Italienisch
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Narr Verlag Tübingen
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2013
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Fesenmeier Föcking Krefeld OttLorenzo de' Medici: "Tanto crudel fu la prima feruta"
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2013
Bernhard Huss
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95 Biblioteca poetica Lorenzo de’ Medici: «Tanto crudel fu la prima feruta» (Eröffnungssonett des Canzoniere ) Tanto crudel fu la prima feruta, sì fero e sì veemente il primo strale se non che speme il cor nutrisce et ale, sare’mi morte già dolce paruta. 5 E la tenera età già non rifiuta seguire Amor, ma più ognor ne cale; volentier segue il suo giocondo male, poiché ha tal sorte per suo fato avuta. Ma tu, Amor, poiché sotto tue insegne 10 mi vuoi sì presto, in tal modo farai, che col mio male ad altri io non insegne. Misericordia del tuo servo arai, e ’n quella altera donna fa’ che vegne tal foco, onde conosca gli altrui guai. 1 So grausam war die erste Wunde, so brutal und so heftig der erste Pfeil, dass mir der Tod schon süß erschienen wäre, würde da nicht die Hoffnung mein Herz nähren und erhalten. 5 Und mein zartes Alter weigert sich mitnichten, Amor zu folgen, nein: immer noch wichtiger wird ihm das! Bereitwillig folgt es seinem angenehmen Übel, da ihm solch ein Los schicksalshaft zukam. Aber du, Amor! Da du mich unter deiner Fahne 10 so früh haben willst, wirst du es so anstellen, dass ich mit meinem Leid nicht anderen ein Vorbild bin. Mitleid wirst du haben mit deinem Sklaven - Und mach, dass jene stolze Frau erfasst wird Von solchem Feuer, dass sie anderer Leute Unglück kennenlernt! Mit diesem Sonett eröffnet der als ‹il Magnifico› berühmt gewordene Renaissancepolitiker Lorenzo de’ Medici (1449-1492) seinen Canzoniere, einen Lyrikzyklus, an dem er seit den 1460er Jahren gearbeitet hat und der ihn bis in seine letzten Lebensjahre beschäftigt zu haben scheint. 2 Ein grundsätzliches 2_IH_Italienisch_70.indd 95 30.10.13 09: 25 9 6 «Tanto crudel fu la prima feruta» Bernhard Huss Charakteristikum dieses Buchs der Liebeslyrik ist die großflächig inszenierte Auseinandersetzung mit dem Petrarkismus und insbesondere mit dessen Grundtext, Francesco Petrarcas Rerum vulgarium fragmenta. Als einer der ersten italienischen Lyriker, und noch vor der Installation des ‹orthodoxen› hochrinascimentalen Petrarkismus, die im Primo Cinquecento durch Pietro Bembo erfolgte, schreibt Lorenzo in Orientierung an Petrarca nicht nur eine Anzahl von Gedichten mit Liebesthematik, sondern gruppiert seine einschlägigen Texte auch bewusst in der Form einer Sammlung, die eine fragmentierte ‹Liebesgeschichte› erzählt - eine narrative Dimension, die einen Lyrikzyklus im engeren Sinn ausmacht. Dabei spielt als Textvorbild aber nicht nur Petrarcas Buch eine Rolle, und nicht nur dessen moralphilosophisch problematische Erzählung der Liebe zu Laura bildet einen Fixpunkt für Lorenzos Poesie. Vielmehr überlagert Lorenzo die Petrarkismusbezüge seiner Gedichte mit Referenzen auf ein philosophisches System - das prominenteste aktuelle seiner Zeit, nämlich den Renaissanceplatonismus im Zuschnitt des Florentiner Philosophen, Platon-Übersetzers