eJournals Italienisch 36/71

Italienisch
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Narr Verlag Tübingen
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2014
3671 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Sabine Schrader: La Scapigliatura. Schreiben gegen den Kanon. Italiens Weg in die Moderne. Heidelberg: Winter 2013, 265 Seiten, € 40,- (= Studia Romanica 176)

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2014
Ludger Scherer
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121 Buchbesprechungen Sabine Schrader: La Scapigliatura. Schreiben gegen den Kanon. Italiens Weg in die Moderne heidelberg: Winter 2013, 265 Seiten, € 40,- (= Studia romanica 176) Sabine Schrader kommt das beträchtliche Verdienst zu, die erste deutschsprachige Monographie zur Scapigliatura vorgelegt und die Gruppe damit ein gutes Stück der Missachtung durch die Literaturgeschichtsschreibung entrissen zu haben Zwar gab es in der Forschungsgeschichte einige Wellen der Wiederentdeckung mit vorwiegend italienischen und englischen Arbeiten zu verschiedenen, mit den scapigliati verbundenen Fragestellungen, die Italianistik in Deutschland hat sich jedoch nur sehr vereinzelt mit dem Phänomen einer italienischen Bohème beschäftigt Schraders überfällige Studie nun ist das Ergebnis eines DFG-finanzierten Forschungsprojekts und verarbeitet auch sechs eigene zuvor publizierte Beiträge zum Thema aus den Jahren 2003-2013 Das Buch versteht sich als «Einführung in das Text- und Selbstverständnis der Gruppe» (S 10) und verfolgt eine «kulturwissenschaftliche Perspektive» (S 16) Der Aufbau orientiert sich an thematisch-gattungstypologischen Aspekten: Nach einer «Einleitung» behandeln die vier Kapitel des Hauptteils wichtige Autoren und Texte der Scapigliatura unter den sprechenden Überschriften «Eine zerzauste Generation», «Götzendämmerung», «Buchstabenängste und die Questione della lingua» und «Kaputte Körper - Desintegration des Ichs» Das letzte Kapitel «Trinker und Selbstmörder» greift im Titel eine obsolete Disqualifizierung der Gruppe durch Walter Binni auf, analysiert die Probleme der Rezeption und (wissenschaftlichen) Kanonisierung der scapigliati und resümiert zentrale Ergebnisse der Arbeit Ein Namens- und Sachregister, ein Abbildungsverzeichnis und eine umfangreiche Auswahlbibliographie beschließen das Buch In Übereinstimmung mit seinen Zielsetzungen verbindet der Band übergreifende Analysen des Phänomens mit monographischen Abschnitten zu einzelnen zentralen Texten der in Kurzbiographien vorgestellten Autoren: Cletto Arrighi (S 29), Emilio Praga (S 66), Giovanni Camerana (S 105 f .), Iginio Ugo Tarchetti (S 122), Camillo Boito (S 157) und Arrigo Boito (S 180) Gleichwohl verwahrt sich Schrader richtigerweise gegen den traditionellen biographischen Zugang zu den Werken der Gruppe; dieses fatale Paradigma der Literaturgeschichte wird im Zusammenhang mit Leopardi und der Scapigliatura vielmehr kritisch diskutiert (cf S 97 f .) Zahlreiche weitere 2_IH_Italienisch_71.indd 121 14.05.14 18: 22 122 Buchbesprechungen scapigliati werden «aus Gründen der Übersichtlichkeit» (S 7) leider nicht behandelt, wobei besonders das Fehlen von Carlo Dossi zu beklagen ist, dessen Unverzichtbarkeit sich jedoch in seinem reentry in die Arbeit (S 25 und S 139 f .) zeigt Die Einleitung spricht bereits zahlreiche zentrale Positionen der Verfasserin an, verortet sie doch die Scapigliatura als «Avantgarde avant la lettre» (S 7) auf der Schwelle zur literarischen Moderne in Italien Auch einige der explizit als Thesen markierten Aussagen der Arbeit finden sich an dieser Stelle, so die maßgebliche Prägung der Metropole Mailand durch die Gruppe und deren komplexe Verbindung mit der Kanonbildung Ausgehend vom Phänomen der Negativkanonisierung der Scapigliatura in der (italienischen) Literaturgeschichte sieht Schrader gerade in deren Suche nach einem Gegenkanon während der Nationenwerdung und nationalen Kanonisierung den Grund für den ungnädigen