eJournals Italienisch 35/69

Italienisch
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Narr Verlag Tübingen
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2013
3569 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Marmaldesco und soldatessa

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2013
Edgar Radtke
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101 Sprachecke Italienisch Die Rubrik «Sprachecke Italienisch» stellt aktuelle Probleme und Tendenzen des Gegenwartsitalienischen vor und befasst sich mit Normierungsschwankungen, grammatischen Unsicherheiten, Neubildungen u. a. Dabei sollen möglichst auch Anfragen und Anregungen aus dem Leserkreis aufgegriffen werden, die die Dynamik des Gegenwartsitalienischen als «lingua […] in forte ebollizione» (F. Sabatini) präsentieren. Verantwortlich für die «Sprachecke Italienisch» ist Prof.Dr. Edgar Radtke (Universität Heidelberg): edgar.radtke@rose.uni-heidelberg.de. Marmaldesco und soldatessa Das Aufleben einiger Wörter, denen man geneigt ist, eine ansehnliche Wortgeschichte zu unterstellen, taucht mehr oder weniger sporadisch im Gegenwartsitalienischen auf und verdient einen Kommentar zur Kuriosität ihrer Wiederverwendung. Aus meiner Sammlung solcher Verdachtsfälle greife ich zwei Beispiele heraus, die für die lexikographische Behandlung wieder erstarkter Lexeme von Bedeutung sein könnten: La Repubblica vom 13. September 1992 schreibt auf Seite 1 im Artikel «Il carro di Craxi»: «Sparare su Craxi che si riforma se stesso è come sperare sulla Croce Rossa. Un esercizio marmaldesco e caricaturale.» [Kursivsetzung d.A.] Man ist geneigt, die Verwendung von marmaldesco als Eintagsfliege abzutun. Allerdings ist in jüngerer Zeit das Wort auch in einer Leserzuschrift in Il foglio.it greifbar: «Ci dovremo subire, invece, l’irreducibile e grottesca compagina depietrista dalla quale non c’è proprio speranza di sentir far un intervento che non sia di odio marmaldesco.» [Luciana Valent] (www.ilfoglio. it/ danton/ 457). Die gängigen einsprachigen Wörterbücher Zingarelli 2011 oder Sabatini-Coletti verzeichnen marmaldesco nicht, was unverständlich bleibt: Wenn marmaldesco in politischen Artikeln zwischen 1992 und 2009 verwendet wird - wenngleich selten -, scheint das Wort doch einen festen Platz einzunehmen mit der Konnotierung ironico oder scherzoso. Zur Ermittlung der Bedeutung ist auch auf marmaglia ‹gente disonesta dispregevole› und maramaldeggiare ‹fare il prepotente con i deboli› und maramaldesco zurückzugreifen: Die Wörterbücher führen marmaldo nicht. Dieses negativ konnotierte Adjektiv wird zudem mit diskutablem politischen Tun in beiden Zitaten in Zusammenhang gebracht. Wortgeschichtlich handelt es sich um die Umsetzung eines Eigennamens in ein allgemeines Lexem (dal nome proprio al nome comune gemäß Bruno Migliorini), wie es etwa für die pantaloni gilt, das als Ausgangspunkt auf die Figur des Pantaleone in der venezianischen Stegreifkomödie zurückgreift. Dem Begriff liegt der Heerführer Fabrizio Maramaldo 2_IH_Italienisch_69.indd 101 2_IH_Italienisch_69.indd 101 23.04.13 16: 05 23.04.13 16: 05 102 Marmaldesco und soldatessa Edgar Radtke (vor 1500 - 1552) zugrunde, der ein sehr bewegtes Abenteurerleben führte; so flüchtete er wegen des Mordes an seiner Ehefrau von Neapel nach Mantova. Militärisch erlangte er zunächst große Bewunderung ob seiner Strategien in der Belagerung von Asti (1526), seiner Teilnahme am Sacco di Roma von 1527 und der Belagerung von Monopoli im Jahre 1529. Die negative Konnotation rührt indessen von der Ermordung des gefangenen Francesco Ferruccio in der Schlacht von Gavinana 1530 her. Ab dem 19. Jahrhundert verfestigt sich das negative Bild von Maramaldo als Symbol für die Zusammenarbeit mit fremden Truppen zur Unterdrückung der