Italienisch
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Narr Verlag Tübingen
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Fesenmeier Föcking Krefeld OttNicolai Lilin: Storie sulla pelle. Torino: Einaudi 2012, 240 Seiten, € 19,-
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Viktoria Adam
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14 0 Kurzrezensionen «Die kleine Baracke» hingegen beschreibt den Rückzugsort eines Ich, das offenbar nur noch über das Papier kommuniziert. Es bleibt unklar, ob es mit seinem explizit erwähnten Schreiben auf den vorliegenden Text verweist oder auf einen anderen, eigentlichen. Literarische Selbstreflexion, Naturbetrachtung und Idylle gehen hier eine nicht unbedingt originelle Verbindung ein. Eindrucksvoll bleibt jedoch die scheinbare Hermetik des mikroskopischen Blicks. Aus der gewählten Einsamkeit scheint keine Rückkehr möglich, sondern nur die wiederholte Isolation bei wechselnden Jahreszeiten. Aldemaro Tonis Miniaturen arbeiten das Singuläre, das Unscheinbare in schlichter Sprache heraus. Sie sind ein Beitrag zur zeitgenössischen italienischen Kurzprosa, der zwar nicht immer durch stilistische Brillanz besticht; gleichwohl ergänzt die Lektüre sinnvoll das Bild von der vielgestaltigen literarischen Produktion des Landes. Sven Thorsten Kilian Nicolai Lilin: Storie sulla pelle . Torino: Einaudi 2012, 240 Seiten, € 19,- Ende 2012 ist Storie sulla pelle, der vierte Roman von Nicolai Lilin, erschienen. Lilin ist ein Abkömmling der Urki, einer sibirischen Verbrechergemeinschaft, deren kriminelle Aktivitäten sich hauptsächlich auf Raubüberfälle erstrecken. Nach der Vertreibung aus ihrer Heimat Sibirien haben sich die Urki in Transnistrien, einer Region Moldawiens, angesiedelt. Dort wird Lilin 1980 in der Stadt Bender geboren und wächst unter den sibirischen Kriminellen auf, die ihm nicht nur die Gesetze der Verbrechergemeinschaft, sondern auch die sibirische Kunst der Tätowierungen nahebringen. Diese kulturelle Praxis begeistert ihn so sehr, dass er selbst zu tätowieren beginnt. Nach der Adoleszenz führt Lilins Lebensweg zunächst von Transnistrien in den Tschetschenien-Krieg, ehe er für eine israelische Sicherheitsfirma als Personenschützer arbeitet. 2004 emigriert Lilin schließlich nach Italien, wo er heute in Mailand lebt. Mit der Migration nach Italien beginnt für Lilin ein neues Leben als Schriftsteller. Lilin schreibt seine Werke eigenständig auf Italienisch, ohne mit Co-Autoren zusammenzuarbeiten, wie dies andere transkulturelle Schriftsteller tun, man denke etwa an den Senegalesen Pap Khouma. Sein künstlerisches 2_IH_Italienisch_69.indd 140 2_IH_Italienisch_69.indd 140 23.04.13 16: 05 23.04.13 16: 05 141 Kurzrezensionen Anliegen, den italienischen Lesern die Gepflogenheiten seiner Heimat zu vermitteln, nähert Lilins literarische Konzeption dem Werk anderer transkultureller Autoren, wie der somalisch-stämmigen Römerin Igiaba Scego oder der in Albanien geborenen Anilda Ibrahimi, an. Lilins Prosa oszilliert zwischen faktischer testimonianza und fiktivem racconto, ein charakteristisches Merkmal für die Texte transkultureller Autoren. Stilistisch sind Lilins Werke von einem mündlichen Erzählstil geprägt und von russischen Worten, Redewendungen, Märchen und Liedern durchzogen, die den Romanen ein authentisches Lokalkolorit verleihen. Nicht zuletzt weil Lilin den Rezipienten in die fremde Welt der Kriminellen eintauchen lässt, in der die Verbrecher das Gute und die Polizisten als Exekutive eines als korrupt und grausam skizzierten Staates das Böse repräsentieren, begeistern und polarisieren seine Romane das literarische Publikum. Über sein schriftstellerisches Engagement hinaus schreibt Lilin für die Zeitung La Repubblica und für L’Espresso. 