eJournals Italienisch 37/74

Italienisch
ita
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
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2015
3774 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Giorgio Galli: Pasolini. Der dissidente Kommunist. Zur politischen Aktualität von Pier Paolo Pasolini, Hamburg: Laika 2014, 220 Seiten, € 28,00 (=LAIKATheorie, 42). Fabien Kunz-Vitali: Pier Paolo Pasolini: Vom Verschwinden der Glühwürmchen, Hamburg: Laika 2015, 104 Seiten, € 9,90 (=Marxist Pocket Books). Reinhold Zwick: Passion und Transformation. Biblische Resonanzen in Pier Paolo Pasolinis «mythischem Quartett» (Edipo Re, Teorema, Porcile, Medea), Marburg: Schüren 2014, 304 Seiten, zahlr. Abb., € 24,90 (=Film & Theologie, 26). Ricarda Gerosa: Pasolini Romantico. Regressive Impulse einer progressiven Poetik, München: scaneg 2013, 368 Seiten, € 38,00. Pasolini intermedial. Hrsg. von Uta Felten/Kristin Mlynek-Theil/ Franziska Andraschik, Frankfurt/Main: Peter Lang 2014, 219 Seiten, 1 farb. Abb., 24 s/w-Abb., € 49,95 (auch als e-book, € 55,57).

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2015
Angela Oster
ita37740123
123 Buchbesprechungen giorgio galli: Pasolini. Der dissidente Kommunist. Zur politischen Aktualität von Pier Paolo Pasolini, hamburg: Laika 2014, 220 Seiten, € 28,00 (=LAiKAtheorie, 42). Fabien Kunz-Vitali: Pier Paolo Pasolini: Vom Verschwinden der Glühwürmchen, hamburg: Laika 2015, 104 Seiten, € 9,90 (=Marxist Pocket Books). reinhold Zwick: Passion und Transformation. Biblische Resonanzen in Pier Paolo Pasolinis «mythischem Quartett» (Edipo Re, Teorema, Porcile, Medea), Marburg: Schüren 2014, 304 Seiten, zahlr. Abb., € 24,90 (=Film & theologie, 26). ricarda gerosa: Pasolini Romantico. Regressive Impulse einer progressiven Poetik, München: scaneg 2013, 368 Seiten, € 38,00. Pasolini intermedial. hrsg. von Uta Felten/ Kristin Mlynek-theil/ Franziska Andraschik, Frankfurt/ Main: Peter Lang 2014, 219 Seiten, 1 farb. Abb., 24 s/ w-Abb., € 49,95 (auch als e-book, € 55,57). Der 40 Todestag von Pier Paolo Pasolini im Jahr 2015 hat in diesem Jahr, aber bereits in den Jahren unmittelbar zuvor, zu einem markanten Anwachsen von Publikationen zum Autor geführt, von denen in dieser Sammelrezension einige Beiträge zur Diskussion kommen sollen Diese werden vor allem in Hinblick auf die ‹Aktualität› Pasolinis betrachtet Diesem Thema widmet sich besonders engagiert Giorgio Galli in: Pasolini. Der dissidente Kommunist. Zur politischen Aktualität von Pier Paolo Pasolini Nachdem Pierpaolo Antonello noch unlängst ein Buch mit dem provokativen Titel Dimenticare Pasolini veröffentlicht hatte, 1 behauptet Galli dem gegenüber: Pasolini ist hochaktuell, und zwar zum einen, weil er ein nichtkonformer Linksintellektueller war Zum anderen aber sei Pasolini vor allem deshalb aktuell, weil er kein typischer ‹Elfenbeinturm›-Autor der Moderne gewesen sei, sondern sich hartnäckig, ja penetrant mit gesellschaftskritischen Texten in die Tagespolitik einbrachte Von der Abtreibung über die Studentenrevolten bis hin zu den Medien: Pasolini hielt sich selten mit Kommentaren zurück, die er nicht nur als Journalist in Zeitungen veröffentlichte, sondern denen er eine ‹Werk›form gab, indem er sie als Anthologien (u .a Le belle 2_IH_Italienisch_74.indd 123 16.11.15 07: 55 124 Buchbesprechungen bandiere, Il Caos, Lettere Luterane) veröffentlichte Pasolinis