und -Kommentators und Divulgators neoplatonistischer Theorien, Marsilio Ficino (1433-1499). Ficino hatte in zahlreichen Schriften, vor allem aber in seiner dialogischen Um-Interpretation von Platons Symposion, die unter dem Titel Commentarium in Convivium Platonis De amore (italienisch als El libro dell’amore, von Ficino selbst übersetzt) bekannt wurde, eine enge Verbindung zwischen Poesie und Philosophie postuliert; besonders der Liebesdichtung kam nach diesem doktrinären philosophischen Entwurf die Aufgabe zu, die tiefen Wahrheiten einer philosophischen Lehre zu verkünden, die mit dem Anspruch umfassender Welterklärung auftrat. Mit diesem Anspruch setzt sich Lorenzo dichtungspraktisch auseinander. Dabei stellt er gegen die platonistisch-metaphysische Zurichtung der Liebeslyrik ein zweites Modell, nämlich jenes petrarkistische. Der lyrische Ausdruck der Liebe in Petrarcas Sprachformularien steht dabei gemäß Ficinos Lehre stets unter dem Verdacht, eine niedere, ‹tierische› Form sinnenverhafteter Begierde (amor ferinus) zu bezeichnen, der sich die ‹göttliche Liebe› (amor divinus) als abstrakte Annäherung an Gott entgegenstellt. Lorenzos Canzoniere vertextet den Konflikt zwischen diesen Formen der Liebe in einem spannungsgeladenen Narrativ, das den thematischen Schwerpunkt liebeslyrischer Rede von der Moralphilosophie hin zur Metaphysik und Erkenntnistheorie verschiebt. Von dieser Grundspannung legt bereits das Einleitungssonett des Zyklus Zeugnis ab, das als lyrisches Proömium - wie bei rinascimentalen Lyrikbüchern nicht anders zu erwarten - programmatische Bedeutung für das Gesamtwerk gewinnt. Das Sonett evoziert die Situation des ‹innamoramento›, den Moment, in dem sich der lyrische Sprecher in seine Dame verliebt haben will. Im ersten Quartett wird im Ausdrucksrepertoire der traditionellen Amor-Allegorie die 2_IH_Italienisch_70.indd 96 30.10.13 09: 25 97 Bernhard Huss «Tanto crudel fu la prima feruta» Heftigkeit dieser ‹Liebesattacke› beklagt; die Treffer von Amors Pfeilen würden den Sprecher schon in den Freitod geführt haben, wäre da nicht die Hoffnung, nämlich Hoffnung auf eine Erfüllung der Liebe, die den Sprecher emotiv ‹nährt› und ihn dem Leben bewahrt. Im zweiten Quartett wird dieser Gedanke erweitert: Das geradezu noch jugendliche Alter des lyrischen Protagonisten bewirkt, dass sich sein Streben ungeachtet der zuvor thematisierten (also rational erkannten) schmerzlichen Qualen nicht von der Liebe zurückzieht, sondern ganz im Gegenteil seinem ‹süßen Übel› gern und freiwillig folgt, auch wider die eigene Vernunfterkenntnis. Das erste Terzett äußert die hoffnungsvolle Erwartung, Amor werde den Sprecher mit seinem in jungen Jahren erfahrenen Liebesleid zumindest nicht anderen zum Vorbild werden lassen. Mitleid erfleht schließlich das zweite Terzett von Amor - und wünscht sich zugleich, die offensichtlich indifferente Dame möge von einem derartigen Liebesfeuer entfacht werden, dass sie selbst an ihrer eigenen Person das Liebesleid ‹anderer› (zuvörderst natürlich des lyrischen Ich) erfahre. Zunächst stechen an diesem Text Parallelen zu Petrarcas Rerum vulgarium fragmenta (RVF) ins Auge, die als Systemreferenzen 3 fungieren und den Text in die Traditionslinie des lyrischen Petrarkismus einordnen. Besonders deutlich bezieht sich Lorenzos Sonett auf die Einleitungssequenz des Petrarkischen Zyklus. Sie ist klar angezielt, wenn der Sprecher den ‹innamoramento› mit dem Treffer eines Pfeils und seine Verliebtheit mit der Wunde vergleicht, die der Pfeil geschlagen hat: Vom identischen Moment heißt es bei Petrarca «quando ’l colpo mortal là giù discese | ove solea spuntarsi ogni saetta» (RVF 2.7 f.). 