eJournals Italienisch 38/75

Italienisch
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Narr Verlag Tübingen
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2016
3875 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Pier Paolo Pasolini: «La ricerca di una casa» – oder wo vermag eine rastlose Seele ihren Frieden zu finden?

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2016
Sabina Spezzano
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113 B i B L ioT e C a P oe T i C a Pier Paolo Pasolini: «La ricerca di una casa» - oder wo vermag eine rastlose Seele ihren Frieden zu finden? La ricerca di una casa Ricerco la casa della mia sepoltura: in giro per la città come il ricoverato di un ospizio o di una casa di cura in libera uscita, col viso sfornato dalla Febbre, pelle bianca secca e barba. Oh dio, sì, altri è incaricato della scelta. Ma questa giornata scialba e sconvolgente di vita proibita con un tramonto più nero dell’alba, mi butta per le strade d’una città nemica, a cercare la casa che non voglio più. L’operazione dell’angoscia è riuscita. Se quest’ultima reazione di gioventù ha senso: mettere il cuore in carta - vediamo: cosa c’è oggi che non fu ieri? Ogni giorno l’ansia è più alta, ogni giorno il dolore più mortale, oggi più di ieri il terrore mi esalta… Mi era sembrata sempre allegra questa zona dell’Eur, che ora è orrore e basta. Mi pareva abbastanza popolare, buona per deambularci ignoto, e vasta tanto da parere città del futuro. Ed ecco un «Tabacchi», ecco un »Pane e pasta»… ecco la faccia del borghesuccio scuro di pelo e tutto bianco d’anima, come pelle d’uovo, né tenero né duro… Folle! , lui e i suoi padri, vani arrivati del generone, servi grassocci dei secchi avventurieri padani. Die Wohnungssuche Ich suche eine Wohnung, mich darin zu vergraben, und zieh durch die Stadt gleich einem Insassen des Armenspitals, des Pflegeheims, dem man Ausgang gegeben, das Gesicht noch vom Fieber verdorrt und gebleicht unterm Bart. Aber, mein Gott, eine Wahl habe ich nicht. Dieser fahle, verwirrende Tag voll verbotenen Lebens in der Dämmrung des Abends, die düsterer ist als die Frühe, wirft mich in die Straßen einer feindlichen Stadt, um die Bleibe zu suchen, die ich gar nicht mehr will. Die Manöver der Angst sind geglückt. Wenn diese letzte Regung der Jugend noch Sinn hat: das Herz aufs Papier zu bannen - laß sehen: was ist heute, das nicht gestern schon war? Jeden Tag wächst die angstvolle Enge, alltäglich tödlicher wird der Schmerz, heute schlimmer als gestern befällt mich der Schrecken… Einst schien er mir heiter, dieser Stadtteil von EUR, jetzt ist er nur scheußlich, sonst nichts. Er schien leidlich freundlich, geeignet für sorglose Gänge, großzügig genug, um als Stadt der Zukunft zu gelten. Und da ein «Tabak»-Schild, dort eins mit «Backwaren»… da sind sie, die finsteren Bürgergesichter mit dem schneeweißen Gewissen, fein sauber verpackt wie ein Ei in der Schale, nicht hart und nicht zart… Verrückt! wie vergeblich sie samt ihren Söhnen sich zum Wohlstand hin dienten, verfettete Sklaven der geizigen Geldmacher im Norden. 2_IH_Italienisch_75.indd 113 30.06.16 17: 11 Pier Paolo Pasolini: «La ricerca di una casa» Sabrina Spezzano 114 E chi siete, vorrei proprio vedervi, progettisti di queste catapecchie per l’Egoismo, per gente senza nervi, che v’installa i suoi bimbi e le sue vecchie come per una segreta consacrazione: niente occhi, niente bocche, niente orecchie, solo quella ammiccante benedizione: ed ecco i fortilizi fascisti, fatti col cemento dei piasciatoi, ecco le mille sinonime palazzine «di lusso» per dirigenti transustanziati in frontoni di marmo, loro duri simboli, solidità