eJournals Italienisch 36/72

Italienisch
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Narr Verlag Tübingen
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2014
3672 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Eugenio Montale: Was bleibt (wenn es bleibt). Gedichte 1920-1980. Italienisch-Deutsch. Ausgewählt, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Christoph Ferber. Mit einem Nachwort von Georges Güntert. Mainz: Dieterich'sche Verlagsbuchhandlung 2013, 508 Seiten, kart., € 24,-

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2014
Alessandra Origgi
ita36720097
97 Buchbesprechungen eugenio Montale: Was bleibt (wenn es bleibt). Gedichte 1920 - 1980. Italienisch-deutsch. ausgewählt, übersetzt und mit anmerkungen versehen von Christoph Ferber. Mit einem Nachwort von Georges Güntert. Mainz: dieterich’sche Verlagsbuchhandlung 2013, 508 seiten, kart., € 24,- Der Band Was bleibt (wenn es bleibt) bietet 230 von Christoph Ferber aus dem Gesamtwerk von Eugenio Montale ausgewählte und übersetzte Gedichte; der Untertitel lautet Gedichte 1920 - 1980, die Sammlung deckt also die gesamte Schaffensperiode des italienischen Dichters ab, wahrscheinlich um sich von derjenigen, die von Hanno Helbling übertragen und herausgegeben wurde und die die ersten drei Sammlungen Montales enthält, 1 zu unterscheiden Der 1896 in Genua geborene Eugenio Montale hatte seine erste Sammlung Ossi di Seppia 1925 beim Verleger Piero Gobetti veröffentlicht, wie das Laienpublikum, an das der Band sich vornehmlich zu wenden scheint, im hervorragenden Nachwort von Georges Güntert liest Diese «Landschaftsgedichte» (S 451), die sich zwischen Symbolismus und Impressionismus bewegen, thematisieren v .a «das Leiden (an) der Welt» (S 448) (male di vivere), das die Disharmonie zwischen dem lyrischen Ich und der Welt am besten verkörpert und das durch «Bilder der Gewalt, des Leidens und des Resignierens» (ibid .) ausgedrückt wird Die pessimistische und angeblich deterministische Weltsicht Montales, die in der rauen Landschaft Liguriens eine eher bildhafte als theoretische Ausdrucksmöglichkeit findet, wird durch die Erwartung eines ‹Wunders› gemildert; der Dichter schwankt zwischen Resignation und Hoffnung und lässt alle Möglichkeiten der Erkenntnis und des Glücks offen - wenn nicht für sich selbst, so doch wenigstens für sein Gegenüber («Penso che per i più non sia salvezza, / ma taluno sovverta ogni disegno, / passi il varco, qual volle si ritrovi» - «Ich glaub, für die meisten gibt’s keine Rettung / Doch der eine oder der andere widersetzt sich dem Plan, / wird die Schwelle überschreiten als solcher, wie er es wollte», aus Casa sul mare / Haus am Meer, S 80 - 83) - eine Perspektive, die Montale durch die philosophischen Werke des Kontingentismus (Boutroux, Bergson) gewann (S 450) Unter anderem die Sprache zeugt von seiner profunden Vertrautheit mit der Tradition (Autoren von Dante bis Lautréamont werden zitiert bzw verwendet) - eine Sprache, in der Inhalt und Form ineins fallen, da sie der Dürre und Schroffheit der ligurischen Landschaft durch rhetorische Stilmittel (Alliterationen, Onomatopöien, Enjambement) Ausdruck verleiht: Vgl das berühmte und mit Alliterationen rauer Laute versehene Gedicht Meriggiare pallido e assorto, das auch auf formaler Ebene wunderbar ins Deutsche übertragen wird («Meriggiare pallido e assorto / presso un rovente muro 2_IH_Italienisch_72.indd 97 06.11.14 10: 27 9 8 Buchbesprechungen d’orto / ascoltare tra i pruni e gli sterpi / schiocchi di merli, frusci di serpi»; «Bleich und versunken an einer heißen / Mauer ruhen in der Mittagshitze, / hören, wie zwischen Dornen und Stauden / Amseln schlagen, Schlangen zischen», S 28 - 29) Nach dem Umzug nach Florenz beginnt Montale