eJournals Italienisch 35/70

Italienisch
ita
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2013
3570 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Zwanghaftes Zählen

121
2013
Dieter Steland
ita35700048
4 8 D I E T E R ST E L A N D Zwanghaftes Zählen Zu einem Motiv in Moravias Kurzgeschichte Gli indizi und in Calvinos Roman Il cavaliere inesistente Alberto Moravia (1907-1990) war bis kurz vor seinem Tod nicht nur im literarischen, sondern auch im politisch-gesellschaftlichen Leben Italiens ungemein präsent. Er wurde in Rom als Sohn eines Architekten jüdischer Herkunft geboren und hieß mit bürgerlichem Namen Alberto Pincherle. Zwischen seinem neunten und achtzehnten Lebensjahr litt er an Knochentuberkulose und las auf dem Krankenlager zahlreiche Werke der Weltliteratur, darunter Romane von Dostojewski, die ihn besonders stark beeindruckten. Unter seinem Schriftstellernamen Moravia erschien 1929 sein erster Roman, Gli indifferenti, der sein berühmtester Roman wurde und vielleicht sein bester ist. Der Schauplatz ist Rom, und geschildert wird der soziale Niedergang und die innere Haltlosigkeit einer Familie aus dem gehobenen Mittelstand. Der skrupellose Liebhaber der verwitweten Mutter zweier herangewachsener Kinder hat soeben den Rest des Familienvermögens an sich gebracht. Die lethargisch dahinlebende Tochter lässt sich von ihm verführen in der vagen Hoffnung auf eine Ehe, die sie vor dem sozialen Absturz bewahrt, und der Sohn, der Rache nehmen will, insgeheim aber die starke Männlichkeit des erfolgreichen Geschäftsmanns bewundert, schießt auf ihn mit einem Revolver, den zu laden er vergessen hat. Die psychologische Durchdringung von Personen in genau erfassten sozialen Milieus bleibt die Stärke auch der später veröffentlichten Romane und Erzählungen Moravias. Zuvor jedoch, in den dreißiger Jahren, bereist er als Auslandskorrespondent viele Länder und bekommt wegen des politischen Tenors seiner Berichte vom faschistischen Regime Schreibverbot. Erst nach dem Krieg kann er seine journalistische Tätigkeit als Literatur- und Filmkritiker wieder fortsetzen, nimmt zugleich am politischen Geschehen Anteil und ist von 1984 bis 1989 Mitglied des Europaparlaments als Abgeordneter der Kommunistischen Partei Italiens. In diesen Jahrzehnten veröffentlicht er seine weiteren, im mittleren bürgerlichen Milieu spielenden Romane, die wegen ihrer freizügigen Schilderung sexuellen Verhaltens vom Vatikan auf den Index gesetzt werden. Aufsehen erregt Moravia mit seinen Racconti Romani (1953) und Nuovi Racconti Romani (1959). Die Protagonisten sind Icherzähler aus den unteren sozialen Schichten Roms: Kellner und Hausmädchen, Gauner, Handwerker, kleine Angestellte und Arbeitslose. Es ist Moravias unerwarteter Beitrag zum Neorealismus, dem er auch in den sechziger Jahren nahe bleibt. 2_IH_Italienisch_70.indd 48 30.10.13 09: 25 4 9 Dieter Steland Zwanghaftes Zählen Im Verlauf dieses Jahrzehnts schließt sich übrigens auch Dino Buzzati dieser Stilrichtung an. In seinen Kurzgeschichten tritt nun das Phantastische und Surreale in den Hintergrund zugunsten einer vom Journalismus beeinflussten, wirklichkeitsnahen Schilderung ungewöhnlicher Vorkommnisse. Ein eindrucksvolles Beispiel für diese Erzählweise bietet die Lettera noiosa. 1 In eine muntere Plauderei über die Wohltaten des Frühlings streut die Briefschreiberin unvermittelt einzelne Sätze ein, in denen sie der Freundin berichtet, wie sie ihren unerträglich gewordenen Ehemann ermordet und die Leiche beseitigt hat. Zum Schluss fügt sie eine Strickanleitung mit vielen Zahlenangaben hinzu, und nach einer letzten Zahl bricht ihr Brief ab. Es könnte sein, dass Buzzati, der Chefredakteur des Corriere della Sera war, zu dieser Lettera noiosa durch Moravia inspiriert worden ist. Die Kurzgeschichte Gli indizi erschien zuerst 1964 im Corriere della Sera. Sie beginnt so: «Sono uscito dalla casa con la sensazione al tempo stesso precisa e oscura che qualque cosa di insolito mi fosse avvenuto o mi stesse avvenendo; una volta sul Lungotevere mi sono voltato a guardare: liscia e giallognola, con i balconi in forma di portasaponi e le finestre riquadrate di una sottile cornice travertino, la palazzina non aveva davvero niente di anormale. O meglio qualche cosa di insolito c’era: le persiane del secondo piano, tutte senza eccezione, erano chiuse. Mi sono domandato se questa fosse la cosa che mi angosciava ma ho concluso di no; e ho preso a camminare lungo il parapetto del Tevere.» 2 Das unbestimmte Gefühl, das den namenlosen Icherzähler beim Verlassen des Gebäudes beschleicht, etwas Ungewöhnliches sei ihm zugestoßen, versetzt den Leser in eine Zukunftsspannung besonderen Charakters. Man erwartet vom Fortgang der Erzählung Aufklärung über etwas, was in der Vergangenheit geschehen sein muss. Das ist die Bauart der sogenannten analytischen Erzählung, die ihren Namen Schiller verdankt. In einem Brief vom 2. Oktober 1797 schreibt Schiller an Goethe, er suche nach dem Stoff für eine Tragödie von der Art des Oedipus Rex. Diese Dramenform habe unermessliche Vorteile, unter anderem den, «daß man die zusammengesetzteste Handlung […] dabei zum Grunde legen kann, indem diese Handlung ja schon geschehen ist, und mithin ganz jenseits der Tragödie fällt. […] Der Ödipus ist gleichsam nur eine tragische Analysis. Alles ist schon da, und es wird nur herausgewickelt.» 