Italienisch
ita
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Narr Verlag Tübingen
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2013
3570
Fesenmeier Föcking Krefeld OttErnst Robert Curtius und die Roma aeterna
121
2013
Frank-Rutger Hausmann
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19 F R A N K - R U T G E R H AU S M A N N Ernst Robert Curtius und die Roma aeterna Vorbemerkung Der vorliegende Beitrag ist ein weiterer Versuch, aufgrund bisher unerschlossener Archivmaterialien, vor allem persönlicher Briefe, die Biographie, die geistige und wissenschaftliche Formung, die intellektuellen Netzwerke und die institutionelle Einbindung bedeutender deutscher Romanisten (z.B. Karl Vossler, Leo Spitzer, Ernst Robert Curtius, Fritz Schalk, Hugo Friedrich) zu rekonstruieren und zu erhellen. Im Zentrum derartiger Untersuchungen stehen demnach diejenigen Fachvertreter, die man zu den ‹Gründervätern› der deutschsprachigen romanistischen Literaturwissenschaft in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts zählen darf. 1 Zugleich will der Beitrag ein Plädoyer für die Beschäftigung mit romanistischer Fachgeschichte sein, die immer noch zu wenige Adepten hat, obschon ohne eine Intensivierung derartiger Arbeiten eine zukunftsorientierte Selbstvergewisserung der deutschsprachigen Romanistik und die Bestimmung ihres Verhältnisses zu den romanischen Ländern und den dort betriebenen Forschungen kaum möglich ist. 2 Im Einleitungskapitel von Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (hinfort ELLMA) schreibt Ernst Robert Curtius den bedeutungsschweren Satz, dass man nur dann Europäer sei, «wenn man civis Romanus geworden ist» (S. 22). Curtius postuliert dies in einem doppelten Sinn, einem temporalen und einem spatialen. 3 Rom galt und gilt nicht nur ihm als der Ort, wo imperium, sacerdotium und litterae sich am eindrücklichsten manifestieren. Hier gibt es bis heute sichtbare Spuren der Größe und Bedeutung des Imperium Romanum, das im Mittelalter als Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation fortlebte, hier hat das universelle Papsttum bis heute seinen Sitz, hier wird Italienisch gesprochen, die romanische Sprache, die als Tochter des klassischen Lateins die größte Nähe zu dieser Mutter aller romanischen Sprachen aufweist, welche Jahrhunderte lang die Sprache des Rechts, der Katholischen Kirche und der abendländischen Universitäten war. Curtius (1886-1956), Romanist, Philologe, Literaturwissenschaftler, Komparatist, Kritiker, Journalist und Übersetzer in einem, 4 war der Auffassung, dass die europäische Literatur der europäischen Kultur zeitlich ‹koextensiv› sei und einen Zeitraum von etwa 26 Jahrhunderten (von Homer bis Goethe) umfasse. Man könne sie nur verstehen, wenn man diesen Zeitraum insgesamt überblicke. Das ist ein gewaltiger Anspruch, dem nur wenige gerecht werden können und konnten. Wem es gelang, den umgab die Aura eines ‹Meisters›, und nicht von ungefähr war der junge Curtius schon früh in den Bannkreis Stefan Georges geraten, wenngleich diese Beziehung nur ein 2_IH_Italienisch_70.indd 19 30.10.13 09: 25 20 Ernst Robert Curtius und die Roma aeterna Frank-Rutger Hausmann Jahrzehnt währte, bis unüberbrückbare Meinungsverschiedenheiten über die Bedeutung der modernen französischen Literatur eine Entzweiung bewirkten. Georges Rom-Skepsis scheint im übrigen kein Dissensthema zwischen beiden gewesen zu sein. 5 Wenn Curtius von der Roma aeterna spricht, klingt ein umfassendes Bildungsprogramm an, das sich am deutlichsten in Deutscher Geist in Gefahr kristallisiert, wo das erste Kapitel bezeichnenderweise «Bildungsabbau und Kulturhaß», das letzte «Humanismus als Initiative» lautet. Über Curtius’ romanità, die von einer italianità streng geschieden ist, 6 ist bereits Wichtiges geschrieben worden, 7 aber lassen wir ihn selber zu Wort kommen. In einem Brief an den engen Freund Jean de Menasce (1902 - 1973) schreibt er am 22. Dezember 1945: «1932 entdeckte ich in einem spanischen Gedicht des XV. Jhs. das Fortleben der römischen Tradition in Spanien - und zwar in der eigenartigen Form eines Kanons von Tugenden, die auf 12 Imperatoren verteilt waren - von Augustus bis Theodosius. In diesem Jahr - 1932 - wurde ich durch tiefe Erschütterungen meiner Psyche in einen Zustand von alternirender produktiver Spannung & schwerer Depression versetzt. Ich schrieb ‹Deutscher Geist in Gefahr›, brach dann zusammen, mußte Jung in Zürich consultiren. Es war eine schwere Krise, in der ich später die unbewusste Anticipation des Grauens erkannte, das 1933 begann. Aus der Krise kam aber auch Heilung. Einem psychischen Zwang folgend warf ich mich auf das Studium der mittellateinischen Literatur. Ich hielt zwei grosse Vorlesungen darüber. Es bedeutete psychisch die Polarisierung um die Roma aeterna. Sie wirkte in mir als Archetyp im Jungschen Sinne, und d.h. zugleich als ein mit vielfältiger Bedeutung und Energie geladenes Symbol. Es war als wäre ein Riegel gesprengt, ein Tor durchbrochen. Ich konnte das geliebte und heilige Rom als Leitstern meines Forschens und Sinnens wählen. Besser gesagt: es wählte mich, den Deutschrömer. Der Weg nach Rom mußte durch das Mittelalter führen, das für mich nun zugleich eine archaische Schicht meines Bewußtseins bedeutete. So entstanden bis Sept. 1944 22 MA-Studien, in deren Verfolg ich immer neue Einsichten gewann. Ich durfte die tiefsten Leitideen allerdings nicht aussprechen, denn sie waren profund antiteutonisch. Im Sommer 44 konnte ich das I. Kapitel meines Buches entwerfen. Darin werden die historischen Complexe ‹lateinisches MA›, ‹Romania›, ‹Literatur›, ‹Tradition›, ‹Europa› explicirt. Das Schlußkapitel wird Dante gewidmet sein, dessen Verwurzelung in 2_IH_Italienisch_70.indd 20 30.10.13 09: 25 21 Frank-Rutger Hausmann Ernst Robert Curtius und die Roma aeterna der lat. Dichtung des 12. Jhs. bisher nicht gesehen worden ist. Das ganze wird eine tiefgehende Revision der europäischen Bildungsgeschichte darstellen, wenn ich es vollenden kann, was bei dem Fehlen der meisten wissenschaftlichen Hilfsmittel schwierig ist. Auch gehören dazu vitale Reserven, die uns fehlen». 8 Curtius’ Rombild ist in langen Jahren gewachsen. Dabei darf man nicht vergessen, dass er in den Jahren 1920 bis 1930 zu den aktivsten Vorkämpfern einer deutsch-französische Aussöhnung gehörte. 9 In seinem Schrifttum spielt Rom in dieser Zeit vordergründig zwar keine besondere Rolle, aber es ist als Grundlage und Hintergrund stets präsent. Man könnte von einer ‹Latenzphase› sprechen. Dabei ist festzuhalten, dass das moderne Italien und seine Kultur für Curtius nur von nachrangiger Bedeutung waren. 10 Harald Weinrich hat in dem Aufsatz «La Boussole européenne d’Ernst Robert Curtius» die räumlichen Bindungen des großen Romanisten feinsinnig herausgearbeitet. Er erweckt jedoch den Eindruck, als ob die verschiedenen Ausrichtungen in Konkurrenz zueinander stünden. Das mag für die einzelnen Länder (Deutschland, Großbritannien, Italien, Frankreich, Luxemburg, Schweiz, Spanien, Italien, USA) zwar zutreffen, denen Curtius in den verschiedenen Phasen seines Lebens mal mehr, mal weniger Aufmerksamkeit schenkte, doch ist Rom für ihn kein nationaler Ort, sondern eine kulturelle Größe, die allen Gebildeten gehört und zur Verkörperung von Curtius’ Europakonzept insgesamt wird. Ausgearbeitet und bis in die Tiefe durchdacht wird dieses Konzept jedoch erst ab dem Augenblick, als Curtius glaubt erkennen zu müssen, dass eine deutsch-französische Verständigung nicht möglich sei. Die Gründe für seinen Zweifel können hier nicht ausführlich dargestellt werden. Neben persönlicher Empfindlichkeit ist vor allem das Ausbleiben einer von ihm herbeigesehnten ‹europäischen Kultursynthese› 11 für seinen Rückzug aus den deutsch-französischen Aussöhnungsbestrebungen verantwortlich. Für deren Scheitern stehen symbolisch die Treffen (Dekaden) im Burgundischen Pontigny, an denen Curtius 1922 und 1924 teilnahm. Danach sagte er sein Kommen ab und machte Vertretern des von ihm für einen fruchtbaren deutsch-französischen Diskurs als ungeeignet erachteten Pazifismus Platz. Als Weltkriegsteilnehmer im Range eines Leutnants, der vor Ypern von einem britischen Scharfschützen schwer verletzt worden war, pochte er bei aller Verständigungsbereitschaft auf seinen deutschen Patriotismus. Allenfalls in der Elsassfrage war der in Thann, im damaligen Reichsland Elsass-Lothringen Geborene bereit, Konzessionen zu machen. Man hat Ernst Robert Curtius gelegentlich ein falsches und unreflektiertes Geschichtsverständnis und einen blinden Traditionalismus 12 vorgeworfen, doch derartige Äußerungen greifen zu kurz und berücksichtigen zu wenig 2_IH_Italienisch_70.indd 21 30.10.13 09: 25 22 Ernst Robert Curtius und die Roma aeterna Frank-Rutger Hausmann die historische Situation, aus der heraus er argumentiert: Angesichts der geschichtlich gewachsenen nationalen Differenzen bietet ihm der Rückgriff auf die römische Antike als die gemeinsame Wurzel des westlichen Europa ein allen Westeuropäern zugängliches und wichtiges Ideenreservoir, um zu einem friedlichen und harmonischen Miteinander zu finden. Man mag dieses Konzept für konservativ, elitär und weltfremd halten, doch es entbehrt, betrachtet man Curtius’ Werdegang im Rahmen der politischen Umbrüche, nicht der Folgerichtigkeit und basiert auf nachvollziehbaren geschichtsphilosophischen Überlegungen. 13 Vorausgeschickt sei, dass Curtius Rom über Griechenland stellt 14 und sich damit vom Neuhumanismus und Philhellenismus des 19. Jahrhunderts abwendet, wie ihn sein Großvater Ernst (1814-1896) als Professor in Göttingen und Berlin vertreten hatte, ein anerkannter Archäologe, Althistoriker und Klassischer Philologe, der hauptamtlich an der Ausgrabung von Olympia beteiligt war. 15 Möglich, dass Curtius mit ihm, den er als philologisches Vorbild durchaus respektierte, 16 nicht konkurrieren wollte und daher nicht Altphilologie, sondern Romanistik, Anglistik und Philosophie in Straßburg und Berlin studierte. Dennoch empfand er es später als Makel, nicht Altphilologie studiert zu haben, obwohl er mühelos griechische, lateinische und spätwie mittellateinische Texte las 17 und in einer Art Überkompensation mit Altphilologen und Archäologen in speziellen Lektürekursen (Graeca; Latina) im privaten Kreis wetteiferte. Seine Rombegeisterung ist zugleich auch eine Absage an jegliches Heidentum und ein Bekenntnis zum Christentum. Dieses war für ihn trotz seiner streng protestantischen Herkunft nicht konfessionell ausgerichtet, und alle Gerüchte, er sei später zum Katholizismus konvertiert, entbehren der Grundlage. 