leidenschaftliches Engagement hat damals wie heute teilweise Befremden, ja Ablehnung hervorgerufen und die Literaturwissenschaft dazu geführt, ihren Schwerpunkt auf Pasolinis genuin dichterische Erzeugnisse zu legen Dass dies nicht illegitim ist, aber Pasolini womöglich einseitig ästhetisiert, mahnt Gallis Studie nachdrücklich an Denn Pasolini habe sich nicht zuletzt als politischen Ideologiekritiker gesehen (so bereits in dem frühen Buch Passione e ideologia) Dass sich Galli wiederum um literaturwissenschaftliche Spezialarbeiten der vergangenen Zeit wenig (be)kümmert, macht in diesem Fall vielleicht gerade den Reiz seiner Lektüre für Philologen aus Denn Galli arbeitet mit einer radikal gesellschafts-historischen Methode und stellt auf dieser Basis fest: Dass Pasolini, erstens, in einem bestimmten politisch-gesellschaftlichen Umfeld gearbeitet habe, auf das er sich kontinuierlich beziehe Und dass, zweitens, diese unübersehbare soziale Involvierung Pasolinis auch seine Literatur und seine Filme mit einer spezifischen Signatur versehen hat, welche die weitgehend literaturimmanent verfahrende Literaturwissenschaft der letzten Jahrzehnte zu wenig berücksichtigt habe Dass ein politisches Subjekt, so bereits in der Antike, immer als zoon politikon agiere, ist Gallis ebenso einfache wie wirkungsvolle These, die ihn zu einer Reihe weiterer interessanter Beobachtungen führt Daneben fungiert Gallis Buch als eine Art Lesebuch der interessantesten politischen Texte Pasolinis, welche auch die maßgeblichen Stellungnahmen seiner Kritiker inkludiert (bspw dass Pasolini zum Arrivisten mutiert sei, welcher die bestehen Machtverhältnisse anprangere, sich dabei aber gleichzeitig konservativer Blätter wie des Corriere della sera bediene; s S 55) Als zentrale Jahre der politischen Entwicklung Pasolinis identifiziert Galli die Jahre zwischen 1956 und 1965 (u .a S 40) und referiert plastisch die markanten Eckpunkte der damaligen italienischen Gesellschaftspolitik Dies mag man als überflüssige Faktenhuberei abtun, tatsächlich wird der Leser jedoch daran erinnert, dass Pasolini sich als empirischer Schriftsteller verstanden hat, der in konkreten Kontexten engagiert war und dessen Einlassungen nur eingeschränkt verständlich sind, wenn man aus der geisteswissenschaftlichen Distanz glaubt, die Historie getrost ausklammern zu können Gallis Studie widerspricht diesen Ansätzen zwar nicht zur Gänze, aber sie signalisiert klar, dass die zunehmende Ästhetisierung Pasolinis womöglich ihrerseits zu delikaten Plattitüden führen kann Bei Pasolini selbst beobachtet Galli in dessen frühen Jahren einen bipolaren Marxismus (Bürgertum/ Arbeiterklasse, u .ä .m ., S 43 oder S 56), von dem Galli annimmt, dass er dem Autor als solcher lange Zeit nicht wirklich bewusst gewesen sei Anders als der PCI (Anm .: Partito Comunista Italia), dem Pasolini trotz aller Kontroversen Zeit seines Lebens treu geblieben ist, war der Schriftsteller und Regisseur nie zu Kompromissen bereit, sondern 2_IH_Italienisch_74.indd 124 16.11.15 07: 55 125 Buchbesprechungen verschärfte seine gesellschaftspolitischen Einlassungen im Lauf der Jahre sogar: «Pasolini definiert sich in diesen Ausführungen sehr treffend als querdenkender Kommunist, der dem linken Flügel des PCI angehört und dennoch ein Einzelgänger, ja ein Isolierter ist, da sich sein linker Protest wesentlich vom politischen Protest der Studentenbewegung unterscheidet