3 2_IH_Italienisch_70.indd 49 30.10.13 09: 25 50 Zwanghaftes Zählen Dieter Steland Zuvor hatte Schiller die aufschlussreiche Bemerkung gemacht: «Dazu kommt, daß das Geschehene, als unabänderlich, seiner Natur nach viel fürchterlicher ist, und die Furcht, daß etwas geschehen seyn möchte, das Gemüth ganz anders affiziert, als die Furcht, dass etwas geschehen möchte.» Sie ist aufschlussreich deshalb, weil das von Schiller vom Betrachter Gesagte sich auf die innere Lage des Protagonisten unserer Erzählung beziehen lässt. Ihn bedrängt und ängstigt die vage Ahnung, es könnte etwas Unabänderliches geschehen sein und eine schreckliche Klarheit stehe ihm bevor. In diesem ungewissen Bewusstseinszustand tritt er auf die Straße und mustert zurückblickend das Gebäude, das er soeben verlassen hat. Auf den ersten Blick hat die Fassade mit den Balkons in Form von Seifenschalen nichts Auffallendes; doch ein zweiter Blick macht ihn auf etwas Ungewöhnliches aufmerksam: die Jalousien im zweiten Stock sind alle heruntergelassen. So wie hier, nimmt er fortan immer wieder im zunächst normal Erscheinenden etwas Ungewöhnliches wahr, so dass die Erzählung vom Vorkommen des Ungewöhnlichen geradezu leitmotivisch durchzogen und rhythmisiert wird. Von ähnlicher Art ist das innere Selbstgespräch des Icherzählers, der sich fragt, ob ihn die heruntergelassenen Jalousien unruhig machten («mi angosciava»), und dies verneint. Am Tiberufer entlang gehend, fällt ihm weit und breit nichts Ungewöhnliches auf; dann jedoch der Umstand, dass sechs Autos derselben Marke und Farbe vorbeifahren und dass jede dritte Platane bedeutend kleiner ist als die anderen. Auch der Fluss, der Zweige davonträgt, hat nichts Ungewöhnliches, außer der Tatsache, dass es neun solcher Zweige sind. In dieser Symmetrie, sechs, drei, neun, scheint ihm etwas zu liegen. Durch die drei Schaufenster eines Cafés sieht er zwei Gäste mit gleichfarbigen Kamelhaarmänteln, und beim Blick in den Spiegel des Cafés bemerkt er einen großen roten Fleck an seinem rechten Hemdsärmel. Er überquert einen Park mit vier Bänken, auf denen vier Paare sitzen, jeweils ist der Mann ein Soldat, und kauft in einer Parfümerie ein Stück Seife. Dann betritt er das Café, versucht auf der Toilette vergeblich den Fleck auszuwaschen und geht in einen Laden, um sich ein neues Hemd zu kaufen. Im Ankleideraum allein gelassen, wird in ihm das Gefühl von etwas Ungewöhnlichem, das ihm jetzt gerade zustößt oder schon zugestoßen ist, so stark, dass er zu weinen beginnt. Als er beim Bezahlen in die Tasche greift, zieht er einen dicken Packen von Geldscheinen hervor, von dem er gar nicht wußte, dass er ihn besitzt. Er kehrt zur Uferstraße zurück mit der Empfindung von etwas Ungewöhnlichem, als sei er in einer Falle eingeklemmt, und die Zeichen (gli indizi) mehren sich: Autos derselben Marke, zwei Vögel, drei Kinder, drei lose Steinplatten auf dem Bürgersteig. Vor dem Haus, das er zuvor verlassen hat, stehen Menschen im Gespräch. Eine alte Dame ist ermordet worden. Anscheinend mit einem Messer. In einem anderen 2_IH_Italienisch_70.indd 50 30.10.13 09: 25 51 Dieter Steland Zwanghaftes Zählen Augenblick wäre er stehengeblieben, denn das war ein interessanter Fall, aber das Gefühl, dass etwas Ungewöhnliches mit ihm geschieht, beschleunigt seine Schritte. Noch ein Vogel, der dritte, sitzt auf einer Platane. Dann lauten die letzten Sätze: «È volato via e io ho preso a correre seguendolo con gli occhi, che affondava nel cielo, come cadendo indietro, sempre più piccolo, sempre più remoto, un punto nero nello spazio grigio. Correvo e piangevo; e ho corso e ho pianto finchè l’uccello non è scomparso del tutto.» Dass der Icherzähler einen Mord begangen hat, begreift der aufmerksame Leser schon weit vor dem Ende. Schon die ersten Sätze konnten es ihn ahnen lassen. Zumal dann, wenn ihm die Erinnerung an Dostojewskis Roman Schuld und Sühne zu Hilfe kam, der Moravia zweifellos zu seiner Kurzgeschichte inspiriert hat. So wie Raskolnikov nach dem Raubmord an der alten Wucherin körperlich und seelisch zusammenbricht, hat auch unser Icherzähler eine Tat begangen, der er nicht gewachsen war. Ihn jedoch hat der Mord so verstört, dass sein Bewusstsein ihn nicht wahrhaben will. Er verdrängt das Geschehene, ohne es doch ganz aus der Erinnerung löschen zu können. Aus einer Tiefenzone unterhalb der Bewusstseinsschwelle meldet es sich an, beunruhigt und ängstigt ihn. Und in diesem Zustand beginnt er zu zählen. Moravia hat sich aus guten Gründen für die Darbietungsform der Icherzählung entschieden, aber zwingend war diese Entscheidung nicht. Auch in einer Er-Erzählung kann der Autor innerseelische Vorgänge in allen Abschattierungen des halben Bewusstseins vergegenwärtigen, wie schon ein Blick in Dostojewskis Roman lehrt. Moravia hat seine Icherzählung jedoch nicht so angelegt, wie das gemeinhin geschieht. Das Besondere daran wird auffällig, wenn man sich fragt: Wo befindet sich eigentlich der Icherzähler in dem Augenblick, in dem er erzählt? Muss man sich vorstellen, dass er im Gefängnis sitzt, oder in einer Anstalt? Dass er ein Gegenüber hat, oder dass er das Erlebte niederschreibt? Auf diese Fragen gibt die Erzählung mit ihrem offenen Schluss keine unmittelbare Antwort, wohl jedoch eine indirekte, nämlich mit den ungewöhnlichen Tempora der Verben: nicht imperfetto / passato remoto, sondern imperfetto / passato prossimo. Die Normalform zeigt an, dass der Erzähler Distanz zum Erzählten hat und das Vergangene zu der Situation, in der er sich jetzt befindet, in keinem unmittelbaren Zusammenhang steht. Die hier gewählten Tempora hingegen besagen, dass das Vergangene für den Sprecher (und den Zuhörer) von aktueller Bedeutung ist. Nach der Terminologie von Harald Weinrich ist das der Unterschied zwischen den Tempora der erzählten und denen der besprochenen Welt. 4 2_IH_Italienisch_70.indd 51 30.10.13 09: 25 52 Zwanghaftes Zählen Dieter Steland Es gibt eine berühmte Icherzählung, in der ebendiese Tempora der besprochenen Welt gleichfalls dominant und entsprechend auffällig sind: L’Étranger, von Albert Camus. Sie ist 1942 erschienen. 