18 Von französischen Freunden, die den Schritt der Konversion dennoch taten, sagte er selbstbewusst, er sei ‹katholischer› als sie und müsse daher nicht konvertieren. Angesichts einer intensiven Curtius-Forschung 19 ist es erstaunlich, dass seine verschiedenen Rom- und Italien-Aufenthalte bisher noch nicht im Zusammenhang betrachtet worden sind. Es handelt sich um die Jahre 1912, 1924, 1925/ 26, 1928/ 29, 1930, 1934/ 35, 1936/ 37, 1954/ 55 und 1956. Bedauerlich ist in diesem Zusammenhang, dass das von Wolf-Dieter Lange gemeinsam mit seinem Schüler Christoph Dröge seinerzeit initiierte Projekt einer Ausgabe der Korrespondenz Curtius’ durch Dröges frühen Tod nicht verwirklicht werden konnte. Es gibt kaum einen Gelehrten des 20. Jahrhunderts, der ein so passionierter und zugleich geistreicher Briefschreiber war wie Curtius. In wahrhaft humanistischem Sinn war der Brief für ihn, der die Arbeit am Schreibtisch öffentlichen Auftritten bei Vorträgen oder Kongressen vorzog, als Begleiter seiner Publikationen das zentrale Medium des privaten wie des wis- 2_IH_Italienisch_70.indd 22 30.10.13 09: 25 23 Frank-Rutger Hausmann Ernst Robert Curtius und die Roma aeterna senschaftlichen Austauschs. Viele Briefe haben Essay-Charakter. Eine systematische Suche nach von ihm verfassten und in diversen Bibliotheken außerhalb des Bonner Nachlasses (Universitäts- und Landesbibliothek) bzw. der Marbacher Bestände (Deutsches Literaturarchiv) aufbewahrten Briefen ergab inzwischen eine Zahl von über 1000, die bisher noch nicht ausgewertet worden sind. Hinzu kommen etwa 200 ganz oder teilweise edierte und kommentierte Briefe. Aus diesem Material sollen im folgenden die wichtigsten Passagen, die sich auf Curtius’ Rom- und Italien-Bild beziehen, in Auszügen mitgeteilt und kommentiert werden. 20 Curtius erweist sich als ein aufmerksamer und origineller Beobachter, dem es gelingt, in wenigen Sätzen die Atmosphäre der von ihm besuchten Städte und Stätten zu charakterisieren, wobei er gleichermaßen archäologische, historische, landschaftliche und städtebauliche Gesichtspunkte erfasst. Er hat im übrigen kein Problem damit, sich ohne Identitätsverlust der römischen Alterität anzupassen, da für ihn beide zusammengehören und in ihrer Hybridität besonders produktiv werden. Im Januar 1912 war Curtius an einer Lungenentzündung erkrankt und reiste im Februar zur Erholung nach Italien. Die Etappen seines dortigen Aufenthalts waren Sestri Levante (Anfang Februar bis Anfang März), Pisa und Florenz. Dann ging es weiter nach Rom, wo er am 22. März eintraf und bis Mitte April blieb. 21 Die Quelle für den Florenz-Aufenthalt war bisher ausschließlich der mit Friedrich Gundolf geführte Briefwechsel. Der einzige darin enthaltene Brief aus Florenz (7.3.1912), geschrieben nach einem Besuch der Laurenziana und ihrer Umgebung, ist abwartend: «Ich habe noch nicht verarbeitet, dass ich jetzt in Florenz bin. Dazu brauche ich Zeit. Ich will noch ein paar Wochen hierbleiben». 22 Nach knapp einer Woche hatte Curtius jedoch genug von der Arno-Metropole; Mittelalter und Barock sollten ihm stets wichtiger sein als die Renaissance und der Quattrocento-Humanismus. Vielleicht störten ihn gewisse heidnische Züge dieser Epoche. 23 Venedig beeindruckte ihn mehr als Florenz. Er bewunderte vor allem die politische Organisation des Staates, die Kirchenarchitektur Palladios und die Gemälde Tintorettos. Diese Hervorhebung ist das Ergebnis von drei Besuchen, in deren Verlauf er auch andere Kunstwerke und Künstler für sich entdeckte. 24 Bei einem Paris-Besuch im Oktober 1926 lernte er im Pariser Musée Jacquemart- André die Quattrocentisten Carlo Crivelli und Marco Basaiti kennen, deren Gemälde er über alle Florentiner stellte, ein Urteil, das vermutlich nur wenige Betrachter teilen werden, das aber für Curtius’ Originalität und Eigenständigkeit des Urteils spricht. Doch zurück zum Jahr 1912. Aus dieser Zeit sind, wie angedeutet, nur wenige briefliche Zeugnisse erhalten. Auf einer Postkarte an den Studienfreund Franz Dornseiff (1888-1960), einen eminenten Altphilologen und Allgemeinen Sprachwissenschaftler, der den Italianisten als Übersetzer von 2_IH_Italienisch_70.indd 23 30.10.13 09: 25 24 Ernst Robert Curtius und die Roma aeterna Frank-Rutger Hausmann Dantes De vulgari eloquentia (1925; Reprint 1966) bekannt ist und sich zu diesem Zeitpunkt in Paris aufhielt, schreibt Curtius von der Überwältigung durch das Romerlebnis. So sehr er auch Paris liebe, weshalb er immer wieder dorthin reise, wo er zahlreiche Freunde aus Frankreich und aus aller Welt treffe, mit Rom könne sich selbst Paris in kultureller Hinsicht nicht messen. 25 Daher drängt Curtius darauf, dass auch Dornseiff nach Rom gehe, weshalb dieser kurz vor Kriegsausbruch für einige Zeit dorthin fuhr. 26 Wir erfahren nebenbei, dass Curtius und andere Zeitgenossen ihre Italienreisen mit den Führern des Schweizers Theodor Gsell Fell (1818-1898) vorbereiteten, die auch nach dessen Tod fortgeschrieben und überarbeitet wurden. Aber Curtius kannte natürlich auch literarisch anspruchsvollere Reiseliteratur, die er später seinen Schülern empfahl, wenn sie erstmals nach Italien gehen wollten, z.B. Graf Paul Yorck von Wartenburg (Italienisches Tagebuch, hrsg. von Sigrid v.d. Schulenburg, 1927) oder Friedrich Noack (Das Deutschtum in Rom, 1927). 27 Ein besonderes Erlebnis war Curtius’ Begegnung mit dem späteren Literaturnobelpreisträger und Deutschlandfreund Romain Rolland (1866- 1944), die das Rom-Erlebnis von 1912 «mit den wachen Interessen an der zeitgenössischen französischen Literatur zu einem umfassenden und in Rom grundgelegten Europa-Erlebnis» harmonisiert. 28 Beide treffen sich zufällig am 12. April in den Stanze Vaticane (Stanze di Raffaello), doch wagt Curtius, der Rolland erkennt und ihm bis in die Sixtinische Kapelle folgt, nicht, ihn anzusprechen. Eine zweite Begegnung ergibt sich, wieder zufällig, in der Galerie des Palazzo Doria. Erneut ist Curtius zu schüchtern, auf Rolland zuzugehen. Doch als er ihn ein drittes Mal im Park der Villa Doria Pamphili kreuzt, versteht der Sternen- und Horoskop-Gläubige dies als höhere Fügung, spricht den Dichter, Kritiker und Musiksachverständigen stammelnd an und schreibt ihm noch am gleichen Abend einen Brief, in dem er sich zu erkennen gibt. Rolland antwortet ihm freundlich und erklärt Rom zum Symbol einer möglichen europäischen Einigung, auch zwischen Frankreich und Deutschland, denen die mörderische Auseinandersetzung zweier blutiger Weltkriege allerdings noch bevorstand: «C’est de ces collines romaines qu’on embrasse le mieux le spectacle de notre Occident, et que nos nations divisées se fondent toutes en une harmonie pareille à celle qu’offre Rome, vue, le soir, du haut du Janicule. - C’est à réaliser cette harmonie que nous devons travailler, hommes de toutes races et de toutes nations. Les luttes mêmes de nos peuples ne doivent pas nous en empêcher». 29 Curtius wird diesen Appell, dessen Tragweite man nicht hoch genug schätzen kann, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs aufgreifen und in die Tat umzu- 2_IH_Italienisch_70.indd 24 30.10.13 09: 25 25 Frank-Rutger Hausmann Ernst Robert Curtius und die Roma aeterna setzen versuchen. Der briefliche Kontakt zwischen beiden überdauerte zwar das Kriegsende, schlief jedoch um 1926 ein. Rolland verübelte Curtius seine allzu enge Freundschaft mit André Gide, dessen Werk ihm aus ethischen wie literarischen Gründen missfiel. Curtius durchstreifte Rom bei diesem ersten Besuch systematisch. Die nach den heftigen Überschwemmungen von 1870 und 1876 einsetzende Modernisierung der Stadt, die in der Zähmung des Tiber durch Einbettung zwischen hohen Travertinmauern ihren sichtbarsten Ausdruck fand und der am Ufer zahlreiche Bauten zum Opfer fielen, stieß bei ihm auf Ablehnung. 30 Er wollte Rom offenbar in seiner historischen Substanz erhalten wissen. Dieser erste Rombesuch prägte sein Rombild besonders stark; der Besuch im Jahr 1928 sollte allerdings nicht minder eindrücklich sein. Im Jahr 1924 reiste Curtius zweimal nach Italien, wobei er Rom nur streifte: Zu Beginn des Jahres besuchte er Südtirol und Oberitalien (Trient, Verona, Vicenza), im Herbst Süditalien (Paestum, Pompeji, Capri und Neapel). Diese Reisen dienten dem besseren Kennenlernen Gesamtitaliens und ermöglichten einen weiteren Vergleich Roms mit anderen italienischen Städten und Sehenswürdigkeiten. Über Oberitalien berichtet Curtius in der Luxemburger Zeitung bewundernd, soweit es die Bau- und Kunstwerke angeht, ironisch bis ärgerlich, soweit der Faschismus und der offenbar damit einhergehende Modernismus betroffen waren: «Die kleinen dunkelhäutigen Soldaten, die hier überall das neu erworbene Gebiet verteidigen, wirken in ihrer theatralisch zugestutzten Gebirgler-Uniform schauspielerhaft und komisch. Die Staatsweisheit Mussolinis hat den Namen Tirol verboten, aber an der Deutschheit dieses Landes ändert sie ebensowenig wie das Umtaufen von Gossensaß in Colle d’Isarco oder von Sterzing in Vipiteno. Erst Trient empfängt uns als wirkliche italienische Stadt.» «Es muß heraus: die Geschmacklosigkeit der Italia modernissima ist schlechtweg beängstigend. Diese pseudo-amerikanischen Bars, diese Prunkhotels, diese Architektur, die aus einer widernatürlichen Mischung von Jugendstil und türkischen Bädern entstanden scheint, diese Zirkuspracht gibt es in keinem andern Lande. Ein liebenswürdiger Museumsdiener will uns Bewunderung abnötigen vor dem Bild eines zeitgenössischen Meisters, das in einem Rahmen aus vergoldeten Reisigbündeln gefaßt ist - wahrhaft symbolisch.» 31 2_IH_Italienisch_70.indd 25 30.10.13 09: 25 26 Ernst Robert Curtius und die Roma aeterna Frank-Rutger Hausmann Von der Herbstreise 1924, über die wir nur wenig wissen, fehlt ein journalistischer Niederschlag. Curtius’ Urteile über die besuchten Orte sind im allgemeinen treffsicher, und auch der heutige Reisende kann sie noch nachvollziehen. Er ist aufgeschlossen für die Antike, aber Pompeji vermag ihn vom künstlerischen Standpunkt aus nicht zu begeistern, da er zu Recht die Repräsentativität des durch die Lavamassen Konservierten in Zweifel zieht. 32 Es vergehen vier Jahre, bis Curtius nach Italien zurückkehrt, diesmal, um ganz zum ‹Römer› zu werden. Das ihm im Winter 1928/ 29 zugestandene Freisemester verlebt er fast vollständig in Rom (27.10.1928 bis 11.3.1929). 33 Er wohnt, längst ein wohlbestallter Ordinarius mit festem Einkommen, im heute noch bestehenden Grand Hotel de Russie in der Via del Babuino in der Nähe der Piazza del Popolo. Das Hotel befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft der Casa di Goethe (Via del Corso 18), und die Nähe Curtius’ zu Goethe, nicht nur dem von «Sonnensehnsucht» getriebenen Italienreisenden Goethe, kann nicht oft genug betont werden. 34 Seit dem 1. März 1928 amtierte Curtius’ ehemaliger Heidelberger Kollege und (nicht mit ihm verwandter) Namensvetter, der Archäologe Ludwig Curtius (1874-1954) als Direktor der Abteilung Rom des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI). 35 Beide waren miteinander befreundet, gingen später zum vertraulichen Du über, und Curtius war ständiger Gast im DAI wie in der Privatwohnung des Archäologen in der Via del Corso. Er erhielt durch ihn nicht nur Zugang zu noch in der Erschließung befindlichen Grabungsstätten, sondern nahm rege am gesellschaftlichen Leben des DAI teil. Die Nachmittage verbrachte er lesend in der Bibliotheca Hertziana im Palazzo Zuccari, die wegen der jüdischen Herkunft der Stifterin 1934 in Kaiser-Wilhelm-Institut für Kunst- und Kulturwissenschaft umbenannt wurde: 36 «Rom ist eine Welt und so wenig zu erschöpfen ‹wie die Welt überhaupt› (Ranke). In diese Welt genau einzudringen, sie langsam abzumessen, ihre Gestalt zu überschauen - das ist Sinn und Glück meines Hierseins. Auf der schönsten Treppe der Welt (der ‹spanischen›) steige ich, am Sterbehaus von Keats vorbei, zur Hertziana empor, der intim-reizvollsten aller Bibliotheken und lese, lese: über Päpste, Architekten, Villen, Gärten, Antikes, Barockes, Napoleonisches, Christliches und Heidnisches. Und morgens wandere ich in eins der hundert Stadtviertel die es zu erforschen gilt und betrachte einige Monumente. Es ist ungeheuer, was auf einen eindringt, an jedem Punkt spürt man Ignoranz und Wissensdurst. In der Lokalgeschichte Roms die Weltgeschichte von Staat, Gedanke, Kunst zu erspüren - das ist das ferne und leuchtende Bildungsziel.» 