eJournals Italienisch 37/73

Italienisch
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Narr Verlag Tübingen
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2015
3773 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Der schwarze Läufer

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2015
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9 ArrI G O B O ItO Der schwarze Läufer 1 Wer Schach zu spielen weiß, nehme ein Schachbrett, lege es in schöner Ordnung vor sich und imaginiere, was zu schreiben ich mich anschicke Er imaginiere am Platz der weißen Figuren einen Mann mit intelligenten Gesichtszügen; zwei starke Wölbungen erscheinen auf seiner Stirn, ein wenig über den Augenbrauen, dort, wo Gall 2 die Fähigkeit des Kalküls situiert; er trägt einen hellblonden Backenbart und einen gestutzten Schnurrbart nach Art vieler Amerikaner Er ist ganz in Weiß gekleidet und, gleichwohl es Nacht ist und er im Kerzenlicht spielt, trägt er ein pince-nez mit getönten Gläsern, durch welche er mit großer Konzentration auf das Schachbrett schaut Am Platz der schwarzen Figuren sitzt ein Schwarzer 3, ein wahrer Äthiopier 4, mit geschwellten Lippen, ohne ein einziges Barthaar im Gesicht, mit dem wolligen Schädel eines Widders; er hat ausgeprägte Stirnhöcker als Zeichen von List und Hartnäckigkeit; seine Augen sind nicht auszumachen, weil er das Gesicht über die Partie beugt, die er mit dem anderen spielt Seine Kleidung ist so dunkel, dass er Trauer zu tragen scheint Diese zwei Männer von entgegengesetzter Farbe, stumm, regungslos, die sich mit ihren Gedanken bekämpfen, der Weiße mit den weißen Figuren, der Schwarze mit den schwarzen, wirken eigenartig, feierlich nahezu und schicksalsschwer Um zu wissen, wer sie sind, muss man sechs Stunden zurückgehen und den Gesprächen zuhören, die einige Gäste im Lesesaal des ersten Hotels in einem der bekanntesten Mineralheilbäder der Schweiz führen Die Diener hatten die Lampen noch nicht angezündet; das Mobiliar des Saals und die Personen, die sich unterhielten, waren in die tiefer werdenden Schatten der Abenddämmerung getaucht; auf dem Zeitungstisch summte ein Samowar auf einer großen Spiritusflamme Dieses Halbdunkel erleichterte den Gang der Konversation; die Gesichter waren nicht zu sehen, man hörte nur die Stimmen, die dieses Gespräch erzeugten: «Auf der Gästeliste habe ich heute den kaum zivilisierten Namen eines Eingeborenen aus Morant-Bay gelesen .» «Oh! ein Neger! wer kann das sein? » «Ich habe ihn gesehen, Mylady; er scheint Satan in Person zu sein .» «Ich hielt ihn für einen Ourang-Outang .» «Ich habe, als er an mir vorbeiging, geglaubt, er sei ein Mörder mit geschwärztem Gesicht .» «Und ich kenne ihn, meine Herrschaften, und kann Ihnen versichern, dass dieser Neger ein Ehrenmann ist, der rechtschaffenste dieser Welt Wenn Ihnen seine Lebensgeschichte nicht bekannt ist, kann ich sie Ihnen in wenigen 2_IH_Italienisch_73.indd 9 19.05.15 11: 40 10 Der schwarze Läufer Arrigo Boito Worten erzählen Dieser in Morant-Bay geborene Neger wurde noch als Kind von einem Spekulanten nach Europa gebracht, der, als er sah, dass der Sklavenhandel in Amerika gestört war und ihm nicht genug abwerfen würde, versuchte, einen bescheidenen Handel mit grooms in Europa zu etablieren: er brachte heimlich an die dreißig kleine Neger an Bord, Kinder seiner früheren Sklaven, und verkaufte sie in London, in Paris und Madrid für je zweitausend Dollar Unser Neger ist einer dieser dreißig grooms Das Glück wollte es, dass er in die Hände eines alten Lords ohne Familie fiel, der, nachdem er ihn fünf Jahre hinten auf seiner Kutsche gehalten hatte, bemerkte, dass der Junge ehrlich und intelligent war; er machte ihn zum Hausdiener, dann zu seinem Sekretär, dann zu seinem Freund und, als er starb, setzte er ihn zum Erben seines gesamten Vermögens ein Heute gehört dieser Neger (der nach dem Tod seines Lords England verließ und sich in die Schweiz begab) zu den reichsten Grundbesitzern des Kantons Genf, hat einen bewundernswerten Tabakanbau und wegen eines gewissen Geheimnisses bei der Beize des Blatts, stellt er die besten Zigarren des Landes her; sehen Sie: die, die wir soeben rauchen, kommen aus seinen Magazinen, ich erkenne sie an dem dreieckigen Zeichen, das gegen die Mitte ihres Bauches aufgeprägt ist Die Genfer nennen diesen tüchtigen Neger Tom, weil er mildtätig und großmütig ist; und seine Bauern verehren ihn, sie beten ihn an Ansonsten lebt er allein, flieht Freunde und Bekannte; in Morant-Bay blieb ihm ein einziger Bruder, kein anderer Verwandter; er ist noch jung, eine grausame Schwindsucht bringt ihn langsam um; er kommt alle Jahre hierher, um eine Trinkkur zu machen .» «Armer Tom! Sein Bruder mag zu dieser Stunde schon von der Guillotine Monklands geköpft worden sein Die letzten Nachrichten aus den Kolonien berichten von einem gewaltigen Sklavenaufstand, der vom britischen Gouverneur wutentbrannt niedergeschlagen wurde Hören Sie, was die letzte Nummer der Times darüber berichtet: ‹Die Soldaten der Königin verfolgen einen Neger namens Gall-Ruck als Anführer der Revolte an der Spitze eines Trupps von 600 Menschen, usw .