eJournals Italienisch 36/71

Italienisch
ita
0171-4996
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Narr Verlag Tübingen
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2014
3671 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Rhythmische Neuerungen im "italiano parlato"?

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2014
Gerald Bernhard
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9 0 Sprachecke Italienisch Die Rubrik «Sprachecke Italienisch» stellt aktuelle Probleme und Tendenzen des Gegenwartsitalienischen vor und befasst sich mit Normierungsschwankungen, grammatischen Unsicherheiten, Neubildungen u .a Dabei sollen möglichst auch Anfragen und Anregungen aus dem Leserkreis aufgegriffen werden, die die Dynamik des Gegenwartsitalienischen als «lingua […] in forte ebollizione» (F Sabatini) präsentieren Verantwortlich für die «Sprachecke Italienisch» ist Prof .Dr Edgar Radtke (Universität Heidelberg): edgar .radtke@rose .uni-heidelberg .de rhythmische Neuerungen im «italiano parlato»? Dass Suprasegmentalia Wege gehen, die evtl Umbildungen des Morphemsystems, zumindest aber deren Wahrnehmung zur Folge haben, wird in zahlreichen früheren und neueren Arbeiten zum Sprachrhythmus deutlich Dass dies das Verhältnis zwischen Rhythmik und Äußerungsgestaltung in individuellen (und kollektiv wahrgenommenen reproduzierten) Sprechakten seinen Niederschlag findet, stellt sich dabei mit hoher Wahrscheinlichkeit in verschrifteten und kodifizierten Standardsprachsystemen etwas anders dar als in solchen, die keine Verschriftungs- und Normierungsgeschichte aufweisen Traditionell gilt das Italienische als Sprache, die die Silbenbetonung und die Silbenartikulation über die Akzentbetonung oder Akzentartikulation stellt Im Rahmen der Universalienforschung geht diese Dichotomie der akzentzählenden und silbenzählenden Sprachen auf die Sprachwissenschaftler Kenneth L Pike und George D Allen zurück Das Allensche Modell ist von Pier M Bertinetto in jüngster Zeit durch die terminologische Opposition controllo/ Kontrolle vs compensazione/ Kompensation ergänzt worden . 1 Es sollen aber an dieser Stelle keine theoretischen Diskussionen entfacht, sondern Beobachtungen zu jüngeren sprechsprachlichen Erscheinungen vorgestellt werden, welche in den unterschiedlichen Wahrnehmungsgewohnheiten oder -mustern von Systemteilen durch verschiedene Sprachgemeinschaften begründet liegen: Die Realisation von schwierigen phonotaktischen Mustern, hier bezogen auf das Italienische, welches in aller Regel auf die Kontrolle der einzelnen Morpheme und submorphemisch-phonologischen Einheiten größeren Wert legt als bspw das Englische oder das Deutsche Eine solche schwierige Verbindung stellt im Italienischen, und nicht nur dort, die Abfolge von Nasal + Liquid bzw Liquid + Liquid, hier v .a [ l ] + [ r ], 2 dar So tendieren bspw Syntagmata wie un ragazzo, il ragazzo, del ragazzo etc in der gesprochenen Spontansprache (in der nähesprachlichen mündlichen Kommunikation) dazu, als u(r)ragazzo, i(r)ragazzo, de(r)ragazzo etc realisiert zu 2_IH_Italienisch_71.indd 90 14.05.14 18: 22 91 Gerald Bernhard Rhythmische Neuerungen im «italiano parlato»? werden, mit anderen Worten durch assimilatorische Realisation eine flüssigere und schnellere Sprechbarkeit und tendenzielle Kompensation zu ermöglichen Legt man die Vermutung zugrunde, dass sich die morphologischen Gliederungen der Äußerung über die phonische Realisation derselben