Italienisch
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2013
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Fesenmeier Föcking Krefeld OttVivisektion der Romantik: Arrigo Boitos "Lezione d'anatomia"
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2013
Ludger Scherer
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93 Biblioteca poetica Vivisektion der Romantik: Arrigo Boitos «Lezione d’anatomia» Arrigo Boito (1842-1918) ist wohl nicht zuletzt als Komponist und Textdichter seiner Faustoper Mefistofele bekannt, die erst 1881 in der überarbeiteten Fassung zu einem Erfolg an der Mailänder Scala wurde. 1 An dieser Stelle soll es um den Dichter Boito gehen, der als Teil der norditalienischen Scapigliatura deren Poetik maßgeblich mitbestimmte. Ein typisches Beispiel für diese ist sein Gedicht «Lezione d’anatomia»: 2 La sala è lùgubre; Dal negro tetto Discende l’alba, Che si riverbera Sul freddo letto 5 Con luce scialba. Chi dorme? … Un’etica Defunta ieri All’ospedale; Tolta alla requie 10 Dei cimiteri, E al funerale: Tolta alla placida Nenia del prete, E al dormitorio; 15 Tolta alle gocciole Roride e chete Dell’aspersorio. Delitto! e sanguina Per piaga immonda 20 Il petto a quella! … Ed era giovane! Ed era bionda! Ed era bella! Con quel cadavere 25 (Steril connubio! Sapienza insana! ) Tu accresci il numero Di qualche dubio. Scïenza umana! 30 Im Saal ist es düster; vom dunklen Dach fällt Morgenlicht, widergespiegelt vom kaltem Bett mit fahlem Schein. Wer ruht? … Eine Schwindsüchtige gestern verstorben im Krankenhaus; entzogen der letzten Ruhe des Friedhofs und dem Begräbnis: entzogen dem pfäffischen Totengebet und dem Schlafsaal; entzogen den Tautropfen des ewigen Friedens vom Aspergill. Frevel! Und blutet aus unziemlicher Wunde nun ihre Brust! … Und war sie doch jung! Und war sie doch blond! Und war sie doch schön! Mit diesem Kadaver hier (fruchtlose Vereinigung! wahnsinnige Gelehrtheit! ) vergrößerst die Menge der Zweifel bloß Menschenwissenschaft! 2_IH_Italienisch_69.indd 93 2_IH_Italienisch_69.indd 93 23.04.13 16: 05 23.04.13 16: 05 9 4 Vivisektion der Romantik: Arrigo Boitos «Lezione d’anatomia» Ludger Scherer Mentre urla il medico La sua lezione E cita ad hoc: Vesalio, Ippocrate, Harvey, Bacone, 35 Sprengel e Koch, Io penso ai teneri Casi passati Su quella testa, Ai sogni estatici 40 Invan sognati Da quella mesta. Penso agli eterei Della speranza Mille universi! 45 Finzion fuggevole Più che una stanza Di quattro versi. Pur quella vergine Senza sudario 50 Sperò, nell’ore Più melanconiche Come un santuario Chiuse il suo cuore, Ed ora il clinico 55 Che glielo svelle Grida ed esorta: «Ecco le valvole,» «Ecco le celle,» «Ecco l’aòrta.» 60 Poi segue: «huic sanguinis Circulationi…» Ed io, travolto, Ritorno a leggere Le mie visioni 65 Sul bianco volto. Scïenza, vattene Co’ tuoi conforti! Ridammi i mondi Del sogno e l’anima! 70 Sia pace ai morti E ai moribondi. Indes schreiend der Arzt seine Vorlesung hält und ad hoc zitiert: Vesalius, Hippokrates, Harvey und Bacon, Sprengel und Koch, denk ich an die zarten Geschehnisse in diesem Kopf, an die begeisterten Träume vergebens geträumet von dieser Unglücklichen. Ich denk an die himmlischen von Hoffnung erfüllten unzähligen Welten. Erfindungen, flüchtiger als eine Strophe von vier Versen. Doch diese Jungfrau nun ohne Leichentuch hoffte in Stunden tieferer Melancholie, ein Heiligenschrein umschließe ihr Herz, nun ist es der Anatom, der ihr’s herausreißt, schreit und doziert: «Seht hier die Klappen,» «Seht hier die Kammern,» «Seht hier die Aorta.» Und fährt fort «huic