›» 5 «Gütiger Gott! » ertönte die Stimme einer Dame, «wann werden endlich diese mörderischen Kämpfe zwischen Weißen und Negern enden? ! » «Niemals! » erwiderte jemand aus dem Dunkel Alle wandten sich zur Seite, dem zu, der diese beiden Silben ausgesprochen hatte Dort hatte sich auf einem Sessel, mit eleganter Zwanglosigkeit, die einen wirklichen Herrn auszeichnet, ein Mann niedergelassen, der mit seiner strahlend weißen Kleidung aus dem Dunkel hervorstach «Niemals», wiederholte er, als er sich wahrgenommen fühlte, «niemals… Vor drei Jahren war ich in Amerika, wo auch ich für die ‹gute Sache› kämpfte, auch ich wollte die Freiheit der Sklaven, die Abschaffung der Ketten und der Peitsche, obwohl ich im Süden eine gute Anzahl von Negern hatte 2_IH_Italienisch_73.indd 10 19.05.15 11: 40 11 Arrigo Boito Der schwarze Läufer Ich bewaffnete meine Männer mit Karabinern und sagte ihnen: ihr seid frei; hier ist ein Rohr aus Bronze und Bleikugeln; zielt gut, trefft richtig, befreit eure Brüder «Um ihnen das Zielen beizubringen, hatte ich eine Schießscheibe inmitten meiner Besitzungen aufgestellt Die Schießscheibe hatte einen schwarzen Punkt in der Größe eines Kopfes in einem weißen Kreis Sklaven haben ein scharfes Auge, einen starken und steten Arm, ihr Instinkt liegt immer auf der Lauer, in einem Wort, sie haben alle Qualitäten eines guten Schützen, aber keiner dieser Neger traf ins Zentrum, alle Kugeln verfehlten das Ziel «Eines Tages näherte sich mir der Vorarbeiter der Sklaven und gab mir in seiner bildhaften und fantastischen Sprache diesen Rat: ‹Herr, ändert die Farbe; diese Zielscheibe hat ein schwarzes Gesicht, macht daraus ein weißes Gesicht und wir werden treffen .› «Ich veränderte die Anordnung des Kreises und machte das Zentrum weiß; daraufhin trafen von fünfzig Negern, die schossen, vierzig so . . .», und der Erzähler nahm, indem er die letzten Worte aussprach, eine Damenpistole, die auf dem Tisch lag, zielte, so gut als die Dunkelheit das zuließ, auf eine kleine Zielscheibe, die an der gegenüberliegenden Wand angebracht war, und schoss Die Damen erschreckten sich, die Männer liefen zur Flamme des Samowars, nahmen sie und gingen, um die Einschussstelle von Nahem zu betrachten Das Zentrum war getroffen, als ob mit dem Zirkel Maß genommen worden wäre Alle schauten höchst erstaunt den Mann an, der mit vollendeter Höflichkeit die Damen wegen des unerwarteten Schusses um Verzeihung bat und hinzufügte: «Ich wollte mit einem Knalleffekt schließen, ansonsten hätten Sie mir nicht geglaubt .» Niemand wagte, die Wahrheit der Erzählung zu bezweifeln Dann fuhr er fort: «Indem ich aber für die Freiheit der Neger kämpfte, gelangte ich zu der Überzeugung, dass die Neger die Freiheit nicht wert sind Sie haben einen beschränkten Intellekt und ungezähmte Instinkte Die Phrygische Mütze darf man nicht auf den Flecken Gesicht eines Affen setzen .» «Erzieht sie», erwiderte eine Dame… «Ich verbrachte mein Leben damit, Signora Ich bin eine Art Diogenes der Neuen Welt: ich habe den Menschen Neger gesucht, bisher aber nur den Wilden gefunden .» In diesem Moment erschien auf der Schwelle ein Diener mit einer großen, entzündeten Lampe; der ganze Saal war in einem Augenblick hell erleuchtet Und man sah Tom, der regungslos in einer Ecke saß Niemand hatte geahnt, dass er im Saal wäre, die Dunkelheit hatte ihn verborgen; als man ihn erblickte, war es augenblicklich still Die Blicke der Anwesenden wanderten vom Schwarzen zum Amerikaner Der Amerikaner erhob sich, sagte dem Diener etwas ins Ohr und setzte sich wieder Das Schweigen hielt 2_IH_Italienisch_73.indd 11 19.05.15 11: 40 12 Der schwarze Läufer Arrigo Boito an Der Diener kehrte mit einer Flasche Xeres und zwei Gläsern zurück Der Amerikaner füllte die beiden Gläser bis zum Rand und nahm eines davon in die Hand; der Diener ging mit dem anderen zu dem Schwarzen «Mein Herr, auf Ihr Wohl! » sagte der Amerikaner zu dem Schwarzen «Vielen Dank, mein Herr; auf das Ihre! » erwiderte der Schwarze und beide tranken Im Tonfall des Schwarzen gab es eine zarte und scheue Liebenswürdigkeit und sehr viel Wehmut Nach diesen Worten versank er wieder in sein Schweigen, erhob sich, nahm vom Zeitungstisch die letzte Nummer der Times und las während zehn Minuten mit lebhafter Aufmerksamkeit Der Amerikaner, der einen Vorwand suchte, um das Gespräch wieder aufzunehmen, wandte sich der Ecke zu, wo Tom las und sagte zu ihm mit ausgesuchter Höflichkeit: «Diese Zeitung hat rein gar nichts Erheiterndes für Sie, mein Herr; vielleicht kann ich Ihnen mit einer Zerstreuung dienen? » Der Schwarze beendete seine Lektüre und erhob sich mit würdevollem Respekt vor seinem Gesprächspartner «Erlauben Sie mir unterdessen, dass ich Ihnen die Hand drücke», nahm der andere das Gespräch wieder auf, «ich heiße Giorgio Anderssen Darf ich Ihnen eine Havanna anbieten? » «Nein, danke; der Rauch bekommt mir schlecht .» Der Amerikaner entledigte sich daraufhin der Zigarre, die er zwischen den Lippen hielt und kam auf seine Fragen zurück: «Darf ich Ihnen eine Partie Billard anbieten? » «Dieses Spiel ist mir unbekannt; ich danke Ihnen, mein Herr .» «Darf ich Ihnen eine Partie Schach vorschlagen? » Der Schwarze zögerte und antwortete dann: «Ja, das nehme ich gerne an», und sie begaben sich zu einem kleinen Spieltisch, der in der entgegengesetzten Ecke des Saals stand, nahmen zwei Stühle und setzten sich, einer dem anderen gegenüber Der Amerikaner warf die Spielfiguren und Steine auf das grüne Tuch des Tischs, um sie dann der Ordnung nach auf dem Schachbrett aufzustellen Das Schachbrett war mit plump eingelegten Quadraten aus Holz von keinem besonderen Wert, die Figuren aber waren wirkliche Kunstobjekte Die weißen Figuren waren aus feinstem Elfenbein, die schwarzen aus Ebenholz; der weiße König und die Dame trugen eine Krone aus Gold, der schwarze König und die schwarze Dame eine aus Silber; die vier Türme wurden von vier Elefanten getragen wie in den ursprünglichen persischen Schachspielen Die feine Arbeit machte diese Figuren höchst zerbrechlich Durch den Aufprall, den sie erlitten, als der Amerikaner sie auf den Tisch schüttete, zerbrach der schwarze Läufer «Schade! » sagte Tom «Das macht nichts», erwiderte der andere, «das lässt sich gleich beheben .» 