4 Nicht nur Petrarcas zweites, sondern auch sein unmittelbar mit diesem zusammenhängendes drittes Gedicht ruft Lorenzo auf, das dieselbe Pfeilmetaphorik in die Phrasierung «ferir me de saetta in quello stato» fasst (RVF 3.13). Auf dieses dritte Gedicht Petrarcas zeigt Lorenzo auch mit der Verwendung des prononciert in Reimposition an den Schluss des Eingangssonetts gesetzten petrarkischen Signalworts «guai», das Petrarca neunmal, davon achtmal gleichfalls in Reimposition, verwendet, und das er zum ersten Mal und programmatisch in RVF 3.7 («i miei guai |») einsetzt. Gleichsam um nicht nur auf Petrarcas Proömialsequenz, sondern auf Petrarcas zyklisch strukturiertes Lyrikbuch als Ganzes zu verweisen, umgeht Lorenzo die direkte Imitation von Petrarcas in RVF 2 und RVF 3 zweimalig genannter «saetta» und sagt statt dessen am Ende des zweiten Verses «il primo strale». Durch diese scheinbare Abweichung ist ein Bezug zu RVF 97 markiert, wo eben dieses Syntagma am Ende des dritten Verses, also gleichfalls reimend in den inneren Versen des ersten Quartetts, eingesetzt ist - und wo gleichfalls die Thematik von Lorenzos ersten beiden Versen verhandelt wird, wenn es heißt: «… ’l mio stato, quando il primo strale | fece la piagha ond’io non guerrò mai! » (RVF 97.3 f.). 2_IH_Italienisch_70.indd 97 30.10.13 09: 25 9 8 «Tanto crudel fu la prima feruta» Bernhard Huss Eine Vielzahl weiterer Petrarca-Rekurse ließe sich aufzählen, 5 etwa die Tatsache, dass Lorenzos Nennung von «Amor» in Vers 6 und Vers 9 positionsidentisch zur Nennung Amors in Vers 6 und Vers 9 von Petrarcas ‹innamoramento›-Gedicht «Era il giorno ch’al sol si scoloraro» (RVF 3) erfolgt - solche auffälligen Stellungsanalogien sind neben der Übernahme von Reimschemata mit die stärksten strukturellen Indikatoren für intertextuelle Bezugnahme, die die frühneuzeitliche Liebeslyrik kennt. Auch die im Anschluss thematisierte, ungeachtet der eingangs besprochenen Leiden erfolgende Hingabe des lyrischen Sprechers an die bittersüße Erfahrung der Schmerzliebe, an das «giocondo male», gewinnt in ihrer oxymoralen Fassung den Charakter eines Gesamtverweises auf eine petrarkistische ‹dolendi voluptas›. Ausgelöst ist diese durch die beklagenswerte Teilnahmslosigkeit der Dame, der der Schluss des Textes eine Empfänglichkeit für so heftige Liebesempfindungen wie die des lyrischen Ich wünscht - in eben diesem Sinne hatte Petrarcas ‹innamoramento›-Sonett vorwurfsvoll geklagt, Amor habe zwar den lyrisch Liebenden mit dem Pfeil getroffen, der Dame (Laura) aber ‹nicht einmal den Bogen gezeigt›. 6 Auch der Umstand, dass zunächst der Tod die einzige Rettung aus der ausweglosen Schmerzliebe-Situation zu sein scheint, dann aber in seiner Wirkungsmacht konterkariert wird von der Hoffnung («speme») auf Liebeserfüllung, ist in Orientierung an Petrarcas Textvorlage konstruiert. 