Italienisch
ita
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2014
3672
Fesenmeier Föcking Krefeld OttErich Auerbach: Kultur als Politik. Aufsätze aus dem Exil zur Geschichte und Zukunft Europas (1938-1947). Herausgegeben von Christian Rivoletti. aus dem Türkischen von Christoph Neumann. Konstanz: University Press 2014, 197 Seiten, € 29,90
121
2014
Frank-Rutger Hausmann
ita36720103
103 Buchbesprechungen erich auerbach: Kultur als Politik. Aufsätze aus dem Exil zur Geschichte und Zukunft Europas (1938-1947). herausgegeben von Christian rivoletti. aus dem Türkischen von Christoph Neumann. konstanz: University Press 2014, 197 seiten, € 29,90 Es ist erfreulich, dass die Gründerväter der deutschsprachigen Romanistik auch im Ausland anerkannt werden Die Università di Padova hat sich diesbezüglich in jüngerer Zeit (2009, 2010, 2011) besondere Verdienste erworben und Ernst Robert Curtius, Leo Spitzer und Erich Auerbach je einen gewichtigen Tagungsband gewidmet . 1 Allerdings ist anzumerken, dass sich die meisten Beiträger auf solche Werke konzentrieren, die, wie Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Stilstudien und Mimesis, in italienischer Übersetzung vorliegen, was das bedauerliche «Germana sunt, non leguntur» leider bestätigt Eine erfreuliche Ausnahme macht daher ein Band von Aufsätzen und Rezensionen Auerbachs in italienischer Übersetzung, den der in Siena lehrende Italianist Riccardo Castellana und sein italienisch-deutscher Kollege Christian Rivoletti, z Zt Lehrstuhlvertreter an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, herausgebracht und z T selber übersetzt haben . 2 Erstaunlicherweise ist Auerbachs Œuvre noch keineswegs vollständig erschlossen, und das gilt nicht nur für sein umfangreiches Briefcorpus, das Martin Vialon herausgibt . 3 Rivoletti, von seiner Edition der Auerbach-Aufsätze in italienischer Sprache beflügelt, hatte die originelle Idee, nach weiteren Arbeiten 4 Auerbachs aus der türkischen Exilszeit zu suchen, und wurde fündig: Insgesamt konnte er zwölf Texte identifizieren, sechs Vorträge und sechs Zeitschriftenartikel (vgl «Nachweise», S 188 - 189), deren deutsche bzw französische Vorlagen als verloren gelten müssen . 5 Alle behandeln Themen der europäischen Kulturgeschichte und stammen aus den Jahren 1937 bis 1947 Da Auerbach nicht gut Türkisch konnte, musste bei den Vorträgen entweder ein Simultandolmetscher zugegen sein, oder eine vorher erstellte türkische Version an das Publikum verteilt werden Als Übersetzer der türkischen Texte konnte Rivoletti den renommierten Münchner Turkologen Christoph K Neumann gewinnen, der über eine reiche traduktologische Erfahrung verfügt Der Leser hat an keiner Stelle den Eindruck, es mit «(rück)übersetzten» Texten zu tun zu haben Die klare und einfache Diktion macht deutlich, dass sich Auerbach an ein breites Publikum wandte, welches er nicht mit Spezialwissen überfordern wollte Dennoch wäre es reizvoll, wüsste man, wie die deutschen bzw französischen Originaltexte ausgesehen haben . 6 Rivoletti arbeitet in seinem Vorwort die Bedeutung der Exilserfahrung für die wissenschaftliche Entwicklung Auerbachs heraus Die damalige Türkei 2_IH_Italienisch_72.indd 103 06.11.14 10: 27 10 4 Buchbesprechungen wurde von den Reformen geprägt, die Mustafa Kemal Atatürk, der erste Staatspräsident der Republik, angestoßen hatte Sie bewirkten eine «Neugründung der Politik, der gesellschaftlichen Struktur, der Kultur, der Religion und sogar der Sprache» (S 21), was Auerbach intensiv über die historischen Ereignisse der in die Krise geratenen westlichen Institutionen nachdenken ließ Um dies besser zu verstehen, sind Hinweise auf seine Vertreibung