2_IH_Italienisch_73.indd 12 19.05.15 11: 40 13 Arrigo Boito Der schwarze Läufer Er stand auf, ging zum Schreibsekretär, entzündete eine Kerze, nahm ein Stückchen roten Siegellacks, erhitzte es, bestrich damit so gut es ging die beiden Teile des Läufers, fügte sie wieder zusammen und brachte dem Mitspieler die wiederhergestellte Figur zurück Dann sagte er lachend: «Hier ist er! Wenn man doch auch die Köpfe der Menschen so wieder befestigen könnte! » «Heute, in Monklands, hätten das viele nötig», erwiderte der Schwarze mit düsterem Lächeln Der Tonfall dieses Satzes erregte in dem Amerikaner eine flüchtige Empfindung von Verblüffung, von Mitleid, Kränkung und Widerwillen Tom fuhr fort: «Mit welcher Farbe spielen Sie, mein Herr? » «Mit der einen oder anderen, ich bevorzuge keine .» «Wenn es Ihnen also gleichgültig ist, nehmen wir doch jeder die seine Für mich die schwarzen, wenn Sie erlauben .» «Und für mich die weißen Ausgezeichnet .» Und sie machten sich daran, die Figuren auf ihre Felder zu stellen Sie waren sich gegenseitig mit ebenbürtiger Ritterlichkeit beim Aufstellen der Schachfiguren behilflich; der Schwarze setzte, wenn es sich anbot, einen weißen Bauern, der Weiße erwiderte die Höflichkeit, indem er einige schwarze Figuren an ihren Platz stellte Als beide aufgestellt waren, sagte Anderssen: «Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass ich recht stark bin, dürfte ich Sie bitten, den Vorteil einer Figur anzunehmen, den eines Turmes zum Beispiel .» «Nein .» «Eines Springers? » «Auch nicht Mir gefällt die Gleichheit der Waffen, auch wenn die Kräfte ungleich sind Ich schätze Ihr Feingefühl, aber ich ziehe es vor, ohne irgendeinen Vorteil zu spielen .» «Es sei Sie haben den ersten Zug .» «Das Los entscheidet», und der Schwarze umschloss mit der einen Hand einen schwarzen Bauern, mit der anderen Hand einen weißen Bauern; dann ließ er den Amerikaner ziehen «Diesen .» «Weiß hat den ersten Zug Fangen wir an .» Währenddessen hatten sich die im Saal anwesenden Personen nach und nach dem Spieltisch genähert Unter diesen Personen gab es einige, die den Namen Giorgio Anderssen 6 als einen der berühmtesten Schachspieler Amerikas kannten, und diese interessierten sich in besonderer Weise für das Schauspiel, das soeben begann Giorgio Anderssen, Spross einer englischen, nach Washington ausgewanderten Adelsfamilie, war durch das Schachspiel Millionär geworden Schon als junger Mann hatte er Harwitz, Hampe, Szen 7 und alle Meisterspieler seiner Zeit 2_IH_Italienisch_73.indd 13 19.05.15 11: 40 14 Der schwarze Läufer Arrigo Boito besiegt Das war der Mann, der sich maß mit dem armen Tom Bevor Anderssen noch Zeit gehabt hätte, den ersten Bauern zu bewegen, nahm der Schwarze die brennende Kerze, die auf dem Spieltisch zu seiner Rechten stand und stellte sie nach links Anderssen bemerkte diese Bewegung und dachte überrascht: «Dieser Mensch hat sicherlich die Repeticio de Arte de Axedre von Lucena gelesen und folgt der Regel, die sagt: ‹Wenn ihr am Abend beim Licht einer Kerze spielt, stellt sie nach links; eure Augen werden vom Licht weniger belästigt sein und so werdet ihr eurem Gegner gegenüber schon einen großen Vorteil haben› .» Dies denkend, nahm er seine getönten Augengläser und setzte sie sich auf die Nase; dann zog er Sodann drehte er sich denen zu, die sie umstanden und sagte mit heiterer Zwanglosigkeit: «Die ersten Züge beim Schachspiel sind wie die ersten Worte einer Konversation, sie gleichen sich immer; da haben Sie’s: weißer Bauer, zwei Felder; schwarzer Bauer, zwei Felder; dann Königsgambit, usw usf .» Und so machte er, achtlos plaudernd, den zweiten Zug und setzte den Bauern des Königsläufers zwei Felder vorwärts, in der Erwartung, dass der Gegner ihm den Bauern nehmen würde Der Schwarze nahm den Bauern nicht, sondern verteidigte mit einem weniger regulären Zug den eigenen Bauern, indem er seinen Königsläufer auf das dritte Feld der Dame setzte Anderssen verwunderte sich auch darüber und dachte: «Dieser Mensch schont die Bauern; er folgt dem System Philidors, der sie die Seele des Spiels nannte .» Es folgten fünf oder sechs Eröffnungszüge; die beiden Spieler erkundeten sich gegenseitig wie zwei Armeen vor der Schlacht, sie schätzten sich ab wie zwei boxeurs vor dem Kampf Der sieggewohnte Amerikaner fürchtete seinen Gegenspieler nicht im geringsten; er war sich darüberhinaus sicher, dass der Intellekt eines Negers, so gebildet er auch sein möge, wohl kaum mit dem eines Weißen konkurrieren könne, schon gar nicht mit dem eines Giorgio Anderssen, dem Sieger der Sieger Dennoch entging ihm nicht die kleinste Bewegung des Feindes; eine gewisse Unruhe zwang ihn, ihn zu beobachten, und er begann, ihn unauffällig mehr auf dem Gesicht als auf dem Schachbrett auszuspähen Er hatte von Anfang an bemerkt, dass die Züge des Negers unlogisch waren, matt, konfus; aber er hatte auch bemerkt, dass sein Blick und der Ausdruck seines Gesichts Tiefe hatten Das Auge des Weißen betrachtete das Gesicht des Schwarzen, das Auge des Schwarzen war in das Schachspiel vertieft Sie hatten erst sieben oder acht Züge gespielt und schon war ersichtlich, dass es zwei Strategien des Spiels