equivalenti. E dove, allora, trovarlo il mio studio, calmo e vivace, il «sognato nido dei miei poemi» che curo in cuore come un pascoliano salmo? ……………………………………………… Uno a cui la Questura non concede il passaporto - e, nello stesso tempo il giornale che dovrebbe essere la sede della sua vita vera, non dà credito a dei suoi versi e glieli censura - è quello che si dice un uomo senza fede, che non si conforma e non abiura: giusto quindi che non trovi dove vivere. La vita si stanca di chi dura. Ah, le mie passioni recidive costrette a non avere residenza! Volando a terre eternamente estive scriverò nei moduli del mondo: «senza fissa dimora». È la Verità che si fa strada: ne sento la pazienza sconfinata sotto la mia atroce ansietà. Ma io potrei fare anche il pazzo, l’arrabbiato… pur di vivere! la forza di conservazione ha finzioni da cui è confermato ogni atto dell’Esserci… La casa che cerco sarà, perché no? , uno scantinato, Und wer seid ihr, möchte ich wissen, ihr Erfinder von diesen Behausungsschachteln, vom Egoismus bewohnt und von Nervenlosen, die ihr eure Kinder und eure Alten in Zellen einschließt wie in geheimer Verschwörung: nicht Augen, nicht Münder, nicht Ohren, nur dieses zwinkernde Einverständnis: da die faschistischen Bunker, vom Zement der Pissoirs gegossen, da die tausend eintönigen Wohlstandskasernchen der Direktoren, die selbst schon zu Marmorklötzen geworden, ihren harten Symbolen und Status und Dauer. Wo also soll ich sie finden, meine Stube, die «stille, lebendige Brutstatt meiner Verse», die ich mir, gleich Pascolis Psalmen, im Herzen erträumt? …………………………………………………………… Einer, dem die Quästur keinen Paß geben will - dem zugleich die Presse, die der Ort seines wahren Zuhauses sein sollte, seine Verse zensiert und ihm keinen Kredit gibt, das ist‘s, was man einen Mann ohne Glauben nennt, weil er weder sich anpaßt noch abschwört: ganz recht, daß keine Bleibe er findet. das Leben kehrt dem, der standhält, den Rücken. Immer rückfällig werd’ ich in meinen Passionen, verdammt dazu, ohne Wohnstatt zu bleiben! Fliegen will ich in den ewigen Sommer und überall schreiben ins Formular: «Ohne festen Wohnsitz». Das ist die Wahrheit, sie sucht sich ihren Weg: ich fühl‘s an der Geduld, die sich grenzenlos weitet unter der grausamen Angst. Wohl könnte ich auch tollwütig werden und böse… nur um zu leben! Die Selbsterhaltung schafft Bilder, die jede Handlung des Daseins bestätigen… meine Bleibe, die ich suche, wird sein, warum nicht? ein Kellergewölbe, 2_IH_Italienisch_75.indd 114 30.06.16 17: 11 Sabrina Spezzano Pier Paolo Pasolini: «La ricerca di una casa» 115 o una soffitta, o un tugurio a Mombasa, o un atelier a Parigi… Potrei anche tornare alla stupenda fase della pittura… Sento già i cinque o sei miei colori amati profumare acuti tra la ragia e la colla dei telai appena pronti… Sento già i muti spasimi della pancia, nella gola, delle intuizioni tecniche, rifiuti stupendamente rinnovati di vecchia scuola… E, nella cornea, il rosso, sopra il rosso, su altri rossi, in un supremo involucro, dove la fiamma è un dosso dell’Apennino, o un calore di giovani in Friuli, che orinano su un fosso cantando nei crepuscoli dei poveri… Dovrò forse un giorno esservi grato per questa vergognosa forza che mi rinnova, conformisti, dal cuore deformato non dalla brutalità del vostro capitale, ma dal cuore stesso in quanto è stato in altra storia violentato al male. Cuore degli uomini: che io non so più, da uomo, né amare né giudicare, costretto come sono quaggiù, in fondo al mondo, a sentirmi diverso, perso ad ogni amore di gioventù. 