eJournals Italienisch 37/74

Italienisch
ita
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
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2015
3774 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Jobst C. Knigge: Angst vor Deutschland – Mussolinis Deutschlandbild. Hamburg: Verlag Dr. Kovacˇ , 253 Seiten, € 88,80 (=Schriften zur Geschichtsforschung des 20. Jahrhunderts, 9)

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2015
Frank-Rutger Hausmann
ita37740143
14 3 Kurzrezensionen Jobst C. Knigge: Angst vor Deutschland - Mussolinis Deutschlandbild. hamburg: Verlag Dr. Kovacˇ , 253 Seiten, € 88,80 (=Schriften zur geschichtsforschung des 20. Jahrhunderts, 9) Der Hamburger Journalist und Historiker Knigge, lange Jahre Auslandskorrespondent in Rom, London und Brügge, ergänzt sein vor vier Jahren erschienenes Buch Hitlers Deutschlandbild 1 jetzt durch eine entsprechende Untersuchung zu Mussolini Rufen wir noch einmal die Quintessenz der ersten Arbeit in Erinnerung: «Hitler war Autodidakt und was sein Wissen von Italien anging war dies selektiv, unsystematisch und bruchstückhaft […] Der einzige Italiener, den Hitler etwas besser zu kennen glaubte, war Mussolini Er machte den Fehler, Mussolini mit dem italienischen Volk gleichzusetzen Er idealisierte den Italiener, in dem er die Verkörperung der Werte des antiken Römertums sah Dass der Rest der Italiener ganz anders war, wollte er zuerst nicht sehen .» (S 235) André François Poncet, von 1931 bis 1938 französischer Botschafter in Berlin, hat in seinen Memoiren den beiden grundverschiedenen Parteiführern und Staatsmännern ein scharfsinniges Kapitel gewidmet, das in der folgenden Konklusion gipfelt: «Ihre Freundschaft wurde beiden zum Verhängnis Ohne Mussolini hätte Hitler seine Eroberungspläne und seine ehrgeizigen Hegemonieabsichten nicht verwirklichen können Ohne Hitler hätte sich Mussolini damit begnügt, Reden zu halten, und wäre wohl nie gefährlichen Versuchungen zum Opfer gefallen Getrennt konnten sie leben Ihre Verbindung zog ihr Verderben nach sich, und tatsächlich verdankt einer dem anderen den Untergang .» 2 Diese Aussage trifft zwar einen wesentlichen Punkt, ist aber insoweit verkürzt, als sie ausblendet, dass Mussolini, sechs Jahre älter als Hitler, einen Wandlungsprozess vom Feind und Kritiker Deutschlands (in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg und im Weltkrieg selber) zum Skeptiker (in der Weimarer Zeit und den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft), dann zum Freund und Verbündeten (nach Besiegelung der Achse Berlin-Rom, 3 .11 .1936, bzw dem Abschluss des Stahlpakts, 22 .5 .1939) und schließlich zur Marionette von Hitlers Gnaden (ab September 1943, der Gründung der Republik 2_IH_Italienisch_74.indd 143 16.11.15 07: 55 14 4 Kurzrezensionen von Salò, bis zu seiner Erschießung durch Partisanen am 28 April 1945) durchlief Eine interessante Ergänzung zum italienischen Deutschlandbild der Jahre nach 1933 liefern übrigens die Berichte italienischer Diplomaten (meist Konsuln) vor Ort, die insbesondere dem nationalsozialistischen Pangermanismus und der Tendenz nationalsozialistischer Pseudowissenschaftler, die «mediterrane Rasse» als minderwertig einzustufen, skeptisch gegenüberstanden Sie sahen zwar im Sieg des Nationalsozialismus eine Bestätigung der eigenen faschistischen Ideologie - Hitler betrachtete Mussolini in den ersten Jahren seiner Herrschaft bekanntlich als Vorbild -, lieferten jedoch von den deutschen Verhältnissen ein durchaus kritisches Bild . 3 Knigge zeichnet, gestützt auf archivalische Dokumente sowie Erinnerungs- und Forschungsliteratur, die verschiedenen Phasen von Mussolinis Deutschlandbild nach und liefert damit einen wichtigen Beitrag zu Geschichte und Imagologie der deutsch-italienischen Beziehungen Wenn Italien nach Kriegsende insgesamt glimpflich davonkam und von größeren Gebietsabtretungen verschont wurde (es verlor seine afrikanischen Kolonien, Julisch Venetien, den italienische Dodekanes, die Gemeinden Tende und La Brigue), ist dies sicherlich der deutschlandkritischten Haltung des Königs und führender Politiker und Militärs, dem Sturz der faschistischen Regierung und