Italienisch
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Narr Verlag Tübingen
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2015
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Fesenmeier Föcking Krefeld OttViktoria Adam: Der lunatische Roman und die Poetik der Ambivalenz. Narratologische Untersuchungen zum Romanwerk Ermanno Cavazzonis. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2014, 291 Seiten, € 58,–
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2015
Angela Oster
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16 3 Buchbesprechungen Viktoria Adam: Der lunatische Roman und die Poetik der Ambivalenz. Narratologische Untersuchungen zum Romanwerk Ermanno Cavazzonis. Heidelberg: universitätsverlag Winter 2014, 291 Seiten, € 58,- Ermanno Cavazzoni, geboren 1947 in Reggio nell’Emilia, ist eine gewichtige Stimme im Klangkörper der italienischen Gegenwartsliteratur Dem breiteren Publikum wurde er nicht zuletzt dank der Aufmerksamkeit Federico Fellinis bekannt, der Cavazzonis Poema dei lunatici (in deutscher Übersetzung: Gesang der Mondköpfe) als Vorlage für den Film La voce della luna (Die Stimme des Mondes) nutzte Bei Viktoria Adams Buch Der lunatische Roman und die Poetik der Ambivalenz . Narratologische Untersuchungen zum Romanwerk Ermanno Cavazzonis handelt es sich um eine Heidelberger Dissertationsschrift Zu Cavazzoni ist bislang - nicht nur in der deutschsprachigen Italianistik - wenig Fachwissenschaftliches publiziert worden, sodass das hier zu besprechende Buch vorläufig als Grundlagenwerk zum Autor einzustufen ist Die Forschung zu Cavazzoni wird von Vf .in in Kap I .1 .3 der Studie übersichtlich zusammengefasst Auch was die Inhaltsangaben der behandelten Romane angeht, wird der Leser bestens bedient Es handelt sich im Einzelnen um die Romane Il poema dei lunatici, Le tentazioni di Girolamo, Cirenaica und Storia naturale dei Giganti Auch der Überblick über die Studie selbst (Kap I .4: «Gliederung») ist konzise und hilfreich, ebenso wie die Einordnung bzw Abgrenzung Cavazzonis von den postmodernen Poetiken des Minimalismus und vor allem der Ästhetik des «semplice» im «filone narrativo emiliano» (Kap I .1 .1 und I .1 .2) In ihrer Gesamtanlage ist die Studie gut durchdacht und sehr leserfreundlich gestaltet In der Einleitung wird angekündigt, dass die Studie mit einer «textimmanenten Interpretation [Cavazzonis Texte] zu erhellen» (S 9) beabsichtigt Der methodische Ansatz wird u .a noch einmal in Kapitel I .3 aufgegriffen und näherhin als Analysieren «[g]emäß der Methode des Strukturalismus» erläutert (S 47) Strukturalistisch beleuchtet werden sollen «die narratologischen Kategorien des Erzählens, der Figuren, der Raum- und Zeitkonzeptionen» (ebd .) Kurzerhand wird allerdings von diesen Einzelstrukturen auf «die Struktur der literarischen Systeme» (ebd .) geschlossen, was insofern nicht unproblematisch ist, als damit gewichtige Unterschiede innerhalb des Strukturalismus (bspw kommunikations-orientierte Systemtheorie nach Luhmann oder text-zentrierter Strukturalismus eines Barthes) eingeebnet werden Auch steht die Systemtheorie keineswegs unkontrovers zu demjenigen Interpretationsansatz, den Vf .in dann als eigentlichen Schlüssel ihrer Interpretationen benennt: die Hermeneutik Diese wird dann in wenigen Worten gegen den 2_IH_Italienisch_73.indd 163 19.05.15 11: 40 16 4 Buchbesprechungen «dekonstruktivistischen Ansatz[ .]» (S 48) montiert, ungeachtet der Tatsache, dass es zum Einen einen derartigen Ansatz offiziell nicht gibt (sondern nur den - wertneutral formuliert - ‹dekonstruktiven› Ansatz), und das zum Anderen es womöglich gerade der dekonstruktive Ansatz gewesen wäre, welcher es ausgehend von einem global operierenden Textbegriff erlaubt hätte, historische Differenzen der in der