gab, die sich diametral unterschieden Der Aufmarsch des Amerikaners war symmetrisch und triumphal und erinnerte an die ersten Formierungen einer großen Streitmacht, die in die Schlacht zieht; die Ordnung, dieses erste Element der Stärke, regierte das Spiel der Weißen Von den Springern, die von den Alten «die Füße des Schachspiels» 2_IH_Italienisch_73.indd 14 19.05.15 11: 40 15 Arrigo Boito Der schwarze Läufer genannt wurden, besetzte der eine die äußerste Rechte, der andere die äußerste Linke; zwei Bauern waren gegangen, um den Vorposten zu verstärken, der vom Königsbauern angezeigt wurde; die Dame drohte von einer Seite, der Königsläufer von der anderen Seite und der zweite Läufer hielt das Zentrum, zwei Felder vor dem König und hinter den Bauern Die Stellung der Weißen war mehr als symmetrisch: sie war geometrisch; derjenige, der die Figuren aus Elfenbein so anordnete, spielte kein Spiel, er meditierte eine Wissenschaft; seine Hand fiel sicher und unfehlbar auf die Schachfigur, überquerte das Schachbrett, hielt dann am vorbedachten Punkt mit der Ruhe des Mathematikers, der ein Problem an der Wandtafel extemporiert Die Stellung der Weißen war vollkommen auf Angriff und Verteidigung eingestellt; sie war formidabel, indem sie den Spielraum des Feindes auf kleinsten Raum einschränkte, ihn förmlich erstickte Stellen Sie sich eine bewegliche Wand vor, die voranschreitet und denken Sie, dass die Schwarzen zwischen dem Rand des Schachbretts und dieser gewaltigen und uneinnehmbaren Wand zerquetscht werden Manchmal scheint es, dass auch die unbelebten Dinge das Verhalten von Menschen annehmen, der unbedeutendste Gegenstand kann expressiv werden, je nachdem, was ihn umgibt Deswegen erschienen die Spielfiguren aus Ebenholz, aus denen sich die Streitmacht der Schwarzen zusammensetzte, vor dem Furcht einflößenden Ansturm der Weißen von tiefer Bestürzung erfasst Die Springer scheuten und drehten dem Angriff den Rücken, die Bauern hatten, auseinander getrieben, die Deckung verloren, der König, der es eilig gehabt hatte, sich in Sicherheit zu bringen, schien in seinem Winkel die Unehrenhaftigkeit seiner Flucht zu beweinen Toms Hand, schwarz wie die Nacht, irrte bebend über das Schachbrett So stellte sich die Partie aus Sicht des Amerikaners dar Wechseln wir das Lager Vom Standpunkt des Schwarzen aus gesehen, verkehrte sich der Anblick der Partie Dem System der Ordnung, das durch die Eröffnung der Weißen hergestellt wurde, setzte der Schwarze das System einer kompletten Unordnung entgegen; während jener sich symmetrisch in Stellung brachte, ballte sich dieser ohne ersichtliche Ordnung zusammen, jener legte alle seine Kräfte in das Gleichgewicht von Angriff und Verteidigung, dieser erhöhte mit jedem Zug sein eigenes Ungleichgewicht, welches, durch das beständige Anschwellen seiner Masse, zu ebendiesem wurde, der Schlachtordnung der Weißen gegenüber eine wirkliche Macht und damit eine wirkliche Bedrohung Es war die Drohung des Katapults gegen die Festungsmauer, der Attacke gegen das Karree: so wie die bewegliche Wand des Weißen nach und nach vorrückte, wurde das Geschoss des Schwarzen mächtiger Die beiden Heere standen sich vollzählig gegenüber; es fehlte keine Figur, nicht einmal ein Bauer, und diese Zurückhaltung auf beiden Seiten war furchterregend Der Amerikaner erkannte zu Beginn in der Stellung des Negers nichts als ein zu nichts taugliches Durcheinander, hervorgerufen durch die 2_IH_Italienisch_73.indd 15 19.05.15 11: 40 16 Der schwarze Läufer Arrigo Boito panische Angst des armen Tom; aber gerade wegen ihrer Untauglichkeit schien es ihm, dass diese Stellung einen regelrechten und entschlossenen Ansturm verhindere Der Schwarze aber sah in diesem Durcheinander noch etwas anderes: die genuine Taktik eines Sklaven, die ganze List des Afrikaners war in diesen Zügen kondensiert Dieses Durcheinander war kunstvoll herbeigeführt, um den Hinterhalt zu verbergen, die Bauern fingierten die Niederlage, um den Feind zu täuschen, die Springer fingierten die Bestürzung, der König fingierte die Flucht Dieses Ungleichgewicht hatte eine Achse, diese Rebellion hatte einen Kopf, dieser Wahnwitz einen Plan Der Läufer, den Tom von Anfang an im dritten Feld der Dame postiert hatte, war diese Achse, dieser Kopf, dieser Plan Die Türme, die Bauern, die Springer, selbst die Dame umringten, gehorchten und verteidigten diesen Läufer Es war eben der Läufer, der von dem Amerikaner zerbrochen und wiederhergestellt worden war; ein blutroter Faden aus Siegellack zog sich über seine Stirn, floss über die Wange und schlang sich um den Hals Dieses Stück Holz war heroisch anzuschauen; es hatte den Anschein eines verwundeten Kriegers, der erbittert bis zum Tod kämpft; der blutüberströmte Kopf fiel ihm in tragischem Entsetzen ein wenig auf die Brust; es schien, als betrachte auch er wie der Schwarze, der ihn spielte, das Unheil verheißende Schachbrett; es schien, als sehe er den Gegner aus den Augenwinkeln unverwandt an, als erwarte er stoisch den Angriff oder sinne auf geheimnisvolle Art und Weise über ihn nach In Toms Verständnis war dies die gezeichnete Figur des Spiels; er sah mit seiner lebhaften Einbildungskraft unter den Füßen des schwarzen Läufers zwei sich verzweigende Fäden, die, im Holz des Schachbretts versenkt, alle feindlichen Hindernisse unterliefen und als Zündschnüre an den beiden entgegengesetzten Ecken des weißen Lagers endeten Er wartete voll Bangigkeit auf einen einzigen Zug, die Rochade des gegnerischen Königs, um seinen verborgenen