eJournals Italienisch 35/70

Italienisch
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Narr Verlag Tübingen
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2013
3570 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Jochen Trebesch: Giuseppe Tomasi di Lampedusa. Leben und Werk des letzten Gattopardo. Berlin: NORA Verlagsgemeinschaft Dyck & Westerheide 2012, 504 Seiten, € 29,90

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2013
Dorothea Zeisel
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128 Kurzrezensionen Jochen Trebesch: Giuseppe Tomasi di Lampedusa. Leben und Werk des letzten Gattopardo. Berlin: NORA Verlagsgemeinschaft Dyck & Westerheide 2012, 504 Seiten, € 29,90 Manchmal, so lehrte es auch der unvergessene Erich Köhler, ist die Literatur der Geschichte voraus: Noch immer hofft die Gilde der professionellen Italien- Beobachter auf die Bestätigung, dass der zynische Satz: «Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, müssen wir zulassen, dass sich alles ändert» für die italienische Politik nicht mehr gelte. 1 Ausgesprochen wird der Satz von Tancredi, dem Neffen des Fürsten Salina, in Giuseppe Tomasi di Lampedusas Roman Il Gattopardo, der in der Zeit der Eroberung Siziliens durch Garibaldis Truppen 1860/ 61 spielt. 2 Der junge Adelige wird sich der neuen gesamtitalienischen Regierung anschließen - zur Wahrung der Privilegien seines Standes. Sein Onkel bleibt zurück, zum Monument seiner selbst erstarrt und doch sinngebend. Das Leben seines Nachfahren - Giuseppe Tomasi di Lampedusa hat im Gattopardo einen seiner Vorfahren literarisch transfiguriert - scheint vordergründig das Scheitern dieser Sinngebung zu dokumentieren. 1896 in Palermo geboren, führte er innerhalb einer zerstrittenen und durch Erbhändel immer mehr verarmenden Familie eine schattenhafte Existenz, die zwar durch den ersten Weltkrieg in eine größere Umlaufbahn gebracht, aber auch durch lange Auslandsaufenthalte und die - über weite Strecken als Fernbeziehung geführte - Ehe nicht nachhaltig konturiert werden konnte. Zudem erfuhr Tomasi im Verlauf des Zweiten Weltkriegs eine elementare biographische Erschütterung durch die Zerstörung des Familiensitzes. Durch das Palermo der Nachkriegszeit irrte der letzte Fürst von Lampedusa nurmehr als angegriffener alter Mann. 1957 in Rom gestorben, hat er die Veröffentlichung und den Welterfolg seines Romans gar nicht mehr erlebt. Unter diesen Voraussetzungen erzählen italienische und vor allem sizilianische Biographen Tomasis Leben vorrangig als die Geschichte eines Scheiterns. 3 Nun hat Jochen Trebesch, Diplomat und Historiker, die erste deutschsprachige Biographie des sizilianischen Autors vorgelegt. 4 Auf einer deutlich ausgeweiteten Quellengrundlage leuchtet er Leben und Werk des sizilianischen Schriftstellers in ihrer Komplementarität aus und spürt in einfühlsamer Darstellung seinem Wirken nach. 2_IH_Italienisch_70.indd 128 30.10.13 09: 25 129 Kurzrezensionen Trebesch konnte, in Zusammenarbeit mit Lampedusas Adoptivsohn und Erben Gioacchino Lanza Tomasi, nicht nur den gesamten Briefwechsel des letzten Fürsten von Lampedusa einarbeiten, sondern hat auch die Quellen zur Herkunft und zur Verbindung mit seiner Frau, der Baronin Alexandra Wolff von Stomersee, im Lettischen Historischen Nationalarchiv in Riga erschlossen. Dazu kommen viele bislang unveröffentlichte Fotografien. Damit schließt Trebesch etliche Lücken in der Darstellung der Lebensgeschichte Tomasis, etwa in der - geschönten - Militärkarriere im Ersten Weltkrieg, den - ebenfalls geschönten - Studienjahren u.a. in Genua, den Aufenthalten im England der 20er Jahre, wo er in Diplomatenkreisen seiner späteren Frau begegnet, die er 1932 fast heimlich in Riga heiratet, bis hin zur Rückkehr in das zerbombte Palermo, wo ihm eine freudlose Nachkriegszeit bevorsteht. ‹Rettungsanker› wird Tomasi zum wiederholten Mal die Literatur, die ihn schon in Kindertagen die Adelsstarre seiner Umgebung überwinden lehrte In den Bibliotheken seiner ‹Häuser› lernt der Junge klassische und moderne Autoren kennen und legt den Grundstein für seine «stupende Belesenheit» (S. 13) Später möchte er Literatur statt der - familiär erwünschten - Jurisprudenz studieren. 