nötig, die Rivoletti als bekannt voraussetzt Genannt seien deshalb die wichtigsten Fakten, die verdeutlichen, dass Auerbach nicht so sehr als Wissenschaftler nach Istanbul geholt wurde, sondern als ein in der Lehrerbildung tätiger Pädagoge Vor diesem Hintergrund versteht man Tendenz und Stil seiner Vorträge besser, die an ein breites türkisches Publikum gerichtet waren Nach der sog nationalsozialistischen Machtergreifung am 30 Januar 1933 verloren die neuen «Herren» keine Zeit damit, alle ihren völkisch-rassischen Prinzipien missliebigen Personen aus einflussreichen Positionen in Staat und Gesellschaft zu entfernen Dass die Universitäten und Hochschulen dazu gehörten, versteht sich von selbst, denn ihnen war in der neuen Staatsordnung eine besondere Rolle zugedacht Als hauptsächliche Gegner des Nationalsozialismus galten aus rassischen Gründen «die Juden», aus politischen Kommunisten und Sozialdemokraten, wobei Marxisten und Juden in unzulässiger Vereinfachung miteinander gleichgesetzt wurden Justiz und Verwaltung liehen widerspruchslos ihre Hand, entsprechende Gesetze und Verordnungen zu formulieren, und, wenn die Regierung sie verkündet hatte, auch anzuwenden Äußerst wirksam war bereits das «Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums» (ein euphemistischer und zugleich verschleiernder Titel) vom 7 April 1933 mit seinen verschiedenen Durchführungsverordnungen Bis zum Jahr 1937 wurden insgesamt 1684 jüdische Gelehrte aus Universitäten, Akademien, Forschungsinstituten, Bibliotheken und Museen entlassen Die meisten emigrierten und fanden in den USA und, mit gewissen Einschränkungen, Großbritannien eine neue Heimat und ein neues Wirkungsfeld, so als ob das angloamerikanische Bildungssystem trotz eigener Arbeitslosigkeit am flexibelsten für Zuzug von außen gewesen wäre Einen Sonderfall stellt die Türkei dar, wo in den Jahren nach 1933 einhundertneununddreißig deutsche und österreichische Wissenschaftler unterkamen Schon kurz nach der nationalsozialistischen Machtergreifung bildete sich unter Leitung des aus Frankfurt stammenden Mediziners Philipp Schwartz in Zürich eine «Beratungsstelle für deutsche Wissenschaftler», die sich später «Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland» nannte Als Schwartz erfuhr, in Istanbul werde eine Universitätsreform vorbereitet, reiste er in die Türkei und wurde von Prof Albert Malche, einem Schweizer Pädagogen und Bildungspolitiker, der der führende Berater des türkischen Unterrichtsministeriums war, empfangen Er vereinbarte mit ihm die Anwerbung von deutschen 2_IH_Italienisch_72.indd 104 06.11.14 10: 27 105 Buchbesprechungen Emigranten für die neue Universität Istanbul, die im Unterschied zur Universität Ankara stärker geisteswissenschaftlich ausgerichtet sein sollte Auch zwei Romanisten, Leo Spitzer und Erich Auerbach, wurden nacheinander für Istanbul angeworben und konnten jüngere Wissenschaftler mitbringen Leo Spitzer kam im Herbst 1933, erhielt jedoch bereits eineinhalb Jahre später einen Ruf an die Johns Hopkins Universität in Baltimore, den er für 1936 annahm, so dass sein Platz wieder frei wurde Auerbach, als Nachfolger Spitzers seit 1930 Ordinarius in Marburg, fiel nach 1933 zunächst unter die sog Frontkämpferklausel, so dass ihm bis 1935 eine Gnadenfrist eingeräumt wurde Er gab sich eine Weile sogar der Selbsttäuschung hin, es werde alles nicht so schlimm kommen, zumal er in seinem Schüler Werner Krauss einen loyalen und tatkräftigen Unterstützer fand Als er jedoch von diversen Zeitschriftenherausgebern damit konfrontiert wurde, dass die Beiträge eines Nicht-Ariers nicht mehr erwünscht seien, wusste er, was die Stunde geschlagen hatte