sanguinis Circulationi…» Und ich, ganz verstört, widme mich wieder der innigen Betrachtung des blassen Gesichts. Wissenschaft, fort mit dir und deinem Trost! Gib mir die Welt zurück des Traums und der Seele! Friede den Toten und den Sterbenden auch. 2_IH_Italienisch_69.indd 94 2_IH_Italienisch_69.indd 94 23.04.13 16: 05 23.04.13 16: 05 95 Ludger Scherer Vivisektion der Romantik: Arrigo Boitos «Lezione d’anatomia» Perdona o pallida Adolescente! Fanciulla pia, 75 Dolce, purissima, Fiore languente Di poësia! E mentre suscito Nel mio segreto 80 Quei sogni adorni,… In quel cadavere Si scopre un feto Di trenta giorni. Giugno, 1865 Das auf das Jahr 1865 datierte Gedicht erschien zuerst in der Rivista Minima vom 17. Mai 1874 und wurde dann in Boitos Sammlung Il libro dei versi (1877) aufgenommen. Die 14 Strophen aus je sechs Fünfsilbern spiegeln bereits in ihrem Metrum die Spannungen wider, die den Text bis zu seiner Schlusspointe durchziehen. Der quinario, bekanntlich kein sonderlich verbreiteter Vers im Italienischen, ist hier durch die Silbenzahl des Titelwortes anatomia und dessen zentrale Bedeutung motiviert. Die rhythmische Unruhe des Gedichts verdankt sich nicht zuletzt dem häufigen Einsatz von versi sdruccioli: Der erste und vierte Vers jeder Strophe weist sechs grammatische Silben auf, die konventionell wegen des Proparoxytonons am Versschluss zu fünf metrischen Silben verkürzt werden - die scheinbare und auch im Vortrag wahrnehmbare Unregelmäßigkeit wird also in eine regelgerechte Ordnung überführt. Analog bildet auch die Reimordnung xabxab sowohl die hervorgehobene Position der ‹stolpernden› Zeilen als auch die bewusste Kombination konventioneller und transgredierender Elemente in Boitos Gedicht ab. Der metrische Befund findet seine Entsprechung in Struktur und Thematik des Textes. Dessen antithetischer Aufbau zeigt sich von der ersten Strophe an, in der das anatomische Theater im chiaroscuro von dunklem Dach und fahlem Tageslicht gezeichnet wird. Der grauende Morgen bringt den fundamentalen Gegensatz von romantischem Idealismus und positivistischem Materialismus zum Vorschein, der das Gedicht durchzieht. Gelenkt von einem Dichter-Ich, das sich zunehmend romantisch stilisiert und nicht vorschnell mit dem Autor identifiziert werden sollte, ist der Rezipient angehalten, dessen Blick auf eine schöne Leiche nachzuvollziehen. Das frisch an der Tuberkulose, der romantischen Krankheit par excellence, verstorbene Mädchen wird in seinem trostlosen materiellen Elend gezeigt: dem Schlafsaal des Armenspitals und dem Vergib, du erbleichtes erblühendes Mädchen! Du Jungfrau so fromm, so süß und so rein, welkende Blume der Poesie! Und während ich inniglich in mir erwecke solch liebliche Träume… entdeckt im Kadaver man einen Fötus von dreißig Tagen. Juni 1865 2_IH_Italienisch_69.indd 95 2_IH_Italienisch_69.indd 95 23.04.13 16: 05 23.04.13 16: 05 9 6 Vivisektion der Romantik: Arrigo Boitos «Lezione d’anatomia» Ludger Scherer routinierten Begräbnis des Priesters entrissen, schamlos enthüllt (senza sudario, v. 50) und mit offenem Brustkorb (vv. 19-21) der anatomischen Misshandlung ausgesetzt. Seine vage physische Beschreibung kolportiert traditionelle, als romantisch anzusprechende Stereotypen (giovane, bionda, bella, vv. 22-24), die sich zu einer fulminanten Idealisierung ihrer Person steigern: Die reine Jungfrau (vergine, v. 49) erhält alle Prädikate der konventionellen weiblichen Kalokagathie (pia, dolce, purissima, vv. 75-76) zugewiesen, die sie zudem, mit blasphemischem Unterton, in die Nähe der Gottesmutter Maria bringen, die