Studie behandelten Phänomene auf der Objektebene zumindest methodisch schlüssig zu kombinieren (dazu im Folgenden mehr) . Gleichwohl: Adams strukturalistisch-hermeneutische Vorgehensweise ist insofern plausibel, als postmoderne oder zwischenzeitlich ‹postpostmoderne› Literatur weiterhin mit einem großen Anteil an autofiktionalem Potential operiert, welches von einem in Italien derzeit ebenfalls reüssierenden, dokumentarisch versierten ‹ritorno alla realtà› eher Abstand zu nehmen scheint Programmatisch ist hier die Zugehörigkeit Cavazzonis zur Gruppe OpLePo (für: Opificio di Letteratura Potenziale) Jedoch macht Adam selbst, und zwar völlig zutreffend, darauf aufmerksam, dass sich Cavazzoni «Anfang der 80er Jahre mit dem vielschichtigen Phänomen des Wahnsinns auseinanderzusetzen [beginnt], indem er die Archive der Nervenheilanstalten in der Emilia» (S 9) durchforscht und sich außerdem maßgeblich von Michel Foucaults Folie et deraison . Historie de la folie von 1961 habe anregen lassen Dass nun Adam diese wichtigen Quellenhintergründe stets nur am Rande in ihre Argumentationen einflicht, mithin diskursanalytisch resistent operiert, wirft Fragezeichen auf Und zwar umso mehr, als Adam, was die weitere Beleuchtung des Wahnsinns angeht, der theoretischen Interpretation Foucaults und seiner Adepten sehr viel unkritischer folgt, als dies Cavazzoni selbst getan hat Auf S 31, Anm 11, zählt Vf .in genau diejenigen Beiträge der Forschung auf, die im Kielwasser Foucaults einer vorwiegend undifferenzierten Darstellung des Wahnsinns Vorschub geleistet haben, und welche sich mithin um historische Differenzen über die Jahrhunderte hinweg wenig gekümmert haben Diese grundlegende Entscheidung der Vf .in, etwaige Historizitäten in den Schriften Cavazzonis in ihrer Studie weitgehend auszublenden, ist für den weiteren Fortgang der Darlegungen prägend Denn anders als es Cavazzoni selbst in seinen Texten praktiziert, unterscheidet Adam in ihrer Studie nicht zwischen den Phänomenen des Wahnsinns, der ‹fixen Idee›, der Halluzination, dem Schelm und Narren, dem Konflikt zwischen Realität und Fiktion, der Andersartigkeit, der Illusion, der Irrationalität, dem Bizarren, der Phantasie oder Imagination, der Kreativität, dem Traum, der Jenseitswelt usw Alle diese in der Studie omnipräsenten Begriffe, die doch eigentlich in literarästhetischer Perspektive letztlich Verschiedenes umfassen, werden von Vf .in umstandslos ineinander übersetzt, ja als Synonyme verwendet Nun mag Cavazzoni auch noch so postmodern sein: 2_IH_Italienisch_73.indd 164 19.05.15 11: 40 16 5 Buchbesprechungen Als Professor für philosophische Ästhetik, als historischer Quellenforscher und Kenner wahnsinniger Welten von der Renaissance über das 19 Jahrhundert bis zur Gegenwart, sind ihm die unterschiedlichen Register beispielsweise von Wahnsinn, Traum oder Delirium über die verschiedenen Epochen hinweg bekannt Er verfügt in der Tat, wie Vf .in kurz anreißt, über einen immensen «Materialfundus» (S 100 ff .), der in der Folge die Dissertation dann aber wenig tangiert Dass wiederum Cavazzoni selbst die genannten Phänomene humorvoll oder mit einer epochenübergreifenden, distanzierten Ironie beschrieben hat, kennzeichnet kein Desinteresse an der vielschichtigen Historizität von Phänomenen des Wahns, sondern markiert die für Cavazzoni kennzeichnende fantascienza, welche er ausgehend von seiner ursprünglichen Forschungstätigkeit als Dozent im Rahmen der Untersuchung von Nervenheilanstalten (bzw deren Krankenakten in Imola, Venedig, Parma, Reggio Emilia) als historisch fundierte Methode des Schreibens entdeckt hatte Leider vermerkt Adams Studie über diese Cavazzoni prägende, interdisziplinäre und ungemein faszinierende Romanpoetik nur wenig . 