seine literarische Tätigkeit beim Gabinetto Vieusseux; er begegnet auch zwei Frauen, die sein Leben und sein künstlerisches Schaffen prägen sollen: seine zukünftige Ehefrau Drusilla Tanzi und die Dante-Expertin Irma Brandeis, eine amerikanische Jüdin, die unter dem senhal ‹Clizia› in zahlreichen Gedichten erscheinen wird Alle diese Ereignisse bedingen den «Paradigmenwechsel» (S 463) seiner Poetik, der sich in der Sammlung Le occasioni (1939) vollziehen wird Die «occasioni» sind die «Offenbarungsmomente […] des Lebens» (S 464), die sich durch «Zeichen, Signale aus der wahrgenommenen Welt, mit Erinnerungen behaftete Gegenstände» (S 465) vollenden und die dem Leben eine spezielle Bedeutung geben Eine wichtige Rolle diesbezüglich spielt die geliebte Frau, Clizia, der der Zyklus Mottetti gewidmet ist: «sie ist es, welche die bedeutsamen Momente des Lebens zu einem Sinngefüge vereint» (S 467) In der Sammlung tauchen auch kollektive Bilder der Zerstörung auf, die die Katastrophe des Krieges andeuten Solche Motive bilden das thematische Zentrum des Gedichtbandes La bufera e altro (1956), mit dessen Entstehung auch ein anderer Wohnsitz des Dichters korrespondiert: Mailand, wo Montale ab 1948 lebt, um für die Zeitung Corriere della Sera zu arbeiten Die «bufera» ist der Sturm des Krieges, der eine Entmenschlichung der Welt darstellt, und dem sich nur Clizia, die Hoffnung und humanistische Werte in sich trägt, entgegen stellt Eine andere Frau, die «Volpe» (Maria Luisa Spaziani), «bildet [im vi Teil] ein privates Gegengewicht zu der von Sinnverfall geprägten Gegenwart» (S 472); sie ist eher eine «irdische, sinnlich gegenwärtige Frau», die «eine Absage an jede Form von Transzendenz» (ibid .) bedeutet Private Erfahrungen und gesellschaftliche Ereignisse mischen sich, um kein politisch ideologisches, sondern ein ‹humanistisches› Gedicht zu schaffen, das anhand öffentlicher Themen (vgl La primavera hitleriana) über die «conditio humana» (S 447) berichtet - und das alles von einem Autor, der durch sein antifaschistisches Engagement große Schwierigkeiten (er musste seine Arbeit am Vieusseux aufgeben) meistern musste Diese Sammlung schließt den ersten Teil seines literarischen Schaffens ab Im zweiten Teil, der durch die Sammlung Satura (1971) am besten repräsentiert ist, erfährt seine Poetik eine grundsätzliche Änderung, die nicht von allen Kritikern (z B Gianfranco Contini) verstanden wurde; andere dagegen (darunter die Dichter Andrea Zanzotto und Giovanni Raboni, aber auch Romano Luperini) halten den neuen Stil Montales «symptomatisch für die 2_IH_Italienisch_72.indd 98 06.11.14 10: 27 99 Buchbesprechungen Kultur der Gegenwart» (S 477) - und dies ist genau die Etappe, die in der vorliegenden Sammlung am häufigsten vertreten ist Merkmale dieser neuen Phase des «understatement» sind «der humorvolle Ton, die anspruchslose Syntax und die viele Einschübe von direkter Rede» (S 478); die Ehefrau, Drusilla Tanzi, die als ‹Mosca› verkleidet wird, steht diesmal im Mittelpunkt - insbesondere in den Zyklen Xenia I und II, die in Was bleibt erstmalig übersetzt wurden; die Mosca ist eine ironisch-verspottende Gestalt, die alle metaphysischen und auch menschlichen Konstrukte (Religion, Geschichte, Poesie usw .) entmystifiziert, wie der Dichter selbst (vgl La Poesia, die nicht nur der Poesie, sondern auch bestimmten literaturkritischen Strömungen - etwa dem Marxismus - gegenüber kritisch ist, S 292 - 293) Der «Verzicht auf das Sublime» (S 480) begleitet eine ernste und tiefe Betrachtung der Lage der Dichtung, die auch in der bei der Verleihung des Literatur-Nobelpreises von Montale gehaltenen Rede «Ist Dichtung noch möglich? » (12 Dezember 1975) thematisiert wurde Auf Satura folgen Diario del ’71 e del ’72 (1973) und