5 Die ersten Sätze lauten: «Aujourd`hui, maman est morte. Ou peut-être hier, je ne sais pas.» - «Heute ist Mama gestorben. Oder vielleicht auch gestern, ich weiß es nicht.» Um am Begräbnis seiner Mutter in einer nahegelegenen Stadt teilnehmen zu können, muss Meursault bei seinem Chef vorstellig werden. «J’ai demandé deux jours de congé à mon Chef.» - «Ich habe meinen Chef um zwei Tage Urlaub gebeten.» «Je lui ai même dit …» - «Ich habe ihm sogar gesagt…» Wie man beim Lesen deutlich verspürt, ist die Wahl der Tempora abgestimmt auf den Inhalt der Erzählung, und das heißt, auf den seltsamen Charakter des Protagonisten. Auch Meursault tötet jemanden, einen Araber, der seinen Freund bei einem Streit mit einem Dolch verletzt hatte. Bei glühender Sonne am Strand entlanggehend, trifft er mit seinen Freund auf den dasitzenden Araber, der drohend mit seinem Dolch spielt; um ihn in Schach zu halten, hebt Meursault den Revolver, den sein Freund ihm in die Hand gedrückt hat, und es ist der vom Dolch zurückgeworfene gleißende Sonnenstrahl, der den tödlichen Schuss auslöst. Alles Geschehende aber, das Vorangegangene und das dann Folgende: Das Gespräch mit dem Gefängnisgeistlichen, der in ihn dringt, die Tat zu bereuen, die verständnislosen Richter, die ihm Mord unterstellen, die Verkündigung des Todesurteils bis zu dem Morgen, an dem er auf seine Hinrichtung wartet, alles das erlebt Meursault in einem Zustand der Fremdheit inmitten einer ihn absurd anmutenden Umwelt. An diesem letzten Morgen überfällt ihn wie ein Erweckungserlebnis eine Einsicht, die ihn die Welt, so wie sie ist, gutheißen lässt: «Je m’ouvrais pour la première fois à la tendre indifférence du monde.» - Zum ersten Mal öffnete ich mich der zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt.» Jetzt wünscht er sich nur noch viele Zuschauer bei seiner Hinrichtung, und dass sie ihn - so seine letzten Worte - mit Schreien des Hasses empfangen - «avec des cris de haine.» Legt man sich nach der Lektüre des Étranger die Frage vor, wo und wann Meursault das Geschehene erzählt haben könnte, ergibt sich eine klare Antwort. Offenkundig hat er es nicht einem ihm gegenüber sitzenden Zuhörer berichtet. Nach allem, was man von ihm weiß, ist auch eine Niederschrift nicht denkbar. Angesichts des Anfangs: «Heute ist Mama gestorben, oder vielleicht gestern», müssten es zudem Aufzeichnungen in der Art eines Tagebuchs sein. Klarheit schafft allein die Vorstellung, dass hier Vergangenes nicht als Ferngerücktes erzählt wird, nicht aus der festliegenden Perspektive einer Gegenwart, von der aus auf alles zurückgeblickt würde; der Icherzähler befindet sich vielmehr zu jedem Zeitpunkt mitten im Geschehen, so dass im Fortgang der Handlung die Erzählperspektive mit wandert. 2_IH_Italienisch_70.indd 52 30.10.13 09: 25 53 Dieter Steland Zwanghaftes Zählen Diese Erzählung von Albert Camus, die Moravia zweifellos kannte, dürfte für das richtige Verständnis der Erzählweise in Gli indizi den Schlüssel liefern. Der Leser soll den Text nicht etwa mit der Vorstellung zu Ende denken, dass der Icherzähler seine Geschichte irgendwo jemandem anvertraut oder niedergeschrieben hat, sondern begreifen, dass der von seiner Tat aus der Bahn geworfene Mörder von dem Augenblick an, in dem er auf die Straße tritt, jeden der folgenden Augenblicke sozusagen vor sich hin erzählt. Anders als Camus L’Étranger hat Moravias Kurzgeschichte allerdings einen offenen Schluss, der verwirren kann. Zwanghaft zurückgekehrt zum Ort der Tat, treibt es den Mörder ebenso zwanghaft hinweg; er beginnt zu laufen und zu weinen, den Blick auf einen Vogel geheftet, der in den Himmel eindringt. Aber an dieser Stelle bricht die Erzählung nicht einfach ab, sondern sie kann enden, weil es darin um die Vergegenwärtigung eines inneren Geschehens ging, das mit seiner letzten Phase vollständig erfasst ist. Nachdem der erinnerungslos gewordene Mörder das Gespräch vor dem gelben Haus gehört hat, geht sein bisheriges Umherwandern in ein Laufen über, mit dem Blick auf einen Vogel, der im Himmel verschwindet, als stürze er hinten über, «come cadendo indietro». Das Davonlaufen vor dem übermächtig gewordenen Verdrängten ist an eine Grenze geraten, jenseits derer es nur noch das Erwachen gibt - oder den Sturz des Bewusstseins ins Bodenlose, ins Nichts. Das Motiv des Zählens kommt auch in Calvinos Roman Il cavaliere inesistente vor. Dort begegnet es im zweiten Kapitel. Ich halte es jedoch für sinnvoll, das zuvor Erzählte zunächst außer Acht zu lassen, und die betreffende Stelle allein für sich genommen näher zu betrachten. Für das Verständnis des Beginns genügt es zu wissen, daß der Protagonist von einem anderen beobachtet wird. «Lo scorse sotto un pino, seduto per terra, che disponeva le piccole pigne cadute al suolo secondo un disegno regolare, un triangolo isoscele. A quell’ora dell’alba, Agilulfo aveva sempre bisogno d’applicarsi a un esercizio d’esatezza: contare oggetti, ordinarli in figure geometriche, risolvere problemi d’aritmetica. È l’ora in cui le cose perdono la