Repubblica fiorentina, so dass sich maramaldo für ‹feige›, ‹hinterhältig› durchsetzen kann. Interessant ist auch die euphorisch bedingte Polymorphie von marmaldo und maramaldo. Zudem zeigt das Suffix -esco auch einen diskreten Hang zur depreziativen Konnotation an. Marmaldesco ist sicherlich kein Neologismus, sondern verfügt über eine jahrhundertealte Wortgeschichte, die leider keine Belege zu kennen scheint. Für das Italienische mit einer beeindruckenden Nationallexikographie stellt dies eine Kuriosität dar. Für die Materialsicherung wäre als erstes sicherlich eine systematische Materialexploration in der Romanproduktion des 17. Jahrhunderts angezeigt für eine historische Aufklärung des Begriffes, der sich bis heute in den politischen Journalismus gerettet hat und für die Bewertung der jüngeren italienischen Tagespolitik signifikant ist. Eine sprachhistorische Vertiefung verdient auch der Begriff soldatessa in einem Beleg aus La Repubblica vom 13. September 1992, S. 22: «Un’altra tradizione delle vecchia Inghilterra se n’è andata ieri quando nove soldatesse hanno partecipato per la prima volta dopo 150 anni al cambio della guardia di Buckingham Palace.» [Kursivsetzung d.A.] Soldatessa als Berufsbezeichnung ist nun zwar seit geraumer Zeit gang und gäbe, aber das Lexem lebt immer noch einen semantischen Konkurrenzkampf mit donna soldato. Die sogenannten neuen weiblichen Berufsbezeichnungen sind noch nicht alle eindeutig normiert, vielmehr greifen wie im Französischen mehrere Verfahren wie donna/ signora avvocato gegenüber avvocatessa in eine Dynamik ein, die auch konnotierte Formen bewusst kreiert: Die neutrale Form avvocato gewinnt gegenüber avvocatessa (Sabatini-Coletti: non comune) an Terrain, medico ebenso gegenüber medica und medichessa, was für Sabatini-Coletti als «antico» oder «scherzoso» gilt. Bei soldatessa hingegen verhält es sich etwas anders: Sabatini-Coletti definiert das Wort synonymisch mit donna soldato unter Hinzufügung einer Zweitbedeutung ‹donna dal fare soldatesco› mit scherzhafter Markierung. Auffällig ist auch die Datierung aus dem 18. Jahrhundert, so dass davon auszugehen ist, dass in diesem spezifischen Fall die konnotierte Bedeutung der Berufsbezeichnung vorausgegangen ist. Der Zingarelli verfährt gleichartig, differenziert aber zwischen dem uso femminile von 2_IH_Italienisch_69.indd 102 2_IH_Italienisch_69.indd 102 23.04.13 16: 05 23.04.13 16: 05 103 Edgar Radtke Marmaldesco und soldatessa soldato, dem seltenen soldata und natürlich soldatessa. Es stellt sich in der Gesamtentwicklung der letzten 20 Jahre die Frage, ob die Lexikographen nicht dazu übergehen sollten, donna soldato als eigenständiges Lexem aufzuführen, und zwar weniger als Komposition, sondern eher als präfigierende Markierung. Bei der Bewertung der Verteilung der drei Konstruktionsmöglichkeiten für die weiblichen Berufsbezeichnungen ist in erster Linie die Häufigkeit ausschlaggebend. Bei aller Vorsicht der Bewertung von Suchmaschinen gibt Google jedoch durchaus einen Anhaltspunkt für die Gebrauchsfrequenz: donna soldato liefert ca 1.800.000 Belege (einschließlich der Fotografien), soldata 710.000 Einträge und soldatessa 344.000 Belege. Ähnlich spiegelt diesen Sachverhalt auch donna avvocato mit ca. 606.000 Einträgen, avvocata 507.000 Belegen (unter Einschluss des Viertels L’Avvocata in Neapel u. a. m.) sowie avvocatessa mit 392.000 Elementen. Daraus könnte man kühn einen ersten Trend ablesen, dass die -essa-Formen zur Berufsbezeichnung eher rückläufig sind und ihre ironisch-scherzhafte Konnotation nicht aufgegeben haben zur Abgrenzung von donna + männliches Grundwort. Für ein abschließendes Urteil ist es jedoch noch viel zu früh. Edgar Radtke 2_IH_Italienisch_69.indd 103 2_IH_Italienisch_69.indd 103 23.04.13 16: 05 23.04.13 16: 05