Quaderno di quattro anni (1977) und der Diario postumo, die die «Prosapoesie» (S 480) von Satura fortsetzt Das Nachwort Günterts, das den Überblick über die Entwicklung der Poetik Montales durch die Analyse der verschiedenen Sammlungen, durch Textbeispiele und die Charakterisierung der weiblichen Figuren exemplifiziert, ist sehr erhellend und kann einem breiten Publikum von Nutzen sein Ein Indiz der Typologie der intendierten Adressaten ist das Fehlen von bibliographischen Hinweisen - bis auf ein paar Angaben zur Primärliteratur und die Veröffentlichung von Christine Ott; 2 eine einschlägige Bibliographie hätte jedoch auch dem interessierten Laien nicht geschadet Nach dem essayistischen Teil kommt der Übersetzer zu Wort: Ferber erklärt die Entstehungsgeschichte der Übertragung, die Gründe für die Auswahl und seine Vorliebe für den «‹Schlafrock›-Montale», der ihm «sympathischer [ist] als derjenige, der (wie er einmal sagte) ‹im Frack› daherkommt» (S 491) Die Sammlung, die die «umfangreichste Montale-Auswahl» (S 489) im deutschen Sprachraum darstellt, vertritt insbesondere die zweite Phase der Poetik Montales; die Gedichte der Zyklen Xenia wurden sogar «hier erstmals vollständig übersetzt» (S 490) Die Auswahl der Texte findet ihre Begründung im persönlichen Geschmack des Herausgebers («es ist also eine Auswahl, die persönliche Vorlieben des Übersetzers widerspiegelt», S 489) Viele Gedichte aus Le occasioni und La bufera e altro sind nicht übertragen worden, weil sie schon ins Deutsche übersetzt worden oder zu schwer zu interpretieren seien Es fehlen wichtige Gedichte wie La casa dei doganieri oder der sehr schöne und für die Poetik Montales paradigmatische mottetto La speranza di pure rivederti . 3 Angesichts der allgemein sehr hohen Qualität der Übertragungen ist es bedauerlich, dass dem Leser, der sich mit Montales Œuvre vertraut 2_IH_Italienisch_72.indd 99 06.11.14 10: 27 10 0 Buchbesprechungen machen möchte, gerade einige der besten Stücke vorenthalten werden Die Übersetzung Ferbers ist nämlich unter vielen Gesichtspunkten vorzüglich: Semantisch erweist sie sich als präzis, was wegen der Schwierigkeiten der Sprache Montales nicht selbstverständlich ist Rhetorisch und metrisch berücksichtigt sie einige Besonderheiten des Autors, eines Vertreters eines auch metrischen «classicismo modernista», 4 der durch Stilfiguren und besondere Versmaße auf die klassische Metrik Bezug nimmt Als Beispiel diene ein Vergleich der schon erwähnten Übersetzung des berühmten Gedichts Spesso il male di vivere ho incontrato von Helbling mit derjenigen Ferbers: Oft hab ich die Not des Lebens gefunden: einmal war’s ein gurgelnder, gestauter Bach, einmal war’s ein dürres, eingerolltes Blatt, einmal war es ein Pferd, das zusammensackte Gutes erfuhr ich nicht, als nur in dem Wunder, wie es die Götter wahllos erschaffen: da war’s die Statue im leichten Mittagsschlafe, die Wolke war es und in der Höhe ein Falke (Helbling, S 67) Oft hab ich Qual und Unlust zu leben getroffen: es war der gedrosselte Wildbach in seinem Brodeln, es war das Sich-Rollen des trockenen Blattes, das Pferd, das zusammengebrochen Gutes erfuhr ich nicht, außer im Wunder, das die göttliche Gleichmut eröffnet: es war jene Statue im Schlummer des Mittags, es war die Wolke, der Falke, hoch oben in Lüften (Ferber, S 35) Spesso il male di vivere ho incontrato: era il rivo strozzato che gorgoglia, era l’incartocciarsi della foglia riarsa, era il cavallo stramazzato Bene non seppi, fuori del prodigio che schiude la divina Indifferenza: era la statua nella sonnolenza del meriggio, e la nuvola, e il falco alto levato (S 34 im besprochenen Band) 2_IH_Italienisch_72.indd 100 06.11.14 10: 27 101 Buchbesprechungen Ferber bleibt nahe am Text: Semantisch