37 2_IH_Italienisch_70.indd 26 30.10.13 09: 25 27 Frank-Rutger Hausmann Ernst Robert Curtius und die Roma aeterna Curtius verdankte seiner mütterlichen Freundin Eugénie Sellers Strong (1860- 1943) nicht nur den Umgang mit zahlreichen ausländischen Gelehrten und Künstlern, die sich in ihrem römischen Salon trafen, 38 sondern auch mit Vertretern der britischen und italienischen Hocharistokratie, die ihn eher amüsierten als beeindruckten. 39 Sellers Strong, Tochter eines englischen Weinhändlers und einer perigourdinischen Adligen, hatte u.a. in Deutschland bei Adolf Furtwängler und seinem Schüler Ludwig Curtius Archäologie studiert und mehrere archäologische Bücher aus dem Deutschen ins Englische übersetzt. Sie galt als Spezialistin für griechische und römische Plastik und hatte dazu einschlägig publiziert. Die mehrsprachige Wissenschaftlerin hatte 1897 den Kunsthistoriker und Arabisten Sandford Arthur Strong (1863-1904) geheiratet, der viele Jahr das Amt des Librarian of the House of Lords verwaltete. Sie lebte nach seinem Tod meist in Italien und wurde zu einer römischen Institution. Im Jahr 1938 erhielt sie für ihr Engagement die Goldmedaille der Stadt Rom. Später warf man ihr Nähe zum Faschismus und zum Duce vor, was bei einer Archäologin nicht allzu sehr verwundert, da Mussolini diese Wissenschaft außerordentlich förderte. Eugénie Sellers Strong war eine überzeugte Katholikin und nahm Curtius unter ihre Fittiche. Eine umfangreiche Korrespondenz zeugt von enger Vertrautheit. Beide korrespondierten wahlweise auf Englisch, Französisch oder Deutsch. Sie versorgte ihn mit archäologischer Fachliteratur (auch eigener) wie mit englischer Belletristik und zeigte und erklärte ihm römische Kirchen und Bauwerke. Besonders wichtig wurde für ihn Geoffrey Scotts Buch The Architecture of Humanism: A Study in the History of Taste (1914), auf das sie ihn hinwies. 40 In der Hertziana lernte Curtius am 16. November 1928 endlich den Hamburger Privatgelehrten Aby (Abraham Moritz) Warburg (1866-1929) persönlich kennen, nachdem er bei früheren Hamburgbesuchen regelmäßig in der von diesem und seinem Mitarbeiter Fritz Saxl (1890-1948) begründeten Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (K.W.B.) gearbeitet hatte. Warburg war Gast bei Ernst Steinmann (1866-1934), dem Direktor der Hertziana, 41 der ihm auch die deutsche Kolonie vorstellte. Der Bamberger Germanist Dieter Wuttke hat diese Begegnung minutiös rekonstruiert. 42 Am 6. Dezember hielt Warburg in kleinem Kreis einen Vortrag über sein Lieblingsprojekt, den sog. Mnemosyne-Atlas («Mnemosyne». Bilderreihe zur Untersuchung der Funktion vorgeprägter antiker Ausdruckswerte bei der Darstellung bewegten Lebens in der Kunst der europäischen Renaissance), eines der wichtigsten Werke der sog. Ikonologie. 43 Warburg zeigte keine Diapositive, sondern ging während seines zweistündigen Vortrags im Saal umher, an dessen Wänden die Abbildungen mit thematisch verwandten Sujets hingen. Die ikonologische Vorgehensweise zielt auf die Zusammenstellung visueller Cluster, die bestimmte thematische Bildbereiche abdecken. Warburg geht dabei davon 2_IH_Italienisch_70.indd 27 30.10.13 09: 25 28 Ernst Robert Curtius und die Roma aeterna Frank-Rutger Hausmann aus, dass die Malerei eine Art kollektives Gedächtnis ist, in dem emotionale menschliche Grunderfahrungen gespeichert werden. Die Analogie zu der später von Curtius in seinem vielleicht bekanntesten Werk (Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter) entwickelten Topologie ist evident. Waren die Topoi, so Curtius, ursprünglich Hilfsmittel für die Ausarbeitung von Reden, veränderten sie mit dem Untergang der griechischen Stadtstaaten und der römischen Republik ihren Zweck und drangen in die Poesie ein: «Ihr kunstvoll ausgebautes System wurde Generalnenner, Formenlehre und Formenschatz der Literatur überhaupt. […] Damit gewinnen die topoi auch eine neue Funktion. Sie werden Klischees, die literarisch allgemein verwendbar sind, sie breiten sich über alle Gebiete des literarische erfaßten und geformten Lebens aus. Wir sehen in der Spätantike aus dem veränderten Lebensgefühl neue topoi entstehen. Dies zu verfolgen wird eine unserer Aufgaben sein» (ELLMA, S. 79 - 80). Nicht von ungefähr wird Curtius dieses Buch seinem Straßburger Lehrer Gustav Gröber (1844-1911), zugleich aber auch Aby Warburg widmen, dessen Darlegungen ihn hinfort in seinem wissenschaftlichen Leben begleiten sollten. Da Warburg bereits am 26. Oktober 1929 starb, wurde Curtius zu einem seiner wirkmächtigsten ‹Schüler›, der die kunsthistorischen Ideen des Meisters auf die Literaturwissenschaft übertrug. Am 11. März 1929 kehrte Curtius schweren Herzens nach Heidelberg zurück, 44 das er schon bald verlassen sollte. Am 2. Januar hatte ihn in Rom ein Ruf des Preußischen Kultusministeriums an die Universität Bonn, an der er sich 1913 habilitiert hatte, erreicht. Kurz vor seiner Abreise war die Unterzeichnung der Lateranverträge erfolgt, die das Papsttum mit dem italienischen Staat versöhnten. Curtius sah die Unterzeichnung in einer Vorform der Wochenschau. 45 Dieses Ereignis schien ihm aus den verschiedensten Gründen «als die ästhetisch großartigste Verwirklichung der konservativen Idee» und ließ andere fast zeitgleiche Ereignisse wie den Briand-Kellogg-Pakt zur Ächtung des Kriegs (geschlossen am 28. August 1928) in den Hintergrund treten. Curtius’ Sympathie für das Papsttum erstaunt, aber zu diesem Zeitpunkt war der Höhepunkt seiner katholisierenden Neigungen erreicht, nicht zuletzt unter dem Einfluss von Eugénie Sellers-Strong. 46 Die Bonner Rufannahme bildete einen tiefen Einschnitt. Der 45-jährige gab sein Junggesellendasein auf und heiratete Ilse Gsottschneider, eine 21 Jahre jüngere Romanistin aus Mannheim. Die Hochzeitsreise führte das Paar im März 1930 nach Rom, das Curtius seiner jungen Frau als ausgewiesener Kenner zeigte. 47 So unbeschwert sollten beide jedoch nie wieder dorthin 2_IH_Italienisch_70.indd 28 30.10.13 09: 25 29 Frank-Rutger Hausmann Ernst Robert Curtius und die Roma aeterna gelangen. Im Jahr 1931 war Rom nur Zwischenstation auf der Reise nach Ischia und Spanien. In den ersten Jahren der NS-Herrschaft waren Auslandsreisen, zumal in das faschistische Italien, im Prinzip unproblematisch, wären nicht die Beamtengehälter gekürzt worden (Curtius selber beklagte die Kappung seiner Kolleggeldgarantie um 50%) und ausländische Devisen äußerst knapp gewesen. So musste Curtius seine für Ostern 1934 geplante Italienreise zunächst absagen. Er bedauerte dies außerordentlich, da er das Bedürfnis verspürte, sich diesmal auch mit der italienischen Gegenwart zu beschäftigen, um, wie er sagte, adäquat über die Literatur der älteren Epochen sprechen zu können, 48 möglicherweise aber auch, um über Deutschlands wichtigen Bündnispartner besser Bescheid zu wissen. Über Weihnachten konnte das Ehepaar Curtius dann doch nach Rom reisen und letztmalig bei Ludwig Curtius wohnen, der wegen des Todes seiner Frau Edith (1932) zum Jahresende seine große Wohnung aufgab. Diesmal war Ernst Robert Curtius von Rom enttäuscht. Da sich das faschistische Italien nicht anders als Hitlerdeutschland international isoliert hatte, fehlten die Touristen, die zuvor das bunte Treiben der Tiberstadt bereichert hatten, so dass Rom einen eher tristen Eindruck hinterließ. 49 Auch im DAI machte sich ein neuer Wind bemerkbar, da das Berliner Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung auch die Auslandsinstitute gleichschaltete. 50 Dennoch blieb Ilse Curtius nach der Abreise ihres Mannes Anfang Januar 1935 noch in Rom, um fern von Deutschland eine schwere Angina auszukurieren. Curtius holte sie nach Semesterende in Rom ab, beide reisten nach Capri und kehrten am 19. März über Florenz nach Deutschland zurück. 51 Von einem Aufenthalt im Winter 1936/ 37 kennen wir das genaue Datum nicht, doch diente er wiederum dazu, den grauen deutschen Alltag hinter sich zu lassen, was nicht nur klimatisch, sondern auch politisch zu verstehen ist. 52 Kriegs- und nachkriegsbedingt konnten Curtius und seine Frau Ilse erst im Jahr 1954 nach Rom zurückkehren. Die Verbindung zu Rom und Italien war in der Zwischenzeit jedoch von Schülern wie Karl Eugen Gass (1912- 1944), Gustav René Hocke (1908-1985), Werner Ross (1912-2002), Herbert Frenzel (1913-1968) u.a. aufrechterhalten worden, die als Stipendiaten, Lektoren oder Mitarbeiter in Kulturinstituten im Lande lebten. 53 Curtius war zwar am 30. April 1951 emeritiert worden und damit endlich Herr seiner Zeit, doch im Herbst 1952 erkrankte er schwer (Schlaganfall, Leberentzündung) und sollte sich nie wieder richtig erholen. Lange Zeit konnte er kaum sprechen, noch länger gar nicht oder nur mühsam seinen Namen schreiben. Der jahrelange Raubbau der Kräfte, insbesondere die bis in den frühen Morgen dauernde Nachtarbeit, forderte seinen Tribut. Anfang November 1954 2_IH_Italienisch_70.indd 29 30.10.13 09: 25 30 Ernst Robert Curtius und die Roma aeterna Frank-Rutger Hausmann flog das Ehepaar Curtius nach Rom, bezog ein kleines Appartement in der Pensione Fabrello-Wright (11, Via Vittoria Colonna), um dort den Winter zu verleben und der nördlichen Kälte zu entfliehen. Doch wie hatte sich alles verändert! Nicht nur die Stadt, in der Curtius kaum noch Freunde hatte, 54 sondern der Reisende selber, der nostalgisch von einem Rom träumte, das es nicht mehr gab und das ein Stück weit ohnehin nur in seiner Imagination bestanden hatte. 55 In der Ewigen Stadt erreichte ihn die Nachricht von der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Sorbonne, aber er konnte sich, obwohl er erst der dritte Deutsche war (Albert Einstein 1929, Franz Volhard 1933), dem diese hohe Ehre zuteil wurde, nicht aufraffen, um den Romaufenthalt zu unterbrechen, nach Paris zu fahren und die Urkunde nebst den Insignien (ein blau-rotes Schulterband mit Hermelinbesatz) entgegenzunehmen. Nur langsam gewöhnte er sich wieder an das römische Leben und genoss den Abstand zu Bonn und zu Deutschland. 56 Zum festen Ritual wurde am späten Nachmittag wieder der Gang zur Spanischen Treppe, um dort bis zum Sonnenuntergang zu verweilen und dem Gewimmel der Menschen zuzuschauen. Curtius ließ es sich nicht nehmen, an der Gedenkfeier aus Anlass des 80. Geburtstags des am 10. April verstorbenen Ludwig Curtius (13. Dezember 1954) im DAI teilzunehmen und sich seinen Rom verklärenden Erinnerungen hinzugeben. 57 Hin und wieder wurden Ausflüge unternommen, z.B. zur Hadriansvilla bei Tivoli, der Horazvilla in Licenza oder anderen Orten in der Umgebung Roms (Subiaco, Palestrina, Ostia Antica). 