2011 gründet der Autor in Mailand die kulturelle Vereinigung Kolima Contemporary Culture, die Kunstausstellungen und Lesungen organisiert. In einer ersten Ausstellung wurden dem Publikum Bilder und Skizzen von Tätowierungen Lilins unter dem Titel «Il tatuaggio siberiano / Ritorno alle origini» zugänglich gemacht. Lilins Werke sind keine autobiographischen, sondern autofiktionale Romane, die auf biographischen Erlebnissen des Autors basieren und diese im fiktiven Lebensweg der Hauptfigur spiegeln, die der Autor provokanterweise Nicolai nennt: Sein literarisches Debüt Educazione siberiana (2009), in der Regie von Gabriele Salvatores verfilmt, erläutert die Regeln der kriminellen Gemeinschaft, berichtet von ihrer ständigen Rebellion gegen den als feindlich empfundenen Staat und erzählt von brutalen Gewalttaten, deren Grausamkeit gerade durch ihre Schilderung als alltägliche Ereignisse betont wird. Zur authentischen Verdeutlichung dieser Lebensumstände hat Lilin seinem ersten Roman das folgende Motto der Urki als Epigraph vorangestellt: «C’è chi si gode la vita, c’è chi la soffre, invece noi la combattiamo.» Nachdem Lilins zweiter Roman Caduta libera (2010) den Romanhelden als Scharfschützen in den Tschetschenien-Krieg begleitet und das dritte Buch Il respiro del buio (2011) von der schwierigen Rückkehr des Protagonisten in die Zivilgesellschaft handelt, wendet sich Storie sulla pelle wieder der Jugend Nicolais zu und knüpft direkt an Educazione siberiana an. Als Fortsetzung des ersten Romans, der sich im Kapitel Quando la pelle parla mit dem Sujet des Tätowierens befasst, vertieft Storie sulla pelle die Darstellung der sibirischen Körperkunst und erhellt deren vielfältige Funktionen in der Gemeinschaft der Urki. Die Tätowierungen, welche die Körper der Sibirer bedecken, fungieren als identitätsstiftende Zeichen: In geheimnisvoller Symbolik verrätselt, berichten die Bilder vom Leben ihrer Träger. Die 2_IH_Italienisch_69.indd 141 2_IH_Italienisch_69.indd 141 23.04.13 16: 05 23.04.13 16: 05 142 Kurzrezensionen Geheimhaltung ihrer Bedeutungen, die auch der Autor meist aufrecht erhält, gewährleistet eine Abgrenzung gegenüber Außenstehenden. Wächter dieser alten Tradition sind die Tätowierer, kol`šik genannt, die in der kriminellen Gemeinschaft als Priester verehrt werden. Ihre Aufgabe ist es, die Biographien der Kunden in storie sulla pelle zu verwandeln. Lilins neuestes Werk zeichnet als postmoderner Bildungsroman die Ausbildung des Protagonisten zum Tätowierer nach. Das Buch erzählt von den ersten unbeholfenen Versuchen des Romanhelden, seinen Freunden mit einem Stift Bilder auf die Haut zu malen (Kapitel «Il marchio dei criminali onesti») und von seinen erfolglosen Bemühungen, zu erfahren, welche Ereignisse sich hinter den tätowierten Symbolen der Autoritäten verbergen («Il labirinto dei simboli»). Den Beruf des professionellen Tätowierers erlernt Nicolai schließlich bei dem renommierten Lëša, dessen Wohnung für den Protagonisten zum Ort der kreativen Selbstfindung wird: «La casa di nonno Lëša era il tempio del tatuaggio. Andavo da lui regolarmente, e ogni volta mi bastava metterci piede per sentirmi dentro un vortice di energia creativa che mi trasmetteva una voglia irrefrenabile di disegnare, di produrre, di avventurarmi nella tradizione.» (S. 67) In diesem Raum der Kunst vermittelt Lëša dem jungen Nicolai durch strenge Disziplin die Technik des Tätowierens, die Symbolik der Zeichen sowie eine komplexe Lebens- und Kunstphilosophie, die in der demütigen Einsicht in die Vergänglichkeit der Körperbilder kulminiert («Niente è per sempre»). Diese Haltung vertritt Lëša seinem Schüler gegenüber vehement: «Tieni sempre in mente una cosa: la materia e il tempo non hanno nessuna importanza, sono solo circostanze naturali della nostra esistenza. Quello che conta è la nostra vita, le nostre idee, che dobbiamo sparpagliare come i seminatori nei campi.» (S. 95) Nachdem der Roman zunächst diese ersten Etappen auf dem Weg Nicolais zum Tätowierer darstellt, werden