bekanntlich im Salve Regina als dulcis und pia angesprochen wird. Am Schluss der vorletzten Strophe erfolgt gar eine Apotheose der namenlose Leiche zur Metapher der poësia (v. 78), der romantischen Dichtkunst selber. Die Redeweise dieses Dichters, der sich vom zerstückelten Körper ab- und dem geistig-seelischen Innenleben des Mädchens zuwendet, ist entsprechend stark emphatisch, von zahlreichen Ausrufen gekennzeichnet (vv. 21-24, 26-27, 30, 45, 68, 70, 74, 78). Die sprachliche Gestaltung des Gedichts stellt dem romantischen Pathos gewählter Ausdrücke und rhetorischer Figuren den kruden Realismus der Wissenschaft entgegen, deren Protagonisten namentlich aufgezählt (vv. 34-36) und deren lateinische Fachsprache (vv. 33, 61-62) und Terminologie (vv. 58-60) zitiert werden. Das Bild der positivistischen Wissenschaft wird eindeutig negativ gezeichnet: Der Anatom profaniert die schöne Leiche durch die Öffnung des Brustkorbs (v. 20), führt seine Demonstration schreiend (v. 31) durch und reißt dem Mädchen unbeeindruckt das Herz heraus (v. 56). Der zynische Mediziner steht für eine Wissenschaft, die den Menschen auf seine materielle Existenz reduziert, das Prädikat umana (v. 30) demnach nur ironisch verdient, die jedoch aus dem respekt- und gefühllosen Umgang mit dem toten Körper keinen Erkenntnisgewinn zieht (steril, v. 26) und lediglich die Zahl der Irrtümer und Zweifel (dubio, v. 29) vermehrt. Folgerichtig werden die positivistischen Naturwissenschaften vom Dichter-Ich im Namen der inneren Werte des Menschen emphatisch von sich gewiesen: Sciënza vattene (v. 67). Diese an beiden Stellen (ebenso v. 30) im Gedicht durch Diärese zusätzlich betonte Wissenschaft scheint jedoch recht zu behalten, zerstören die letzten drei Verse doch sarkastisch die auf maximale Fallhöhe gebrachte romantische Illusion der reinen Unschuld: In der schönen Leiche entdeckt der Anatom einen Fötus, der den Mythos der Jungfräulichkeit vernichtet. Die Desillusionierung des romantischen Ideals durch makabren Realismus passt offensichtlich genau zur dualistischen Poetik der Scapigliatura: Diese Gruppierung entsteht als italienische Bohème in den kulturell und industriell prosperierenden Großstädten Milano und Torino der 1860er Jahre, zur Zeit der Gründung des Nationalstaats. Der vorläufige Abschluss des Risorgimento brachte neben ökonomischen und sozialen auch weitreichende Verän- 2_IH_Italienisch_69.indd 96 2_IH_Italienisch_69.indd 96 23.04.13 16: 05 23.04.13 16: 05 97 Ludger Scherer Vivisektion der Romantik: Arrigo Boitos «Lezione d’anatomia» derungen im literarischen Feld mit sich, die sich auf die Stellung des Schriftstellers in der merkantilisierten Gesellschaft auswirkten. Die zunehmende Funktionslosigkeit des Dichters ließ eine antibürgerliche Revolte im Bewusstsein der Krise entstehen. Zudem führte das Gefühl der nationalen Verspätung dazu, dass sich die scapigliati verstärkt an ausländischen Vorbildern orientierten, neben England und Deutschland vor allem an Frankreich. 3 Die vom Ergebnis der unità d’Italia enttäuschten Intellektuellen, die sich mehrheitlich im Befreiungskampf engagiert hatten, rebellierten gegen die Väter-Generation, die bürgerlichen Werte, die immer noch starke Stellung der Kirche und auch gegen eine oberflächliche Konsumliteratur. Auf der Suche nach neuen literarischen Formen und Inhalten gerieten die Nachtseiten der Romantik und das Hässliche vermehrt in den Blick der Autoren, für die insbesondere Baudelaire zur Schlüsselfigur der Moderne wurde. 4 Diese Konfrontation mit dem Neuen führte zu einer polemischen Auseinandersetzung mit der nationalen Tradition, für die im Ottocento dominierend Manzoni steht. 