58 Erst am 19. April 1955 kehrte das Ehepaar Curtius über Zürich nach Deutschland zurück. Doch die Sehnsucht nach Italien war keineswegs gestillt, sie wurde im Gegenteil immer heftiger, so dass beide beschlossen, im Herbst 1955 nach Rom zurückzukehren. Curtius plante, seinen 70. Geburtstag am 14. April 1956 mit ausgewählten Freunden auf Sizilien zu feiern, musste diesen ‹staufischen› Gedanken jedoch aus gesundheitlichen Gründen schon bald wieder aufgeben. Am 12. Dezember 1955 verließ er mit seiner Frau Bonn, um, diesmal mit der Eisenbahn, über Zürich nach Rom zu reisen. Wieder wurde in der gleichen Pension wie im Vorjahr Quartier bezogen. Briefe von Curtius aus dieser Zeit sind nicht erhalten. Er war zu geschwächt, um noch in der alten Manier regelmäßig und ausführlich zu korrespondieren. So sind wir auf knappe Andeutungen angewiesen. Auch dieser Aufenthalt verlief zunächst kaum anders als der vorhergehende. Als Curtius’ 70. Geburtstag nahte, kam sein engster Freund, der Schweizer Literaturkritiker Max Rychner (1897-1956), nach Rom, um mit ihm zu feiern, doch er fand einen Schwerkranken vor, der schon bald in eine römische Klinik eingeliefert werden musste. Gemeinsam mit Gustav René Hocke leistete Rychner dem Kranken jeden Tag Gesellschaft. In einem Brief an Carl Jacob Burckhardt, der ebenfalls mit Curtius befreundet war, berichtet Rychner (11.5.1956) von dessen würdevollem Ende: 2_IH_Italienisch_70.indd 30 30.10.13 09: 25 31 Frank-Rutger Hausmann Ernst Robert Curtius und die Roma aeterna «Am Nachmittag besuchte ich jeweils den kranken Ernst Robert in dem winzigen weißen Zimmerchen der Poliklinik, wo er in seinem blauen Pullover lag und las (bis zum vorletzten Tage). Ich musste Bericht erstatten, was ich gesehen habe, er freute sich darüber, als wäre er dabei gewesen und lenkte meine Schritte noch da- und dorthin. ‹Die Consulta! - Und unbedingt die Villa Adriana! › Junge plappernde Lernschwestern kamen herein und gingen, ein Kapuziner pflanzte sich am Fussende des Bettes auf und stellte mit Stentorstimme indiskrete Fragen, erhielt aber keine Antwort, sondern nur einen bolzgeraden verweilenden Blick, der ihm bald unheimlich wurde, sodass er fortging. Die ärztliche Behandlung hatte Roms Loeffler [= Prof. Luigi Condorelli], einer der besten Internisten, übernommen; er tat wohl alles, was seine Kunst heute vermag. Jeden Morgen Besuch mit einem Schweif von Assistenten, orakelhaft vieldeutige Auskünfte. Die Leber begann ihren Dienst aufzusagen, nachdem im Januar eine Bronchopneumonie und eine doppelseitige Mittelohrentzündung dem geschwächten Körper schon zugesetzt hatten. Den 70. Geburtstag mit seinen Stössen von Telegrammen, Blumen, Briefen genoss er noch mit lebendiger Freude. Sein letztes Wort war ‹aufmachen› - es klingt, als habe der grosse Philologe noch einmal zitiert. Nichts von ‹letztem Willen› usw., nichts über seine Lage, nichts von Abschied. Alles fest und männlich, bis zuletzt, grossartig. […] Jeden Tag ging ich zur Klinik an einer langen roten Ziegelmauer hin, an deren einer Ecke hunderte von Votivtäfelchen hingen, dahinter war das Castrum der kaiserlichen Praetorianer. Da haben sich junge Germanen aus der Rheingegend militärisch zurecht schleifen lassen und Latein gelernt und sind mit dem Vielvölkerwillen des Imperiums geladen worden. Fast zweitausend Jahre später lag neben ihrer Kaserne ihr sterbender Landsmann, der ihren Dienst im Zusammenhang mit den obersten uns fassbaren Vorgängen geistiger Schöpfung und Überlieferung gesehen hat, auch er dienend, aus einem Willen, der weither kam und nicht nur der seine war. Usw. es gibt da kein Ende». 59 Ernst Robert Curtius starb am 19. April, fünf Tage nach seinem 70. Geburtstag, in der vorerwähnten Klinik. Sein Leichnam wurde nach Freiburg überführt und im Familiengrab auf dem dortigen Hauptfriedhof beigesetzt. Wenn der französische Schriftsteller und Wahlitaliener Stendhal (Marie- Henri Beyle) sich als Epitaph den italienischen Text «Arrigo Beyle Milanese / Scrisse / Amò / Visse» aussuchte, so hätte sich Ernst Robert Curtius einen 2_IH_Italienisch_70.indd 31 30.10.13 09: 25 32 Ernst Robert Curtius und die Roma aeterna Frank-Rutger Hausmann ähnlichen Spruch ersinnen können: «Ernesto Roberto Curzio Romano / Scrisse / Criticò / Visse». 60 Die Liste der europäischen, zumal der deutschen Italienreisenden ist lang und reicht bis ins Mittelalter zurück. Den späteren Deutschen gab Goethe die Richtung vor, der nach diversen Anläufen im September 1786 nach Italien reiste und dort bis Mai 1788 blieb. 61 Sein Interesse galt vor allem der Antike, aber in seinen Aufzeichnungen verzeichnet er auch naturwissenschaftliche, architektonische und folkloristische Beobachtungen. Ernst Robert Curtius hat, wie wir sahen, nach den ersten Besuchen Zeitungsartikel veröffentlicht und ein Rom-Tagebuch geführt, doch sind seine Briefe die wichtigste Quelle, da sie erlauben, die aufeinander folgenden Romaufenthalte zu rekonstruieren und in ihrer Bedeutung für seinen Werdegang als Literaturhistoriker und Literaturkritiker auszuloten. Seine Vorstellung, dass Rom in seiner historischen, architektonischen und geistig-künstlerischen Gesamtheit die Verkörperung der europäischen Bildung sei, hat ihn durch die Jahre hindurch begleitet. Ausdruck hat er diesem Konzept in seinem bis heute immer wieder aufgelegten Werk Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter verliehen: «Deutsches Kaisertum und römisches Imperium, heidnisches und kirchliches, augustinisches und dantisches Geschichtsdenken - das sind nur einige von den Spannungen, die der Romgedanke enthielt. Aber die waren alle geformt und ausgetragen in der Sprache Roms, die auch die Sprache der Bibel, die der Väter, der Kirche, der kanonisch gewordenen römischen auctores, endlich die der mittelalterlichen Wissenschaft war. Sie alle gehören in das Bild des ‹lateinischen Mittelalters› und machen seine Fülle aus» (ELL- MA, Ausg. 1967, S. 39 - 40). Dies war jedoch, und Ernst Robert Curtius ist immer für Überraschungen gut, nicht sein letztes Wort in Sachen ‹Mittelalter› und ‹Humanismus›. Im Anschluss an einen mehrmonatigen USA-Aufenthalt (vor allem in Aspen / Colorado, Taos / New Mexico, Boston / Massachusetts, Princeton, New Jersey, New York und Washington) in der zweiten Hälfte des Jahres 1949 62 nahm er an seiner nach 1968 viel gescholtenen ‹kulturhegemonialen› 63 Abendlandideologie deutliche Abstriche vor und forderte, «aus dem engen Europäismus» herauszutreten. Er hatte wohl erkannt, dass die politische wie die kulturelle Hegemonie Europas durch den Zweiten Weltkrieg beendet worden war, wenngleich europäische Kultur in abgewandelter Form in den USA nicht nur weiterlebte, sondern neu erblühte. Fast prophetisch ist es, wenn er die Auseinandersetzung dieser euro-amerikanischen Kultur mit den großen Kulturen Asiens vorausahnt. Allerdings denkt er dabei nicht nur an Indien und 2_IH_Italienisch_70.indd 32 30.10.13 09: 25 3 3 Frank-Rutger Hausmann Ernst Robert Curtius und die Roma aeterna China, sondern auch an die seit dem Ausbruch des Koreakriegs 1950 von ihm gefürchtete Sowjetunion, deren Territorium mehrheitlich in Asien lag. Etwaige Besorgnisse überspielt er jedoch mit Ironie, zumal wenn er den abendländischen Humanismus mit dem Humanismus der sozialistischen Regimes vergleicht: «Nein, man kann heute nicht mehr für den Humanismus plädieren, so wenig wie für die Wiedereinführung des Spinnrades oder für die Abschaffung des Rundfunks. An Absterbendes und Abgestorbenes soll man keine Energien wenden. Die antike Kultur ist heute so schön, wie sie immer war und immer sein wird, aber sie ist nicht mehr ‹mit Libido besetzt›, wie die Psychoanalytiker sagen. Und das ist begreiflich, denn wir stehen in einem Zeitalter, in dem sich ein kultureller Austausch und Ausgleich zwischen Europa und Amerika vollzieht; und wir treten in ein anderes, in dem die euroamerikanische Kultur den großen Kulturen Asiens begegnen wird. […] Wie schattenhaft heute der Begriff Humanismus schon geworden ist, ersieht man daraus, daß sich die meisten Leute nichts Bestimmtes mehr darunter vorstellen können. In der ersten Nachkriegsphase - vom Waffenstillstand zum Währungsschnitt - wurden wenige Schlagwörter in der öffentlichen Diskussion so abgegriffen wie Humanismus. […] Dem Humanismus ging es damals gerade so wie der Demokratie. Das heißt bekanntlich Volksherrschaft. Aber wir sind inzwischen belehrt worden, daß es neben der gewöhnlichen Demokratie noch eine Volksdemokratie gibt. Sie ist ihrer älteren Schwester sehr unähnlich. Der alte Humanismus und der neue - sei er nun existenziell oder … volksdemokratisch - sind feindliche Brüder». 64 Dieser Text ist wortwörtlich zweimal erschienen, am 27. Februar 1952 in Die Neue Zeitung, der Vorläuferin der heutigen Süddeutschen Zeitung, und am 1. März 1952 in der Zürcher Tageszeitung Die Tat, das erste Mal mit dem Titel «Das verlöschende Licht von Hellas», das zweite Mal als «Antike und Humanismus». Curtius’ Einsicht überrascht, aber sie meint keine grundsätzliche Infragestelltung von ELLMA, einem Buch, das dem Nachleben der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts gewidmet ist, und sie mindert auch nicht die Rolle Roms. Denn ‹Humanismus› ist für ihn nicht identisch mit abendländischer Tradition, sondern ein lebensfremdes Konstrukt des Quattrocento in Italien und der klassischen Altertumswissenschaft des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts vor allem in Deutschland. Dieser ‹Humanismus›, so Curtius an gleicher Stelle, habe spätestens durch die Selbstpreisgabe der deutschen 2_IH_Italienisch_70.indd 33 30.10.13 09: 25 3 4 Ernst Robert Curtius und die Roma aeterna Frank-Rutger Hausmann Universitäten im Frühjahr 1933, in denen die Altertumswissenschaften seit den Zeiten Wilhelm von Humboldts eine tragende Rolle gespielt hätten, seine Existenzberechtigung verspielt. ELLMA ist in erster Linie ein historisches Buch und kein Manifest, wie dies Deutscher Geist in Gefahr noch sein wollte, doch ist seine Botschaft zeitlos, auch wenn sie nur noch wenige Adepten überzeugt und zu eigener geistiger Tätigkeit anregt: «Das Studium der griechischen und römischen Literatur wird aus unseren öffentlichen Zuständen verschwinden. Aber was heißt das? Es kann zu einem geheimen Schatz werden. Wer den Schlüssel suchen will, kann ihn immer finden» (ebd., S. 66). Dennoch fällt auf, dass Curtius nach den «Büchertagebüchern» nichts Neues mehr geschrieben hat. Die Gründe sind vielfältig: die Horizonterweiterung durch die USA-Reise, die Furcht vor einer Sowjetisierung, die durch den Korea-Krieg angeheizt wurde, eine schwere und langwierige Erkrankung, der von ihm konstatierte Verfall der Bildung, die Emeritierung und der Rückzug ins Private. Es verwundert daher nicht, dass der doppelte Romaufenthalt von 1954/ 55 und 1955/ 56 von Curtius’ wissenschaftlichem Verstummen geprägt wird, und dass auch der unermüdliche Briefschreiber die Feder aus der Hand legt. Abstract . Ernst Robert Curtius (1886-1956), cattedratico a Marburg, Heidelberg e Bonn, è considerato fino ad oggi uno dei massimi rappresentanti della romanistica tedesca. Ciò è dovuto essenzialmente al fatto che, al di là dell’essere stato un eccellente filologo, si è fatto un nome anche come storico della letteratura, critico, saggista, traduttore, giornalista e polemico. La letteratura dei ‹suoi› paesi (Francia, Gran Bretagna, Italia, Spagna e