consistenza d’ombra che le ha accompagnate nella notte e riacquistano poco a poco i colori, ma intanto attraversano come un limbo incerto, appena sfiorate e quasi alonate dalla luce-: l’ora in cui meno si è sicuri dell’esistenza del mondo. Agilulfo, lui, aveva sempre bisogno di sentirsi di fronte le cose come un muro massiccio al quale contrapporre la tensione della sua volontà, e solo così riusciva a mantenere una sicura coscienza di sé. Se invece il mondo intorno sfumava nell’incerto, nell’ambiguo, anch’egli si sentiva annegare in questa morbida pe- 2_IH_Italienisch_70.indd 53 30.10.13 09: 25 5 4 Zwanghaftes Zählen Dieter Steland nombra, non riusciva più a far affiorare dal vuoto un pensiero distinto, uno scatto di decisione, un puntiglio. Stava male: erano quelli i momenti in cui si sentiva venir meno; alle volte solo a costo d’uno sforzo estremo riusciva a non dissolversi. Allora si metteva a contare: foglie, pietre, lance, pigne, qualsiasi cosa avesse davanti. O a metterle in fila, a ordinarli in quadrati o in piramidi. L’applicarsi a queste esatte occupazioni gli permetteva di vincere il malessere, d’assorbire la scontentezza, l’inquietudine e il marasma, e di riprendere la lucidità e compostezza abituali.» (S. 968 f.) 6 In diesen Sätzen erfährt man über das zwanghafte Zählen sehr viel mehr als in Moravias Kurzgeschichte, ja man hat den Eindruck, dass die hier gegebenen Aufschlüsse dem Phänomen auf den Grund gehen. Das Zählen, bei dem der Mann in unserem Vergleichstext beobachtet wird, ist eine ‹Zwangshandlung›, wie sie bei den Psychologen im Buche steht. 7 In der Morgendämmerung verspürt er immer die Notwendigkeit zu zählen («aveva sempre bisogno» … «contare oggetti»). Den Icherzähler Moravias hatte dieser Zwang erst nach dem begangenen Mord befallen. (Eine weitere Zwangshandlungen hatte sich angemeldet, als ihm die Balkone wie Seifenschalen vorkamen: der Wasch- und Reinigungszwang, dem Lady Macbeth nach dem Mord an König Duncan anheimfällt.) Beiden Protagonisten dient das Zählen der Abwehr oder Überwindung einer unguten Empfindung, und im Vergleichstext wird sie sehr ausführlich beschrieben. Im letzten Satz mit dem Wort Unwohlsein («malessere») und weiteren sinnverwandten Worten; in den voranstehenden Sätzen jedoch mit weit stärkeren Ausdrücken, und dies in einem sozusagen existenzumgreifenden Zusammenhang. Der Zählzwang setzt ein in der Morgenstunde, die alles in ein ungewisses Zwielicht taucht: In der Stunde, in der man der Existenz der Welt am wenigsten sicher ist. Der Mann unter der Fichte braucht das Gefühl, die Welt als ein festes Gegenüber zu haben; nur das verschafft ihm ein verlässliches Bewusstsein seiner selbst. Wenn sich die Welt um ihn her ins Ungewisse auflöst, fühlt auch er sich ins Leere («vuoto») versinken und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. In diesen Augenblicken fühlt er sich dahinschwinden und kann der Selbstauflösung nur mit äußerster Anstrengung Einhalt gebieten. In Moravias Icherzählung setzt der seelische Vorgang, der zum zwanghaften Zählen führt, anders ein. Nicht mit der unsicher gewordenen Welt, sondern mit einer inneren Empfindung. Sie erst lenkt den Blick des Icherzählers auf die Außenwelt, die ihm unsicher geworden ist und die er befragt, um eine beruhigende Antwort zu erhalten. Anders ist auch, was das Zählen bewirkt. Dem Protagonisten des Vergleichstextes verhalf es dazu, inmitten der 2_IH_Italienisch_70.indd 54 30.10.13 09: 25 55 Dieter Steland Zwanghaftes Zählen unfest gewordenen Welt wieder festen Boden zu gewinnen. Dem Halt suchenden Protagonisten der Kurzgeschichte hingegen werden die Zahlen zu geheimnisvollen Zeichen einer Wahrheit, die ihm verschlossen bleibt. Indessen handeln offenbar beide Texte von einem gestörten Weltbezug. Beide Personen hat es heraus versetzt aus den gewohnten Lebensbezügen, in denen jedes Ding seinen festen Platz hat und das Ich zuhause ist. Die Welt ist zu etwas Fremdem geworden, und das Ich zu einem Fremdling in der Welt. Und beide versuchen, in die altgewohnte Ordnung zurück zu gelangen. Das gelingt nur, wenn die Welt ihr früheres Gesicht zurückgewinnt. Die Festigkeit der Welt und des Ichs bedingen einander wechselseitig. Für den Icherzähler war der auslösende Moment für die Verwandlung des Weltbezugs der vergessene Mord, dessen nicht ganz gelingende Verdrängung sich in einer unbestimmten Empfindung anmeldete. Für den Protagonisten des Vergleichstextes war es die Morgenstunde, die alles in ein Zwielicht taucht. So jedenfalls sagt es der von uns zitierte Passus. Liest man ihn in seinem Zusammenhang, wird jedoch klar, dass auch dieser Mann seiner ganzen Natur nach ein sonderbarer Fremdling in der Welt ist. Der seltsame Titelheld des Romans, so erfährt man eingangs, ist ein Ritter im Heer der Franken. Vor den Mauern von Paris ist das Heer zur Parade angetreten und wartet auf Karl den Großen an diesem heißen Tag schon seit gut drei Stunden. In den Rüstungen schmort es wie in Kochtöpfen auf kleiner Flamme, und es ist gut möglich, dass mancher Ritter schon ohnmächtig geworden oder eingeschlummert ist, und nur der Harnisch ihn aufrecht im Sattel hält. Ein Trompetensignal ertönt, die Schnarchgeräusche aus den Helmen verstummen, und Karl der Große wendet sich der Reihe nach an seine Paladine mit der immer gleichen Frage: «Ecchisietevói? », worauf der Befragte das Visier hebt und die gewünschte Auskunft nach dem immer gleichen Schema gibt. Der letzte in der Reihe ist ein Ritter in makelloser weißer Rüstung. Auf seinem