Ausschluss der Gruppe aus dem ‹offiziellen› Kanon Die scapigliati werden im Zuge einer (kultur)historischen Kontextualisierung nun, entgegen einem verbreiteten Klischee, nicht als Außenseiter, sondern als aktive Teilnehmer am kulturellen Geschehen und an den politischen Diskussionen im Mailand der zweiten Hälfte des 19 Jahrhunderts vorgestellt Das in der Forschung teilweise übermäßig diskutierte Problem der chronologischen Eingrenzung der Scapigliatura verkürzt Schrader sinnvollerweise durch die Setzung der beiden Eckdaten 1858 und 1880, die mit der Publikation des programmatischen Romans La Scapigliatura e il 6 febbraio von Cletto Arrighi zusammenhängen Auch die Epochenzugehörigkeit der Gruppe wird angesprochen und insbesondere das intrikate Verhältnis von Romantik und Scapigliatura problematisiert, die als «Schwellenphänomen» (S 18) zwischen Tradition und Innovation Zeugnis für die «Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen» (S 18) ablege Als weitere Leitthese der Arbeit kommt die «permanente Selbstvergewisserung» (S 21) der scapigliati als Generation zur Sprache, die gerade wegen ihrer Heterogenität, Performativität und der intertextuellen und intermedialen Verfahren «Italien den Weg in die ästhetische Moderne» (S 23) geebnet habe Der Generationenbegriff wird dabei als ein synchroner, gegen die überlieferte Tradition gerichteter gesehen (S 27 f .), womit das Thema der Selbstinszenierung der Gruppe angesprochen ist, das im folgenden Kapitel behandelt wird Das zweite Kapitel nimmt seinen Ausgangspunkt bei Arrighis Roman La Scapigliatura e il 6 febbraio, der in seinen verschiedenen Fassungen und Publikationen ausführlich analysiert wird Im Bewusstsein des Traditionsbruchs schildere der Text die Suche nach dem angemessenen Ausdruck des modernen Lebensgefühls einer neuen Generation junger ambitionierter unruhiger Menschen Obwohl dieses urbane Prekariat von Arrighi ausdrücklich als «individui d’ambo i sessi» (S 30) beschrieben wird, kassiert Schrader diese 2_IH_Italienisch_71.indd 122 14.05.14 18: 22 123 Buchbesprechungen geschlechterübergreifende Offenheit des Konzepts sofort nach dem Zitat durch den Verweis auf die marginalisierte Objektposition der Frau in der Scapigliatura - auf die Gendergrundierung der Arbeit wird an späterer Stelle noch zurückzukommen sein Die ‹zerzausten› Protagonisten des Romans werden nun als desorientierte Künstler in politisch aufgewühlten Zeiten, im Umfeld des Aufstands gegen die österreichische Besatzung, präsentiert und mit der französischen Bohème verglichen, was jedoch zurecht differenziert geschieht Als weiteres wichtiges Gruppenbildungselement wird das expandierende zeitgenössische Pressewesen besprochen, an dem prominente scapigliati aktiv beteiligt waren An dieser Stelle kommt die Performativität der Texte ins Spiel, der Schrader einen hohen Stellenwert zubilligt, insbesondere bei den Widmungsgedichten, die Praga, Arrigo Boito und Camerana zur Stärkung des Wir-Gefühls austauschten, wozu auch die Verklärung des früh verstorbenen scapigliato par excellence in Pragas Sulla tomba di I . U . Tarchetti gezählt werden kann Die performative Selbstvergewisserung der verlorenen Künstlergeneration stelle mithin ein gattungsübergreifendes Phänomen dar, in dem ein unsicheres Schwanken im «Diskontinuitätsbewusstsein» (S 64) der Moderne zum Vorschein komme Der Lyrik Pragas und Cameranas ist das dritte Kapitel gewidmet, in dem im Rückgriff auf Nietzsches Götzen-Dämmerung die Darstellung der Stimmung der neuen Generation in ausgewählten Texten nachgezeichnet wird Gegen den nationalen Kanon orientieren sich die scapigliati an Frankreich, wobei Schrader zurecht betont, daß nicht nur Baudelaires ennui importiert wird, sondern auch auf Leopardis noia zurückgegriffen wird Nicht biographistisch, sondern intertextuell liest die Verfasserin demnach die Inszenierung von Kunst und Künstler in der Lyrik Pragas Einen wichtigen Reibungspunkt bildet darin die katholische staatstragende