Schweren Herzens entschloss er sich mit Frau und Sohn zur Emigration nach Istanbul, wo Spitzer alle Wege für ihn geebnet hatte 7 Erich Auerbach verließ die Türkei erst 1947, um in die USA überzusiedeln, wo er zunächst an der Pennsylvania State University, später in Yale unterkam Langfristig konnte die Türkei einen so ideenreichen Romanisten wie ihn nicht binden Doch wenn man sich vergegenwärtigt, welchen Schikanen und lebensbedrohenden Gefahren die in Deutschland verbliebenen «Juden» ausgesetzt waren, die nur in Ausnahmefällen ihr Leben retten konnten, war der Aufenthalt im Fluchtland Türkei trotz aller Eingewöhnungsschwierigkeiten ein wahrer Glücksfall Betrachten wir die wiederentdeckten Arbeiten Auerbachs näher: Rivoletti teilt sie in zwei Gruppen, die «Zu einigen Themen der europäischen Kulturgeschichte» (Teil I) bzw «Zu einigen Protagonisten der europäischen Kulturgeschichte» überschrieben sind (Teil II) Diese Teilung ist geschickt, denn die «Protagonisten» (Dante, Machiavelli, Voltaire, Montesquieu, Jean- Jacques Rousseau, Benedetto Croce) behandeln Themen, die in Teil I in allgemeiner Form angeschnitten werden: «Literatur und Krieg», «Die Entstehung der Nationalsprachen im Europa des 16 Jahrhunderts», «Realismus im Europa des 19 Jahrhunderts» sowie «Die Wirkung der Monarchien auf die Demokratie in Frankreich und die jüngste deutsche Katastrophe» Es sei nur am Rande vermerkt, dass die meisten «Protagonisten» auch in Mimesis besprochen werden - Der Beitrag «Über das Studium der Romanistik in Istanbul» bildet insofern eine wichtige Ergänzung, als Auerbach als Ziel der Ausbildung postuliert, «den Studenten die Gelegenheit zu bieten, sich die besten Traditionen Europas aneignen zu können» (S 89) Die genuin italianistischen Vorträge sind «Dante» (S 95 - 109), «Über Dantes Dichtung» (S 111 - 129), «Über Machiavelli» (S 131 - 135) und 2_IH_Italienisch_72.indd 105 06.11.14 10: 27 106 Buchbesprechungen «Benedetto Croce» betitelt Wenngleich Auerbach, was Dante angeht, auf sein meisterhaftes Buch aus dem Jahr 1929 zurückgreifen kann, 8 spürt man doch eine neue Sympathie, die der aus seiner Heimat in die ferne Türkei vertriebene Romanist für den florentinischen Dichter empfindet, der 1301 aus seiner Vaterstadt verbannt wurde und sie nie wiedersehen sollte Bringen also die beiden Dante-Beiträge nichts grundsätzlich Neues, so ist die Rehabilitierung Machiavellis, auch er ein Verbannter, auf ersten Blick überraschend Auerbach leugnet weder seine Verherrlichung der Staatsraison noch seinen Opportunismus, doch er bewundert seine Ehrlichkeit und seinen Idealismus Eigentlich habe Machiavelli die Gewaltherrschaft verabscheut, sich dem Volk nahe gefühlt und vor allen Dingen die Freiheit geliebt Wenn Auerbach gleich zu Beginn seines Beitrags schreibt, Il Principe sei «eines der alten Werke, die im Lichte der Ereignisse der letzten Jahre neue Frische angenommen haben und weithin auf Interesse stoßen», dann sind die Analogien des «Fürsten» zu den Diktatoren in Deutschland, Italien, Spanien, Portugal und anderen Ländern zwar unüberhörbar, aber die Unterschiede nicht minder Für Auerbach ist Machiavelli ein Idealist, der, anders als die Despoten der Gegenwart, die Staatsraison und ihre daraus abgeleiteten Gewalttaten nicht mit Ideologie und Moral verbrämt, sondern in seinem Fürsten einen fiktiven, idealen Diktator zeichnen will Der Croce-Beitrag (S 187 - 188) ist nur kurz und reagiert auf den Waffenstillstand, den Marschall Badoglio im Namen König Viktor Emanuels III nach der Absetzung Mussolinis am 8 September 1943 mit den Alliierten schloss Auerbach zeichnet Croce als einen der einflussreichsten Denker