und zum Teil auch von jenem des PSIUP .» (S 52; Anm .: PSIUP=Partito Socialista Italiano di Unità Proletaria) Galli hebt nun hervor, dass Pasolini vielleicht in manchen Diskussionen überzogen argumentiert habe und dabei auch Fehleinschätzungen unterlegen sei Tatsächlich aber habe Pasolini, wie kein Zweiter neben und nach ihm, Missverhältnisse und deren Strukturen erkannt und aufgedeckt, welche in der zweiten Hälfte des 20 Jahrhunderts ihren Ausgang nahmen und inzwischen im 21 Jahrhundert zu einem Status Quo geronnen seien, deren Exzesse Pasolini - würde er denn noch leben - weiterhin ‹enragiert› hätten 2 Dass Pasolini diesen Entwicklungen «selbst […] zum Opfer» fiel (S 59), ist eine weitere These Gallis, ohne dass er deshalb in den gängigen Kanon der Komplott- Theorien zu Pasolinis Ermordung einstimmen würde Dass Pasolini brutal getötet wurde, ist eine private Tragödie Die öffentliche Tragödie aber sei, dass man die Skandalträchtigkeit dieses Todes schamlos ausgenutzt habe, um von Pasolinis tatsächlichen Botschaften abzulenken, nämlich: dass der moderne Mensch der bürgerlichen Diktatur anheimgefallen sei; dass die Normierung, Homogenisierung und Kommerzialisierung der bürgerlichen Werteskala zu einem Genozid sämtlicher nicht-bürgerlicher Welten geführt habe (die höchstens in Ghettos überleben würden); dass diese Vereinheitlichung zum Tod kultureller Vielfalt geführt habe und dass die Menschen anthropologisch durch den Kapitalismus zu Marionetten ihrer selbst degeneriert seien Als Poet habe Pasolini diesen Prozess besonders im Wandel der Sprache beobachtet, deren vormaliger Reichtum (farbige Dialekte, folkloristische Lebendigkeit u .a .m .) von der Technokratie der Fernsehsprache abgelöst worden sei (vgl S 66 ff .) Anders als Galli es postuliert, lässt sich allerdings gerade an diesem Beispiel zeigen, dass Pasolini keineswegs von den großen italienischen Literaturtraditionen Abstand genommen hat (ähnlich wie Galli sieht dies auch Kunz-Vitali, auf dessen Publikation gleich die Sprache kommen wird; vgl dort S 29) Denn so wie Pasolini bspw ein Anhänger der Malerei des Quattrocento war, trägt er auch in seinen politischen Positionen den literatur-philosophischen Humanismus weiter, dem zufolge Denken und Sprechen niemals auseinander zu dividieren sind Eine korrupte Sprache - so bereits Coluccio Salutati - sei der Ausdruck eines maroden Denkens, und ein deformierter Geist würde stets in Fragmenten formulieren Pasolini hat an diesen ästhetischen Grundhaltungen des Humanismus Zeit seines Lebens festgehalten 2_IH_Italienisch_74.indd 125 16.11.15 07: 55 126 Buchbesprechungen Was Pasolini aber des Weiteren ausgezeichnet habe, so weiter Galli, sei, dass dieser das Chaos der modernen Gesellschaft (so der Titel einer der wichtigsten Artikelsammlungen Pasolinis) nicht als beliebiges Charakteristikum neben vielen anderen beschrieben habe, sondern es als blanken «Terror» (S 70) einschätzte, dem man mit aller Vehemenz entgegentreten müsse Die moderne Gesellschaft sei gleichbedeutend mit der Bourgeoisie und als solche eine «Krankheit» bzw ein Vampirismus (S 71), deren Nicht-Bekämpfung gleichbedeutend mit unterlassener Hilfeleistung sei ‹Kritischer Empirismus› ist die Wendung, die Galli in diesem Zusammenhang wiederholt Pasolinis Engagement zuweist Dieser habe schließlich den dichotomen Marxismus abgelöst (S 76) und in jeder selbstgenügsamen, hedonistischen