im weiteren Verlauf exemplarische Lebensgeschichten und ihre bedeutungsvollen Zusammenhänge mit Tätowierungen fokussiert: Erzählt wird von Styopka, der seine Liebe zu einem Mann, die er aufgrund der Homophobie der Gesellschaft nicht leben kann, in einem Tattoo verewigen lässt, ehe er sich das Leben nimmt («La storia impossibile»), und von Pelmen, der als Strafe für eine regelwidrige Tätowierung grausam ermordet wird («Quello che non dovrebbe succedere»). Im Zentrum des letzten Kapitels, «Il marchio del demonio», steht der Ich-Erzähler selbst: Nicolai 2_IH_Italienisch_69.indd 142 2_IH_Italienisch_69.indd 142 23.04.13 16: 05 23.04.13 16: 05 14 3 Kurzrezensionen rächt sich für eine erlittene Demütigung heimtückisch am Anführer einer feindlichen Jugendbande und verletzt seinen Gegner so schwer, dass dieser zeitlebens im Rollstuhl sitzen muss. Nach dieser Tat tätowiert ihm Lëša eine schwarze Schlange als Zeichen des Bösen, das jedem Menschen innewohnt. Die unfreiwillige Tätowierung fungiert als Strafe und soll Nicolai fortan als Mahnung dienen, wie Lëša ihm eröffnet: «Questo serpente è il demonio che vive dentro di te… D’ora in poi, ogni volta che ti porterà sulla strada sbagliata, ti basterà guardarlo per ricordarti chi sei e da dove vieni, e per chiederti dove stai andando.» (S. 224) Ergänzt wird der Romantext von Tätowierungen aus Lilins Feder. Während bereits in Educazione siberiana einzelne Details von Tattoos abgedruckt sind, präsentiert Storie sulla pelle großflächigere Skizzen von Körperbildern, die jeweils eine Buchseite umfassen. Die intermediale Dimension, die aus der Kombination von Text und Bild entsteht, eröffnet einen spannungsvollen Assoziationsraum und ermöglicht dem Rezipienten eine visuelle Annäherung an die fremdartige Welt der sibirischen Tätowierungen. Abbildung aus dem besprochenen Band, S. 45. © Stefano Fusaro Diese Skizze einer Tätowierung findet sich im Kapitel «Il labirinto dei simboli». Auf den vorhergehenden Seiten wird von dem Entwurf einer Tätowierung für den Kriminellen Cigno erzählt, der eine orthodoxe Kirche mit neun Kuppeln zeigt (S. 43). Der Erzähler dekodiert das Bild folgendermaßen: Die Kirche steht symbolisch für das Gefängnis, während die Anzahl der Kirchtürme mit der Länge der Gefängnisstrafe, nämlich neun Jahren, korrespondiert (S. 44). 2_IH_Italienisch_69.indd 143 2_IH_Italienisch_69.indd 143 23.04.13 16: 05 23.04.13 16: 05 14 4 Kurzrezensionen Neben der intermedialen Komponente, welche die künstlerische Vielseitigkeit des Autors hervorhebt, besticht Storie sulla pelle durch Lilins ausschweifend-assoziativen Erzählduktus und durch die in wenigen Worten umrissenen Lebensläufe der brutalen, tragischen, leidenden, aber auch komischen, sympathischen und überaus menschlichen Antihelden. Im Laufe der Lektüre ergeben die biographischen Fragmente, wie die winzigen Details der sibirischen Tätowierungen, ein großes Ganzes - eine Hommage an die archaische Lebenswelt der Urki und an ihre symbolreiche Körperkunst, um die Lilins Roman-Kosmos kreist. Viktoria Adam Bibliographie Primärliteratur Nicolai Lilin: Educazione siberiana. Torino: Einaudi 2009. Nicolai Lilin: Caduta libera. Torino: Einaudi 2010. Nicolai Lilin: Il respiro del buio. Torino: Einaudi 2011. Nicolai Lilin: Storie sulla pelle. Torino: Einaudi 2012. Übersetzungen ins Deutsche Nicolai Lilin: Sibirische Erziehung. Aus dem Italienischen von Peter Klöss. Frankfurt: Suhrkamp 2010. Nicolai Lilin: Freier Fall. Aus dem Italienischen von Peter Klöss. Frankfurt: Suhrkamp 2011. Sekundärliteratur Martha Kleinhans (Hrsg.): Transkulturelle italophone Literatur - Letteratura italofona transculturale. Würzburg: Könishausen & Neumann 2013 (erscheint im 2. Halbjahr 2013). Verwiesen sei auch auf die Homepage des Autors: http: / / www.nicolaililin.com 2_IH_Italienisch_69.indd 144 2_IH_Italienisch_69.indd 144 23.04.13 16: 05 23.04.13 16: 05