der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts und Gegner des Faschismus Aus diesem Grund werde er «eine führende Rolle beim politischen und moralischen Wiederaubau seines Landes spielen dürfen» Rivoletti hat mit seiner Edition einen wichtigen Beitrag zur besseren Kenntnis Auerbachs, eines der ganz großen aus Deutschland stammenden Romanisten, geleistet Abschließend sei angemerkt, dass am Institut für Philosophie der Carl v Ossietzky Universität Oldenburg am 8 Mai 2014 ein «Erich-Auerbach- Archiv» gegründet wurde, das von Martin Vialon geleitet wird 9 Diese Gründung unterstreicht einmal mehr die Aktualität Auerbachs, nicht nur für die Romanistik, sondern für alle Kulturwissenschaften Frank-Rutger Hausmann 2_IH_Italienisch_72.indd 106 06.11.14 10: 27 107 Buchbesprechungen anmerkungen 1 Mimesis: l’eredità di Auerbach: atti del 35. Convegno interuniversitario (Bressanone / Innsbruck, 5-8 luglio 2007) a cura di Ivano Paccagnella e Elisa Gregori, Padova: Esedra 2009; Leo Spitzer: lo stile e il metodo: atti del 36. Convegno interuniversitario (Bressanone / Innsbruck, 10-13 luglio 2008) a cura di Ivano Paccagnella ed Elisa Gregori, Padova: Esedra 2010; Attorno a Curtius: tavola rotonda dei dottorandi di Romanistica in occasione del 37. Convegno Inter-universitario (Bressanone / Innsbruck, 13-16 luglio 2009) «Ernst Robert Curtius e l’identità culturale dell’Europa» / a cura di Ivano Paccagnella e Elisa Gregori, Padova: Esedra 2011 2 Erich Auerbach, Romanticismo e realismo e altri saggi su Dante, Vico e l’Illuminismo a cura di Riccardo Castellana e Christian Rivoletti, Pisa: Scuola Normale Superiore 2010 (Bibliotheca, 7) 3 Erich Auerbachs Briefe an Martin Hellweg (1939 - 1950) Edition und historisch-philologischer Kommentar / hrsg von Martin Vialon, Tübingen / Basel: Francke 1997; s u Anm 9 4 Roman filolojisine giri¸ s Çeviren: Süheyla Bayrav, Istanbul: Horoz, 1944 (türk Übers von Einführung in die romantische Philologie); Neue Dantestudien; Sacrae scripturae sermo humilis; Figura; Franz von Assisi in der Komödie, Istanbul 1944 5 Einen Sonderfall, weil aus dem engeren Zeitrahmen fallend, bildet «Über Dantes Dichtung» [redaktioneller Titel] Transkript der Tonaufnahme des an der Pennsylvania State University gehaltenen Vortrags, USA 1947 Erste Veröffentlichung in englischer Sprache (mit Originalaufnahme auf CD) unter dem Titel «The three traits of Dante’s poetry», in: Karlheinz Barck und Martin Treml (Hrsg .), Erich Auerbach. Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen, Berlin: Kadmos 2007, S 414 - 425 6 Auerbachs inzwischen in Marbach, DLA aufbewahrter Nachlass enthält die Vorlagen leider nicht, da er im großen und ganzen nur seinen Aufenthalt in den USA dokumentiert 7 Vgl ausführlich Hausmann, «Vom Strudel der Ereignisse verschlungen». Deutsche Romanistik im «Dritten Reich», Frankfurt a M .: Vittorio Klostermann 22008 (Analecta Romanica, 61),S 233 - 280; 309 - 336 8 Dante als Dichter der irdischen Welt, Berlin: de Gruyter 1929 9 Vgl den folgenden Hinweis in: CvO-Universität Oldenburg, Press release vom 2 .5 .2014: «Eine der ersten Aufgaben des Archivs besteht in der Edition von Auerbachs Briefen», erklärt Vialon, der den bereits publizierten Briefen an Benedetto Croce, Werner Krauss, Walter Benjamin, Martin Hellweg, Siegfried Kracauer, Karl Vossler und Fritz Schalk neue, bisher unveröffentlichte Konvolute hinzufügen konnte So plant er eine Gesamtausgabe von Auerbachs Briefen - etwa 550 aus privaten und öffentlichen Archiven in den USA, Israel und Europa sowie der Türkei «Zudem widmet sich das Archiv der Edition von vergriffenen Werken Auerbachs - vor allem seinen Essays» 2_IH_Italienisch_72.indd 107 06.11.14 10: 27