Ideologie einen perfiden Mechanismus der Repression erkannt, ja «eine Form des ‹totalen› Faschismus» (S 82; Galli zitiert hier aus den Scritti corsari Pasolinis) Pasolini wurde (ähnlich wie Roland Barthes) aufgrund dieser und ähnlicher Aussagen oftmals manische Hysterie und mangelhafte Historizität zugeschrieben Galli schert sich um diese - wiederum auf den Skandal fixierten - Unterstellungen ein weiteres Mal wohltuend wenig Er schaut genauer hin und beleuchtet Pasolinis legendäre Widersprüchlichkeit erneut, aber auf neue Weise Mit Bezug auf den Aufsatz «Vom Verschwinden der Glühwürmchen» (S 85 ff .) macht Galli auf Pasolinis wichtige Unterscheidung zwischen ökonomischer Entwicklung und zivilem Fortschritt aufmerksam: Letzterer werde durch den Konsumhedonismus arretiert, welcher stattdessen mit einer verlogenen Scheintoleranz eine hohle Entwicklung im Zeichen einer einseitigen Homogenität des Kapitals befördere (das sich naturgemäß für Partikularitäten von Kulturen wenig interessiere) Pasolinis Anklage sei dabei nicht nur gegenüber den politischen Machthabern, sondern auch den intellektuellen Kollegen radikal gewesen: Fast alle würden mit Schweigen reagieren und sich damit des Verbrechens mitschuldig machen (vgl S 93) Und Pasolini empfindet dies als «unerträgliche Offizialität» (S 99), welche der breiten Masse eine Verbesserung der Lebensstandards vortäusche, während dieser tatsächlich lediglich «mimetisch» (S 99) zugestanden werde, Klassengrenzen zu überschreiten In diesem Zusammenhang zitiert Galli Pasolinis Ausführungen zur gesellschaftskritischen Schlüsselrolle der Schriftsteller: «Ich weiß das alles, weil ich ein Intellektueller bin, ein Schriftsteller, der versucht, all das zu verfolgen, was geschieht, […], sich all das vorzustellen, was man nicht weiß oder was verschwiegen wird; jemand, der auch fernliegende Fakten miteinander verknüpft, […] All das gehört zu meinem Beruf und zum Instinkt meines Berufes […] .» (S 102) 2_IH_Italienisch_74.indd 126 16.11.15 07: 55 127 Buchbesprechungen Wie aktuell Pasolinis Gesellschaftskritik nach wie vor ist, so sei Gallis Ausführungen hinzugefügt, beweisen die aktuellen Debatten in der EU bezüglich Griechenlands, in denen sich Intellektuelle wie Giorgio Agamben mit Bezug auf Alexandre Kojève gegen das Primat des Kapitals in der europäischen Kultur ausgesprochen haben Ähnlich bedenklich sind die ökonomisch motivierten Praktiken des ‹Disruptiven›, deren zunehmende Selbstverständlichkeit im 21 Jahrhundert einen Barbarismus legalisieren, der viel zu selbstverständlich hingenommen wird 3 : «Wie Pasolini richtig erkannte, wurde der Sozialstaat in den letzten Jahrzehnten von der Konsumkultur weitgehend verschluckt Der Konsument hat den Staatsbürger verdrängt» (S 122) Gallis Fazit lautet: «Es ist durchaus richtig, dass (Pasolinis) politischen Überlegungen ‚allein‘ keine ‹unvoreingenommene Soziologie› ersetzen können; und dennoch sind sie weitaus mehr als nur ein literarisches Phänomen, das ‹die Ehre unserer literarischen Kultur gerettet hat›; mehr auch als die wiederum nur literarisch bedeutsame Erfindung einer ‹politischen Essayistik› .» (S 125) Es ist das Verdienst von Fabien Kunz-Vitali, dass er das Buch Gallis aus dem Italienischen ins Deutsche übersetzt hat In eben dem Verlag, in dem diese Übersetzung erschienen ist, hat der Übersetzer gleich im Anschluss ein kleines, aber feines Büchlein veröffentlicht, welches