5 Bekannte Autoren wie Cletto Arrighi, Arrigo und Camillo Boito, Giovanni Camerana, Carlo Dossi, Emilio Praga und Igino Ugo Tarchetti lassen sich als Gruppierung antibürgerlicher Erneuerer fassen, die durch persönliche Kontakte und Freundschaften verbunden sind und mit manifestartigen Texten die Konventionen und Traditionen der Kunst in Frage stellen. Nicht zufällig sind zahlreiche künstlerische Doppelbegabungen bei den scapigliati auszumachen, die als Bohémiens nicht nur die Grenze zwischen Kunst und Leben, sondern auch zwischen den einzelnen Künsten überschritten und folgerichtig als erste italienische Avantgarde bezeichnet werden können. 6 Ein wichtiges Kennzeichen der Scapigliatura ist nun die Zerrissenheit der modernen Künstlerexistenz, der Dualismus von Ideal und Wirklichkeit, wie er in programmatischen Gedichten wie Pragas «Preludio» (1864) und Boitos «Dualismo» (1863) zum Ausdruck kommt. Die Opposition von reiner absoluter Kunst des Ideals und rebellischer hässlicher Kunst des Realismus steht hier im Zeichen der coincidentia oppositorum, was beim Faustkenner Boito durchaus im alchemistischen Sinne gedacht ist. Damit wäre jedoch die einfache Lesart einer Überwindung der Romantik im brutalen Realismus der Scapigliatura differenzierter zu betrachten. Boitos Gedicht, in dem dualistische Gegensätze von Schönheit und Tod, Poesie und Wissenschaft, Traum und Realität omnipräsent sind, steht im Dialog mit thematisch verwandten Texten der Scapigliatura: Emilio Pragas «A un feto» aus dem Band Penombre (1864) beispielsweise, der einen Besuch im Naturkundemuseum mit einem Horrorkabinett konservierter anatomischer Exponate zum Anlass einer Meditation über die Theodizee nimmt. Zwar kann hier analog zu Boito der Positivismus keine Antwort auf die Sinnfrage geben und der Hoffnungsschimmer am Ende des Gedichts scheint ebenso auf die Möglichkeiten der Poesie zu verweisen, der in beiden Texten ausgesprochene 2_IH_Italienisch_69.indd 97 2_IH_Italienisch_69.indd 97 23.04.13 16: 05 23.04.13 16: 05 9 8 Vivisektion der Romantik: Arrigo Boitos «Lezione d’anatomia» Ludger Scherer dubbio ist hier jedoch vor allem auf Gott und nicht auf die Wissenschaft bezogen. Bernardino Zendrinis «Una lezione di anatomia» erschien 1871 in seinem Band Prime poesie, wird aber ungefähr zeitgleich mit Boitos beinahe gleichnamigem Gedicht entstanden sein. Die Unterschiede überwiegen jedenfalls, bleibt Zendrini doch bei der spätromantischen Kritik an der Sektion eines Herzens, das als Sitz der Gefühle idealisiert wird, und bei einem konventionellen Eskapismus stehen. Auch Giovanni Cameranas 1865 erschienenes Gedicht «Io sognai. Fu il mio sogno fantastico» steht vor allem durch die gemeinsamen Themen der schönen Leiche und der Gefährdung der Poesie durch die Wissenschaft in Beziehung zu Boitos «Lezione d’anatomia», weist jedoch keine anatomisierende Situierung auf. 7 Den interessantesten Intertext stellt Camillo Boitos Erzählung «Un corpo» (1870) dar, in dem Arrigos älterer Bruder einen jungen Maler seine schöne Geliebte Carlotta schließlich auf dem Seziertisch des unheimlichen Wiener Anatomen Karl Gulz wiederfinden lässt, die Wissenschaft demnach über die romantischen Gefühle zu triumphieren scheint. 8 Auf die Parallelen zur bildenden Kunst, die zahlreichen anatomischen Darstellungen von Rembrandt bis Giacomo Favretto und Gabriel von Max kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden, sie zeigen deutlich die Virulenz eines Themas und der damit verbundenen Reflexionen in den Künsten. 