Stati Uniti) non la conosceva solo a livello teorico: era di casa in egual modo a Parigi, Londra, Roma, Madrid e Washington, aveva avuto modo di conoscervi persone che, nel corso dei suoi viaggi, gli erano divenute amiche. Ma è stata Roma a conquistare un posto di riguardo nel cuore di Curtius. Dopo un primo viaggio compiutovi nel 1912, ebbe modo di tornare più volte nella Città Eterna che, a suo avviso, rappresentava la quintessenza della cultura e dell’educazione europea. Roma non era stata solo la capitale dell’Impero Romano e luogo d’incoronazione degli imperatori tedeschi, era anche sede del Papato e proprio da Roma si era propagato il latino, madre di tutte le lingue romanze. Benché nei primi anni della Repubblica di Weimar Curtius avesse svolto un ruolo fondamentale nelle trattative di ripacificazione franco-tedesche, era Roma che ai suoi occhi rappresentava l’ideale umanistico, l’unico in grado di superare gli antagonismi nazionalistici. Questo pensiero lo ritroviamo non solo nella sua opera del 1932 Deutscher Geist in Gefahr (‹Lo spirito tedesco in pericolo›), ma soprattutto nel suo libro forse più importante - e non a caso edito e tradotto numerose volte - Europäische Literatur und 2_IH_Italienisch_70.indd 34 30.10.13 09: 25 35 Frank-Rutger Hausmann Ernst Robert Curtius und die Roma aeterna lateinisches Mittelalter (1948; trad. ital. Letteratura europea e Medioevo latino, 1993). La sua visione dell’Umanesimo occidentale venne però messa in discussione quando, nella seconda metà del 1949, fu professore ospite negli Stati Uniti ed ebbe, pertanto, modo di conoscere - ed apprezzare - la vitalità intellettuale dei suoi colleghi d’Oltreoceano. L’obiettivo di questo contributo è quello di analizzare, sulla base di alcune lettere di Curtius finora sconosciute, come l’immagine di Roma che lo scrittore ha sviluppato si sia trasformata nel corso delle sue numerose visite. Anmerkungen 1 Vgl. zuletzt Hausmann (2010). 2 Für Abdruckgenehmigungen, Auskünfte und Hilfe danke ich: Walter Gsottschneider (Königstein i.T.); Dr. Carl Friedrich Curtius (Bad Münstereifel); Prof. Dr. Wolf-Dieter Lange (Bonn); Dr. Claudia Mertz-Rychner (Frankfurt a.M.); Pietro Lazagna (Genua); Prof. Dr. Rudolf Smend (Göttingen); Dr. Chiara Polverini (München); Prof. Dr. Wolfgang Asholt (Osnabrück). - Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen; Universitätsbibliothek Leipzig; London, British Library; Universitäts- und Landesbibliothek Bonn; Cambridge, Girton College Archive; Madrid, Archivo de la Fundación José Ortega y Gasset-Gregorio Marañón; Oxford, Bodleian Library, Special Collections; Archiv des Verlags der Autoren im Universitätsarchiv Frankfurt a.M. 3 Zur Bedeutung der Spatialität vgl. Doris Bachmann-Medick, «Spatial Turn», in: Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek: Rowohlt-Taschenbuch-Verlag 2006, S. 284-328. 4 Zu Leben und Werk des Romanisten vgl. vor allem Christmann (1987), Berschin / Rothe (1989), Lange (1990), Lausberg / Arens (1993) und Jacquemard-de Gemeaux (1998). 5 Vgl. z.B. Georges Gedicht «Romfahrer». Aufschlussreich in diesem Kontext ist Rolf P. Lessenich: «Der Philologie-Begriff bei Ernst Robert Curtius», in: Lange (1990), S. 85-97, hier S. 91 f. ROMFAHRER Freut euch dass nie euch fremdes land geworden Der weihe land der väter paradies Das sie erlöst vom nebeltraum im norden Das oft ihr sang mehr als die heimat pries. Dort gaukelt vor euch ein erhabnes ziel Durch duft und rausch in marmor und paneelen Dort lasset ihr vom besten blute viel Und ewig fesselt eure trunknen seelen Wenn euch verderbenvoll der schöne buhle … Wie einst die ahnen denen dürftig schien Die kalte treue vor dem fürstenstuhle: Wunder der Welt! Und sänger konradin! Durch euer sehnen nehmt ihr ewig teil An froher flucht der silbernen galeeren Und selig zitternd werfet ihr das seil Vor königshallen an den azur-meeren. 2_IH_Italienisch_70.indd 35 30.10.13 09: 25 36 Ernst Robert Curtius und die Roma aeterna Frank-Rutger Hausmann 6 Vgl. Anm. 51. 7 Vor allem Lange (1995). 8 Original Paris, Bibliothèque du Saulchoir, APDF fonds Menasce, cote V-626; franz. Abschrift W.-D. Lange, Bonn. - Ich danke Herrn Kollegen Lange für die Überlassung seiner Unterlagen. Vgl. auch seinen Aufsatz «‹Permets-moi de recourir une fois de plus à ta science›. Ernst Robert Curtius und Jean de Menasce», in: Lange (1990), S. 199-216. 9 Vgl. z.B. Grosse Kracht (2002), S. 151 f. mit weiteren Hinweisen. 10 Vgl. seinen Brief vom 29.5.1942 an Karl Eugen Gass (vgl. Anm. 53), wo es heißt: «Es ist sehr schön, daß Sie die italienischen Verhältnisse so genau kennen gelernt haben, das wird Ihnen für eventuelle spätere Lehrtätigkeit sehr zugute kommen. Aber, da Sie, wie Sie schreiben, von Illusionen frei geworden sind, werden Sie sich nicht verhehlen, daß Italien nach der Renaissance dem modernen Geist nur noch sehr wenig hat geben können. Es kann sich in dieser Hinsicht mit Frankreich, England, Deutschland nicht entfernt messen. Daher glaube ich auch nicht an eine Culturvermittlung zwischen It. & Dtl. Goethe & Burckhardt haben alles was für uns bedeutsam ist, der deutschen Bildung einverleibt. Es besteht bei uns auch keinerlei Bedürfnis nach moderner ital. Cultur». 11 Grosse Kracht (2002), S. 157 (mit Bezug auf Hoeges, 1994, der den von Ernst Troeltsch geprägten Begriff der ‹europäischen Kultursynthese› in die Diskussion eingeführt hat). 12 Vgl. z.B. Todd (2005), bes. S. 199; Gumbrecht (2002), vor allem das Kapitel «‹Zeitlosigkeit, die durchscheint in der Zeit›. Ernst Robert Curtius’ unhistorisches Verhältnis zur Geschichte», S. 49-71, hier S. 50: «Für un-übernehmbar halte ich vor allem sein unhistorisches Verhältnis zur Geschichte». 13 In diesem Zusammenhang ist besonders ein ausführlicher Brief (Bonn, 8.3.1938) an José Ortega y Gasset wichtig, aus dem ein Stück mitgeteilt werden soll: «Ich möchte nur historisch-concretes erkennen. ‹Erkennen› ist eine eminent aktive Haltung. Man kann das historisch-concrete damit auflösen, analysieren, begreifen. Aber der Hintergrund dieser Aktivität ist für mich ein Geborgensein in den Urgründen oder Urdingen, die man verehrt, nicht analysiert. Denn sie sind ewiger als die Geschichte und wir leben auch in der Geschichte nur recht, wenn wir im Kern unseres Wesens jenseits der Geschichte leben: sub specie aeternitatis. Auch die Philosophien sind, von hier aus gesehen, ‹nur› konkrethistorisch. Sind diese Ansichten prähistorisch? Genug, wenn sie für mich mit Leben und Sterben verbunden sind. - Halten Sie mich aber nicht für einen bloßen Widerspruchsgeist! Weil ich vom Historischen fascinirt bin, kann ich auch die Philosophie nicht entbehren! Der geistige Synchronismus zwischen uns beiden ist mir dafür die beglückendste Bestätigung» (Original Madrid, Archivo de la Fundación José Ortega y Gasset-Gregorio Marañon C-9/ 44). - Auch in einem Brief aus Princeton (21.10.1949) an den gleichen Adressaten thematisiert Curtius das Thema: «Man schreibt mit 63 anders als mit 39. Nicht Ihnen habe ich mich entfremdet, wohl aber - in gewissem Masse - der Philosophie. Dafür bin ich der Geschichte näher gerückt; einer ausserphilosophischen Geschichtsanschauung, deren Meister für mich Goethe, Ranke, Burckhardt sind. Diese Wandlung ist mir wohl bewußt; sie bedeutet Entfaltung meiner Entelechie. Ich muss sie aussprechen. Das sind Divergenzen unserer Naturen; aber nichts, was als Negation gedeutet werden könnte und dürfte» (Original Madrid, Archivo de la Fundación José Ortega y Gasset- Gregorio Marañon C-9/ 36). 14 Gleich zu Beginn seines dreimonatigen Romaufenthalts im Winter 1928/ 29 schreibt Curtius (Rom, 30 Oct. [1928]) an den ehemaligen Marburger Kollegen Paul Jacobsthal (1880-1957), einen bedeutenden Archäologen, der 1935 infolge der nationalsozialistischen Rassengesetze nach Oxford emigrierte: «Ich hielt es im Norden nicht mehr aus 2_IH_Italienisch_70.indd 36 30.10.13 09: 25 37 Frank-Rutger Hausmann Ernst Robert Curtius und die Roma aeterna und bin seit vorgestern hier, glücklich wie in einer wiedergefundenen Heimat. Ich will 3 Monate hier bleiben, eventuell im Dec. oder Januar einen Abstecher nach Griechenland machen, wozu [Werner] Technau mich auffordert, während L.[udwig] Curtius abrät. Aber [Herbert] Koch rät wiederum zu. Und für mich liegt die Sache ja so, dass ich nie die Energie haben werde, allein Griechenland zu besichtigen. Wenn ich es überhaupt tun soll, dann muss jemand, der mir sympathisch ist und mit dem ich mich gut unterhalten kann, sich meiner annehmen. Technau proponirt einen Reiseplan von 3 Wochen, der Athen, Delphi, Sparta umfassen soll. Und er würde mich begleiten und mir alles zeigen. Finden Sie nicht, dass man von einer solchen Gelegenheit profitiren sollte? » (Original Oxford, BL Special Collections Jacobsthal Box 2 BWA 4). Curtius verzichtete auf die Griechenland-Reise und schrieb Jacobsthal wenig später (s.d.): «Auch Technau erregt sich brieflich darüber dass ich so wenig nach Hellas begehre. Aber was wollen Sie? Tizian ist mir mehr als Apelles, M[ichel] Angelo mehr als Myron, Dante mehr als alle Tragiker zusammen. Ich merke erst hier, wie nordisch ich bin. Das geht soweit dass ich manchmal Sehnsucht nach Breughel habe. Jedenfalls ist die Malerei des Nordens gigantisch neben dem röm. & bologn. Manierismus. Drei Welten sind es die mich hier leidenschaftlich anziehen: 1) Kaiserzeit (Kolosseum & Ara Pacis), 2) christl. Antike (S. Clemente etc), Barockarchitektur (SM in Campitelli, Bernini-Kolonnaden, Piazza Navona etc.). Aber mit den antiken Statuen im Vatikan & auch im Thermen Museum weiß ich nicht viel anzufangen. Der nackte römische Redner, den wir im Louvre betrachteten, ist mir bedeutender als alles was ich hier sehe - mit Ausnahme viell. des gealterten Augustus (als Pont. Maximus) im Thermen- Museum. - Der Thron der Aphrodite ist ja schon schön, aber mit einer Beimisch[un]g von archaischer Curiosität, die ich nicht sehr goutire. Aber das Ganze! Dieser mächtige Strom von Geschichte & Tradition, in den man hier eintaucht. Das ist ja der Grund weshalb man sich hier so geheimnisvoll ‹zuhause› fühlt. Darum muss man die Stadt kennen & lange in ihr leben. […] Wenn ich hier nur einen archäol. Führer & Belehrer hätte. Aber LC [= Ludwig Curtius] gibt sich dazu nicht her. Teils macht er stramm Verwaltung, teils gewollt liebenswürdig Geselligkeit, teils träumt er seinen Griechentraum, den ich für ebenso fiktiv halte wie den Winckelmanns oder Hölderlins. Zum Winck.[elmann]-Fest sprach er über ‹Römische Kunst›, für mein Gefühl sehr unbefriedigend und schlagworthaft» (ebd.). 15 Henning Wrede: «Olympia, Ernst Curtius und die kulturgeschichtliche Leistung des Philhellenismus», in: Annette M. Baertschi / Colin G. King (Hrsg.): Die modernen Väter der Antike: die Entwicklung der Altertumswissenschaften an Akademie und Universität im Berlin des 19. Jahrhunderts, Berlin [u.a.]: de Gruyter 2009, S. 165-208. 