unter dem Titel Pier Paolo Pasolini: Vom Verschwinden der Glühwürmchen eine Anthologie von vier zentralen journalistischen Texten darstellt, die allesamt aus Pasolinis letztem Lebensjahr (1975) stammen Dabei ist «Pasolinis letztes Interview» («Wir sind alle in Gefahr») eine Erstübersetzung ins Deutsche durch Kunz-Vitali Er stellt den Texten Pasolinis ein Vorwort voran, das ihn als aufmerksamen Rezipienten Gallis ausweist Auch Kunz-Vitali plädiert dafür, den «furor philologicus» (S 9) in Bezug auf Pasolini zu relativieren und sich wieder neu auf das zu konzentrieren, was diesen Autor auszeichne: «sein radikal kritisches Denken, das sich noch im künstlerisch ausgefeiltesten seiner Werke nachvollziehen lässt» (ebd .) Dabei habe Pasolini nicht einfach nur einen gepflegten Geschichtspessimismus kultiviert, sondern diesen stets mit Zukunftsperspektiven kombiniert Dazu gehört die mit Roland Barthes geteilte Strategie des «Deplatzierens» (S 20), die allerdings vielleicht denn doch - entgegen der Meinung Kunz-Vitalis und auch Gallis sei darauf insistiert - eine vor allem ästhetisch-raffinierte Schreibweise vorstellt . 4 In der Tat ist das aber vielleicht nur eine, wenn auch besonders wichtige Facette des Denkens und Schreibens Pasolinis Ihre Autonomisierung nennt Kunz-Vitali - und eifert hier sichtlich (auf sympathische Weise! ) dem soziologischen Radikalismus von Galli nach - schlichtweg «absurd» (S 23) Pasolini, darauf weist Kunz-Vitali zutreffend 2_IH_Italienisch_74.indd 127 16.11.15 07: 55 128 Buchbesprechungen hin, habe die postmodernen Spezialisierungen des Wissens nie akzeptiert und vielmehr bereitwillig die Rolle des Dilettanten auf sich genommen, wenn es darum ging, die gesellschaftspolitischen Verhältnisse zur Gänze - eben ‹radikal›, von den Wurzeln an - zu kritisieren (vgl S 21) Dass Pasolini zu diesem Zweck eine (Sprach)Haltung der Widersprüchlichkeit elaboriert habe, ist nun keine wirklich neue Einsicht in der Pasolini-Forschung, doch Kunz-Vitali macht nachhaltig darauf aufmerksam, dass die Widersprüchlichkeit gerade für eine Position der Radikalität (und um diese geht es Kunz-Vitali) unentbehrlich sei Pasolini habe - als Einziger auf weiter (nicht nur) italienischer Flur - den Pragmatismus des Kapitals radikal verweigert und die Prämissen des realpolitischen Systems von Grund auf in Frage gestellt (vgl S 26 f .) Und dies habe er vor allem mit einer elaborierten Sprache praktiziert (vgl S 28 ff .), bei deren ars dictandi Pasolini sich nicht zuletzt an Dante orientiert habe Pasolinis Texte, so lässt sich der Beitrag von Kunz-Vitali pointieren, sind zwar auch ‹schön›, sie transportieren aber vor allem Wahrheiten, deren notorische Ausblendung in den letzten Jahrzehnten gerade die Gegenwart gemahne, sich neu und anders mit Pasolini auseinanderzusetzen Eine Aktualität Pasolinis sei, so argumentiert Reinhold Zwick in seinem Buch Passion und Transformation. Biblische Resonanzen in Pier Paolo Pasolinis «mythischem Quartett», vor allem im religiösen Bereich gegeben Im Zentrum seiner Überlegungen stehen die Filme Pasolinis, vor allem Edipo Re, Teorema, Porcile und Medea Dass es (zu lange) eine «Fixierung auf den ‹linken› Pasolini» (S 11) gegeben habe, nimmt Zwick zum Anlass, um an die «tiefe christliche Prägung seines Werks» (S 12) zu erinnern Und in der Tat (dies ist in den Studien von Galli und Kunz-Vitali ein wenig aus dem Blick geraten), gab es in