dem anschließenden Frontwechsel im Herbst 1943 sowie dem Entstehen einer höchst aktiven Resistenza geschuldet, weshalb die «Sünden» des faschistischen Mussolini-Regimes (Überfall des Kaiserreichs Abessinien 1935, Einführung von antisemitischen Rassengesetzen 1938, Annexion Albaniens 1939, Angriffskrieg gegen Griechenland 1940, Teilnahme am Zweiten Weltkrieg) nicht wirklich sanktioniert wurden Betrachtet man Mussolinis zwar schwankendes, aber doch fundiertes Deutschlandbild insgesamt, ist man überrascht, dass er sich überhaupt mit Hitler verbündete Denn anders als dieser bezüglich Italiens, hatte Mussolini recht genaue Kenntnisse von Deutschlands Kultur und Geschichte in Vergangenheit und Gegenwart, las und übersetzte deutsche Literatur (Dichter, Philosophen, Historiker, Politiker) und sprach auch Deutsch, überschätzte allerdings seine Kenntnisse, so dass er ohne Vermittlung eines Dolmetschers mit Hitler konferierte, was zu zahlreichen Missverständnissen führte Sein angeborenes Miss-trauen gegenüber Deutschland erlahmte nie, insbesondere in der Südtirolfrage Wie Knigge richtig feststellt, sah Mussolini sich jedoch 1938 politisch isoliert, so dass er seine Vorbehalte hintanstellte Sein Plan, das Mittelmeer zu einem italienischen «Mare nostrum» zu machen und damit an die römische Geschichte anzuknüpfen, kollidierte mit französischen (Frankreich war mittelmeerischer Anrainer) und britischen (Großbritannien war Kolonialmacht in Ägypten, wo der Suezkanal verlief) Interessen, und ein Bündnis mit 2_IH_Italienisch_74.indd 144 16.11.15 07: 55 14 5 Kurzrezensionen diesen beiden Großmächten wurde nach Äthiopienkrieg und Spanien-Engagement undenkbar So blieb nur Hitler, der seinetwegen sogar auf die «Heimholung» Südtirols verzichtete Dennoch blieb ihr Bündnis «eine Zwangs- und keine Liebesehe» (S 228) Man könnte sogar sagen, dass sich Hitler mit Mussolini aus Unkenntnis der italienischen Geschichte, Kultur und des Nationalcharakters sowie falscher Einschätzung seines Deutschlandbilds verbündete, Mussolini hingegen diesen Schritt trotz seiner genauen Kenntnis Deutschlands, seiner Sprache, Literatur und Geschichte sowie einer realistischen Einschätzung Hitlers tat Bleibt die Frage nach der Nachwirkung dieses «Missverständnisses» Das Italienbild der Deutschen ist bis heute positiver als das Deutschlandbild der Italiener Viele Deutsche haben immer noch Italiensehnsucht, von einer analogen italienischen Nostalgie ist wenig bekannt Gerade die jüngsten Ereignisse zeigen, dass Deutschlands ökonomischer und politischer Einfluss südlich der Alpen immer noch als allzu dominant, ja gar als bedrohlich empfunden wird Insofern ist Knigges Untersuchung durchaus aktuell Er ist jedoch in erster Linie Historiker, und seine gut recherchierte, in sich stringente Studie beschreibt vor allem die historischen Vorgänge Wer noch mehr über die kulturhistorischen Aspekte von Mussolinis Deutschlandbild wissen möchte, greife zu der immer noch gültigen Studie von Andrea Hoffend, die einige interessante Vertiefungen erlaubt . 4 Frank-Rutger Hausmann Anmerkungen 1 Jobst C . Knigge, Hitlers Italienbild: Ursprünge und Konfrontation mit der Wirklichkeit, Hamburg: Kovacˇ 2012 . Vgl . unsere Besprechung in: IfB http: / / ifb .bsz-bw .de / http: / / ifb bsz .-bw .de/ bsz359390560rez-1 .pdf . 2 André François-Poncet, Als Botschafter in Berlin 1931-1938, Mainz: Florian Kupferberg 1947, S . 318 3 Ruth Nattermann, «Politische Beobachtung im ‹tono fascista› . Italienische Konsulatsberichte über das ‹Dritte Reich›», in: Frank Bajohr/ Christian Strupp (Hrsg .), Fremde Blicke auf das «Dritte Reich». Berichte ausländischer Diplomaten über Herrschaft und Gesellschaft in Deutschland 1933-1945, Göttingen: Wallstein Verlag 2011 (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, 49), S . 304-348 4 Andrea Hoffend, Zwischen ‹Kultur-Achse› und Kulturkampf. Die Beziehungen zwischen ‹Drittem Reich› und faschistischem Italien in den Bereichen Medien, Kunst, Wissenschaft und Rassenfragen, Frankfurt a .M . [u .a .]: Peter Lang 1998 (Italien in Geschichte und Gegenwart, 10), hier die Verweise auf Mussolini auf den S . 505-506 2_IH_Italienisch_74.indd 145 16.11.15 07: 55