stellen, und eine Assimilation vermieden werden soll, so ist eine Umgehungsmöglichkeit solcher Assimilationen, also Kontrolle, durch eine kurze artikulatorische Pause, z .B un # ragazzo, il # ragazzo, del # ragazzo usw ein ‹gangbarer Weg› Auf diese Weise wird die morphologisch-systematische, wie auch die an der Orthographie orientierte erste Gliederungsebene wieder ‹konturiert› und die ‹störenden› kompensierenden Tendenzen der zweiten Gliederungsebene aufgehoben Ähnlich ist dies wohl bei der Herausbildung der Artikelallomorphe lo und uno vor s impura und ihrer normativen Festigung historisch geschehen Es ist seit den 1990er Jahren verstärkt zu beobachten, dass sich kontrollierte Realisationen (mit Pause o ä .) in akustisch realisierten medialen Texten finden, z T sogar in Nachrichtensendungen, z B bei Artikel und Nomen und den ‹preposizioni articolate› vor konsonantisch anlautenden Nomina Hier tritt der Hang zur Kontrolle auf, und zwar in Form von epenthetischen vokalischen Elementen, z B [ e ], [ æ ] oder [ a ], also von der Zungenspitzenposition [ l ] benachbarten Lauten der palatalen Vokalreihe Hierdurch entstehen Sequenzen wie z .B ille ragazzo oder della ragazzo, oder delle/ della presidente . 3 Die dabei entstehenden epenthetischen Vokale besitzen bei mit dem Usus vertrauten Sprechern des Italienischen in aller Regel keinen phonologischen Status, zumal Kontext und Weltwissen stets für ein «richtiges» Verständnis der Äußerungen sorgen Anders kann dies aussehen, wenn Italienischlerner häufiger mit diesem Phänomen konfrontiert werden, 4 da die vokalischen Elemente für sie Phoneme wie [ e ] oder [ a ] gleichzeitig morphologischen Charakter annehmen können und damit sozusagen auf die erste Gliederungsebene der Sprache «rutschen» Im Folgenden wollen wir einen Blick auf Varianten und Verteilungen der erwähnten epenthetischen Elemente werfen Ein solcher Blick, eher ein Einblick, kann weder als statistisch noch als linguistisch repräsentativ angesehen werden, da es sich um Beobachtungen handelt, die in den Jahren 1999 bis 2011 zufällig beim Verfolgen italienischer Radio- und Fernseh-Nachrichtensendungen Rai Uno, Rai Tre und Sportübertragungen entstanden sind Somit sind diese Zufallsbeobachtungen eher als Anlass zum Nachdenken und zum «Mitbeobachten» denn als methodisch stringente Analyse anzusehen Anhand des gewonnenen Materials kann jedoch, so denke ich, veranschaulicht werden, welche Ausprägungen der Wahrnehmung und der darauffolgenden Sprachverarbeitung das epenthetische vokalische Element - von einem Pausenelement über ein variables phonetisches bis hin zu einem «kryptomorphemischen» Laut - annehmen kann Hierzu sei noch gesagt, dass die entspre- 2_IH_Italienisch_71.indd 91 14.05.14 18: 22 92 Rhythmische Neuerungen im «italiano parlato»? Gerald Bernhard chenden vokalischen Elemente bei langsamer bis mittlerer Sprechgeschwindigkeit hörerseitig eher auffallen als bei schneller realisierten Äußerungen, bei welcher die erforderliche (Top-down-)Wahrnehmung der ton- und bedeutungstragenden Silben und Morpheme das Bemerken eines zunächst rein phonetischen Phänomens zwischen unbetonten Silben erschwert Vor Plosiven und Affrikaten ist das Auftreten des Sprossvokals sowohl artikulatorisch als auch auditiv wohl am auffälligsten, da hier die Lösung der Zunge nach [ l ] z .B il, del, nel etc und eine damit verbundene ‹vokalische› Artikulationsart sozusagen eine natürliche lautphysiologische Erscheinung ist; so