der frühen Pasolini-Rezeption wiederum eine vordergründige, um nicht zu sagen oberflächliche Instrumentalisierung Pasolinis als Linksradikalen durch kulturästhetisch weitgehend indifferente Kreise Dass dies in einer Gegenbewegung zu einer forcierten Ästhetisierung Pasolinis führte, gehört wahrscheinlich zu den üblichen Dialektiken der Wissenschaft Zwick differenziert nun wenig zwischen ‹Mythos› und ‹Christentum›, was ihn dazu führt, Pasolini eine ‹tiefe Religiösität› (vgl S 13) zu unterstellen, die aus der Sicht der kunstwissenschaftlichen Fächer irritieren muss (auch weil Zwick in seiner Aufarbeitung der Forschung immer wieder reichlich selektiv verfährt) Gleichwohl ist auch hier, ähnlich wie bei Galli, ein fachfremder Blick auf die Kunstfilme Pasolinis durchaus ergiebig Und umgekehrt, so vermag Zwick zu zeigen, haben auch Theologie und Kirche sich noch viel zu wenig mit Pasolinis unbequemen Positionen auseinandergesetzt Über die zahlreichen christomorphen Elemente in den Werken Pasolinis erfährt man in Zwicks Studie Vieles, was - so der Autor - nicht allein historisches, sondern für «eine besondere Form von Gegenwärtigkeit» (S 290) Zeugnis ablege 2_IH_Italienisch_74.indd 128 16.11.15 07: 55 129 Buchbesprechungen Ein Signal für die Fortschrittlichkeit des Œuvres von Pasolini setzt auch das Buch von Ricarda Gerosa: Pasolini Romantico. Regressive Impulse einer progressiven Poetik Es geht der Autorin in ihrer lesenswerten Studie nicht um eine ‹Romantisierung› der Gestalt Pasolinis, sondern um dessen historische Verankerung in der spezifisch italienischen Variante der europäischen Romantik Sie arbeitet zu diesem Zweck eine Vielzahl von Bezügen Pasolinis zur Romantik auf, angefangen von seiner Doktorarbeit (die Pascoli zum Thema hatte) über seine ‹Sehnsuchts›-Lyrik bis hin zu den literaturkritischen Aufsätzen Daneben gibt es ein theoretisches Kapitel, welches konzise zur italienischen Romantik informiert Einen roten Faden bildet Pasolinis Entwurf der Volkspoesie, die Gerosa auch in den Filmen (Kap 5) nachverfolgt Romantik und Realismus, so wird anhand einer beeindruckenden Vielzahl von Quellen gezeigt, schließen einander in Pasolinis Werk nicht aus, sondern formieren gemeinsam «das Paradox eines universellen Anspruchs und einer immer nur partiellen Erfüllung einer unabschliessbaren (sic) Progression» (S 13) Ob Pasolini dabei wirklich in so enger Parallele zur deutschen Frühromantik gesehen werden kann, wie es Gerosa postuliert, darüber kann man sicherlich streiten Eine Auseinandersetzung mit dieser komplexen Materie kann an dieser Stelle nicht geleistet werden; anregend sind die diesbezüglich vorgebrachten Thesen in jedem Fall Der Titel des Sammelbandes Pasolini intermedial bringt prägnant einen der Schwerpunkte der Pasolini-Forschung der vergangenen Jahre auf den Punkt und druckt zum Teil bereits anderweitig publizierte Artikel neu ab Den Auftakt des Bandes bildet der Aufsatz «Chiusura dell’immaginario und intermediale Produktivität 1966-1967: La predica di fra Ciccillo und Che cosa sono le nuvole? » von Paolo Bertetto, der bisherige Forschungen reichlich summarisch abkanzelt («ein alter Hut», S 13), um in der Folge eigenartigerweise zunächst seine eigenen Thesen zu Uccellacci e uccellini mit reichlich alten Hüten auszustatten Pasolini sei in diesem Film manieristisch, er sei reaktionär, er sei misogyn, er sei - kurzum - ein «povetico» («wie man im