Wappen sieht man einen Vorhang, der sich über einem kleineren Vorhang öffnet, der sich seinerseits über einem noch kleineren Vorhang öffnet, so dass die immer kleiner werdenden Vorhänge nicht erkennen lassen, worüber sie sich eigentlich öffnen. Der Ritter nennt seinen Namen, Agilulfo, mitsamt vielen exotisch klingenden Beinamen, hebt aber nicht das Visier. Karl der Große will wissen, warum, und Agilulfo, nach einigem Zögern: «weil ich nicht existiere». Das will Karl der Große denn doch genauer sehen, und Agilulfo hebt langsam das Visier. Der Helm ist leer, in der Rüstung ist niemand. Was man nicht alles zu sehen bekommt, staunt Karl der Große, und fragt: wie tue er denn seinen Dienst, wenn er gar nicht da sei? Darauf Agilulfo: «Con la forza di volontà e la fede nella nostra santa causa! » Ach ja, gut gesagt, findet Karl der Große, und wendet sein Pferd, denn in vorgerücktem Alter hält er sich schwierige Fragen vom Leib. 2_IH_Italienisch_70.indd 55 30.10.13 09: 25 56 Zwanghaftes Zählen Dieter Steland Hatte man bis hierhin meinen können, das sei alles nur Scherz, Satire und Ironie, wird man wenig später auf eine mögliche tiefere Bedeutung aufmerksam gemacht. Die Dämmerung bricht herein; Agilulfo sieht erst hier, dann dort nach dem rechten, erinnert an Vorschriften, erteilt Strafen, gibt Befehle und ist zweifellos - so heißt es am Schluss des ersten Kapitels - das Musterbild eines Soldaten, aber allen unsympathisch. Agilulfo ist offenbar die Verkörperung, oder passender gesagt: die Personifikation von etwas Abstraktem. Man denkt an den Begriff der militärischen Disziplin. Beginnt man mit der Lektüre des zweiten Kapitels, begreift man indessen, dass man weiträumiger denken muss. Die Nacht ist hereingebrochen, die für lagernde Heere geregelt ist wie der gestirnte Himmel. Im Heer der Christen wie in dem der Ungläubigen geschieht das gleiche; abgesehen von den Nachtwachen, die sich zu festgesetzten Stunden ablösen, schlafen alle. Nur Agilulfo ist wach; Schlafen ist ihm versagt. Er wandert zwischen den Zelten umher, und der Anblick herausragender Füße mit hochgerecktem großem Zeh macht ihn unruhig und betroffen. Die Leiber dieser Leute, die einen Körper besitzen, erfüllt ihn mit Unbehagen, aber dann überkommt ihn ein Gefühl des Stolzes. «Ecco i colleghi tanto nominati, i gloriosi paladini, che cos’erano? L’armatura, testimonianza del loro grado e nome, delle imprese compiute, della potenza e del valore, eccola ridotta a un involucro, a una vuota ferraglia- ; e le persone lì a russare, la faccia schiacciata nel guanciale, un filo di bava giù dalle labbra aperte. Lui no, non era possibile scomporlo in pezzi, smembrarlo: era e restava a ogni momento del giorno e della notte Agilulfo […] Eppure passeggiava infelice nella notte.» (S. 961 f.) Die Ritter haben sich zur Nachtruhe der Zeichen ihres Ranges und ihrer Macht entledigt, und Agilulfo fragt sich: Was sind diese Paladine wirklich? Ihre Rüstung steht leer da, während sie selbst schnarchen. Was sich als eine Einheit darbot, ist in zwei Teile zerlegt. Er, Agilulfo, hingegen ist eine unauflösbare Einheit, und das erfüllt ihn mit Stolz. Aber warum ist er zugleich Stolz und unglücklich? Sichtlich ist der Leser aufgefordert, über diese Fragen nachzudenken und den allegorisch phantastischen Ritterroman als Spiegelung zeitgenössisch moderner Verhältnisse zu verstehen. Dazu bietet sich als Ausgangspunkt die leere Rüstung an. Ins Moderne übersetzt, ist sie eine ausgezogene Uniform. Wie sehr eine Uniform von dem Menschen trennbar ist, der in ihr steckt, hat aufs schönste Carl Zuckmayers Schuster Wilhelm Vogt demonstriert, der bei einem Trödler eine Hauptmannsuniform erwirbt und einen Trupp vorüber kommender Soldaten zum Marsch nach Köpenick befiehlt. 2_IH_Italienisch_70.indd 56 30.10.13 09: 25 57 Dieter Steland Zwanghaftes Zählen (Der Kaiser soll schmunzelnd gesagt haben: da sehe man, was Disziplin heißt! ). Anders als die Paladine war der Schuster jedoch ein schauspielerisch begabter Betrüger, und die Soldaten waren auf seine Maskerade hereingefallen. Hätte er seine Truppe nicht nach Köpenick, sondern ins Feld geführt, wäre die Komödie lebensgefährlich geworden. Es hätte sich gezeigt, dass er zum Hauptmann nicht ausgebildet war und ihm die Kenntnis all der Reglements fehlten, die notwendig sind, um die Funktion eines Hauptmanns sachgerecht wahrzunehmen, anders gesagt: um dessen Rolle auszufüllen. Dieser umfassendere Begriff der Rolle, der seit alters her seinen Platz in der Deutung des menschlichen Daseins als eines Schauspiels hatte, ist von der Soziologie übernommen worden. Gerade in dem Jahrzehnt, an dessen Ende Calvinos Roman erschien, war der Begriff der Rolle, zunächst in den USA, dann in Europa, zum zentralen Gegenstand soziologischer Analysen geworden. Einen vielbeachteten Beitrag zu dieser Diskussion lieferte in Deutschland das 1959 erschienene Buch von Ralf Dahrendorf, Homo Sociologicus. 