein Jahr. Eine Kündigung ist schriftlich bis jeweils 6 Wochen vor Bezugsjahresende möglich. Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung (auch in elektronischer Form) bedarf der Genehmigung des Verlags. Beitragseinreichungen und Anfragen bitten wir an die jeweiligen HerausgeberInnen zu richten. ISSN 0171-4996 ISBN 978-3-381-12421-3 BUCHTIPP Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany \ Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ info@narr.de \ www.narr.de Der Band bachelor-wissen Italienische Literaturwissenschaft richtet sich speziell an die Studierenden und Lehrenden in den literatur- und kulturwissenschaftlichen Modulen der italienzentrierten Bachelor-Studiengänge. Er bietet eine präzise Einführung in die Verfahren der formalen Textanalyse im Kontext unterschiedlicher Medien. Darüber hinaus vermittelt er einen Überblick über die relevanten literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschungsansätze, Fragestellungen und Theorien. Zahlreiche Übungen ermöglichen die rasche Anwendung und Überprüfung des Gelernten und unterstützen einen nachhaltigen Kompetenzerwerb. Maximilian Gröne, Rotraud von Kulessa, Frank Reiser Italienische Literaturwissenschaft Eine Einführung bachelor-wissen 3., überarbeitete und erweiterte Au age 2024, 318 Seiten €[D] 25,99 ISBN 978-3-381-12411-4 eISBN 978-3-381-12412-1 Come sono nati i romanzi di Eco? Quanti anni sono stati necessari per costruire i loro mondi e scriverli? E come dialogano l’uno con l’altro? Quanto conta l’intreccio, e quanto invece la dimensione teorica, che rispecchia la parallela scrittura saggistica dell’autore? Thomas Stauder, studioso e traduttore, dialoga con Umberto Eco a proposito di ciascuno dei suoi romanzi. Attraverso sette conversazioni, realizzate tra il 1989 e il 2015, il libro ripercorre dunque tutta la narrativa di Eco raccogliendo il suo sguardo sui propri lavori: quei romanzi che lo hanno reso noto al mondo intero, dal Nome della rosa a Numero zero, passando per Il pendolo di Foucault, L’isola del giorno prima, Baudolino, La misteriosa fiamma della regina Loana, Il cimitero di Praga. Nel corso dei dialoghi, Eco parla della sua scrittura ma anche, inevitabilmente, di tutto ciò che le sta intorno: gli studi, i viaggi, le aspettative, le reazioni dei lettori, i ricordi di famiglia. Un caleidoscopio su Umberto Eco, a partire dai suoi romanzi, per entrare nell’officina e nella mente di un grande scrittore, che negli anni ’70 diceva ancora che non avrebbe mai scritto un romanzo. “intensa testimonianza, con un taglio insieme personale e intellettuale” La Repubblica “con uno profondo scavo ermeneutico e biografico” Il Messaggero “permette di conoscere meglio tanti aspetti dell’intellettuale alessandrino” Il Piccolo Milano: La nave di Teseo 2024 Copertina rigida: 25,00 € Formato Kindle: 12,99 € 90 Italienisch 90 Aus dem Inhalt Gabriella Sica, Poesie da Tu io e Montale a cena, Italienisch/ Deutsch Antonio Prete, Poesie da Convito delle stagioni, Italienisch/ Deutsch «Scrivere sul passato per raccontare il presente»: A colloquio con Francesca Melandri Dossier: Italoromania und Mittelmeerinseln Laura Linzmeier / Davide Soares da Silva, Lo spazio linguistico italo-romanzo in prospettiva insulare Jonas Hock, Die Überwindung der Insel-Idylle auf Ventotene - Fabrizia Ramondinos L’isola riflessa A colloquio con Giovanni Ruffino Biblioteca poetica Henning Hufnagel Preghiera - Bittgebet: Das Schlussgedicht von Giuseppe Ungarettis L’Allegria (1931), makrotextuell und intertextuell zwischen Petrarca, Leopardi und Baudelaire Italienisch ISSN 0171-4996 Zeitschrift für italienische Sprache und Literatur