1 Dies ist umso bedauerlicher, als es gerade die fantascienza ist, welche Cavazzonis Schreibweisen der «mattitudine» (so ein Neologismus Cavazzonis; den die Studie u .a auf S 32 überzeugend hervorhebt) beflügelt haben Worin man Adam ebenfalls gerne beipflichten mag, ist, dass es Cavazzoni in seinen Texten um verschiedene Wirklichkeitsebenen geht, die allerdings - dies ist der entscheidende Punkt - zwar auf der Ebene des Erlebnisses für die Romanfiguren vage ineinander verschwimmen mögen (als Wahnsinn, Traum, Delirium usw .), aber welche dies deshalb nicht automatisch auch auf der discours-Ebene der Darstellung tun Hier dürfte Adam nicht zuletzt das Gewicht der Intertextualität in den Werken Cavazzonis zu gering veranschlagen Schwergewichte wie «Dante, Ariosto und Leopardi» (S 49 oder S 255) werden in wenigen Sätzen abgehandelt, wenn es gilt, deren lunatische Prägekraft für die Texte Cavazzonis zu umreißen Hier hätte man sich als Leser doch einige umfangreichere Einlassungen gewünscht, gerade weil ja Vf .in schreibt, Cavazzoni bringe die Tradition der «Semantik des Lunatischen in all [! ] ihren Facetten» (S 50) ein Ähnlich werden auf S 4 f jeweils nur mit einem Satz Gattungsgrößen wie Autobiographie, Memorien, Pikaroroman, Bildungs- und Entwicklungsroman, phantastischer Roman des 18 Jahrhunderts abgehandelt Hier wie an anderen Stellen ihrer Arbeit zitiert Adam «philosophische, anthropologische und theologische Fragestellungen» (S 269) an - um diesen dann in der Folge bedauerlicherweise konsequent aus dem Weg zu gehen Im Verlauf der Studie wird in Bezug auf den im Titel zentral gestellten Begriff des Lunatischen nicht recht deutlich, auf welche Ebenen der Texte er sich beziehen soll Ist es das übergreifende Thema, welches die Romane 2_IH_Italienisch_73.indd 165 19.05.15 11: 40 166 Buchbesprechungen Cavazzonis eint (so S 50 oder 260, wo von Semantik oder Symbol die Rede ist)? Oder handelt es sich um ein Gattungsspezifikum? Daneben, so S 51, «steht der Mond auch für Kommunikation» Für die Vagheit, in welcher Vf .in ihren zentralen Erkenntnisgegenstand bis zum Schluss belässt, mag folgendes Zitat stehen: «Der Mond fungiert in Cavazzonis lunatischen Romanen als Vertrauter und als Fremder, der verzaubert und erleuchtet, als Inspirationsquelle, welche die Phantasie und die Erinnerung gleichermaßen beflügelt, und die literarische Produktion der Protagonisten initiiert und begleitet In dieser Funktion avanciert der Mond, und mit ihm das Lunatische, zum Symbol für Literatur im Allgemeinen und für die Romane Cavazzonis im Besonderen .» (S 260) Ähnliches gilt für die ebenfalls im Titel als zentrales Erkenntnisinteresse genannte «Poetik der Ambivalenz» Die Ambivalenz, so Vf .in, sei etwas, was «über die wahnhafte Wandelbarkeit des Lunatischen hinausgeht» (S 51) Worin dieses ‹Hinausgehen› besteht, wird zwar ausgiebig beschrieben, aber nicht wirklich trennscharf auf den Punkt gebracht Es handle sich um eine Kompositionstechnik, eine «Überblendung», um «eklatante Widersprüche», welche «rätselhaft erscheinen und den Leser zu verwirren beabsichtigen» (S 51) Nur am Rande sei hier erwähnt, dass bassomondo (im Roman Cirenaica) kein Neologismus Cavazzonis (so die Behauptung auf S 263), sondern ein Toskanismus ist, welcher bereits in Monteverdis Il ritorno d’Ulisse in patria vorkommt, allerdings von Cavazzoni in der Tat (Adam beschreibt dies sehr schön) innovativ refunktionalisiert wird Der altopiano fungiert als Heterotopie, wobei Adam an dieser Stelle ebenso wie in ihren Ausführungen zu den Zeitstrukturen der Romane Cavazzonis mit vielen luziden Einzelbeobachtungen aufwartet und die Texte des Autors als raffiniert komponierte Chronotopoi ausweist In diesen Zusammenhängen arbeitet Vf .in dann allerdings wieder mit waghalsigen «Assoziationsfeld(ern)» (S 73) So sei die Figur Paolo in Cirenaico eine