8 Einleitend führt Dahrendorf aus: die Schauspielmetapher im Sinne des theatrum mundi weise dem Einzelnen nur eine einzige Rolle im Ganzen zu; sein Ansatz stehe hingegen unter der Absicht, «gerade diese Einheit des Menschen aufzulösen in Elemente, aus denen menschliches Handeln sich aufbaut.» (S. 14). Besser, so scheint mir, kann man gar nicht sagen, worum es auch Calvino zu tun ist. In welcher Vielzahl von teils zugewiesenen und teils erworbenen Rollen sich das Leben eines einzelnen Menschen vollzieht, veranschaulicht Dahrendorf am Beispiel eines Herrn X und nennt unter anderem dessen Rollen als Deutscher, evangelischer Christ, Ehemann, Vater, Lehrer, Schatzmeister in einem Club und Mitglied in einer politischen Partei, in der er im Rahmen des Vorstands eine Funktion innehat (S. 18 f.). Die Rolle eines Parteimitglieds, wenn auch nicht die eines Funktionärs, hatte Calvino gründlich durchlebt und durchlitten. Er hatte sich 1944 einer kommunistischen Partisanengruppe angeschlossen, die in den ligurischen Alpen operierte, war in den Nachkriegsjahren für die Ziele der Partei journalistisch eingetreten und hatte unter dem Eindruck der Ereignisse in Polen und Ungarn 1957 seinen Austritt aus der Partei erklärt. Mehr noch als der Begriff der Rolle ist es jedoch der Begriff der Funktion, den Calvinos Roman an dieser Stelle nahelegt. Die Paladine haben im Heer Karls des Großen eine Funktion. Deren äußeres Zeichen ist die Rüstung, die leer dasteht, während sie schlafen. Agilulfo aber ist (fast) nichts anderes als genau das: eine leere Rüstung, - der allegorisch sinnfällig gewordene Begriff der Funktion. 9 Das jedoch macht Agilulfo nicht nur stolz, es macht ihn auch unglücklich. Und warum das so ist, lässt sich der Episode entnehmen, der unser Zitat entstammt. Agilulfo hat eine Anhöhe jenseits des Lagers erstiegen. Fledermäuse umschwirren ihn, er reißt sein Schwert aus der Scheide und vollführt Hiebe, 2_IH_Italienisch_70.indd 57 30.10.13 09: 25 5 8 Zwanghaftes Zählen Dieter Steland die alle ins Leere gehen und sich allmählich ordnen zu Figuren, in denen sich die Theorie der Fechtkunst in die Tat umsetzt. Da taucht ein junger Mann auf, der ihn um einen Rat bittet. Die morgen stattfindende Schlacht wird seine erste sein, und er ist hierher gekommen, um seinen Vater zu rächen, den der Kalif Isoarre erschlagen hat. Wie soll er es anstellen, um ihm und keinem anderen zu begegnen? Ganz einfach, sagt Agilulfo, er brauche nur bei der Oberintendantur für Duelle, Blutrache und Ehrenhändel einen Antrag zu stellen, den man prüfen werde. Nachdem der junge Mann seine Verwirrung überwunden hat, fragt er Agilulfo, wie er sich denn verhalten würde, wenn in der Schlacht eine ganz persönliche Frage auf dem Spiel stehe, und der entgegnet: Er halte sich streng an die Vorschriften und rate ihm, das gleiche zu tun. Der junge Mann kehrt ins Lager zurück, stellt sich dort zwei Rittern vor, er sei Rambald von Roussillon, wolle seinen Vater rächen und suche die Oberintendantur, wie ihm der weiße Ritter empfohlen habe. Der, so die Ritter, stecke überall seine Nase rein, die er nicht habe, denn der sei nichts als hohles Eisen. Niemals hätte der junge Rambald sich träumen lassen, dass der Schein so trügen könne. Als Rambald den Rittern der Oberintendantur sein Anliegen vorträgt, bekommt er die Antwort: das beste Verfahren, einen Vater im Rang eines Generals zu rächen, sei, drei Majore zu erledigen, oder vier Hauptleute. Der Kalif Isoarre käme keinesfalls in Betracht; es könnte beispielsweise sein, dass Karl der Große mit ihm Verhandlungen laufen hätte. Da fällt einem der Beamten («funzionari») ein, dass Rambald überhaupt nichts zu unternehmen brauche. Jemand habe für zwei Onkel Rache genommen, die gar nicht tot waren, sondern nur betrunken. Eine Onkelrache als halbe Vaterrache gerechnet, habe sich Rambalds Blutrache erledigt. Rambald bekommt einen Wutanfall, und als in diesem Augenblick die Trompeten zum Wecken blasen und die Ritter sich zu rüsten beginnen, hält Rambald Ausschau nach Agilulfo, weil das Solideste, was er hier bisher angetroffen hatte, gerade dieser Ritter war, den es nicht gab. Mit den Worten «Er entdeckte ihn unter einer Fichte» setzte der vorhin zitierte Passus ein. Doch schon nach dem ersten Satz war die Beobachterperspektive abgelöst worden von der Perspektive des allwissenden Erzählers, der allein darüber Auskunft geben konnte, warum Agilulfo stets in der Morgenstunde zwanghaft geometrische Muster zu legen und Gegenstände zu zählen beginnt. Dann wendet sich der Erzähler wieder Rambald zu, der sieht, wie Agilulfo Zapfen zu einem Dreieck ordnet und die Zapfen der Kathetenquadrate und Hypothenusenquadrate zusammenzählt. Bei diesem Anblick überfällt ihn eine Einsicht, die auch den Leser des Romans nachdenklich machen muss: «Rambaldo comprendeva che qui tutto andava avanti a rituali, a convenzioni, a formule, e sotto a questo, cosa c’era sotto? Si sen- 2_IH_Italienisch_70.indd 58 30.10.13 09: 25 59 Dieter Steland Zwanghaftes Zählen tiva preso da uno sgomento indefinibile, a sapersi fuori di tutte queste regole del gioco […]. Ma poi, anche il suo voler compiere vendetta della morte di suo padre, anche questo suo ardore di combattere d’arruolarsi tra i guerrieri di Carlomagno, non era pur esso un rituale per non sprofondare nel nulla, come quel levare e metter pigne del cavalier Agilulfo-? E oppresso dal turbamento di così inattese questioni, il giovane Rambaldo si gettò a terra e scoppiò a piangere.» (S. 969) Die Rituale, Konventionen und Formeln, von denen Rambald spricht, sind unschwer als die vorgeprägten Formen des Handelns zu verstehen, aus denen eine soziale Rolle besteht. Rambald nennt sie zusammenfassend Spielregeln («regole del gioco»), und das ist ein reichlich farbloser Ausdruck angesichts der Tatsache, dass es bei den in einem Heer einzuhaltenden Regeln um Leben und Tod geht. Rambald will am Kalifen Rache nehmen, der seinen Vater erschlagen hat, und da ist es nur folgerichtig, dass er sich in das Heer Karls des Großen einreiht, kann er doch auf diese Weise zwei Rollen zugleich gerecht