Romantik Manzonis, von der sich die antibürgerlichen Texte, zumal das programmatische Preludio, abzuheben versuchten Zwischen dem Manzonismo und Baudelaire plädierten die scapigliati für den Gegenkanon, wobei die Adaptation der französischen Intertexte differenziert beschrieben und auf nicht unerhebliche Unterschiede hingewiesen wird Statt Selbstermächtigung sieht Schrader bei Praga beispielsweise ein Verharren in der Negation am Werk, gleichwohl zeige sich bei ihm das Bewußtsein einer Epochenschwelle Im gelungenen Unterkapitel zu Leopardi werden dann die nationalen Wurzeln der ‹zerzausten› noia aufgezeigt; dessen Rezeption durch die Scapigliatura ergänzt die intertextuellen Beziehungen nach Frankreich und macht eine weitere Gemeinsamkeit sichtbar: Auch Leopardis noia wurde biographisch «pathologisiert» (S 98) und trug zu dessen Negativkanonisierung bei Der folgende, ausdrücklich als Exkurs markierte kurze Abschnitt zu Pragas Gedicht Ancora un canto alla luna möchte der komisch-ironischen Dimension der ansonsten so ernsthaften scapigliati Rech- 2_IH_Italienisch_71.indd 123 14.05.14 18: 22 124 Buchbesprechungen nung tragen; dem gleichzeitigen Nachholen und Parodieren der Romantik wird jedoch recht wenig Raum gegeben und das spannende Phänomen zur Antizipation von Pirandellos Umorismo verkürzt Der Lyrik des Malers und Dichters Camerana sieht Schrader schließlich die Entwicklung vom «Idyll zur Landschaft» (S 102) eingeschrieben, die intermedialen Bezüge zur Malerei seien in der Scapigliatura auf mehreren Ebenen wirksam und trügen mit der Propagierung der antiakademischen Pleinairmalerei zur Etablierung eines Gegenkanons bei Das vierte Kapitel behandelt die Sprachkritik und Sprachreflexion der Scapigliatura anhand von Tarchettis Erzählung La lettera U und der Beiträge der scapigliati zur zeitgenössischen sprachpolitischen Debatte Angesichts der zunehmenden Kommerzialisierung der Literatur stelle sich die Frage nach der Funktion des Künstlers in der Gesellschaft mit größerem Nachdruck Tarchettis postum in den Racconti fantastici publizierte Erzählung mache Ernst mit der Materialität des Buchstabens U, der ein sinistres Eigenleben entwickelt und den autodiegetischen Protagonisten in den Wahnsinn treibt Im Scheitern der Synästhesien äußerten sich, anders als bei Rimbaud, Selbstverlust und Sprachzweifel, dessen Radikalität von Schrader mit Foucaults «Krise der Repräsentation» (S 135) in Verbindung gebracht wird Typographisch antizipiere der Text zudem Verfahren der Futuristen Die questione della lingua im postunitarischen Italien findet die scapigliati in engagierter Gegenposition zu Manzonis Vereinheitlichungsbestreben, Dialekte und Sprachvielfalt werden theoretisch gefordert und in teilweise experimentellen Texten umgesetzt Schrader sieht Tarchettis zentrale Erzählung resümierend zwar einerseits auf der Schwelle zu Moderne und verweist in diesem Zusammenhang auf Georges Perecs oulipotischen Roman La disparition, andererseits jedoch traditionsverhaftet und Sprachkritik als Wahnsinn pathologisierend Im fünften Kapitel findet sich die «Desintegration des Ichs» (S 149) anhand narrativer und (weniger) lyrischer Texte über «kaputte Körper» (ebd .) dargestellt Eine wichtige Rolle spielt dabei der medizinische Diskurs des Positivismus, der von den scapigliati gleichzeitig in die Literatur eingeführt und mit deren Hilfe in die Krise getrieben wird Die dabei verhandelten Paradoxien zeugen vom Eindringen des Unheimlichen, Phantastischen und Grotesken in die Wissenschaft und die Literatur Un corpo von Camillo Boito, Storia di una gamba von Tarchetti, ebenso dessen Erzählungen I fatali und Uno spirito in un lampone sowie Arrigo Boitos Il pugno chiuso werden in diesem Sinne gelesen und die Funktion der Realismuseffekte dabei untersucht Gerade Camillo Boitos Un corpo bringt Wissenschaft und Kunst in diametrale Gegenpositionen, die Konkurrenz zwischen dem Ich-Erzähler, einem Maler, und dem Wiener Pathologen Gulz um Carlotta, Modell