Italienisch
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Narr Verlag Tübingen
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Fesenmeier Föcking Krefeld OttUrsula Reutner: Sprache und Tabu. Interpretationen zu französischen und italienischen Euphemismen. Tübingen: Max Niemeyer 2009, VIII, 459 Seiten, € 104,95 [= Beiträge zur Zeitschrift für Romanische Philologie Band 346]
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Bernd Spillner
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139 Kurzrezensionen Ursula Reutner: Sprache und Tabu. Interpretationen zu französischen und italienischen Euphemismen. Tübingen: Max Niemeyer 2009, VIII, 459 Seiten, € 104,95 [= Beiträge zur Zeitschrift für Romanische Philologie Band 346] Die Untersuchung von Tabus, Vorurteilen, Stereotypen, Euphemismen, politischer Korrektheit und Höflichkeit hat in einer pragmatisch bzw. kulturwissenschaftlich geprägten Sprachwissenschaft einen hohen Stellenwert. Kaum übersehbar ist die Anzahl der in den letzten Jahren zu verschiedenen Sprachen publizierten Arbeiten. Weniger zahlreich sind die kontrastiven Arbeiten zu zwei oder mehreren Sprachen; zu ihnen zählt die vorliegende umfangreiche romanistische Untersuchung zum Französischen und Italienischen. Sie setzt sich zum Ziel, die zivilisatorische Bedingtheit von Tabus und Euphemismen sprachvergleichend zu ermitteln und geht davon aus, dass Vorhandensein bzw. Nicht-Vorhandensein von sprachlichen Tabus Indizien für den Entwicklungsstand und den Wandel einer Gesellschaft und ihres kulturellen Selbstverständnisses ist. Darüber hinaus sind Tabus und Euphemismen Ausdruck von Mentalität und Wahrnehmung der Realität. Zu diesem Zweck werden eingangs definitorische Abgrenzungen vorgenommen (Thementabu vs. Lauttabu, Tabuisierung vs. Enttabuisierung, Motive und Funktionen des Euphemismus etc.). Bei Tabus werden als Arten der sprachlichen Äußerungsbeschränkung die tradierten Tabus des magischen und religiösen Bereichs von den ‹profanen Tabus› (vom französischen Preziösentum des 17. Jahrhunderts bis hin zur gegenwärtigen ‹Politischen Korrektheit›) unterschieden. Damit zusammen hängen die ‹euphemistischen Ersatzmöglichkeiten› als onomasiologische Umgehung von Sprachtabus. Frankreich und Italien werden als Untersuchungsgegenstand gewählt, weil die Länder richtungweisende Sprachkulturen in der europäischen Sprachgeschichte sind. Der Forschungsansatz ist einerseits - relativ neu in der Sprachtabuforschung - der kontrastive Sprachvergleich, andererseits aber auch historisch, indem gruppenspezifische Tabuisierungs- und Enttabuisierungsschübe aufgearbeitet werden; für die Enttabuisierung u.a. Freud, die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und der Wandel nach 1968. Hier finden sich also zwei klassische Forschungsansätze der romanistischen Sprachwissenschaft vereint. Es folgt ein Überblick über die hauptsächlichen Tabubereiche (und zugehörigen Euphemismen) im französischen und italienischen Wortschatz. Es sind dies u.a. Glaube/ Aberglaube/ Magie, Sterben/ Tod, Krankheiten, Liebes- und Sexualleben, Körperteile, Weiblicher Lebenszyklus, Toilettengang, Wirtschaft/ Finanzen/ Verwaltung/ Militär. 