z .B in alle términe oder insieme alla tenente bzw delle diciottenne Man wird jedoch vielleicht erwarten, dass das epenthetische Element [ e ] bzw [ æ ] vor [ t ] seltener auftritt - da hier Homoorganität der Artikulationsstelle gegeben ist - als vor bilabialen oder velaren Konsonanten (z .B [ p ] oder [ k ]) In der Tat ist dort, wo der Artikulationsort sich nach auslautendem [l] verlagert, sowohl das Auftreten des Sprossvokals im Allgemeinen als auch dasjenige von Varianten offenbar häufiger: Vor [p]: Illa prezzo, il’a presidente, il’e più alto numero, ile parlamento, delle presidente Vor [ k ]: dell’comitato, della comune di Roma, della capitano, ille carnevale Etwas weniger häufig ist epenthetisches [ a ], [ æ ], [ e ] vor Nasalen zu beobachten (sulla nord-est, della nostro programma, ile ministro, nelle mirino), wo die Aufrechterhaltung des Stimmtons wohl eine geringere Neigung zu Pausensetzungen mit sich bringt Vor den Affrikaten [ ʤ ] und [ ʧ ] treten vokalische Elemente eher selten auf, und wenn, dann hörbar als «Pausenfüller» ([il ɛ giorno, il e gioco, il e giovese] Vor Liquiden tritt [ e ], [ ɛ ], [ a ] selten auf, und zwar vor [ r ] meist hörbar mit Pause (del'e referendum, dele rapìto) vor [ l ] überhaupt nicht, was hier eigentlich keiner Erklärung bedarf, es sei denn, dass die Vermeidung eines Pausenvokals durch eine eher als normwidrig gewertete Vermeidung einer Haplologie umgangen werden soll Alles in allem ist zu beobachten, dass das epenthetische vokalische Element bei il, del, nel, al, etc meist dazu tendiert, als [e] realisiert zu werden; gleichzeitig fällt jedoch auf, dass bei emphatischem Reden und damit verbundenem erhöhtem Schalldruck eine Öffnung des epenthetischen Vokals in Richtung [ a ] zu beobachten ist, so z .B in einem Zitat von Silvio Berlusconi (30 .11 .2000 in TG3: «Il problema della conflitto di interessi») oder, aus jüngster Zeit, in Nachrichten des Radiosenders Radio Dimensione suono (10 .05 .2013: «… della concorso …», «…della balcone», «…illa cardinale di Napoli…») Seltener als bei il, del, al etc tritt der Sprossvokal auch beim unbestimmten männlichen Artikel un auf, so z .B in una filmato [ ɱ ], una problema [ m ], una controllo [ ƞ ], un a successore [ nts ], un e rapporto [ rr ], un ɛ patto [ m ], in ɛ piazza [ m ] (Beispiele aus «Mi manda Rai Tre», 19 .12 .01) 2_IH_Italienisch_71.indd 92 14.05.14 18: 22 93 Gerald Bernhard Rhythmische Neuerungen im «italiano parlato»? Die genannten Beispiele zeigen zunächst, dass, bezogen auf die Aussprachenormen des Italienischen, v .a solche Assimilationserscheinungen von il, del etc plus Folgekonsonant vermieden werden sollen, die variationslinguistisch betrachtet eher den nähesprachlichen Registern angehören: dies ist der Fall bei der Assimilation von [ l ] plus [ r ] zu lr [ir ragazzo], aber auch bei un successore [un sutt ʃ essore], was zur Folge hat, dass die kompensatorischen Tendenzen im Rhythmus des gesprochenen Italienischen zugunsten eines kontrollierteren Rhythmus aufgegeben werden Dabei handelt es sich jedoch wohl kaum um eine rein rhythmische Korrektur, sondern eine stärkere Berücksichtigung der ersten Gliederungsebene des Italienischen, bei welcher auch den grammatischen Morphemen ein höherer Stellenwert zugestanden wird als im nähesprachlichen gesprochenen Italienischen allgemein üblich Hierdurch kann es dazu kommen, dass eine morphemisch-semantische Rhythmik sozusagen den Salienzwert der einzelnen