9 Boitos «Lezione d’anatomia» wird im Kontext der Scapigliatura entsprechend verbreitet als Ausdruck seines ‹antiromanticismo›, 10 als Zerstörung des Ideals durch den Realismus der Satire und als Sieg der Wissenschaft über die Kunst interpretiert. 11 Zerstört wird bei genauerem Hinsehen jedoch lediglich die romantisierende Illusion einer jungfräulichen Unschuld, mithin eine christlich fundierte Phantasievorstellung weiblicher Ideale, sowie der konventionelle Lyrismus spätromantischer Klischees. Weder die Schönheit an sich noch die Möglichkeit ihrer literarischen Darstellung wird dadurch in Abrede gestellt, dass traditionelle Muster ironisch entlarvt werden. Die makabre Schlusspointe kassiert zudem keinesfalls die im gesamten Gedicht greifbare Kritik am reduktionistischen positivistischen Materialismus. Als Lösung der existentiellen Zerrissenheit des Menschen kommt die derart diskreditierte Wissenschaft jedenfalls nicht in Frage, die Hilflosigkeit überkommener Kunstformen angesichts der Logik der Empirie ist allerdings deutlich geschildert. Die scapigliati haben sich intensiv mit den zeitgenössischen Fortschritten der Naturwissenschaften auseinandergesetzt, was bereits in der Liste paradigmatischer Wissenschaftler bei Boito zum Vorschein kommt: Neben Gründungsfiguren der Medizin (Hippokrates) und der experimentellen Wissenschaft (Francis Bacon) finden sich frühneuzeitliche Anatomen wie Andreas Vesalius, William Harvey und Andrea Cesalpino, von dem das lateinische Zitat stammt, die mit der Beschreibung des Blutkreislaufs und des Herzens als dessen zen- 2_IH_Italienisch_69.indd 98 2_IH_Italienisch_69.indd 98 23.04.13 16: 05 23.04.13 16: 05 99 Ludger Scherer Vivisektion der Romantik: Arrigo Boitos «Lezione d’anatomia» tralem Organ unmittelbar verbunden sind. Ein besonders interessanter Name ist in diesem Zusammenhang der Bakteriologe Robert Koch, der für den Nachweis des Tuberkelbazillus bekannt ist und damit eine sehr konkrete Verbindung zur tödlichen Krankheit des sezierten Mädchens etabliert. Diese Entdeckung gelang Koch jedoch erst im Jahr 1882, mithin 17 Jahre nach der Entstehung von «Lezione d’anatomia». 12 Was also auf den ersten Blick unmittelbar plausibel erscheint, weist Boitos Gedicht auf den zweiten Blick eine prophetische Qualität zu, die geeignet ist, den Erkenntnisvorsprung der Wissenschaft und ihren Primat über die funktionslose Kunst in Frage zu stellen. Zwar waren Kochs Forschungen wohl bereits in den 1860er Jahren in Italien derart bekannt, dass Boito ihn in seine illustre Liste paradigmatischer Wissenschaftler aufnahm, ohne notwendigerweise dabei an die verborgene Verbindung von romantischer Schwindsucht und deren positivistischer Diagnose zu denken. Das Beispiel zeigt jedoch, dass Boito und andere scapigliati sich bei ihrer kritischen Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften eindeutig auf der Höhe der Zeit und in genauer Kenntnis der Sachlage bewegten und eben kein vages romantisches Unbehagen an modernen Entwicklungen zu Papier brachten. Sie führten vielmehr einen Zweifrontenkrieg gegen verkrustete Kunsttraditionen auf der einen Seite und inhumanen Szientizismus auf der anderen Seite, der sehr wohl einen fundamentalen Erkenntnisgewinn auch in gesellschaftlich-wissenschaftlicher Hinsicht produzieren kann. Die italienische Scapigliatura holte, wie Boitos «Lezione d’anatomia» zeigt, die Romantik in ihrer europäischen Dimension für Italien ein Stück weit nach, überwand sie gleichzeitig und bewahrte doch den Autonomieanspruch der Kunst gegen alle positivistischen Banalisierungsversuche - sie kann