Plan zu fördern Ohne diesen Zug schlüge sein ganzer Plan fehl; eigentlich aber war es unmöglich, dass Anderssen diesen Zug unterließ Tom allein sah und wusste von seiner geheimen Verschwörung, und kein Spieler der Welt hätte sie erraten können Dem umfassenden und harmonischen Entwurf des Weißen setzte der Schwarze eine fixe Idee entgegen: den gezeichneten Läufer; der geordneten Allgegenwart der weißen Streitmacht setzten die Schwarzen das Wirrwarr ihrer Einheit entgegen; dem offenen und klugen Spiel das verdeckte und verrückte Anderssen kämpfte mit den Waffen der Wissenschaft und des Kalküls, Tom mit denen der Inspiration und des Fatums; der eine gab die Schlacht von Waterloo, der andere den Aufstand von San Domingo, 8 der schwarze Läufer, der Bannerträger, war der Ogè 9 dieser Revolte Die Partie dauerte schon ein paar Stunden; es war ungefähr neun Uhr abends; einige Damen, des Zuschauens müde, entfernten sich, sei es, um sich irgendeiner Beschäftigung zu widmen, eine Stickerei aufzunehmen oder die 2_IH_Italienisch_73.indd 16 19.05.15 11: 40 17 Arrigo Boito Der schwarze Läufer kleine Pistole wieder und wieder zu laden und sich an der Zielscheibe zu vergnügen Die beiden Antagonisten saßen unverrückt an ihrem Platz Der Amerikaner, der noch immer nicht das «Schachmatt» sah und die wilde Taktik des Negers nicht begriff, begann sich zu langweilen und die übermäßige Höflichkeit zu bedauern, die ihn zu dieser Partie getrieben hatte Er hätte sie schnell und zu jedem Preis beenden wollen; auch um den Preis zu verlieren; auf der anderen Seite verbot ihm das der Hochmut seiner Rasse; ein Weißer und Gentleman konnte nicht von einem Sklaven besiegt werden; außerdem erlaubte ihm sein Bewusstsein ein großer Spieler zu sein und das lange Studium des Schachspiels nicht, einen unüberlegten Zug zu tun Beim fünfzehnten Zug angekommen, bemerkte er, dass sein König noch nicht rochiert hatte, er hob die Hände, mit der linken nahm er den König auf, mit der rechten den Turm und war schon dabei, den Zug auszuführen, als er im Auge des Negers freudige Hoffnung aufblitzen sah; er erriet den Grund nicht; mit erhobenen Händen betrachtete er aufmerksam die Partie und zögerte; Toms Auge folgte atemlos, hin und her gerissen zwischen Freude und Angst, den kleinsten Bewegungen der beiden Hände, die weiß waren wie das Elfenbein, das sie umklammerten Anderssen, verwirrt, wollte die zwei Figuren an ihren Platz zurückstellen, als der Schwarze lebhaft ausrief: «Figur berührt, Figur geführt .» «Das muss man mir nicht sagen», versetzte er in höflichem, doch trockenem Ton, während er noch eine Ausflucht suchte, um den Zug zu umgehen, ohne sich darüber wirklich im klaren zu sein; aber er hatte zwei Figuren aufgenommen, er musste also beide spielen: die Spielregeln waren klar; es gab keine andere Möglichkeit als die Rochade Anderssen führte die kleine Rochade aus, alla calabrista, wie es im Jargon der Wissenschaft heißt, d .h ., er stellte den König auf das Feld des Springers und den Turm auf das Feld des Läufers Dann schlug er seine Augen in das Gesicht des Feindes Der Schwarze, als er den so erhofften und so sehr erwarteten Zug ausgeführt sah, fixierte wiederum, eindringlicher als zuvor, den gezeichneten Läufer und, von seinen Gefühlen und seinem tropischen Naturell entzündet, bemühte er sich nicht, den Überschwang seiner Physiognomie zu temperieren Er lief mit den Augen hin und her, vom Läufer zum weißen König, wohl zwanzig Mal nahm er den gleichen Weg, als wollte er eine Furche auf dem Schachbrett ziehen Anderssen sah diese Blicke, folgte ihnen, bemerkte den Läufer und erriet alles; aber auf seinem Gesicht erschien nicht die leiseste Andeutung dieser Entdeckung Im übrigen sah Tom den Amerikaner nie an; er war zunehmend von der idée fixe eingenommen, die ihn beherrschte Tom sah in diesem Raum nichts 2_IH_Italienisch_73.indd 17 19.05.15 11: 40 18 Der schwarze Läufer Arrigo Boito als das Schachbrett, auf diesem Schachbrett sah er nur eine Figur: außerhalb dieses kleinen schwarzen Quadrats und dieser Figur aus Ebenholz existierte für ihn niemand und nichts Er klammerte sich, die Fäuste ballend, in die widerborstigen Haare und stützte so, die Ellenbogen auf die Tischkante gestemmt, seinen Kopf; der Druck seiner Handgelenke dehnte die Haut seiner Schläfen und zog die seiner Stirn hinauf; die Augenlider, auf diese Weise merkwürdig nach oben in die Länge gezogen, entblößten zu weiten Teilen die opaken, sehr weißen Augäpfel In dieser Haltung ließ er seinen Schlag gut vierzig Minuten reifen, unbeweglich, gierig, siegesgewiss; dann griff er an; er schlug einen Bauern des Gegners und bedrohte einen seiner Springer Der Amerikaner hatte diesen Schlag vorausgesehen Das Feuer war eröffnet Auf diese erste Salve antwortete eine des Amerikaners, der einen schwarzen Bauern schlug und den Turm bedrohte; fünf, sechs erregte Züge folgten schnell aufeinander Jetzt begann der wahre Kampf Rechts und links des Schachbretts waren schon einige Figuren und einige aus dem Gefecht gejagte Bauern zu sehen, erste Trophäen der Kämpfenden; mit aller Gewalt brach sich der lange angedrohte Sturm Bahn; auf der einen wie auf der anderen Seite lichteten sich die Reihen, eine gefallene Figur zog eine andere nach sich, die Weißen rächten die Weißen, die Schwarzen rächten die Schwarzen, ein Weißer schlug und wurde von einem Schwarzen geschlagen, ein Schwarzer griff an und wurde von einem Weißen angegriffen; das Gesetz der Wiedervergeltung wurde nie schöner verherrlicht Auch Anderssen begann