16 Vgl. dazu den Hinweis des Philosophen Hermann Glockner, seines Heidelberger Mitbewohners im Haus des Philosophen Heinrich Rickert (dem sog. Rickertianum): «Auch mit Curtius hatte ich ein recht interessantes Gespräch, das von der Betrachtung der schönen Marmorbüste seines Großvaters ausging, die mir wie jedem Eintretenden sofort in die Augen fiel. ‹Schon mein Großvater Ernst Curtius galt für einen Philologen moderner Art›, meinte ER. ‹Ich habe ihn auch stets als mein Vorbild betrachtet und die Ideale des klassischen Humanismus hochgehalten, obwohl ich freilich weitgehend ins Essayistische abgetrieben worden bin. Schon über meine Arbeitsweise hätte sich der alte Herr doch wohl gewundert. Ich arbeite mit einer Assistentin [=Dr. Eva (Rechel-)Mertens], die mir das ganze Material jeden Tag so vorbereitet auf den Schreibtisch legt, daß ich selbst auch nicht ein einziges Zitat nachzulesen brauche. Das beständige Suchen und Herumlesen unterbricht den künstlerischen Gestaltungsprozeß in der peinlichsten Weise, finde ich - obwohl ich natürlich ein Gelehrter bin und bleiben möchte. […] In den romanischen 2_IH_Italienisch_70.indd 37 30.10.13 09: 25 3 8 Ernst Robert Curtius und die Roma aeterna Frank-Rutger Hausmann Ländern arbeiten die Kollegen schon längst auf diese Art›» (Heidelberger Bilderbuch, 1969, S. 255). 17 Vgl. seinen Brief (s.d., ca. Juli 1939) an den Göttinger Historiker Siegfried A. Kaehler: «Wer keine philologische Schulung hat, kann auch nicht mehr interpretiren. Und die Interpretation muss Basis & Centrum aller Sprach- & Literaturwissenschaft sein. Heute lernt man das nur noch in der ‹classischen› Philologie. Aber im Grunde gibt es nur eine Philologie, die der Weltliteratur von Homer bis Goethe coextensiv ist. Im grossen Stil machte das noch Burdach. Aber beruhigen wir uns: diese Kunst wird einmal wieder entdeckt werden. Multi pertransibunt, et augebitur scientia. Das lernt man, wenn man sich auch nur oberflächlich mit der Geschichte der dt. Universität beschäftigt, von der Sie ja mehr wissen als ich» (Original Göttingen, NSUB Sign. S. A. Kaehler 1,28 [88]). 18 Vgl. Todd (2005), S. 198 Anm. 9 (mit Bezug auf einen Brief an André Gide aus dem Jahr 1927). 19 Vgl. zuletzt das Buch von Kraume (2010), die Curtius vier Kapitel widmet und sein Europa-Konzept vor dem Hintergrund seiner elsässischen Abkunft analysiert. Die Erfahrung des Exils, so urteilt sie, führe Curtius dazu, Europa zu einer geistigen Heimat zu erklären. 20 In den Briefen wird die Schreibweise Curtius’ beibehalten, der sich wenig um Groß- und Kleinschreibung oder Interpunktion kümmerte. Auch behielt er gewisse Eigentümlichkeiten der durch die Rechtschreibreform von 1901 standardisierten älteren Schreibweise bei (z.B. wol, -iren, beliebiger Wechsel von -ss und -ß usw., arbiträre Groß- und Kleinschreibung u.a. mehr). 21 Mit kleinen Einschränkungen liefert Lausberg / Arens (1993) die genauesten Details zu Ernst Robert Curtius’ Biographie und Werk. Hier S. 40. 22 Gundolf (1963), S. 206. 23 Vgl. seinen Brief an den Vater Friedrich vom 11.3.12 aus Florenz: «Wir haben jetzt schon fast alles hier gesehn. Ich überblicke Florenz und habe den Grundeindruck gewonnen. Florenz ist schön, aber nicht groß. Interessant, nicht überwältigend. Das Quattrocento ist lieblich, süß, innig - aber kindlich. Keine Kunst höchsten Ranges. Ich habe nichts was mich hier zurückhielte, aber das brennende Verlangen nach Rom. Ich habe immer grössere Sehnsucht nach der Grösse und Erhabenheit der klassischen Kunst, nach dem ewigen in Kunst und Leben. Deshalb möchte ich jetzt nach Rom reisen, und dort noch 3 Wochen sein, um dann zurückzukehren. Mama ermutigt mich dazu. Ob ich mein Geld hier oder in Rom ausgebe ist gleichgültig. Im Gegenteil, die Pension Girardet in Rom, die mir Odiers empfohlen haben, ist billiger als die hier. Ich schreibe Dir nur um Deine Ansicht zu hören. Wer weiß, wann ich die weite Reise wieder machen kann» (Original Privatbesitz). 24 Vgl. den Brief an seinen Vater vom 17.10.1926 (GRAND HOTEL LUNA VENISE Venezia): «Ich habe eine schöne Reise durch die Lombardei und Venezien hinter mir. Venedig sehe ich nun zum dritten Mal. Ein solches wiederholtes Sehen gewährt erst die richtige Vertiefung. Man weiß nun, was einem wichtig ist. Für mich sind es die klassizistischen weissen Kirchenfassaden Palladios und seiner Nachfolger; es ist Tintoretto, den man wirklich nur hier ganz kennen lernen kann. Und es ist die grossartige Geschichte dieses Stadtstaates, der tausend Jahre lebensfähig geblieben ist - ein seltenes Beispiel politischer Kraft und Kunst. - Ich habe keine Briefe nachschicken lassen und möchte auch keine mehr bekommen, um wenigstens eine kurze Zeit vom Ballast des Lebens befreit zu sein» (Original Privatbesitz). 2_IH_Italienisch_70.indd 38 30.10.13 09: 25 39 Frank-Rutger Hausmann Ernst Robert Curtius und die Roma aeterna 25 Curtius (Rom 315, Corso Vittorio Emanuele, Pension Marchetti 22/ 3/ [1912]) an Franz Dornseiff: «Ihre Karten haben mich erfreut und ich denke oft an Sie wie Sie Paris und seinen Genius erobern. Denken Sie auch an mich als einen Menschen, der zum ersten Mal wahrhaftig das Altertum erlebt hat, der erschüttert ist wie von einer Offenbarung und den Göttern für dieses Geschenk auf Knieen danken möchte» (Original Leipzig, UB NL 239: 4.2). 26 Curtius (Straßburg, 21.2.1914) an Franz Dornseiff: «Was Du über Rom schreibst ist sehr verständig. Ich habe genau so empfunden. Erstes Gefühl: Ruhe kehrt ins Herz! Goethe schildert das auch, in der It. Reise. […] Rom scheint so auf Dich zu wirken wie ich mir wünschte. Gib weiteren Bericht. - S. Peter tut sich erst allmählich auf. Zuerst weiß man nicht was damit anfangen. Allmählich geht’s einem auf. Zeichen daß man römischer wird. Restaurants: Tre Re, und verschiedene andre in der Nähe des Pantheons, ich komme nicht auf die Namen. Sie stehen im Gsellfels [=Theodor Gsell Fels, Rom und die Campagna, Leipzig 1901, 1255 S.]» (Original Leipzig, UB NL 239: 4.2). 27 Ernst Robert Curtius (Bonn, 14.10.1940) an Karl Eugen Gass: «Die Reiseberichte deutscher Italienpilger mögen wohl sehr fad sein, das kann ich mir gut vorstellen. Aber es gibt ja schon längst die ausgezeichneten Bücher von Noack über die Deutschen in Rom und als bestes Reisetagebuch seit Goethe die Briefe des Grafen Yorck von Wartenburg über Rom. Ein Werk wie Stendhal’s Promenades dans Rome haben wir freilich nicht aufzuweisen, weil die deutschen Reisenden fast nie an dem jetzt ausgestorbenen, aber mir noch wohlbekannten internationalen Gesellschaftsleben in Rom teilnehmen. Schon Goethe hat das verabscheut. Für das Bild Roms im 18. Jahrhundert geben die Memoiren des Président Des Brosses wie auch die Casanovas vieles Interessante, was bei Goethe kein Echo findet» (Original Bonn, ULB NL Curtius, E.R. I, Brief 32). 28 Lausberg / Arens (1993), S. 41. 29 Duchatelet (1995), S. 147 (Antwort Rollands vom 14.4.1912). 30 Curtius (Bonn, [um 1916]) an Franz Dornseiff: «Rom soll man wenn mans lieb hat nicht verbessern wollen. Also auch keine gartenstadt. Sondern das kapute kaput lassen, das ist das einzige würdige und schöne. Aber wer versteht das? Rom sollte der grosse altar der vergänglichkeit sein - la beauté des choses fanées - wo die trauer über die vergänglichkeit sich im staunen vor heroischer grösse sanft löst» (Original Leipzig, UB NL 239: 4.2). 31 Curtius’ Artikel sind abgedruckt in Ernst Robert Curtius: Goethe, Thomas Mann und Italien. Beiträge in der «Luxemburger Zeitung» (1922-1925). Hrsg. von Romain Kirt, Bonn: Bouvier 1988, S. 99 u. 101-102. 32 Curtius hielt sich kurz in Rom auf und reiste gleich nach Süditalien weiter. Am 23.10. [24] schreibt er aus Capri (Grand Hotel Quisisana) an Paul Jacobsthal: «Schrieb ich Ihnen von oder über Paestum? Es ist der Höhepunkt dieser Reise gewesen. Neapel hat mich wie die meisten enttäuscht - bis auf das Museum […]. Besonders herrlich fand ich die Broncen. Mit Recht? - Pompeji war mir höchst merkwürdig und ich möchte wissen, ob es repräsentative Bedeut[un]g für die damalige Antike hat. Seltsam der Miniaturmassstab aller Kunstwerke. Ihr ästhetisches Niveau ist doch wohl im Durchschnitt nicht sehr hoch. Der Gesamteindruck ist dennoch sehr schön, durch die Ruinenromantik, die Gartenpoesie, die herrliche Landschaft. Aber welcher universelle Priapismus! Ich sah übrigens auch in Neapel eine ityphallische Vorkragung an einem Mietshaus. Neapel ist sehr teuer, und man muss teuer wohnen, sonst ist es grässlich. Eigentlich kann man es nur von der Terrasse des Bertolini-Palace geniessen. Weshalb ich einmal dort lunchte. - Capri ist nun wirklich sehr schön, obwohl es die Melancholie aller der Orte hat, die nur zum ‹Glück› da sind. Zu längerem Aufenthalt würde ich die Riviera vorziehen. […] Ganz unbeschreiblich ist die 2_IH_Italienisch_70.indd 39 30.10.13 09: 25 4 0 Ernst Robert Curtius und die Roma aeterna Frank-Rutger Hausmann Felsen- und Meerlandschaft. Die Stimmung der Odyssee wird mir erst hier lebendig. Aber überhaupt: mediterrane Dichtung und Philosophie ist nur aus solcher Meerlandschaft zu verstehen. Fels und Flut als Urelemente, das feste harte und das flüssige unendliche Wechselnde Gefahrvolle. Ganz dünne Humusschicht. Kein ‹Waldweben›. Selbst die Pflanzen sind ja architektonisch: Pinie, Cypresse, Agave, Opuntia» (Original Oxford, Bodleian Library, Special Collections Jacobsthal Box 2 BWA4). 33 Eine eigene Auswertung verdient sein Römisches Tagebuch: Oktober 1928 - März 1929, 167 S., 3 gez. Bl., Bonn ULB, NL Curtius, E.R. V6. Wichtige Auszüge liefert Lange (1995), S. 294 f. 34 Bei der Affinität Curtius’ zu Goethe ist zunächst einmal an dessen Italienische Reise zu erinnern, aber darüber hinaus bewundert er Goethe als den letzten Klassiker der Neuzeit, vgl. «Goethe als Kritiker», in: Kritische Essays (1950), S. 28-58 bzw. «Goethe - Grundzüge seiner Welt», ebd., S. 59-77. Auch in seinem Verhältnis zur Antike ist Goethe für Curtius Vorbild: «Der späte Goethe aber gewinnt ein neues Verhältnis zum Altertum. Die Spätantike wird sein Wahlraum. Er meint, schon einmal unter Hadrian gelebt zu haben (1815 zu Boisserée)» («Goethe als Kritiker», S. 36-37). 35 Ludwig Curtius (1956), S. 349 f., 351 (zu Ernst Robert Curtius), insbes. Kap. IX «Rom 1928-1938». 36 Curtius an Paul Jacobsthal (Grand Hotel de Russie, s.d. [vermutlich November 1928]): «Rom hat mich so eingefangen, dass ich Griechenland vielleicht aufgebe. Jeder Tag hier ist mir kostbar. Ich lese viel und verbringe jeden Nachmittag von 4-7 in der Hertziana, wo man im stimmungsvollsten ambiente herrlich arbeiten kann. Was mich interessirt, ist die Zeit von 1550-1750, während die Antike mir jetzt viel ferner ist als bei meinem ersten Besuch. Aber ich war sehr frappirt von den großartigen noch unzugänglichen Scavi zwischen Via Nazionale und Trajansforum: eine mehrgeschossige Verkaufsgalerie, hemicyclisch, trajanisch - und darüber die Burg der Gaetani (ca. 1300): beides fast intakt. Mit Curtius’ bin ich viel zusammen. […] Gestern haben wir im Freien in einer ländlichen Osteria gegessen. Schon allein so etwas macht mich glücklich. Kalt kann es auch hier sein, aber die Bäume bleiben eben doch grün, und die Sonne scheint. Nebel scheint es hier überhaupt nicht zu geben» (Original Oxford, BL Special Collections Jacobsthal Box 2 BWA 4). 37 Curtius (Rom, 24.11.[1928]) an Max Rychner (Original Privatbesitz). 