demnach als bislang nicht genügend erforschte eigenständige Bewegung gesehen werden, deren spezifische Verschmelzung von Tradition und Innovation, nationaler und internationaler Kunst kein bloßes Übergangsphänomen und keinen ephimeren Betriebsunfall der Literaturgeschichte darstellt. Die dualistische Zerrissenheit der Kunst zwischen Idealismus und Realismus wird von Arrigo Boito und anderen scapigliati vielmehr bewusst ausgestellt und ausgehalten und als coincidentia oppositorum zum Wahrzeichen einer neuen Literatur erklärt. Übersetzung und Kommentar: Ludger Scherer 2_IH_Italienisch_69.indd 99 2_IH_Italienisch_69.indd 99 23.04.13 16: 05 23.04.13 16: 05 10 0 Vivisektion der Romantik: Arrigo Boitos «Lezione d’anatomia» Ludger Scherer Anmerkungen 1 Vgl. Arnold Jacobshagen, «Boito, Arrigo», in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2. Ausgabe. Hrsg. von Ludwig Finscher. Personenteil 3, Kassel: Bärenreiter 2000, S. 281-287. 2 Zitiert nach: Arrigo Boito, Il libro dei versi. A cura di Claudio Mariotti, Modena: Mucchi 2008, S. 101-105. 3 Vgl. zur Scapigliatura: Giuseppe Farinelli, La Scapigliatura. Profilo storico, protagonisti, documenti, Roma: Carocci 2003; Alessandro Ferrini, Invito a conoscere la scapigliatura, Milano: Mursia 1988; Elio Gioanola, La scapigliatura. Testi e commento, Torino: Marietti 1975; Gaetano Mariani, Storia della Scapigliatura, Caltanissetta / Roma: Sciascia 1967; Francesco Ogliardi/ Susanna Federici (a cura di), La Milano della Scapigliatura. Letteratura, arte, storia e costume, Pavia: Selecta 2006. 4 Mariotti (2008, S. 100) stellt konkret Baudelaires Gedicht «Une martyre» aus den Fleurs du Mal als direktes Vorbild für Boitos «Lezione d’anatomia» dar, was sicher so nicht zutrifft. 5 Entsprechend arbeiteten sich etliche scapigliati am Über-Dichter des vereinigten Italien ab, was jeweils differenziert und historisierend betrachtet werden müsste. Zum Verhältnis der Scapigliatura zu Manzoni vgl. beispielsweise: Renzo Negri (a cura di), Il ‹Vegliardo› e gli ‹Antecristi›. Studi su Manzoni e la Scapigliatura, Milano: Vita e pensiero 1978. 6 Vgl. Sabine Schrader, «‹L’Umorismo è la letteratura dello scetticismo› (Dossi) - Humor, Parodie und Absurdes in der Literatur der Scapigliatura», in: Ludger Scherer/ Rolf Lohse (Hrsg.), Avantgarde und Komik, Amsterdam/ New York: Rodopi 2004, S. 37-54. 7 Diese drei Paralleltexte, die in Kommentaren zu Boitos Gedicht beständig angesprochen werden, deren gründlichere Analyse neben den offensichtlichen Gemeinsamkeiten jedoch vor allem die Unterschiede zu Tage treten lassen würde, finden sich beispielsweise abgedruckt in: La poesia scapigliata. A cura di Roberto Carnero, Milano: BUR 2007, S. 120 -129, 294 -298, 397- 399. 8 Mariotti (2008, S. 100) vertritt die Lesart einer eindeutigen Abhängigkeit des Gedichts von der Erzählung und deutet beide als Sieg des Positivismus über die Romantik - was deutlich differenzierter zu interpretieren wäre. «Un corpo» erschien zuerst 1870 in Nuova Antologia, dann 1876 in Camillo Boitos Storielle vane. 9 Vgl. beispielsweise Alberto Carli, Anatomie scapigliate. L’estetica della morte tra letteratura, arte e scienza, Novara: Interlinea 2004, bes. S. 68 - 69. 10 So die Herausgeberin in: Arrigo Boito, Opere letterarie. A cura di Angela Ida Villa, Milano: Edizioni Otto/ Novecento 4 2009, S. 424. 11 Vgl. beispielsweise Mariotti 2008, S. 99 - 101; Carnero 2007, S. 203. 12 Meines Wissens weist nur Carnero (2007, S. 206) ebenfalls auf diesen Umstand hin. 2_IH_Italienisch_69.indd 100 2_IH_Italienisch_69.indd 100 23.04.13 16: 05 23.04.13 16: 05