sich zu erregen Er hatte alles vorausgesehen, alles vorher berechnet: kaum aber hatte er Toms Taktik entdeckt, in diesen vierzig Minuten, in denen Tom seinen entscheidenden Schlag imaginierte, hatte Anderssen in seinen Gedanken gelesen und auf den ersten Schlag so reagiert, dass er den Neger Stück für Stück auf eine zweifellos anziehende und günstige Position lenke, günstig für den Neger selber; aber er wollte ihn dorthin lenken um den Preis, dass er ihm den Läufer opfere Anderssen wusste, dass Tom, des Läufers beraubt, nicht hätte weiterspielen können Es gibt Kerbtiere, die nicht ein zweites Mal die Larve spinnen können, Denker, die für ein Konzept keinen neuen Ausgangspunkt finden, Krieger, die den Kampf nicht von vorn zu beginnen wissen; so etwa dachte Anderssen über seinen Antagonisten Tom, dort angekommen, wo der Amerikaner auf ihn lauerte, wankte nicht einen Moment, gab seine Stellung auf, opferte statt des Läufers einen Springer, zwang den Gegner, die beiden Damen zu vernichten, und die Partie wandelte sich vollkommen Das große Getümmel war beendet, die Toten bedeckten zuhauf die beiden feindlichen Ufer, das Schachbrett war fast leergeräumt, an die Stelle des epischen Wütens der zahlreichen Heere war der äußerste Zorn der Überlebenden getreten, die Schlacht mutierte zum Duell Dem Weißen blieben zwei 2_IH_Italienisch_73.indd 18 19.05.15 11: 40 19 Arrigo Boito Der schwarze Läufer Springer, ein Turm und der Königsläufer; dem Schwarzen blieben zwei Bauern und der gezeichnete Läufer Es war elf Augenscheinlich hätten die Schwarzen das Spiel aufgeben müssen Die Anwesenden, die die Partie bis zu diesem Zeitpunkt verfolgt hatten, grüßten die Spieler, beglückwünschten Anderssen, verließen den Raum und gingen zu Bett Sie blieben allein, unsere beiden Spieler, von Angesicht zu Angesicht Anderssen fragte den Schwarzen: «Genug? » Der Schwarze erwiderte fast schreiend: «Nein! » und machte einen Zug, den er, aufgewühlt wie er war, ändern wollte… Anderssen unterbrach ihn und sagte mit ironischem Unterton: «Berührt, geführt! » Tom gehorchte Sie fielen in ein grabestiefes Schweigen Die Sicherheit des Sieges hatte zur Folge, dass Anderssen sich erneut langweilte, er begann einzunicken und der Schlaf trübte seine Sinne Tom wurde immer wacher, immer glühender und immer finsterer Der schwarze Läufer stand in der Mitte des leeren Schachbretts, aufrecht, wüst, von den Seinen verlassen; ein Bauer nur war ihm geblieben, um ihn gegen die Attacken des Turms zu verteidigen Die anderen beiden Bauern waren weit ins Lager der Weißen vorgedrungen, einer der beiden berührte schon das vorletzte Feld Tom dachte nach Das Licht der Öllampen wurde schwächer, es dunkelte Man hörte nichts als das Pendel einer Standuhr, die das Schweigen zu messen schien Es schlug Mitternacht, als die letzte Lampe erlosch Der weitläufige Saal wurde nur noch von der Kerze erleuchtet, die auf dem Tisch der Spieler brannte Anderssen begann die Kälte der Nacht zu spüren Tom schwitzte Der wilde Geruch der schwarzen Rasse beleidigte die Nüstern des Amerikaners Eine kurze Zeit lang hörte man in der Tiefe des Gartens einen verspätet heimkehrenden Gast Il bananiero von Gotschalk 10 singen Tom entsann sich dieses Liedes, eine Wolke von weit entfernten Erinnerungen tauchte in seinen Gedanken auf; er sah eine riesige Bananenstaude im Licht der aufgehenden Sonne der Tropen und zwischen ihren Sprossen eine im Wind sich wiegende Hängematte, darin zwei schwarze schlafende Kinderchen und die am Boden knieende, betende Mutter, die dieses zärtliche Wiegenlied sang Zehn Minuten blieb er verzückt in diesem Gedenken, fortgerissen von diesen Traumbildern; als dann das tiefe Schweigen zurückkehrte, nahm er die Kontemplation des Läufers wieder auf Es gibt eine Art der magnetischen Halluzination, die die neue Hypnoselehre unter dem Namen des Hypnotismus klassifiziert, was eine kataleptische Ekstase bezeichnet, die aus der langen und intensiven Fixierung irgendeines Objektes herrührt 2_IH_Italienisch_73.indd 19 19.05.15 11: 40 20 Der schwarze Läufer Arrigo Boito Wenn man dieses Phänomen beweisen könnte, hätte die Wissenschaft der Psychologie einen weiteren Triumph: Es gäbe dann den Magnetismus, der die Übertragung von Gedanken hervorruft, den so genannten Spiritismus, der die Übertragung des bloßen Willens auf unbelebte Objekte hervorruft, sowie den Hypnotismus, der einen magnetischen Einfluss unbelebter Dinge auf den Menschen hervorruft Tom schien von diesem Phänomen ergriffen Der schwarze Läufer hatte ihn hypnotisiert Tom war schrecklich anzuschauen: er biss sich konvulsisch die Lippen, die Augen traten ihm aus den Höhlen, Schweiß tropfte ihm von der Stirn auf das Schachbrett Anderssen betrachtete ihn nicht mehr, weil die Dunkelheit zu undurchdringlich war und weil auch er, wie von der gleichen Elektrizität erfasst, den schwarzen Läufer fixierte Die Partie war für Tom eigentlich verloren; es waren nicht die Spielzüge, die ihn so bewegten, es war die Halluzination Die schwarze Figur war für Tom, der sie betrachtete, nicht länger eine Schachfigur, sie war ein Mensch; sie war nicht länger schwarz, sie war ein Neger Der rote Siegellack war warmes Blut und der verletzte Kopf ein wirklich verletzter Kopf Diese Schachfigur kannte er, er hatte ihr Gesicht vor vielen Jahren gesehen, diese Schachfigur war ein Lebender… vielleicht auch ein Toter Nein; diese Schachfigur war ein Sterbender, ein geliebtes Wesen auf der Schwelle zwischen Leben und Tod Man musste sie retten! sie retten mit aller