1 Kaum ein anderer Intellektueller des 20. Jahrhunderts genießt vierzig Jahre nach seinem Tod eine so herausragende Stellung im öffentlichen italienischen Diskurs wie Pier Paolo Pasolini. 3 Sein breit angelegtes Werk - sei es hinsichtlich des Genres oder des Sujets - sucht seinesgleichen, exemplarisch lässt sich dies an dem Gedicht Ricerca di una casa aufzeigen. Ricerca di una casa erscheint im Gedichtzyklus Poesia in forma di rosa 4 , im Mai 1964 und weist die Form eines lyrischen Tagebuchs auf. 5 Der symbolträchtige Titel erlaubt eine behutsame Prognose des Inhalts. Wie vermag Lyrik zu sein, die sich in Form der Königin der Blume offenbart? Der ein Speicher, eine elende Hütte in Mombasa, ein Atelier in Paris… ich könnte zurück in die herrliche Zeit der Malkunst… Schon sehe ich meine paar Lieblingsfarben, rieche den Harz und den Kleister neben der fertigen Leinwand… Schon fühl ich das Ziehen im Bauch, in der Kehle bei der Inspiration, beim Versuch, die vergessene Technik der alten Schulen neu zu beleben… In der Hornhaut spiegelt sich Rot über Rot, nochmals ein Rot, in der äußersten Hülle, wo die Flamme des Apenninengebirges erscheint, und die Glut von jungen friulanischen Burschen, die singend in einen Graben pinkeln, in den Dämmerlichtern der Armen… Vielleicht werde ich einst euch danken müssen für diese schändliche Kraft, die mich läutert, ihr Konformisten mit den verdorbenen Herzen, nicht durch die böse Macht eures Geldes, im Herzen selbst seid ihr schon verdorben, das zu anderen Zeiten gewaltsam verbildet wurde. Menschliches Herz: das ich, als ein Mensch, nicht mehr zu lieben weiß, nicht mehr zu richten, da ich hier am Abgrund der Welt, verdammt dazu bin, als ein Andrer zu gelten, an alle junge Liebe verloren. 2 2_IH_Italienisch_75.indd 115 30.06.16 17: 11 Pier Paolo Pasolini: «La ricerca di una casa» Sabrina Spezzano 116 Blume der jugendlichen Frische, der Liebe, der dantesken und mystischen Tradition 6 - aber auch jener, die wie keine zweite mit unsagbarem Stolz und Schmerz verbunden ist. «Die Rose steht also für das dichterische Wort, wie dies schon seit Ciceros ‘flos orationis’ (De Orat. III, 96) möglich ist. Das Pflücken der Rose verweist zusätzlich auf den erotisch konnotierten ‘Collige, virgo, rosas’-Topos, so dass die für Pasolinis Oeuvre besonders typische Verschränkung von Sexualität und Poetologie hergestellt wird. Beide Bereiche verbindet zudem ihre narzißstische Grundstruktur.» 7 Sicher kein Zufall, dass er die Blume der Mater dolorosa wählt, verband ihn doch mit seiner Mutter, die er als seine Madonna bezeichnete 8 , eine besondere Nähe, wenn die Beziehung auch auf eine liebevolle Art quälend 9 war. 10 Ambivalent wie Pasolini selbst, auch die Bedeutung der Rose, steht sie doch für göttliche Gnade, Vollkommenheit und selbstgenügsame Schönheit, aber eben auch irdische Leidenschaft sowie Vergänglichkeit und Tod. 11 In diesem Gedichtzyklus offenbaren sich innere Widersprüche, schmerzvolle Kämpfe, die er mit sich, aber auch der italienischen Gesellschaft durchleiden musste, eine besondere Liebe zur Sprache und Literatur sowie eine Idealisierung des Vergangenen. Dies zeigt sich in einer stilistischen Experimentierfreudigkeit, von Gedichten, die an einen stream-of-consciousness erinnern, über fiktive Interviews bis zu lyrischen Reisetagebüchern. 