Reminiszenz an Dantes ‹Paolo e Francesca›, zugleich eine «Hommage an den Apostel Paulus», an den Sänger Paolo Conte oder an Pier Paolo Pasolini Durch die Studie Adams wird ein weiteres Mal deutlich, dass die vielbeschworene ‹Pluralisierung› der Postmoderne vielleicht ein notwendiges, aber sicherlich kein hinreichendes Kriterium ist, um spezifische Schreibweisen von Autoren genauer analysieren zu können Adam potentialisiert den unspezifischen Befund, indem sie nebenher auf Schillers «progressive Universalpoesie» (S 267) rekurriert, welche ja sogar eher das Gegenteil zu Adams These der Autofiktion darstellt, da Schiller schließlich auf Interdiskursivität (Philosophie, Rhetorik usw .) in seinem Athenaeum-Fragment 116 setzt Auch was Adam als weiteres ‹postmodernes› Charakteristikum der Schreibweise Cavazzonis identifiziert - «Oxymora, Antithesen und Paradoxa» (S 262) - hat, um 2_IH_Italienisch_73.indd 166 19.05.15 11: 40 167 Buchbesprechungen nur ein plakatives Beispiel zu nennen, bereits die ‹scrittura› Petrarcas von Grund auf gekennzeichnet Aus der bunten Zusammenstellung von ‹ Wahnwelten›, welche Adams Studie allerdings auf eindrucksvolle Weise leistet, könnte es vielleicht «die Schnittstelle zwischen Fiktion und Realität» (S 61) sein, welche die Gattung und Poetik der Texte Cavazzonis am ehesten prägt, und zwar in dem für den Autor charakteristischen Zuschnitt der mattitudine, welche im Modus der fantascienza perspektiviert wird In diesem bereits vorher genannten Spannungsfeld dürfte das Spezifikum der Texte Cavazzonis verankert sein, welches jenseits ubiquitärer postmoderner Ambivalenzen die unverwechselbare Signatur Cavazzonis begründet Auf dieser Folie zeichnet sich allerdings ab, dass Cavazzonis Schreiben keinesfalls so «metafiktional» und «a-mimetisch» (S 191) bzw «autoreferentiell» (S 202) konfiguriert ist, wie es Adam - wenn auch mit respektablem Engagement! - behauptet Dies tritt vielleicht auch deshalb wenig in das Blickfeld von Vf .in, weil sie zwischen den Kategorien der Fiktivität und Fiktionalität nicht unterscheidet; diese werden weitgehend synonym verwendet Dass Adams Studie in ihren Hauptthesen und mit deren methodischer Absicherung den Leser zu manchem Widerspruch herausfordert, soll das solide Verdienst der Studie keinesfalls grundlegend in Frage stellen Herausragende (Be)Funde zu erwarten, wo allererst Fundamente freigeschaufelt werden mussten, dürfte unangemessen sein Auch mag man über historische Genauigkeiten gerne streiten und diese zugunsten einer retrospektiven Zusammenschau im Hintergrund der Analysen belassen Adams Studie regt zu einer produktiven Auseinandersetzung an, und als solche sind die hier vorgebrachten Monita allein zu verstehen Die Studie hat in jedem Fall eine dankenswerte Grundlagenforschung zu Cavazzoni bereitgestellt und damit einen Autor in der Italianistik profiliert, der noch viel zu wenig erforscht worden ist Insofern ist es nachvollziehbar und auch begrüßenswert, dass die Publikation mit zwei Preisen geehrt worden ist (Preis der Kurt-Ringger-Stiftung zur Förderung des romanistischen Nachwuchses 2013 und Förderpreis 2013 des Zonta-Clubs Heidelberg) Abschließend sei mit Adam festgehalten: «(D)as komplexe Sujet des Wahnsinns» (S 256) bei Cavazzoni scheint in der Tat derart zentral für das Gesamtwerk des Autors zu sein, dass man weiteren (Nach)Forschungen zur Sache mit großem Interesse entgegensehen kann Das Buch von Viktoria Adam hat hier wichtige Fundamente gelegt . Angela Oster Anmerkung 1 Vgl . Fabio Giovannini/ Marco Minicangeli, Storia del romanzo di fantascienza . Guida per conoscere (e amare) l’altra letteratura, Castelvecchi 1998 oder Vittorio Curtoni, Le frontiere dell’ignoto . Vent’anni di fantascienza italiana, Milano 1977 2_IH_Italienisch_73.indd 167 19.05.15 11: 40