7 Darüber hinaus sind funktionale Äquivalenzen zu Petrarcas Einleitungsgedicht festzustellen: Wie Lorenzos Sprecher («tenera età», Vers 5), so ist auch Petrarcas lyrischer Liebender in seiner Jugendzeit der Macht Amors zum Opfer gefallen (RVF 1.3: «primo giovenile errore»); wie Petrarcas Sprecher in seinem ersten Terzett, so stellt auch Lorenzos Text an identischer Stelle einen ‹Publikumsbezug› her: Während bei Lorenzo der Sprecher hofft, er werde angesichts seiner negativ konnotierten Schmerzliebe (Vers 11 «col mio male») seinen Lesern (Vers 11 «ad altri») kein nachahmenswertes Exemplum bieten, stellt sich Petrarcas Sprecher in die durch seine Herausgeberfiktion ermöglichte zeitliche Distanz zum Liebesgeschehen und redet aus der Warte dessen, der durch sein Verhalten in jenem Geschehen bereits diverse bedauerliche Effekte nicht nur an sich selbst, sondern auch an anderen hervorgerufen hat. Schließlich wird in Lorenzos erstem Gedicht ganz wie im Petrarkischen Äquivalent eine Geste des verständnisvollen Entgegenkommens eingefordert; dabei begründet sich eine Differenz beider Texte auf der bei Petrarca im Gegensatz zu Lorenzo inszenierten Zeitdistanz zwischen liebendem/ dichtendem und ‹herausgebendem› Ich, die bei Lorenzo aufgegeben ist. Während nämlich Petrarcas ‹Herausgeber› aus der Warte zeitlicher Rückschau und, so scheint es zumindest, reuiger Entfernung von der einstigen Schmerzliebe «pietà» von liebeskundigen Lesern einfordert (RVF 1.8), erhofft Lorenzos Sprecher aus der Sicht dessen, der ohne Möglichkeit zeitlicher Distanzierung von der ‹dolendi volup- 2_IH_Italienisch_70.indd 98 30.10.13 09: 25 99 Bernhard Huss «Tanto crudel fu la prima feruta» tas› ergriffen ist, von Amor selbst die in den Fragmenta nicht belegbare «misericordia» (Vers 12), eine «misericordia» freilich, die ihre verglichen mit Petrarcas «pietà» scheinbar stärker auf das Motiv religiöser Liebesabkehr 8 verweisenden Implikate dadurch selbst negiert, dass ihr Ergebnis die Verliebtheit der Donna und damit die Erhöhung einer Chance auf die Erfüllung des weltlichen Liebesverlangens des Sprechers sein soll. Die in den Versen zuvor im Anschluss an RVF 2 und 3 inszenierte Verfallenheit des Sprechers an die petrarkische Schmerzliebe wird durch diese kalkulierte Abweichung von RVF 1 nur noch stärker unterstrichen. Doch, wie eingangs schon angedeutet, der petrarkistische Referenzrahmen, den das erste Sonett Lorenzos somit eröffnet, wird überlagert durch Verweise auf Hypotexte, die philosophische Systemreferenzen im Sinne des Renaissanceplatonismus eröffnen. Eine auffällige Bruchstelle ist hier zunächst die Bezeichnung der affektischen Qualität der Schmerzliebeerfahrung als «giocondo male» in Vers 7. Diese Bezeichnung - in der zeitgenössischen italienischen Dichtung so nicht belegt - meidet Petrarkische Alternativen wie «dolce male» (RVF 182.10, vgl. 205.2) oder «dilectoso male» (RVF 132.7), die zur Verfügung gestanden hätten, und greift statt dessen eine Formulierung aus Ovids Remedia amoris (Vers 135-138) auf, wo die Liebeserfahrung als ‹iucundum malum› (Vers 138: «haec sunt iucundi causa cibusque mali») bezeichnet wird. 9 An der Ovid-Stelle ist allerdings (ebenso wie in den Remedia insgesamt) von der Abkehr von der Leidenschaftsliebe die Rede. Lorenzos Sonett