verfügbaren Kraft des Mutes und der Inspiration Im Ohr des Schwarzen dröhnte beständig, wie ein grauenerregender Bourdon, der Satz, den der Amerikaner lachend ausgesprochen hatte, bevor sie die Partie begannen: «Wenn man so den Kopf eines Menschen wieder befestigen könnte! », und dieser Albtraum verstärkte seine Halluzination Die Stirn dieser hölzernen Figur wurde immer menschlicher, immer heroischer, erreichte fast das Vorbild, und, von der Transfiguration in die Transsubstantiation übergehend, wurde aus dem Menschen eine Idee wie aus der Schachfigur ein Mensch geworden war Die fixe Idee war immer noch da, im Zentrum der Seele des Schwarzen, immer erhöhter, immer sublimer Aus einem Wahn hatte sie sich in Aberglauben, vom Aberglauben in Fanatismus verwandelt Tom war in dieser Nacht, in diesem Augenblick, die Synthese seiner Rasse So vergingen weitere vier Stunden, stumm wie ein Grab: zwei Tote oder zwei Eingeschlummerte hätten mehr Lärm gemacht als diese zwei Menschen, die so besessen kämpften Heftiger könnte ein Schlagabtausch der Gedanken nicht sein: die Vorstellungen prallten aufeinander; die Begriffe fielen, erdrosselt, auf der einen wie der anderen Seite Die Augen schauten sich nicht mehr an, die Münder schwiegen Bei einem bestimmten Zug verlor der schwarze Läufer an Boden, der weiße Turm mit seiner potenten, geraden Gangart griff ihn an und drohte bei 2_IH_Italienisch_73.indd 20 19.05.15 11: 40 21 Arrigo Boito Der schwarze Läufer jedem Schritt, ihn zu schlagen Der Läufer entwich schräg, mit der Schnellkraft eines Panthers, seinem furchtbaren Verfolger; Anderssen folgte verblüfft dem ungestümen Lauf des Läufers, seine Figur immer weiter vorrückend und die gegnerische Figur gegen eine Ecke des Schachbretts drängend Diese fiebernde, atemlose Flucht dauerte eine ganze halbe Stunde; die beiden Könige waren ihrerseits Teil dieses stürmischen Gefechts: auch sie kämpften einer gegen den anderen, sie schienen antike, der Sage entstiegene Könige aus dem Morgenland, die man nach der Schlacht über das verlassene Schlachtfeld irren sah, sich suchend und tragisch aufeinander stürzend Nach einer halben Stunde hatte das Schachbrett erneut sein Aussehen verändert; die Flucht des Läufers und die Verwirrung der beiden Könige, des Turms und der Bauern hatten die Figuren so schlagartig aus ihren Zentren gerissen, dass der weiße König sich im Lager des schwarzen Königs wiederfand, auf dem äußersten Quadrat links; der schwarze König stand zwei Schritte von ihm entfernt auf dem Feld des eigenen Läufers Anderssen, geblendet von den fantastischen Entwicklungen des schwarzen Läufers, fuhr fort, ihn zu verfolgen, ihn zu bedrängen, ihn zu ersticken Plötzlich packte er ihn, ergriff ihn, schleuderte ihn vom Schachbrett zu den anderen gewonnenen Figuren und schaute dem besiegten Feind mit triumphierender Miene ins Gesicht Es war fünf Uhr morgens Die Morgenröte erhob sich Das Antlitz des Schwarzen strahlte im Jubelglanz Anderssen hatte, im Ungestüm der Jagd auf die unglückselige Figur, den schwarzen Bauern vergessen, der im vorletzten Feld der Weißen zu seiner Rechten stand Dieser Bauer stand schon seit vier Stunden dort, und er hatte dessen Verurteilung immer wieder aufgeschoben Als Anderssen die große Freude auf dem Gesicht des Negers sah, zitterte er; er senkte mit einem gewaltsamen Ruck die Augen auf das Schachbrett Tom hatte den Zug bereits gemacht Der Bauer war Dame? 11 Nein Der Bauer war Läufer, der gezeichnete Läufer, der schwarze Läufer, der blutverschmierte Läufer war auferstanden und hatte dem weißen König Schach geboten Der Schwarze betrachtete das Schachbrett mit Stolz Anderssen verharrte den Bruchteil einer Sekunde entgeistert: sein König wurde angegriffen, quer über die ganze schwarze Diagonale des Schachbretts: von einer Seite versperrte ihm der andere König die Zuflucht, auf der anderen Seite wurde er von einem eigenen Bauern blockiert Der Coup war bewundernswert! Schachmatt! Tom betrachtete verzückt seinen Sieg Giorgio Anderssen sprang auf, lief zur Zielscheibe, ergriff die Pistole und schoss Im gleichen Augenblick fiel Tom zu Boden Die Kugel hatte ihn am Kopf getroffen, Blut rann über sein schwarzes Gesicht, tropfte von der Wange und färbte seine Kehle und den Hals rot Anderssen erkannte in diesem auf dem Boden liegenden Menschen den schwarzen Läufer, der ihn besiegt hatte 2_IH_Italienisch_73.indd 21 19.05.15 11: 40 22 Der schwarze Läufer Arrigo Boito Tom sprach sterbend diese Worte: «Gall-Ruck ist gerettet… Gott schütze die Neger» und verschied Zwei Stunden später fand der Diener, der hereinkam um den Saal zu richten, die Leiche des Schwarzen auf dem Boden und das Schachmatt auf dem Tisch Giorgio Anderssen war geflohen Zwanzig Tage später erreichte er New York und dort, von Schuldgefühlen eingeholt, stellte er sich und zeigte sich selbst als Toms Mörder an Das Tribunal sprach ihn frei, erstens, weil der Ermordete nur ein Neger war, und weil sich die Anklage auf vorsätzlichen Mord nicht halten ließ; sodann, weil der berühmte Giorgio Anderssen sich selbst angezeigt hatte und schließlich, weil sich bei den gerichtlichen Untersuchungen herausgestellt hatte, dass der erschossene Neger der Bruder eines gewissen Gall-Ruck war, der den letzten Sklavenaufstand in den englischen Kolonien angestiftet hatte, dass dieser Gall-Ruck noch immer gesucht wurde und sich einfach nicht finden ließ Anderssen kehrte auf seine Besitzungen zurück, mit Gewissensbissen im Herzen, die das milde Urteil nicht besänftigen konnte Nach der