Italienischen sagt, um falsche Poesie lächerlich zu machen», S 15) «Pasolinis anmaßenden Intentionen» (S 16) entgegnet Bertetto seinerseits mit einer «Neuerfindung des Rades» (ebd .), die aufgrund der vielen haltlosen Ausführungen befremden muss Sehr viel überzeugender sind dagegen Bertettos Beobachtungen zu einem der poetischsten Filme Pasolinis überhaupt im zweiten Teil des Aufsatzes: «Che cosa sono le nuvole? » Pasolinis Changieren zwischen Puppentheater und Shakespeare arbeitet Bertetto als «Vermischung der Codes und Kommunikationsebenen» (S 219) sehr gelungen heraus Zu den interessantesten Beiträgen des Bandes gehört der Aufsatz von Bernhard Groß («Die Kunst des Uneigentlichen oder ‹Woher kommen die kleinen Kinder? › Pasolinis Politik der Form») Pasolinis Politik der Wider- 2_IH_Italienisch_74.indd 129 16.11.15 07: 55 130 Buchbesprechungen sprüchlichkeit und des Dilettantismus zeichnet Groß anhand von «linguistische[n] und körperliche[n] Diversität[en]» (S 44) nach Die Freibeuterschriften analysiert Groß als «Wiederkehr der Geschichte als Farce» (S 49) und profiliert eine Ästhetik der «Maskerade» (S 52 ff .) als zentralen Nucleus der Äußerungen Pasolinis (u .a in La Rabbia) Ästhetik werde dort als radikale Heterogenität inszeniert, was abschließend unter Einbezug von Empirismo Eretico als Befund weiter untermauert wird Ebenfalls anregend ist der Aufsatz von Marijana Erstic´: «Vom Mythos und von der Gewalt oder: Der Knabe als intermediales Phänomen in Mamma Roma» Pasolinis ambivalentes Verhältnis zur Jugend wird - fernab der üblichen Fixierungen auf die Homosexualität des Künstlers - als «pathosformelartiges Faszinationsmuster der Knabenschönheit» (S 108) gedeutet, deren Narrationsebenen (u .a Gewalt, Passionsgeschichte) Erstic´ mit Blick für wesentliche Details analysiert Während weitere Aufsätze im Band bemerkenswerterweise praktisch ohne Aufarbeitung von Forschung zu ihrem Thema operieren (und dabei - was weniger überrascht - bereits reichlich Bekanntes ein weiteres Mal reformulieren), gelingt es anderen Beiträgen, eigene Akzente in zu setzen Manuel Willer berichtet Interessantes zu Pasolini und Benjamin («Peripherie und Schwelle Zur ‹kritischen› Ästhetik des Raumes bei Benjamin und Pasolini: Städtische Topographie und geschichtsphilosophischer Mythos») Veronica Pravadelli erörtert die spannenden Kooperationen von Pasolini und Sergio Citti (nicht zu verwechseln mit Sergios Bruder Franco Citti, der in mehreren Filmen Pasolinis die Hauptrolle gespielt hat): «Konvergenzen des Schaffens Ostia (1970) und die Zusammenarbeit zwischen Sergio Citti und Pier Paolo Pasolini» Neue Perspektiven bzw Relationen eröffnet auch Sieglinde Borvitz: «Images that matter Gesellschafts- und Medienkritik bei Pasolini, Ciprì und Maresco» Abschließend lässt sich mit Galli und Kunz-Vitali festhalten, dass es wahrscheinlich in der Tat für die Italianistik wieder wichtig(er) wäre, ihre Autoren in politischen Perspektiven neu zu erörtern Es ist im Rahmen einer Rezension lediglich der Ort, daran auf der Basis der hier erörterten Publikationen schlagwortartig zu erinnern: Angesichts der drohenden oder bereits erfolgten Schließung einer ganzen Reihe von italianistisch ausgerichteten Professuren an deutschen Universitäten, kann (und muss) man zum einen natürlich die externen und internen ‹Disruptionen› der Italianistik beklagen Zum anderen wäre es aber vielleicht an der