Morpheme hervorhebt und dadurch die Top-down- Wahrnehmung der ‹chaîne parlée› in den Hintergrund tritt Letzteres kann bei nichtmuttersprachlichen Sprechern und Hörern des Italienischen zu den genannten Verwirrungen in Bezug auf den morphemischen Wert des Sprossvokals führen, was auch die Dekodierung der ‹chaîne parlée› in einigen Fällen erschweren kann Letztlich ist das hier kurz beschriebene Phänomen durchaus auch für die Fremdsprachendidaktik von einer gewissen Bedeutung, da hier oft Morphologie und Phonetik zusammentreffen und beim Sprachlerner einer Erklärung bedürfen Da das Phänomen vornehmlich in den Textsorten Nachrichten und Reportagen zu beobachten ist, während in nähesprachlichen mündlichen Kommunikationssituationen eher die Assimilationen, also kompensierende Rhythmiken, überwiegen, sollte den ‹italiani [orali] trasmessi› durchaus wieder mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden . Gerald Bernhard anmerkungen 1 Dies gilt freilich nicht nur für das Italienische; vgl . Pike 1945, Allen 1975, Bertinetto 1981, Bertinetto 2012 . Man könnte sich, bezugnehmend auf Rhythmen von Sprache(n), auch fragen, ob es sich bei Rhythmus, und daraus resultierenden Sprosselementen, nicht auch um Sub-Segmentalia handeln könnte, ist es doch die rhythmisch-artikulatorische Prädisposition von Sprechern, welche die lautliche Realisation (parole) von Sprache (langue) im allgemeinen, und nicht pragmatisch-semantische Oppositionen hervorbringt, wie sie bspw . bei der Intonationsfrage oder bei Emphase bestehen . Eine ausführliche Diskussion zum Status des Italienischen als silbenzählende Sprache und zum alternierenden Rhythmus findet sich in Dufter 2003, S . 156-162 2 Hierzu Bertinetto/ Loporcaro 2005, S . 135: «in mente [im’mente]» und «un ramo [ur’ramo]» . Zur Assimilation von / l/ an folgendes / p/ im ‹vernacolo toscano› vgl . auch Rohlfs Grammatica II ., S . 414 2_IH_Italienisch_71.indd 93 14.05.14 18: 22 9 4 Rhythmische Neuerungen im «italiano parlato»? Gerald Bernhard 3 Liegt hier eine Art Gegentendenz zur möglichen Elision von / e/ vor ? Vgl . Bertinetto/ Loporcaro 2005, S . 140: «…the only vowel liable to be elided in SI is / e/ » 4 In einigen Gesprächen mit deutschen Italianisten und Italienischlernern (z .B . auf dem Romanistentag 2011 in Berlin) kamen bisweilen auch Probleme von Äußerungen mit epenthetischen Vokalen zur Sprache Bibliographie Allen, George D . (1975): «Speech Rhythm: Its Relation to Performance Universals and Articulatory Timing», in: Journal of Phonetics 3, S . 75-86 Bertinetto, Pier M . (a cura di) (1981): Strutture prosodiche dell‘italiano . Accento, quantità, sillaba, giuntura, fondamenti metrici . Firenze-: Accademia della Crusca Bertinetto, Pier M ./ Bertini, Chiara/ Guidugli, Lorenzo (2012): «Il ritmo del tedesco spntanio alla luce del modello Controllo/ Compensazione: prime esplorazioni», in: Studia Romanica et Linguistica, Testo e ritmi, S . 27-41 Bertinetto, Pier M ./ Loporcaro, Michele (2005): «The sound pattern of Standard Italian, as compared with the varieties spoken in Florence, Milan and Rome», in: Journal of the International Phonetic Association 35 (2), S . 131-151 Dufter, Andreas (2003): Typen sprachrhythmischer Konturbildung . Tübingen: Niemeyer Pike, Kenneth L . (1945): The Intonation of American English . Ann Arbor Rohlfs, Gerhard (1966-1969): Grammatica storica della lingua italiana e dei suoi dialetti . 3 Bde 2_IH_Italienisch_71.indd 94 14.05.14 18: 22