1926/ 27 veröffentlicht er in Genua einige Aufsätze zur englischen und französischen Literatur. Es sollen - bis zum (postumen) Erscheinen des Gattopardo im Jahr 1958 - seine einzigen Publikationen bleiben. Das bedeutet, so Trebesch, aber nicht, dass Tomasi über Jahrzehnte schriftstellerisch untätig geblieben wäre. Nur war die konsequente Ausübung einer Berufstätigkeit, und sei es die des Schriftstellers, in seinen Kreisen nicht vorgesehen. Die Zerstörung seines Palastes bedeutete für ihn aber psychologisch gesehen den Verlust seiner Adelsidentität und damit eine tiefe Lebenskrise, aus der ihm wiederum die Literatur heraushalf: Seine Frau, eine Psychoanalytikerin, riet ihm, seine Studien zur englischen und französischen Literatur zusammenzustellen und in privaten Unterrichtsstunden weiterzugeben. So hat er in der ersten Hälfte der 50er Jahre auf über 1.500 Seiten Einzeldarstellungen niedergeschrieben, die Trebesch hier sorgfältig analysiert. Damit einher geht die Schlussfolgerung, dass auch der Gattopardo nicht «aus dem Nichts» entstanden ist. Es gibt Vorbereitungskapitel und Skizzen, wohl schon aus den 30er Jahren. Darauf weist auch die komplizierte Handschriftenlage hin, die noch einer eigenen Bewertung bedarf. Jochen Trebeschs respektvolle Darstellung ist in der Manier englischer Autorenbiographien gut lesbar geschrieben und mündet in einer literarischen Neubewertung des sizilianischen Autors: Der letzte Fürst von Lampedusa erscheint nicht mehr rückwärtsgewandt als der Verfasser einer laudatio temporis acti, als ein Schriftsteller, dessen Erzählstil bestenfalls als antiquiert angesehen und der deshalb auch in der Italianistik oft übersehen bzw. ausgegrenzt wurde. 2_IH_Italienisch_70.indd 129 30.10.13 09: 25 130 Kurzrezensionen Trebesch wendet mit eindrucksvollen, bis in die aktuelle Gegenwart (Houellebecq, Nicole Krauss) reichenden Bezügen die vermeintlichen Defizite des Autors ins Positive und stellt seine «poliedricità», sein nach allen Seiten offenes Literaturverständnis, als Schlüssel zum Verständnis seines Werks dar. Literatur ist demnach, wie bei dem von Tomasi bewunderten Stendhal, ein Teil der allgemeinen, vor allem der politischen Geschichte und der Gattopardo, als sein Hauptwerk, somit auf mehreren Ebenen: historisch, psychologisch, autobiographisch, philosophisch lesbar, die von Trebesch kenntnisreich aufgefächert werden. Die Erfüllung des jeweiligen Leseverständnisses muss jedoch, postmodern gesprochen, in der Interaktion mit dem Leser erfolgen und dient somit durchaus auch zur Entschlüsselung der Gegenwart. Insofern hat Trebesch literaturtheoretisch die Aktualität Tomasis eingefordert und - auch mit einem umfassenden bibliographischen Apparat - eine Fülle von Anregungen zur weiteren literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem sizilianischen Autor bereitgestellt. Dorothea Zeisel Anmerkungen 1 S. Christiane Liermann, «Kennst du das Land, wo vieles blüht? », Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.4.2013. 2 Giuseppe Tomasi di Lampedusa, Der Gattopardo, Neuübersetzung von Gio Waeckerlin Induni, München/ Zürich 2004. 3 S. Andrea Vitello, Giuseppe Tomasi di Lampedusa, Palermo 1987 (2. Aufl. 2008). 4 Bislang konnte die Biographie von David Gilmour, The last Leopard. A life of Giuseppe Tomasi di Lampedusa, London 1988 (ergänzte Ausgabe 2007), die größte Verbindlichkeit beanspruchen. Sie liegt nur in italienischer Übersetzung vor: L’ultimo gattopardo. Vita di Giuseppe Tomasi di Lampedusa, Mailand 2003. Franco Arminio: Terracarne. Viaggio nei paesi invisibili e nei paesi giganti del Sud Italia. Milano: Mondadori 2011, pp. 360, € 18,00 Al lettore che non abbia ancora mai sentito il nome dell’autore di cui stiamo per occuparci, va subito detto che Franco Arminio è un poeta e un paesologo. Mentre il primo dei due mestieri gode di fama millenaria, per l’altro, assai inedito, si richiede un primo approfondimento. Che cos’è la paesologia? Arminio, il creatore di questa scienza praticata finora soltanto da lui, non ce ne 2_IH_Italienisch_70.indd 130 30.10.13 09: 25