versucht er, Montale treu zu reproduzieren, indem er das substantivierte Verb «Sich-Rollen» für «l’accartocciarsi» (ebenfalls ein substantiviertes Verb) verwendet, das die zeitliche und gleichsam dynamische Dimension des Leidens verkörpert; bei Helbling dagegen wird dies durch ein ziemlich statisches partizipiales Adjektiv ausgedrückt («eingerolltes Blatt») Auch rhetorisch übertrifft Ferber seinen Vorgänger: Wie im Original stehen nur zwei Anaphern (und nicht drei wie bei Helbling), die mit den drei Gegenständen (Wildbach, Blatt, Pferd) korrespondieren und somit eine gewisse Asymmetrie (die aber die Symmetrie andeutet - ein Beispiel von ‹classicismo modernista›) erzeugen Auch das Enjambement zwischen dem vorletzten und dem letzten Vers wird nur in Ferbers Übertragung wiedergegeben - der letzte Vers ist zwar länger als derjenige von Helbling, entspricht jedoch den italienischen Proportionen Ferber kann die Metrik Montales nicht reproduzieren, denn ein solcher Versuch würde zu Lasten eines verständlichen Satzbaus gehen Die Sammlung weist wenige Nachteile auf, die wahrscheinlich editorischer Natur sind: Die Anmerkungen sind extrem spärlich und beschränken sich auf die Erklärung des jeweiligen historischen Anlasses der Gedichte Die Sprache des früheren Montale ist aber sehr schwierig - und diejenige des späteren ist andeutend; einige Erklärungen wären nötig, zumal viele schwierige Wörter im Italienischen mit einem Wort aus der deutschen Umgangssprache übersetzt wurden - was einerseits die Verständlichkeit des deutschen Textes erhöht, andererseits das Register und die Konnotationen des Originals verschleiert . 5 Es gibt zwei Inhaltsverzeichnisse, die jedoch alphabetisch geordnet sind; ein klassisches, d h die Gedichte nach den jeweiligen Werken gliederndes, Inhaltsverzeichnis würde zeigen, dass viele Gedichte nicht nach philologischen Kriterien 6 geordnet sind (z B in Ferbers Ausgabe - Sektion Satura II - kommt Nell’attesa vor La belle dame sans merci, was nicht der ursprünglichen Anordnung entspricht, usw .) Diese Einwände sind aber, wie schon gesagt, durch die Wahl des Zielpublikums zu verstehen und stellen auf jeden Fall nur kleine Probleme dar; die positiven Qualitäten der Übersetzung sind viel bedeutender und machen das Desiderat einer vollständigen Neuübersetzung des Werks Montales besonders sinnfällig Man kann nur hoffen, dass Christoph Ferber sich dazu bereit findet . Alessandra Origgi 2_IH_Italienisch_72.indd 101 06.11.14 10: 27 102 Buchbesprechungen anmerkungen 1 E Montale, Gedichte, 1920 - 1954, übers von H Helbling, München 1987 Die anderen Ausgaben, die nur eine kleine Auswahl der Werke Montales anbieten, sind: E Montale, Nach Finisterre, übers von H Hinterhäuser, Darmstadt 1965; E Montale, Satura / Diario, übers von M Marschall von Bieberstein, München 1976; E Montale, Wer Licht abgibt, setzt sich dem Dunkel aus, übers von H Hinterhäuser, Waldbrunn 1982; E Montale, Glorie des Mittags, übers von H Frenze, München 3 1986; E Montale, Das postume Tagebuch, übers von C Koschel, München 1998 und 2001, 2 Bde 2 S 467: C Ott, Torso-Göttin Sprache, Heidelberg 2003 3 Vgl den ‹autocommento› «Due sciacalli al guinzaglio», am 16 Februar 1950 im Corriere della sera veröffentlicht 4 Vgl z B A Casadei, Prospettive montaliane. Dagli «Ossi» alle ultime raccolte, Pisa 1992 5 Z B in Ciò che di me sapeste (Ossi di seppia) wird «falòtico» mit «bizarr» wiedergegeben (S 36 - 37); der italienische Begriff ist aber extrem rar - er stammt aus dem Französischen «falot» 6 Die philologische Referenz für die Gedichte Montales ist die von Gianfranco Contini und Rosanna Bettarini in Kooperation mit Montale selbst herausgegebene Sammlung L’opera in versi, Torino 1980 2_IH_Italienisch_72.indd 102 06.11.14 10: 27