Zeit, daneben das Bewusstsein der Öffentlichkeit neu auf die gesellschaftlichen Relevanzen des Italianistischen zu lenken Ob ‹Pasolini politico› oder ‹Petrarca politico› (u .v .a .m .): nicht jede Fachdisziplin hat derart viele Autoren zum Gegenstand, die sich gleichermaßen ästhetisch wie politisch brisant in den (Kon)Texten ihrer Zeit produktiv zu Wort gemeldet haben Italien hat im Kontext Europas bis auf den heutigen 2_IH_Italienisch_74.indd 130 16.11.15 07: 55 131 Buchbesprechungen Tag Beiträge geleistet, die gerade auch aufgrund ihrer teilweise haarsträubenden Sonderwege (Verwechslungen von Kapitalismus und Bourgeoisie; Mafia- Politik; Technokratie von öffentlich sanktionierten, faschistoiden Medienimperien usw .) nicht ohne italianistische Spezialisierungen angemessen analysiert werden können Gleichzeitig war und ist Italien die Wiege jener Geisteshaltung, die fernab nationaler Partikularitäten auf die Vernünftigkeit des Humanen setzte: eben des Humanismus Geisteswissenschaften, die fahrlässig auf ihre Italianistik verzichten, werden sich reduzieren, ja amputieren Fakultäten des «povetico» wären - in der Tat - die Zukunft, auf welche die deutsche Bildungspolitik damit setzt Was Pasolini dazu gesagt hätte? Povera Germania! Angela Oster Anmerkungen 1 Pierpaolo Antonello, Dimenticare Pasolini. Intellettuale e impegno nell’Italia contemporanea, Milano/ Udine: Mimesis 2012 . Das Buch wird hier nur kurz angerissen, weil sein Titel ein wenig irreführend ist . Pasolini ist dort lediglich der Aufhänger für eine allgemeine Erörterung der Figur des ‹poeta civile› in Italien . Ihm wird ein singuläres Kapitel gewidmet, in dem der «Pasolini-mito» (S . 97) dekonstruiert werden soll . Antonellos partielle Kritik an Pasolinis Engagement (bzw . an der Rezeption Pasolinis in der Folge) wird dabei stellenweise von durchaus erwägenswerten Argumenten begleitet, bspw .: «Basta invece leggere Stendhal o Toqueville, ma anche tornare al suo amato Boccaccio, per capire che la mobilità sociale è una invenzione della linga modernità europea e non è un fatto databile al boom economico .» (S . 117) 2 Jean-André Fieschi, Pasolini l’enragé (Film aus dem Jahr 1966) 3 «Eine disruptive Technologie (engl . disrupt - unterbrechen, zerreißen) ist eine Innovation, die eine bestehende Technologie, ein bestehendes Produkt oder eine bestehende Dienstleistung möglicherweise vollständig verdrängt .» (https: / / de .wikipedia .org/ wiki/ Disruptive_Technologie: 20 .07 .2015) . Diese Beschreibung ist allerdings euphemistisch: Die disruptive Marktkultur «verdrängt» nicht einfach nur, sie zerstört mutwillig ‹Anderes›, welches nurmehr als Konkurrenz, aber kaum mehr als komplementärer Anbieter wahrgenommen wird: «Wer heute etwas auf sich hält, gibt also damit an, die eigene Branche - oder auch eine andere - zu zerreißen, zu zerschmettern oder jedenfalls enorm zu stören .» (http: / / www .blicklog .com/ 2014/ 08/ 04/ disruption-verkommt-zum-unwort/ : 20 .07 .2015) . Dies ist keinesfalls eine Praxis, welche die Geisteswissenschaften nicht tangieren würde . Diese operiert zwischenzeitlich ihrerseits selbst bevorzugt im wissenschaftlichen Diskurs disruptiv - anstatt diese (mit Pasolini gesprochen) faschistoiden Praktiken kritisch in Frage zu stellen . 4 Vgl . dazu Angela Oster, Ästhetik der Atopie. Pier Paolo Pasolini und Roland Barthes, Heidelberg 2006 2_IH_Italienisch_74.indd 131 16.11.15 07: 55