und Geliebte des Künstlers, endet mit dem rätselhaften Tod der bildschönen Frau, die schließlich auf dem 2_IH_Italienisch_71.indd 124 14.05.14 18: 22 125 Buchbesprechungen Seziertisch des Arztes ihrer Konservierung entgegensieht, während dem Maler sein Bild von ihr bleibt Es konkurrieren hier auch die Diskurse, der idealistisch-ästhetische und der positivistisch-materialistische, der als totalisierend gezeichnet wird und zugleich die Folie für das Unheimliche abgibt, was den Text zu einer «Warnung vor der Selbstüberschätzung» (S 171) der Wissenschaft mache An zwei Erzählungen Tarchettis und Arrigo Boitos zeigt Schrader im folgenden den Einbruch des nicht rational erklärbaren Phantastischen, das einen fundamentalen Zweifel hervorrufe Unter der Signatur des Grotesken werden dann nicht nur zwei Erzählungen Tarchettis analysiert, auch einige Gedichte der scapigliati finden sich hier angesiedelt und während in den narrativen Texten eine komisch-groteske Karnevalisierung konstatiert wird, sei die besprochene Lyrik schaurig-grotesk In diesem Sinne liest Schrader Arrigo Boitos bekannte Lezione d’anatomia einseitig als Sieg der Wissenschaft und «Abgesang der romantischen Poesie» (S 196), womöglich gar als «grundsätzliche Absage an die Literatur» (ebd .), bleibt eine Begründung für diesen paradoxen Schluss jedoch schuldig Noch weniger plausibel erscheint die Rubrizierung des vielschichtigen Textes als Groteske, was auch für Tarchettis Memento! und Pragas Vendetta postuma gilt Im folgenden Unterkapitel wird Tarchettis antimilitaristischer Roman Una nobile follia als kulturkritische Literarisierung der Zivilisationskrankheit Neurasthenie gelesen; den Abschluss des Kapitels bildet die ausführliche Analyse von Tarchettis bekanntestem Roman Fosca Durch den medizinischen Diskurs der Hysterie kommt hier quasi zwangsläufig die Geschlechterdarstellung in den Blick, Schrader sieht in Anlehnung an Elisabeth Bronfen die Frau auch in der Scapigliatura lediglich als Projektion, Objekt und Opfer dargestellt, was sie nicht zuletzt an Boitos Un corpo festmacht In recht kurzen Schlüssen gelangt sie dabei von der Erotisierung zur Fetischisierung und zum «nekrophilen Begehren» (S 218) des (toten) weiblichen Körpers, was «nur aus dieser Genderlogik verstanden» (ebd .) werden könne In Fosca nun sei mit der Hässlichkeit der dominanten Titelfigur ein Bruch zu konstatieren, die pathologisierte und gleichzeitig faszinierende Normüberschreitung führe zu fundamentalem Zweifel und Wahrheitsverlust Da «das Vertrauen in die Erkenntnisfähigkeit des Menschen und der [sic] Ausdrucksfähigkeit der Sprache» (S 224) gebrochen sei, komme dem Schreiben lediglich «therapeutische Funktion» (ebd .) zu, Tarchetti produziere nur einen Schockeffekt, was Schrader mit Bohrers Konzept der Plötzlichkeit verbindet und als Ausweis der Moderne liest Im abschließenden Kapitel wird über die zeitgenössische Rezeption der Scapigliatura das Problem ihrer Negativkanonisierung ausführlicher untersucht und mit den Protagonisten im zeitgenössischen literarischen Feld in Verbindung gebracht, nicht zuletzt mit Francesco De Sanctis, Giosuè Carducci und Benedetto Croce Die bereits an anderer Stelle eingeführten Konzepte von 2_IH_Italienisch_71.indd 125 14.05.14 18: 22 126 Buchbesprechungen Geschlechterordnung, Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und biopolitischen Normalisierungsstrategien werden nun konzertiert in Anschlag gebracht, um die den scapigliati entgegengebrachten Vorwürfe der Nervenschwäche, Exzentrik, Destruktivität und Ambiguität zu kontextualisieren Als «Schwellenphänomen» (S 237) sei die Scapigliatura gerade wegen der «Kreuzung der diversen Diskurse» (ebd .) modern, sie schwanke, ja oszilliere jedoch «zwischen italienischer und europäischer Poesie, zwischen Leopardi und Baudelaire, zwischen Boheme und Avantgarde, zwischen Romantik und Moderne [ . . .] zwischen den Kunstformen, zwischen den Wissenschaften und der Literatur, zwischen