werden, der des Rächers und der des Soldaten. Sachlich gesehen, ist er in einen Rollenkonflikt geraten. Würde jeder Soldat in der Schlacht seine persönlichen Ziele verfolgen, geriete die Schlachtordnung in Schwierigkeiten. Aber im Heer Karls des Großen gestatten bestimmte Regeln, eine Rachepflicht zu erfüllen, Regeln von komischer Absurdität allerdings, in denen sich die Sache selbst verflüchtigt. Zum Vorschein kommt dabei, wie jemand in eine Organisation eintritt, die sein persönliches Anliegen als das ihre verficht, und wahrnimmt, dass der organisierte Kampf für die gute Sache auf den Vollzug von Ritualen hinausläuft, die nur eine Leere verdecken. Bestürzung ergreift Rambald bei dem Gedanken, ganz außerhalb dieser Spielregeln zu sein. Aber in noch weit tiefere Verwirrung stürzt ihn der Gedanke, dass es ein solches Außerhalb-Sein vielleicht gar nicht gebe. Sollte auch sein Verlangen, den Vater zu rächen, und sein Eifer, unter der Fahne Karls des Großen mit dem Heer in die Schlacht zu ziehen, nichts anderes sein als ein Ritual? Das würde bedeuten, wie man als Leser hinzudenken muß, daß solche Rituale nicht nur vorgeprägte Formen des Handelns sind, sondern auch solche des Denkens und Empfindens: vorgeprägte Gesinnungen. Wäre das die Wahrheit, würde sich die Authentizität persönlicher Entscheidungen und Handlungen in Nichts auflösen. Ist es tatsächlich so, daß ein Ich vollständig seinen sozialen Rollen anheim gegeben ist? Mit einer Formulierung von Ralf Dahrendorf gefragt: «Ist ‹homo sociologicus› der sich gänzlich entfremdete Mensch? » (S. 26) In dem Augenblick, in dem Rambald von diesem Gedanken erfasst wird, fühlt er sich in eine abgrundtiefe Leere versinken - in eben die Leere, die Agilulfos Wappenschild ins Bild gesetzt hatte. 2_IH_Italienisch_70.indd 59 30.10.13 09: 25 6 0 Zwanghaftes Zählen Dieter Steland Das auslösende Moment für Rambalds desillusionierende Einsicht war die Beobachtung dessen, was Agilulfo tat. Was bei diesem Tun in Agilulfos Inneren vor sich ging, konnte er nicht wissen. Aber es passt derart gut mit dem zusammen, was dann in ihm selbst geschieht, dass man vermuten muss, die beiden epischen Figuren seien als die Komponenten ein und derselben Person zu verstehen. Gibt man dieser Vermutung Raum, ergibt sich die Vorstellung eines jungen Mannes, dem die Wahrheit über das Gefüge der Gesellschaft schon eine Weile ‹gedämmert› hat, und dessen inneres Gefüge in dem Moment, in dem diese Wahrheit sich nicht länger verdrängen lässt, zusammenbricht. In Calvinos Roman ist das indessen keineswegs das letzte Wort. Wir befinden uns erst am Ende des zweiten Kapitels. Zu Beginn des dritten Kapitels ist das Heer auf dem Marsch. Längs der Straße watscheln Enten vorbei, und mitten unter ihnen watschelt ein Mann, der quak, quak ruft. Es ist ein seltsamer Irrer, der sich mal für eine Ente hält, mal für einen Frosch und insgesamt alle Lebewesen und Dinge um sich her nicht von sich selbst unterscheiden kann, ein menschlicher Körper ohne Bewusstsein seiner selbst. Er hat den lautmalerisch passenden Namen Gurdulú, wird jedoch auch mit vielen anderen Namen gerufen und hält verrückte, aus mehreren Sprachen gemischte Reden. Als Agilulfo diesen Fleischkoloss sich zwischen den seienden Dingen herumwälzen sieht wie ein Füllen auf dem Rücken, überkommt ihn, den seiner selbst bewussten Nichtseienden, ein Schwindel. Da ruft Karl der Große Agilulfo herbei und teilt ihm diesen Mann als seinen Schildknappen zu. Agilulfo und Gurdulú: das ist ein Paar, in dem Don Quijote und Sancho Panza fröhliche Urständ feiern und sich in die Helden eines philosophischen Märchens verwandeln. Dass Moravia den Roman Calvinos gelesen hat, halte ich für gewiss. Die Wahrscheinlichkeit indessen, dass er das Motiv des zwanghaften Zählens in Erinnerung hatte, als er seine Kurzgeschichte schrieb, ist eher gering. Sicher ist nur, dass beide Autoren begnadete Psychologen waren. Calvino hatte schon mit seinem ersten, 1947 erschienenen Roman, Il sentiero dei nidi di ragno, eine eindrucksvolle Probe psychologisch vertiefter Erzählkunst gegeben. Es ist ein Resistenza-Roman, in dem Calvino eigene Erlebnisse verarbeiten konnte. Der Held des Romans ist ein sich selbst überlassener halbwüchsiger Junge, raubeinig und sensibel, der sich in den Straßen und Kneipen kleiner Leute herumtreibt, einem deutschen Soldaten, der mit seiner Schwester im Bett liegt, die Pistole stiehlt, festgenommen wird, zusammen mit einem Häftling fliehen kann und in eine Partisanengruppe gerät, in die nach Anweisung der Anführer weniger gut brauchbare Männer aus der sozialen Unterschicht eingegliedert sind. Unverkennbar also ein Roman in der Stilrichtung des Neorealismus, aus der Calvino sich entschieden löst mit seiner ins Phantastische und Märchen- 2_IH_Italienisch_70.indd 60 30.10.13 09: 25 61 Dieter Steland Zwanghaftes Zählen hafte gehenden Romantrilogie Il visconte dimezzato (1952), Il barone rampante (1957) und Il cavaliere inesistente (1959). So lässt sich sagen, dass eine Kurzgeschichte wie Gli indizi auch im Oeuvre Calvinos vorstellbar wäre, ein Roman wie Il cavaliere inesistente im Oeuvre Moravias hingegen nicht. Abstract . Il protagonista del racconto Gli indizi (1964) di Alberto Moravia esce da una casa con la sensazione vaga «che qualcosa di insolito [gli] fosse avvenuto» ma non osserva niente di insolito su tutto il Lungotevere, all’infuori del passaggio di sei utilitarie della stessa marca, di nove rami nel fiume, nonché di altri oggetti, animali e persone che l’Io