2_IH_Italienisch_70.indd 139 30.10.13 09: 25 14 0 Kurzrezensionen Bei einem einerseits sprachvergleichenden, andererseits sprach- und kulturhistorischen Vorgehen stellt sich dezidiert die Frage nach der Analysemethode. Es bieten sich ein Vergleich von Textkorpora und ein Vergleich von Wortschätzen an. Die Vf. plädiert eindeutig für den Vergleich von Wörterbüchern; denn es «[…] ist der lexikographische Ansatz daher - bei entsprechender Umsicht im Umgang mit den lexikographischen Quellen - eine wesentlich repräsentativere und geeignetere Basis, als es subjektive Auswahlmodi aus Textkorpora je sein können» (S. 39). Diese Auffassung ist natürlich bestreitbar. Vertreter der ‹Korpuslinguistik› würden darauf hinweisen, dass sich euphemistische Aspekte oft erst im Kontext belegen lassen, während sie möglicherweise lexikographisch gar nicht markiert sind. Auch vom Standpunkt der Kontrastiven Textologie lässt sich argumentieren, dass verglichene Textkorpora keineswegs subjektiv ausgewählt sein müssen, vorausgesetzt, die (bei Reutner nicht diskutierte) Vergleichskategorie ‹tertium comparationis› wird ernst genommen. Zu erwarten ist überdies, dass beide methodischen Ansätze jeweils Vor- und Nachteile haben und sich in den Resultaten möglicherweise ergänzen. Vf. legt also - auch dies in guter romanistischer Tradition - für den kontrastiven Vergleich je ein französisches und ein italienisches Wörterbuch zugrunde, und zwar die «beiden wissenschaftlich repräsentativsten Wörterbücher unter den einbändigen, regelmäßig aktualisierten und gleichzeitig digital konsultierbaren Lexika des Französischen und Italienischen: Petit Robert (PR) und Zingarelli (Z).» (S. 39) Da nur die beiden Printversionen jährlich neu erscheinen, werden die beiden digitalen Versionen (CD-ROM) von 2007 verwendet. Bei der Erklärung des lexikographisch in den beiden Wörterbüchern markierten Euphemismusbestandes werden z.B. zur politischen Korrektheit in Frankreich und Italien die Kategorien Rasse, physische Einschränkungen, Alter, sexuelle Identität, Berufs- und Länderbezeichnungen ausgewertet. Als Motivationen für euphemistische Ausdrucksweisen werden Ehrfurcht, Scham, Rücksichtnahme, Höflichkeit herausgearbeitet. Der historische Teil deckt u.a. das Alte Testament, die Epoche von Renaissance und Humanismus, Castigliones Cortegiano, Giovanni della Casas Galateo, Stefano Guazzos Civil conversazione, Heinrich IV. und das Hôtel de Rambouillet, und die Richtungen des politiquement correct bzw. politicamente corretto ab. Als Resultat wird an zahlreichen Beispielen belegt, dass Tabuisierungs- und Euphemisierungsschübe tatsächlich ‹Bestandteil der Zivilisationsgeschichte einer Gesellschaft sind und deren Mentalität und Raffinesse in der Entwicklung der sprachlichen wie nichtsprachlichen Manieren reflektieren› (S. 398). 2_IH_Italienisch_70.indd 140 30.10.13 09: 25 141 Kurzrezensionen In Bezug auf die ausgedehnten Untersuchungsergebnisse werden die Resultate zu den Euphemismen in einem sehr übersichtlichen Organigramm (S. 407) zusammengefasst - ein Meilenstein in der Euphemismusforschung. Das sehr umfängliche, wenngleich natürlich nicht exhaustive Literaturverzeichnis umfasst 44 Druckseiten. Ein weiterer Anhang (S. 443-459) enthält ein ‹Wortregister› von Tabuwörtern und vor allem Euphemismen, das sehr wohl auch einschlägige Phraseologismen enthält. Für das Italienische gehören dazu z.B: andare a Carpi, bisogni, casa pubblica, cinque lettere, Dio l’ha chiamato alla sua gloria, donna da marciapiede, errore di gioventù, fondoschiena, male dei Franchi, operazione tempesta nel deserto, non sentirsi bene, pagare il proprio tributo alla natura, persona di colore, sacerdotessa di Venere, una di quelle, zebedei. Solche Stichwörter sorgen dafür, dass die Untersuchung nicht nur als breit angelegtes und wohldokumentiertes romanistisches Handbuch dient, sondern auch nützlich für den Fremdsprachenunterricht und die Praxis der Übersetzung ist. Bernd Spillner 2_IH_Italienisch_70.indd 141 30.10.13 09: 25