verweist hier also über eine Abweichung vom vordergründig modellhaften Petrarkischen Rededuktus auf einen anderen Text, der die Verneinung einer Liebeskonzeption propagiert, wie sie Lorenzos Petrarkismen zunächst einmal in Szene gesetzt haben. Dies zeigt die Möglichkeit eines Unterlaufens petrarkismuskompatibler Liebe mitten aus Lorenzos eigener ‹petrarkistischer› Rede heraus. Auf dieser Spur führen weitere Auffälligkeiten noch weiter. Die in Vers 1 und 2 angebrachten Wendungen von «la prima feruta» und «il primo strale» finden in ihrer Kombination kein Pendant bei Petrarca; für die enge Drängung von «prima» und «primo» sowie für die Formulierung «la prima feruta» gibt es gleichfalls kein Gegenstück in den Rerum vulgarium fragmenta. Eine Textvorlage gibt es aber andernorts. Sie stammt von Guido Cavalcanti, und damit von einem Dichter, den Ficinos Symposion-Kommentar über eine eigenwillig doktrinäre Interpretation der Canzone «Donna me prega» als poetisches Sprachrohr der Lehre des Ficinianismus in Dienst genommen hatte. In Cavalcantis Sonett «O tu, che porti nelli occhi sovente» ist von drei Pfeilen die Rede, von denen Amor bereits die ersten zwei auf den Sprecher abgeschossen habe (die Situation jenes Sonetts ist also analog zu der unseres Einleitungsgedichts). Die Pfeile Amors schlagen dem lyrischen Ich 2_IH_Italienisch_70.indd 99 30.10.13 09: 25 10 0 «Tanto crudel fu la prima feruta» Bernhard Huss Cavalcantis insgesamt drei Wunden, die sein Text in Vers 11-14 auch der Reihe nach benennt und dechiffriert: «[…] due saette che fan tre ferute: | la prima dà piacere e disconforta, | e la seconda disia la vertute | della gran gioia che la terza porta.» 10 Cavalcantis Text spricht von drei Stadien einer liebessymptomatischen Entwicklung: von einer Schmerzliebe, die antithetisch gefasst wird - «dar piacere» und «disconfortare» stehen für ‹voluptas› und ‹dolor› («prima feruta»); von einer Abkehr von dieser Liebe und sehnsuchtsvollen Bewegung hin auf eine höhere Art der Liebeserfüllung («seconda feruta») und schließlich von dieser ersehnten und beseligenden Erfüllung selbst («terza feruta»). Lorenzo zeigt mit dem hartnäckigen Verweis auf «la prima feruta» und «il primo strale» deutlich auf Cavalcantis Text. Das heißt aber in der Konsequenz: Auch für Lorenzo ist noch eine ‹seconda› und eine ‹terza feruta› vorstellbar. Explizit ist mithin in unserem Einleitungsgedicht nur von einem ‹ersten Stadium› die Rede, von der «prima feruta» einer Schmerzliebe, die sich uns zuvor als das augenscheinliche Thema des Sonetts gezeigt hatte. Diese Form der Liebe erweist sich aber in der Erwartung einer ‹seconda› und einer ‹terza feruta› als etwas, das zu überwinden ist. Der Leser hat mithin im Canzoniere noch andere ‹amori› zu erwarten als den, den das erste Sonett zunächst allein vorzuführen schien. Angesichts der metapoetischen Funktion des Proömialsonetts haben solche Hinweise programmatischen Wert. Und in der Tat wird das Lyrikbuch des Magnifico den Versuch des lyrischen Protagonisten zu erzählen haben, sich aus den Verstrickungen irdischer Liebessehnsüchte zu lösen und über eine platonistische Aufstiegsbewegung hin zu Gott zu finden. Das erste Sonett des Laurentianischen Canzoniere schickt seine Rezipienten auf eine