narrante persegue a contare. Sul modello dell’Edipo Re, il racconto rivela che il protagonista ha compiuto un omicidio per rapina. Si aggiunge a questa struttura temporale l’uso inconsueto del passato prossimo («Sono uscito dalla casa …»), un modo di narrare utilizzato da Albert Camus nel suo capolavoro L’Etranger (1942) e analizzato attentamente da Harald Weinrich in Tempus: besprochene und erzählte Welt. L’incapacità dell’assassino di rammentare ciò che ha fatto è dovuta ovviamente alla repressione inconsapevole della verità inaccettabile, mentre la presenza angosciante dell’omicidio nel subconscio si manifesta attraverso la coazione a contare. Leggendo Il cavaliere inesistente (1959) di Italo Calvino colpisce vedere che anche Agilulfo è soggetto a quella stessa coazione, benché per un motivo diverso. Sebbene non esistente, Agilulfo dimostra di essere un cavaliere perfetto. La sua armatura vuota - in termini moderni una divisa vuota da ufficiale - è la materializzazione del concetto di «funzione» oppure di «ruolo», un concetto studiato da Ralf Dahrendorf nel suo libro Homo Sociologicus. Dalle pagine del sociologo come da quelle del romanziere si desume che l’uomo assorbito completamente dalla sua funzione è l’uomo alienato. È per questo che Agilulfo all’alba, quando il mondo sfuma nell’incerto, «solo a costo d’uno sforzo estremo riusciva a non dissolversi. Allora si metteva a contare: foglie, pietre, lance.» Anmerkungen 1 Dino Buzzati, «Lettera noiosa», in: Le notti difficili. Introduzione di Domenico Porzio, Milano: Mondadori (Oskar Mondadori) 1984 (zuerst 1971), S. 40-44. 2 Alberto Moravia, Opere / 4. Romanzi e racconti 1960-1969. A cura di Simone Casini. Introduzione di Gianni Turchetta, Milano: Bompiani 2007, S. 1342-1347. 3 Zitiert nach: Peter Szondi, Theorie des modernen Dramas, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1963 (zuerst 1956), S. 22. Ausgehend vom analytischen Drama, charakterisiert Szondi hier die Besonderheit der Dramenform bei Ibsen («nicht die Vergangenheit, son- 2_IH_Italienisch_70.indd 61 30.10.13 09: 25 62 Zwanghaftes Zählen Dieter Steland dern die Gegenwart wird enthüllt», S. 24) , dann bei weiteren Autoren des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts. Eines der Kapitel behandelt Pirandellos Sei personaggi in cerca d’autore. Anders als die einleitenden theoretischen Ausführungen sind die aus der Anschauung der Texte entwickelten Interpretationen gut nachvollziehbar und sehr erhellend. 4 Harald Weinrich, Tempus: besprochene und erzählte Welt, Stuttgart: Kohlhammer 1964 u.ö. 5 Albert Camus, Théâtre, Récits, Nouvelles. Préface par Jean Grenier. Textes établis et annotés par Roger Quilliot, Paris: Gallimard (Bibliothèque de la Pléiade), 1962, S. 1125-1212. 6 Italo Calvino, Romanzi e Racconti, a cura di Mario Barenghi e Bruno Falcetto. Volume primo. Milano: Mondadori (I Meridiani) 1991, S. 953-1064. 7 Einen differenzierenden Überblick gibt das Buch von Hans Reinecker, Zwangshandlungen und Zwangsgedanken, Göttingen: Hogrefe 2009. Einleitend weist der Verfasser darauf hin, dass es ein breites Spektrum «subklinischer» Zwänge gibt, die von den behandlungsbedürftigen Zwangsstörungen zu unterscheiden sind. 8 Ralf Dahrendorf, Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, Köln und Opladen: Westdeutscher Verlag 1959 u.ö. 9 Gegenüber einem französischen Gesprächspartner hat Calvino selbst das mit den Worten klargestellt: «J’ai voulu peindre un homme qui n’existait que par ses fonctions: un militaire, un fonctionnaire, qui que ce soit assujetti à une tâche qui le mécanise.» - -«Ich habe einen Menschen schildern wollen, der nur dank seiner Funktionen existiert: einen Soldaten, einen Funktionär, irgendeinen beliebigen Menschen, der sich einer Aufgabe unterworfen hat, die ihn mechanisiert.» (Artikel von J. Platier in: Le Monde vom 7. April 1962; zitiert nach: Aurore Frasson-Marin, Italo Calvino et l’Imaginaire, Genf / Paris 1986, S. 74.) Bibliographie Buzzati, Dino: Le notti difficili. Introduzione di Domenico Porzio. Milano: Mondadori (Oscar Mondadori) 1984 ( 1 1971). Calvino, Italo: Romanzi e Racconti, a cura di Mario Barenghi e Bruno Falcetto. Volume primo. Milano: Mondadori (I Meridiani) 1991. Camus, Albert: Théâtre, Récits, Nouvelles. Préface par Jean Grenier. Textes établis et annotés par Roger Quilliot. Paris: Gallimard (Bibliothèque de la Pléiade) 1962. Dahrendorf, Ralf: Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle. Köln / Opladen: Westdeutscher Verlag 1959 u. ö. Dahrendorf, Ralf: Homo Sociologicus: uno studio sulla storia, il significato e la critica della categoria di ruolo sociale. Roma: Armando 2010 ( 1 1966). Frasson-Marin, Aurore: Italo Calvino et l’Imaginaire. Genève / Paris: Slatkine 1986. Moravia, Alberto: Opere / 4. Romanzi e racconti 1960-1969. A cura di Simone Casini. Introduzione di Gianni Turchetta. Milano: Bompiani 2007. Reinecker, Hans: Zwangshandlungen und Zwangsgedanken. Göttingen: Hogrefe 2009. (Weiterführende Literatur S. 92-99.) Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1963 ( 1 1956). 2_IH_Italienisch_70.indd 62 30.10.13 09: 25 6 3 Dieter Steland Zwanghaftes Zählen Weinrich, Harald: Tempus: besprochene und erzählte Welt. 6., neubearbeitete Auflage. München: Beck 2001. ( 1 1964). Weinrich, Harald: Tempus: le funzioni dei tempi nel testo. Bologna: Il mulino 2004. Zuckmayer, Carl: Der Hauptmann von Köpenick: ein deutsches Märchen in drei Akten. Berlin: Propyläen-Verlag 1930. 2_IH_Italienisch_70.indd 63 30.10.13 09: 25