positivistischen und übernatürlichen Weltbildern» (S 238), was Schrader zu dem Schluss kommen lässt, dass sie im Zaudern verharrt sei und «die Schwelle nicht überschritten» (ebd .) habe - sie stehe damit nur «am Anfang einer gegenwartsoffenen ästhetischen Moderne in Italien» (ebd .) Bei der Vorstellung des ausgesprochen verdienstvollen Bandes sind einige Kritikpunkte bereits angeklungen, die nun kurz zusammengefasst werden Dass in einem derart umfangreichen Buch Errata zu finden sind, soll nicht überbewertet, aber an einigen Beispielen angesprochen werden: So wird ausgerechnet Pragas programmatisches Gedicht Preludio mit einer falschen Strophenreihenfolge zitiert (S 77), Arrigo Boitos ebenfalls wichtige Lezione d’anatomia dafür lediglich fragmentarisiert und zerstückelt, wodurch die Rede von kaputten Körpern gespiegelt, der Nachvollzug der meines Erachtens simplifizierenden Interpretation jedoch nicht erleichtert wird Bei einem anderen Gedicht Pragas ist in der metrischen Beschreibung der Senario zum Settenario mutiert (S 81) und die «muricciol di creta» (S 115) in Cameranas Il pioppo nell’azzurro werden zu «Purpurschnecken» (S 116), also murici, was zwar ins intermediale Interpretationskonzept passt, aber nicht zu den Mauern des Textes Eben wegen der Widerständigkeit der Texte wurden diese Punkte ins Feld geführt, die Werke der Scapigliatura nämlich endlich dem relativen Vergessen zu entreißen und sie gleichzeitig im Eifer des kulturwissenschaftlichen Gefechts teilweise vorschnell wieder in vorgefertigte Streckbetten zu spannen, erscheint mir als nicht unproblematisch In Konfrontation mit komplexen Begriffen wie Moderne und Romantik beispielsweise laufen die scapigliati Gefahr, minores im Zwischenreich zu bleiben, wohin sie eine von Schrader zurecht und geschickt decouvrierte Literaturkritik national-konservativer Prägung so lange verbannt hatte Wenn «Italiens Weg in die Moderne», so der zweite Untertitel des Buchs, nicht das Ziel, sondern lediglich ein «Schwellenphänomen» (passim) bleibt, schreibt sich Schraders Monographie nolens volens eben doch in ein überkommenes teleologische Paradigma der Literatur- 2_IH_Italienisch_71.indd 126 14.05.14 18: 22 127 Buchbesprechungen geschichte ein, dem sie widersprechen möchte Dazwischen ist ein in dieser Arbeit viel gebrauchtes Wort, wie das ausführliche Zitat aus dem Schlusskapitel gezeigt hat: zwischen Italien und Frankreich, zwischen Romantik und Futurismus, Svevo, Pirandello und den cannibali, die allesamt und nicht einmal zu Unrecht mit den besprochenen Autoren und Werken in Beziehung gesetzt werden, erscheint die Scapigliatura jedoch als bloßes Übergangsphänomen, das die Rede von der Verspätung Italiens perpetuiert, anstatt die Eigenständigkeit der Gruppe, ihr spannendes und bewusst spannungsreiches innovatives Experimentieren mit unterschiedlichen Traditionen und Diskursen in den Mittelpunkt zu stellen Dass Bronfens einschlägige Studie im Text mit dem sinnverdrehenden Titel «Nicht über ihre Leiche» (S 216) zitiert wird, ist womöglich als freudianisches Signal zu lesen, mit den ihrerseits von Erstarrung bedrohten méta-récits von Genderforschung bis Diskurstheorie etwas weniger apodiktisch an die Texte der Scapigliatura heranzugehen, die bei aller sinn- und verdienstvollen Kontextualisierung doch ein Phänomen sui generis ist, das sich nicht allzu rasch im noch nicht oder doch schon einer einsträngigen Literaturgeschichte der europäischen Moderne verorten lässt Damit sollen die interessanten Lektüren der Verfasserin jedoch nicht in ihrer Bedeutung geschmälert werden, den kritischen Bemerkungen zum Trotz sei Sabine Schrader für ihre kluge und hoffentlich zu zahlreichen weiteren Forschungsarbeiten anregende Studie auf jeden Fall herzlich gedankt . Ludger Scherer Anm . d . Red .: Vgl . Ludger Scherer, «Vivisektion der Romantik: Arrigo Boitos ‹Lezione d’anatomia›» (Biblioteca poetica), Italienisch Nr . 69/ Mai 2013, S . 93-100 2_IH_Italienisch_71.indd 127 14.05.14 18: 22