spannungsvolle poetisch-philosophische Reise zwischen Petrarkismus und Platonismus und zeigt schon durch seine eigene Intertextualitätslastigkeit, mit welchem enormen Anspruch dieses Leseabenteuer entworfen ist. Übersetzung und Kommentar: Bernhard Huss 2_IH_Italienisch_70.indd 100 30.10.13 09: 25 101 Bernhard Huss «Tanto crudel fu la prima feruta» Anmerkungen 1 Der Text des Sonetts wird zitiert nach der zweibändigen kritischen Edition des Canzoniere von Tiziano Zanato, Firenze: Olschki 1991. Zanato hat am Ende von Vers 9, 11 und 13 nach handschriftlicher Überlieferung die fehlerhafte Lesung des Archetyps (-égna) in -égne korrigiert, was wegen des in Vers 11 nötigen Konjunktivs ‹insegne› (statt ‹insegna›) unumgänglich ist. 2 Zur Zyklusstruktur des Canzoniere und seiner Interpretation sei pauschal verwiesen auf Bernhard Huss, Lorenzo de’ Medicis Canzoniere und der Ficinianismus. Philosophica facere quae sunt amatoria, Tübingen: Narr 2007. Dort ist in großem Umfang weiterführende Sekundärliteratur zusammengestellt. Zur Entstehungsgeschichte des Lyrikbuchs vgl. dort bes. S. 149-159 und S. 249-253. 3 Zur Unterscheidung von Einzeltextreferenz und Systemreferenz (letztere ruft bspw. ein ganzes literarisches, philosophisches oder theologisches ‹System› als Hintergrundfolie eines bestimmten Textes oder einer bestimmten Textpassage auf) vgl. Klaus W. Hempfer, «Intertextualität, Systemreferenz und Strukturwandel: die Pluralisierung des erotischen Diskurses in der italienischen und französischen Renaissance-Lyrik (Ariost, Bembo, Du Bellay, Ronsard)», in: Michael Titzmann (Hrsg.), Modelle des literarischen Strukturwandels, Tübingen: Niemeyer 1991, S. 7-43, sowie ergänzend Franz Penzenstadler, «Elegie und Petrarkismus. Alternativität der literarischen Referenzsysteme in Luigi Alamannis Lyrik», in: Klaus W. Hempfer / Gerhard Regn (Hrsg.), Der petrarkistische Diskurs. Spielräume und Grenzen, Stuttgart: Steiner 1993, S. 77-114, hier S. 80-83. 4 Die Rerum vulgarium fragmenta werden zitiert nach der Ausgabe von Marco Santagata: Francesco Petrarca, Canzoniere, Milano: Mondadori 5 2001. 5 Vgl. im Detail Huss, Lorenzo de’ Medicis Canzoniere…, S. 165-168. 6 So RVF 3.12-14. Paolo Orvieto verweist in seiner Ausgabe des Canzoniere (Lorenzo de’ Medici, Tutte le opere, Bd. 1, Roma: Salerno Editrice, S. 30) zu unserer Stelle passend auf RVF 65.12-14: «Non prego già, né puote aver piú loco, | che mesuratamente il mio cor arda, | ma che sua parte abbi costei del foco.» 7 Vgl. bes. RVF 85.13 f. «Et se non ch’al desio cresce la speme, | i’ cadrei morto, ove più viver bramo». Zum Tod als letzter Möglichkeit einer Befreiung aus den Liebeswirren vgl. u.a. RVF 207.85-91, bes. 91 «ché ben muor chi morendo esce di doglia»; 331.62-64. 8 Der Stellenkommentar der zitierten Ausgabe von Paolo Orvieto verweist auch auf die religiösen Kontexte (lauda tre-quattrocentesca), in denen vergleichbare ‹misericordia›- Syntagmen häufig begegnen. 9 Zitierte Ausgabe: P. Ovidi Nasonis Amores Medicamina faciei femineae Ars amatoria Remedia amoris, hrsg. von Edward J. Kenney, Oxford: Clarendon Press 2 1994. 10 Zitiert nach: Guido Cavalcanti, Rime, hrsg. von Domenico De Robertis, Torino: Einaudi 1986 (dort Gedicht no. 20). 2_IH_Italienisch_70.indd 101 30.10.13 09: 25