38 Curtius (Rom, 26.11.1928) an Siegfrid A. Kaehler: «Ich bin seit 4 Wochen in Rom, und ganz ebenso gebannt wie vor 16 Jahren. Der Bann ist so stark, daß ich Sizilien und andere Reisepläne wahrscheinlich aufgebe. Jeder Tag, jede Stunde hier sind kostbar. Denn in einer Spanne von wenigen Monaten muss ich hier meine geschichtliche und künstlerische Bildung neu fundieren. Eine Geschichtswelt, gleich gewaltig durch ihr Alter, ihre Dauer im Wechsel, ihren universalen Ausblick dringt hier auf mich ein, und ich kann dem tiefen Gefühl der eignen Unzulänglichkeit nur begegnen durch den glühenden Eifer des Schauens, Lesens, Lernens. - Nebenbei geniesse ich den Reiz einer noch immer kosmopolitischen Geselligkeit, deren sympathischste Formen ich bisher in einigen anglo-römischen Salons fand. […] Die deutsche Wissenschaft ist durch Ludwig Curtius, Steinmann und Baethgen in höchst charakteristisch verschiedener Weise vertreten» (Original Göttingen, NSUB Sign. S.A. Kaehler 1,28). 39 Curtius (Grand Hotel de Russie, 14.2.[1929]) an Erich Alport: «Auch Paris habe ich fahren lassen, da mir das Offizielle keinen Spass macht. Gelegentlich als Abwechslung ja. Aber schon hier habe ich die grösste Mühe, meine Freundin Mrs. Strong zu überzeugen, dass ich lieber Rom und einen kleinen Freundeskreis genieße, als die society der Rennell Rodds, der d’Abernons, der Mrs Saxton Noble, der Prinzessin Ghilla und was sonst 2_IH_Italienisch_70.indd 40 30.10.13 09: 25 41 Frank-Rutger Hausmann Ernst Robert Curtius und die Roma aeterna alles hier herumschwirrt. Ich habe selbst ein kleines Diner mit Neuraths [= Botschafter Konstantin von Neurath] abgelehnt, was der weltlüsterne Erich nicht verstehen wird. Immerhin habe ich den Grafen Bordari und den Marchese Visconti (‹Riri› wie man ihn proustisch hier nennt) und die Gräfin Braci kennen gelernt, alles nette Leute, und mein junger Freund Conte Alberti würde mich täglich in ein anderes Haus schleppen, wenn ichs zuließe. Ich bin so glücklich ohne die grosse Welt und muss über den deplacirten Eigensinn der Glücksgöttin lachen, die mich mit Möglichkeiten überschüttet, die andre überglücklich machen würden, während sie mich belästigen» (Original London, BL Ms. Add. 74771A). 40 À titre d’exemple wird im folgenden ein Brief wiedergegeben, den Curtius nach der Rückkehr von Rom nach Heidelberg an sie am 4.4.1929 richtete: Dear Mrs Strong You have a wonderful way of continuing your kindnesses to me. First came Geoffrey Scott’s book & today your own stately volumes. I can no more delay my thanks though I meant to have finished first the Architecture of Humanism. But your new gift urges me to write immediately and to tell you how much joy your books have given me. I ought to have written long ago, I know. But during the first time after my coming home I felt so utterly wretched that I did not dare to write. I was homesick after Rome. The separation from the Urbs meant & means a grief which only time can mitigate. Everything here seemed dull & cheap - the houses & churches, the trees, even the sky - compared to the glowing beauty & grandness of Rome. I have often thought of that wonderful last afternoon when we went to St Peter’s & I still see the shaft of light shooting down on Bernini’s tabernacle. I feel as if I had some claim now to the citizenship of Rome. I shall always consider it as a patria d’elezione. Happy you who can devote your work & your enthusiasm to the beloved city. Happy me for whom Rome held in store such a friendship as yours. Among the many good & beautiful things I owe you is the acquaintance with G Scott’s book. You cannot imagine what it means to me. It is just the book I have been waiting for & without you I wouldn’t have found it. You know that Baroque architecture has been for me the central artistic experience of Rome. I have read a good deal about it at the Hertziana. But neither [Albert Erich] Brinckmann nor [Alois] Riegl provided me with an answer to the question which beset me. They gave historical accounts or psychological interpretations, but what I wanted was aesthetic discussion & appreciation. And this G Scott affords me in the highest quality. His argument is as clever & convincing as his style is beautiful. Rarely has a book given me to that degree the sensation of a perfect & flawless intellectual achievement. To master the contents of such a book is a wonderful enjoyment for soul & spirit. I wish you would tell me something about the author and about the position he occupies in the opinion of the cultivated English public. As for your own book [=Art in Ancient Rome, 1928], it will teach me to understand the other great period of Roman art & I shall be delighted to be your pupil. My memory is filled with beautiful images of Roman monuments. But, for lack of knowledge, I have not been able to put them into order. This your book will help me to do. And when I go to Rome the next time, I shall be able to enjoy it more deeply & more consciously. I do look forward to seeing you soon. […] Yours grateful & devoted ER Curtius» (Original Cambridge, Girton College Archive GCPP Strong 3/ 12) 41 Tesche (2003). 2_IH_Italienisch_70.indd 41 30.10.13 09: 25 42 Ernst Robert Curtius und die Roma aeterna Frank-Rutger Hausmann 42 Wuttke (1989), S. 221-248. 43 Aby Warburg: Gesammelte Schriften, Bd. II, 1.2. Hrsg. von Martin Warnke (Studienausgabe / Der Bilderatlas MNEMOSYNE, Berlin: Akademie Verlag, 4 2010). 44 Curtius (Rom, 1.3.1929) an Paul Jacobsthal: «Der eigentümliche Rhythmus der römischen Lebens-Mischung aus Vielgeschäftigkeit, ständigem Wechsel und Indolenz läßt mich erst heute dazu kommen, Ihnen für Ihren letzten Brief zu danken […]. Ich rüste nun zur Abreise, denke am 11. März wieder in H.[eidelberg] zu sein. Der Abschied ist bitter, weil Rom kennen eine immer unvollendbare Aufgabe bleibt. Doch möchte ich über Rom lieber mit Ihnen sprechen als schreiben. Wollen Sie mich nicht im April in H. besuchen? […] Gestern hatte ich einen meiner tiefsten Eindrücke vom antiken Rom & der Antike überhaupt: Die Pythagoreerbasilika vor Porta Maggiore. Zu mir spricht Raumform stärker als Plastik und tiefer als Malerei. Einen intakten Mysterienkultraum auszutasten ist schlechthin erschütternd, und bringt mir jenes ferne Menschentum näher als irgend etwas anderes vermöchte. - So ähnlich übrigens auch die Grabungen unter San Sebastiano. - Klemperer dirigirt im Augusteo - Anlaß schönen Zusammenseins. Emil Ludwig ‹lo grande storico tedesco› signirt indessen hier seine Reklame» (Original Oxford, BL Special Collections Jacobsthal Box 2 BWA 4). 45 Curtius (Rom, 13.2.1929) an Max Rychner: «Ich bin sehr bewegt durch die vatikanischen Ereignisse. (Man spricht natürlich hier von nichts anderm). Ich geniesse ästhetisch diesen Triumph der conservativen Idee. Dynamisch viel merkwürdiger & bedeutender als alle rechts- oder linksradicalen Revolutionen. Die Staatsdenker der Restauration wußten viel zu sagen von der Makrobiotik der Staaten (Balzacs longévité). Jetzt hat man ein grossartiges Beispiel davon. - Aber auch geistig höchst bedeutsam. Das Papsttum neubelebt in seiner universalen Mission und Potenz. Eine geistige Macht, die sich auch materiell wieder durchsetzt. Was bedeuten Kellogg, Briand e tutti quanti neben dieser religiös-moralischen Autorität. - Gestern abend war ganz Rom illuminirt. Aus den Fenstern der Kapitolspaläste hingen alte Gobelins. Auf einem die Inschrift: arx omnium nationum. Heute sah ich im Film die Unterzeichnung des Paktes im Lateran durch Mussolini & Gasparri. Schau dir das an. Und dann den Segen des Papstes. Die Bewegung seiner Arme: das väterliche Umfassen. Seine Ergriffenheit» (Original Privatbesitz). 46 Curtius (Grand Hotel de Russie, 14.2.[1929]) an Erich Alport: «Ich bin sehr froh, das weltgeschichtliche Ereignis des Concordats hier miterlebt zu haben. Man spricht begreiflicherweise von nichts anderm, und die psychologischen Reflexe der römischen Gesellschaft geben der Tatsache eine buntschillernde Färbung, die kein Zeitungsbericht wiederzugeben vermag. Solche Kleinigkeiten wie Reparationsconferenzen verschwinden davor durchaus. Die Wiederherstellung der päpstlichen Souveränität erscheint mir als die ästhetisch großartigste Verwirklichung der Konservativen Idee, darum auch rein politisch-dynamisch von einer Tragweite neben der Kelloggpakt, Völkerbünde etc. ganz verblassen. Das Papsttum ist ungeheuer gestärkt, und zwar grade dadurch, dass der Vatikanstaat die weltliche Macht nur noch symbolisirt. Sublimste Vergeistigung des Territorialprinzips. Der Papst hat das in seiner Ansprache an die römischen Pfarrer sehr schön angedeutet, in einem Vergleich mit Franz v. Assisi. Du mußt Dir den offiziellen päpstlich autorisirten Versöhnungsfilm ansehen. Die Ergriffenheit, die väterliche Rührung des Papstes, wie er von der Benediktionsloggia die Hände ausbreitet in einem wundervollen Gestus. Die Würde des alten Gasparri; das Augenfunkeln Mussolinis. Dass in unserer Zeit das ‹Tempo› besiegt wird von der Dauer, die Börsen- und Jazzwelt von einer spirituellen Macht, die materialistische Politik von einem Priester - das ist erhebend und mitreißend. Die universale Mission Roms tritt in ein neues Wirkungsstadium» (Original London, BL Ms. Add. 74771A). 2_IH_Italienisch_70.indd 42 30.10.13 09: 25 4 3 Frank-Rutger Hausmann Ernst Robert Curtius und die Roma aeterna 47 Curtius (Bonn, 4.4.1930) an Paul Jacobsthal: «Wir sind seit 12 Tagen aus Italien zurück, waren zuletzt 3 Wochen in Rom, ein ungetrübt schöner Aufenthalt mit vielen befreundeten Menschen und der Freude der Wiederbegegnung mit den großen Monumenten» (Original Oxford, BL Special Collections Jacobsthal Box 2 BWA 4). 48 Ernst Robert Curtius (Bonn, 19.3.1934) an Ludwig Curtius: «Wir müssen uns eben an einen neuen, bescheidensten Lebensstandard gewöhnen. Doch wäre mir gerade jetzt ein Wiedersehen mit Italien wertvoll gewesen - da ich in meinem Sommercolleg das ital. Trecento & Quattrocento behandeln will. Dafür ist es mir wichtig, die geistigen Strömungen des modernen Italien etwas zu kennen. Ich informire mich aus [Benedetto] Croce, [Gioacchino] Volpe, [Edmondo] Solmi, [Roberto] Michels. Es hat ja in den letzten 30 Jahren eine Umwertung auf allen Gebieten stattgefunden. Das meiste ist freilich nur als Symptom bezeichnend, nicht sachlich neu oder wertvoll. Aber es ist nicht gleichgültig zu wissen, was für ästhetische, philosophische, historische Ideologien das moderne Italien producirt - und wie von da aus die Communen, Dante, Petrarca, der Humanismus, die französische und die deutsche Cultur erscheinen» (Original Nürnberg, GNM NL Ludwig Curtius ZR ABK 392). 49 Curtius (Bonn, 15.1.1935) an Rudolf Smend: «Sie werden nicht erwarten, dass ich Ihnen einen kurzen Stimmungsbericht aus Rom vorlege. Ich gehöre meiner tiefsten Natur nach so sehr dorthin, dass ich mich hier immer fremd gefühlt habe und fremd fühlen werde. Ludwig Curtius war natürlich ein geistig und seelisch eminent produktiver Begleiter sowohl im Thermenmuseum wie in Viterbo wie endlich auf einer Autofahrt über Albano, Ferentino, Itri nach Gaeta, wo jeder Ort grosse geschichtliche Erinnerungen aufruft. Von Deutschen sah ich den ehemaligen Reichswehrminister Gessler, der mir einen sehr starken Eindruck gemacht hat. Im übrigen ist Rom leer. In der Sixtinischen Kapelle waren ausser meiner Frau und mir ganze drei Menschen» (Original Göttingen, NSLB Cod. Ms. R. Smend A 137). 