verhängnisvollen Begebenheit, von der wir erzählten, spielte er zwar noch Schach, gewann aber nie Wenn er sich zum Spielen anschickte, verwandelte sich der schwarze Läufer in ein Fantasma Tom stand auf dem Schachbrett! Anderssen verlor beim Schachspiel alle seine Reichtümer, die er mit diesem Spiel erworben hatte In seinen letzten Jahren war er verarmt und lief, von allen verlassen, verspottet und irre durch die Straßen von New York und vollführte auf den Marmorplatten des Pflasters Züge des Schachspiels, mal sprang er wie ein Springer, mal bewegte er sich schnurstracks wie ein Turm, mal wendete er sich hierhin und dorthin, vorwärts und rückwärts wie ein König und floh jeden Schwarzen, den er traf Ich weiß nicht, ob er noch lebt Aus dem Italienischen übersetzt von Carola Jensen Anmerkungen der Übersetzerin 1 Arrigo Boito, «L’Alfier nero», zuerst erschienen in der Zeitschrift Il Politecnico, März 1867; 1868 in einer überarbeiteten Fassung erneut abgedruckt in Strenna italiana Abrufbar unter: http: / / www .liberliber .it/ mediateca/ libri/ b/ boito_a/ l_alfier_nero/ pdf/ boito_ l_alfier_nero .pdf (09 .04 .2015) Die überarbeitete Fassung von 1868 wurde von Johannes Hösle übersetzt und erschien in: Erzählungen des italienischen Realismus, Stuttgart: Reclam 1985 sowie 1992 im Sammelband Die ganze Welt (Universal Bibliothek 8836) . Die Übersetzung von Julius Schanz aus dem Jahre 1880 liegt mir bisher nicht vor, so dass ich nicht sagen kann, auf welche Fassung sich diese erste Übersetzung bezieht . Die hier 2_IH_Italienisch_73.indd 22 19.05.15 11: 40 23 Arrigo Boito Der schwarze Läufer vorgelegte Übersetzung folgt der Fassung von 1867 . In: Racconti neri della scapigliatura, a cura di Gilbert Finzi, Milano: Mondadori Editore 1980, S . 125-141 . Die Übersetzung folgt, so weit wie möglich, der Interpunktion und Groß- und Kleinschreibung des Originals, vor allem, wenn es der Beschleunigung des Textflusses oder der Abbildung wörtlicher Rede dient Die im Deutschen als Läufer bezeichnete Figur des Schachspiels ist im Italienischen l’Alfiere, der ‹Bannerträger›, die Dame ist Regina, Königin, die Bauern sind Pedoni, Fußsoldaten . In der Übersetzung werden durchgängig die deutschen Bezeichnungen verwendet 2 Franz Joseph Gall (1758-1828), Arzt und Kraniologe . Gall glaubte, an der Schädelform, ihren Erhebungen und Vertiefungen, Intelligenz und Charakterzüge der Menschen ablesen zu können . Vgl . zur Schädelsammlung Galls Monika Firla, Angelo Soliman - Ein Wiener Afrikaner im 18 . Jahrhundert . Mit einem Beitrag von Rudolf Maurer, Katalogblätter des Rollettmuseums Baden, Nr . 48, Baden 2004, http: / / www .baden .at/ cms/ upload/ pdf/ stadtarchiv/ katalogblaetter/ Katalogblatt_Nr ._48_Angelo_Soliman .pdf (09 .04 .2015) 3 In Boitos Erzählung findet sich die Bezeichnung il nero für der Schwarze nicht . Der Schwarze ist der Neger, il negro . Wenn es auch historisch korrekt wäre, durchgängig mit der Neger zu übersetzen, scheint mir das heutzutage unzeitgemäß und auch nicht den Intentionen Boitos gemäß . Ich habe mich deshalb entschieden, den schwarzen Protagonisten als Schwarzen zu bezeichnen; wird er allerdings aus der Sicht der handelnden Personen wahrgenommen, übersetze ich, historisch korrekt, der Neger 4 Der Schwarze wird in der Eröffnung der Erzählung un vero etiopico - ein wahrer Äthiopier genannt, was hier aber bedeutet, dass er schwarz ist wie «un negro d’Africa» (vgl . Dizionario delle Lingue Italiana e Tedesca, Parte Prima, Edizioni Sansoni, 1989), ein «Neger aus Afrika», ein Schwarzafrikaner; an anderer Stelle übersetze ich ein Afrikaner 5 Jamaica war seit 1655 britische Besitzung, 1834 Abschaffung der Sklaverei, 1865 Aufstand der ehemaligen Sklaven in Morant Bay, einer Provinzstadt an der Ostküste . Danach wurde Jamaica zur britischen Kronkolonie erklärt und verlor damit das Selbstverwaltungsrecht 6 Boito vereint unter dem Namen Giorgio Anderssen, und wohl auch in der Beschreibung seines Äußeren, verschiedene berühmte Schachspieler seiner Zeit . Da die Biographie seines Protagonisten ‹englisch› ist, wäre es denkbar gewesen, den italienischen Vornamen Giorgio mit dem englischen George wiederzugeben . Ich habe mich aber entschieden, alle Eigennamen in dieser Erzählung unverändert zu übernehmen 7 Boito zählt an dieser Stelle berühmte Schachspieler seiner Zeit auf, wobei die Namen nicht immer korrekt geschrieben sind 8 Saint Domingue, von 1691-1804 französische Kolonie (im vorliegenden Text San Domingo) im Westen der Insel Hispaniola, deren größerer Teil im Osten Santo Domingo genannt und von den Spaniern beherrscht wurde 9 Jacques Vincent Ogé (ca . 1755-1791), Sohn eines weißen Vaters und einer farbigen Mutter, frei auf Saint Domingue geboren, war Vordenker und Anführer einer Revolte (1790) gegen die Kolonialmächte; er wurde im März 1791 hingerichtet . Die Revolte zog einen Sklavenaufstand nach sich, der die Revolution (1791-1804) einleitete und in der Abschaffung der Sklaverei und der Gründung der Republik Haiti kulminierte . (vgl . http: / / library .brown .edu/ haitihistory, 09 .04 .2015) 10 Louis Moreau Gottschalk (1829-1869), amerikanischer Komponist französischer Abstammung . Le bananier - chanson nègre, op . 5 . - Bei Boito im italienischen Original mit einem t geschrieben 11 Wenn ein Bauer im Schachspiel die gegnerische Grundlinie erreicht, wird er in eine Figur umgewandelt, d .h . er muss gegen eine Dame, einen Turm, einen Springer oder einen Läufer ausgetauscht werden 2_IH_Italienisch_73.indd 23 19.05.15 11: 40