50 Vgl. die Einzelheiten bei Thomas Fröhlich, «Das Deutsche Archäologische Institut in Rom in der Kriegs- und Nachkriegszeit bis zur Wiedereröffnung 1953», in: Michael Matheus (Hrsg.), Deutsche Forschungs- und Kulturinstitute in Rom in der Nachkriegszeit, Tübingen: Max Niemeyer 2007, S. 139-179, bes. S. 141 f. 51 Ernst Robert Curtius (Bonn, 13.2.1935) an Siegfried A. Kaehler in Göttingen (Göttingen, NSUB Sign. S. A. Kaehler 1,28). 52 Ernst Robert Curtius (Bonn 6.2.1937) an René Janin: «Wir haben in Rom drei sonnige Wochen gehabt. Es waren Feste des Lichtes für die dumpf gewordenen Augen. Und dennoch sind wir jetzt glücklich hier zu sein und den nordischen Vorfrühling zu erleben» (Original Bonn, ULB NL Curtius, E.R. IIb). 53 Vgl. Hausmann (2007). Die umfangreiche und tiefschürfende Korrespondenz zwischen Ernst Robert Curtius und Gass ist inzwischen in italienischer Übersetzung zugänglich: Ernst Robert Curtius - Karl Eugen Gass, Carteggio e altri scritti a cura di Stefano Chemelli e Mauro Buffa, Lavis: La Finestra Editrice 2009. Insbesondere die Briefe aus der Zeit, als Gass Stipendiat an der Scuola Normale di Pisa und später-Abteilungsassistent im Deutschen Kulturinstitut (Kaiser-Wilhelm-Institut) in Rom war, sind eine weitere Quelle für Curtius’ Italienkonzept. Zit. sei exempli gratia ein Passus aus Curtius’ Brief vom 29.5.1942 in deutscher Sprache (Kopie Augsburg, UA ‹Romanistenarchiv›): «Ich empfinde Romanität (Rom & Römertum) und italianità als 2 ganz verschiedene Dinge. Rom ist universal, und vielleicht die grösste historische Gestaltung des Universalen überhaupt. Italien ist provinzial. Darum ist jeder Deutsche, der durch Goethe & Ranke gebildet wurde, auch ein Römer - aber beileibe kein Italiener. Es wäre reizvoll, diese Dialektik zu entfalten» (ital. Übers. Carteggio, S. 61). Gerade dieser Brief zeigt allerdings, dass die italienische 2_IH_Italienisch_70.indd 43 30.10.13 09: 25 4 4 Ernst Robert Curtius und die Roma aeterna Frank-Rutger Hausmann Übersetzung nicht unproblematisch ist. Der Brief ist, ohne daß dies angezeigt würde, um ein Drittel gekürzt. Auch haben sich Missverständnisse eingeschlichen. Der Satz «Die Tätigkeit und Existenzform des Petrarca-Hauses spricht Bände» wird z.B. übers. «Ci sono volumi che parlano dell’attività e dell’esistenza del Petrarca». Dieser Mangel ist auch in zahlreichen anderen italienischen Übersetzungen zu konstatieren. 54 Eine Ausnahme machte sein ehemaliger Doktorand Gustav René Hocke (1908-1985), der als Journalist für verschiedene Zeitungen in Rom tätig war und das Ehepaar Curtius herumfuhr, vgl. Hocke (2004), S. 404-405. - Vgl. auch Jacques Heurgon, «Curtius et Rome», in: «Hommage à E.R. Curtius» (1956), [s.p.]. Heurgon zitiert aus dem letzten Brief, den er von Ernst Robert Curtius Weihnachten 1954 erhielt: «Nous sommes ici depuis le commencement de novembre et comptons y rester jusqu’en mars: Que de souvenirs, tant radieux, tant mélancoliques! Mon viel ami Ludwig Curtius n’est plus, Eugenia Strong repose au Campo Verano, comme Steinmann, Directeur de la Hertziana, au Cimetière des Protestants. Près de lui gît la fondatrice de la Hertziana, Mademoiselle Hertz, dont le tombeau porte le mot: heureka. Rome a beaucoup changé depuis la guerre, et ne cesse de changer. Quand je me souviens de mon premier séjour à Rome en 1912, c’est déjà presque un demi-siècle que je vois défiler. Vous rappelez-vous San-Francesco à Ripa? Je vous y avais conduit pour voir le monument funèbre de la bienheureuse Louise Albertoni. J’ai fait la même promenade avec Ilse ces jours-ci». Ernst Robert Curtius (Rom, 18.11.1954) an Max Rychner: «Lieber Max, nun sind wir schon zehn Tage hier und ich habe Dir immer noch nicht geschrieben. Das kommt daher, daß ich morgens 2 Stunden und nachmittags wieder eine Stunde gehe und damit nicht nur einem Gebot des Arztes nachkomme, sondern einen tiefen Drang alles wiederzusehen. 1912 war ich zum 1. Mal in Rom. Damals hatte es noch 500.000 Einwohner, heute über 2 Millionen. Die Vermassung der Welt macht sich hier besonders fühlbar. Aber man sieht doch von Zeit zu Zeit inselgleich die Vergangenheit wieder auferstehen, und wir dürfen hier auch nicht verlangen, daß auf unsere privaten Gefühle Rücksicht genommen wird. Es ist nicht so sehr der Faschismus als ein schon vorher einsetzender u. weiterhin nachwirkender Modernismus à tout prix, der 1870 angefangen hat, und von dem ich 42 Jahre übersehe. Aber das alles einmal abgeschrieben bleibt noch soviel des Schönen, daß man jeden Tag tief aufatmen möchte vor Beglücktheit. Allmählich bilden sich unsere Lebensgewohnheiten heraus. Wir lernen wieder die alten Wege gehen, verschleiert nur durch den Tod eines Freundes, der eben seinen 80. Geburtstag feiern würde - Ludwig Curtius» (Original Privatbesitz). 56 Ernst Robert Curtius (Rom, 14.12.1954) an Max Rychner: «Wir haben es mit unserer Pension sehr gut getroffen, haben ein Zimmer mit anschliessendem Bad und ein zweites mit schoener Terrasse, das Ilse als Büro dient und mir als Besuchszimmer. Mein Zimmer geht auf einen Innenhof des im Palaststil gebauten Hauses heraus und hat den Vorteil einer Stille, wie ich sie in Bonn vergeblich ersehne. Das ist aber das Einzige, was von der Stille in Rom zu sagen ist. 1928 sagte mir ein englischer Freund: don’t you find Rome a very noisy city? Er konnte damals noch nicht ahnen, dass 20 Jahre spaeter Vespas das Strassenbild beherrschen wuerden, ganz abgesehen von der Zunahme der Motorisierung. Rom bekommt mir bisher ganz ausgezeichnet. Da es ueber 1600 [k]m von Bonn entfernt ist, waren einige Akklimatisationsschwierigkeiten zu ueberwinden. Ich habe auch fuer die laengsten Winterferien genug Lektu[e]re an den vier Schlussbaenden von Toynbee» (Original Privatbesitz). 57 Richard Herbig, «Ludwig Curtius (1874-1954) zum Gedächtnis»,-in: -Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts Römische Abteilung-62, 1955, S. 185-200. 58 Ernst Robert Curtius (Rom, 29.3.55) an Walter Boehlich: «So waren wir neulich in der Villa des Horaz, dann in der Klosterzelle des Hl. Benedikt in Subiaco, dann Palestrina, 2_IH_Italienisch_70.indd 44 30.10.13 09: 25 4 5 Frank-Rutger Hausmann Ernst Robert Curtius und die Roma aeterna Ostia Antica. Aber wenn man nicht ein Yor[c]k von Wartenburg ist, faellt es schwer, solche Eindruecke zu beschreiben. Dann tauchen wieder Besuche auf, wie neulich Reinhardts [ =Karl R., Frankfurt a.M.] und jetzt Schuchhardts [= Walter-Herwig Sch., Freiburg i.Br.]. Allmaehlich geht unser roemischer Winter seinem Ende entgegen. […] Als ich im Jahre 1912 zum ersten Mal in Rom war, schwor ich mir, dass ich diese Stadt jedes Jahr besuchen wuerde. Aber ich hatte nicht gerechnet, dass ich am 1. November 1913 in Bonn habilitiert wuerde, und noch weniger damit, dass 1914 ein Weltkrieg ausbrechen wuerde. Nachher kam die Inflation, und meine ersten Schritte tat ich 1912 auf italienischem Boden. Nach Venedig. Erst 1924 langte es wieder nach Rom. Ich will diese Geschichte nicht fortsetzen, aber sie beweist das Eine, dass man im Alter in Fuelle hat, was man sich in der Jugend ertraeumt» (Original Archiv des Verlags der Autoren im Universitätsarchiv Frankfurt a.M., NL Walter Boehlich). 59 Burckhardt / Rychner, Briefe (1987), S. 187; 189. 60 Vgl. dazu seinen Brief (Capri, le 9 mars 1935) an den zu diesem Zeitpunkt in Costa Rica lebenden Freund René Janin: «Nous sommes déjà sur le retour. Le 19 mars au plus tard nous aurons franchi la frontière allemande. D’ici-là, j’espère montrer Florence à Ilse. Puisqu’elle raffole des musées et comme d’autre part nous avons peu de chance de faire d’autres voyages à l’étranger. Il faut avoir vu les châteaux de la Loire, avoir vu Florence, ne fût-ce qu’une seule fois. Tandis qu’il faut avoir habité Rome, habité Paris. Ce pauvre Stendhal qui se voulait Milanais. C’est bien peu. Etre florentin ne vaut guère mieux. Mais avoir le droit de cité à Rome - fût-ce au figuré - c’est une empreinte de celles que nous disons éternelles» (Original Bonn, ULB NL Curtius, E.R. IIb). 61 Frank-Rutger Hausmann [u.a.] (Hrsg.), «Italien in Germanien». Deutsche Italien- Rezeption von 1750-1850. Akten des Symposiums der Stiftung Weimarer Klassik Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Schiller Museum, 24.-26. März 1994, Tübingen: Gunter Narr 1996. 62 Vgl. dazu demnächst meinen Aufsatz «Ernst Robert Curtius in den Vereinigten Staaten von Amerika», in: Archiv für das Studium der Neueren Sprachen und Literaturen (Herbst 2013). 63 Vgl. z.B. Peter Jehn: «Die Ermächtigung der Gegenrevolution. Zur Entwicklung der kultur-ideologischen Frankreich-Konzeption bei Ernst Robert Curtius», in: Michael Nerlich (Hrsg.): Kritik der Frankreichforschung 1871-1975, Karlsruhe: Argument-Verlag, 1977, S. 110-132. 64 Curtius, Büchertagebuch (1960), S. 66-67. Vgl. auch Fischer (2000), S. 65-66. Der Text ist jetzt wieder greifbar bei Wilfried F. Schoeller (Hrsg.), Diese merkwürdige Zeit. Leben nach der Stunde Null. Ein Textbuch aus der «Neuen Zeitung», Frankfurt a.M. [u.a.]: Edition Büchergilde 2005, S. 438-441. Bibliographie Bem, Jeanne / André Guyaux (éd.): Ernst Robert Curtius et l’idée d’Europe. Actes du Colloque de Mulhouse et Thann des 29, 30 et 31 janvier 1992, Paris: Honoré Champion 1995. Berschin, Walter / Arnold Rothe (Hrsg.): Ernst Robert Curtius. Werk, Wirkung, Zukunftsperspektiven. Heidelberger Symposion zum hundertsten Geburtstag 1986, Heidelberg: Carl Winter 1989. 2_IH_Italienisch_70.indd 45 30.10.13 09: 25 4 6 Ernst Robert Curtius und die Roma aeterna Frank-Rutger Hausmann Carl. J. Burckhardt - Max Rychner: Briefe 1926-1965. Hrsg. von Claudia Mertz-Rychner, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1987. Christmann, Hans Helmut: Ernst Robert Curtius und die deutschen Romanisten. Stuttgart-Wiesbaden: Franz Steiner 1987 (Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz: Abh. d. Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse, Jg. 1987, Nr. 3). Curtius, Ernst Robert: Deutscher Geist in Gefahr. Stuttgart - Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt 1932. Curtius, Ernst Robert: Kritische Essays zur europäischen Literatur. Bern: A. Francke 1950; 2 1954. Curtius, Ernst Robert: Büchertagebuch. Mit einem Nachwort von Max Rychner, München: Francke Verlag 1960 (Dalp-Taschenbücher, 348). Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern und München: Francke Verlag 6 1967 (zit. als ELLMA). Curtius, Ludwig: Deutsche und antike Welt. Lebenserinnerungen. Stuttgart: DVA 1950. Duchatelet, Bernard: «La correspondance Curtius-Romain Rolland», in: Bem / Guyaux (1995), S. 145-165. Fischer, Manfred S.: «Europa» und «das Nationale» bei Ernst Robert Curtius. Ein Essay, Aachen: Fischer 2000 (Edition Serapion). Gelley, Alexander: «Ernst Robert Curtius: Topolgy and Critical Method», in: Modern Language Notes 81, 5, 1966, S. 579-594. Glockner, Hermann: Heidelberger Bilderbuch. Erinnerungen. Bonn: Bouvier & Co. 1969. Grosse Kracht, Klaus: «‹Ein Europa im kleinen› - Die Sommergespräche von Pontigny und die deutsch-französische Intellektuellenverständigung in der Zwischenkriegszeit», in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 27, 2002, S. 144-169. Gumbrecht, Hans Ulrich: Vom Leben und Sterben der großen Romanisten: Carl Vossler, Ernst Robert Curtius, Leo Spitzer, Erich Auerbach, Werner Krauss. 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