12 Ricerca di una casa [dt: Die Wohnungssuche] befindet sich im ersten, mit LA REALTÀ überschriebenen Kapitel, des achtteiligen Gedichtzyklus und folgt auf das bekannte Gedicht Supplica a mia madre. Obgleich das Gedicht eine Vielzahl intertextuelle, intermediale aber auch biographische Einblicke in das Leben Pasolinis sowie historische und soziologische Eindrücke in das Italien der 60er Jahre vermittelt, fand es bisher kaum Beachtung in der literaturwissenschaftlichen Analyse. Auch wenn Pasolini stark geprägt wurde von der klassischen italienischen Lyrik, so erkennt man in Ricerca di una casa gleichermaßen ganz eigene - sicherlich bewusst gesetzte -Abgrenzungen zu dieser. Das Gedicht besteht aus 31 Terzetten, die in einem zunehmend sich auflösenden Kettenreimschema verfasst sind. Anders als in der dantesken terza rima verbleibt Pasolini jedoch nicht ausschließlich in der Metrik des endecasillabo. In diesem Gedicht erscheint seine Abkehr von der klassischen Gedichtstruktur jedoch noch relativ gemäßigt, ruft er doch an anderer Stelle des Gedichtzyklus aus: «VERSI NON PIÙ IN TERZINE! » 13 Auch sprachlich treffen traditionelle Einflüsse auf die zeitgenössische moderne Gesellschaft. Wirken 2_IH_Italienisch_75.indd 116 30.06.16 17: 11 Sabrina Spezzano Pier Paolo Pasolini: «La ricerca di una casa» 117 manche Strophen stark geprägt von der melancholischen Romantik eines Giacomo Leopardi («Ma questa giornata scialba […] con un tramonto più nero dell’alba», 3. Strophe), in dessen Tradition eines (linken) poeta civile Pasolini sich verstand, 14 spiegeln andere erbarmungslos eine kalte, substanzielle Realität wider («mi butta per le strade d’una città nemica», 4. Str., 1. V.). Das Gedicht weist nach der 15. Strophe eine zentrale - formale wie inhaltliche - Zäsur auf. Das lyrische Ich stellt in einer zunächst beinahe repetitiv erscheinenden Form in beiden Abschnitten seine Suche nach einer casa dar, setzt sich mit der Gesellschaft auseinander und kommt dann zu seinen Rückschlüssen. Wirkt die Sprachfärbung des Gedichtes in der ersten Hälfte noch vorrangig verzweifelt, melancholisch, so steigert sie sich jedoch in der zweiten ins verbittert Wütende. Unterstützt wird dies durch die dunkle Lautfärbung, welche das Gedicht charakterisiert. Durch den vielfachen Gebrauch von Enjambements kann sich der Leser dieser bedrückenden Wirkung kaum entziehen, welche das gesamte Gedicht beinahe leitmotivisch prägt (z.B.: «vediamo: cosa c’è oggi che non fu / ieri? », 5. Str., 3. V. - 6. Str., 1. V.). Auffallend auch der repetitive Gebrauch von Anaphern (z.B.: «niente occhi, niente bocche, niente orecchie», 12. Str., 1. V.) und Apostrophen («E chi siete, vorrei proprio vedervi», 11. Str., 1. V.), die die omnipräsente Ausweglosigkeit unterstreichen. Markant ist die Großschreibung folgender Substantive: Febbre, Folle, Egoismo / Questura, Verità, Esserci. In den Schilderungen des lyrischen Ichs spiegeln sich Aspekte wider, die sich durchaus mit dem realen Leben Pasolinis in Verbindung bringen lassen, befand er sich doch in der Schaffensphase des Gedichtes in einer menschlichen und künstlerischen Krise, an den Pranger gestellt von einer für ihn erbarmungslos wirkenden Gesellschaft: «Tu sai bene in che condizioni ero ridotto. Rileggiti […] La persecuzione e tanti altri passi della Poesia in forma di rosa [...]. Ero ridotto a un reietto, a cui tutti potevano fare tutto». 15 Das lyrische Ich scheint wie ein Fiebernder durch das nächtliche Rom zu streifen, dessen Verzweiflung durch die Exklamation «Oh dio» (2. Str., 3. V.) noch unterstrichen wird. Durch Febbre drückt das lyrische Ich seine persönlichen Unzulänglichkeiten aus, über die er sich zwar bewusst ist, die ihn aber physisch und psychisch in Mitleidenschaft ziehen und derer er sich nicht erwehren kann. Unweigerlich fühlt sich der Leser an eine danteske Liebeskrankheit im Sinne der Vita Nova erinnert z.B.: «io mi movea quasi discolorito tutto». 16 Auffallend erscheint auch der Kontrast zwischen dem durch Krankheit erbleichten lyrischen Ich («col viso sfornato […] pelle bianca secca e barba», 2. Str., 1.-2. V.) und dem dunkelhaarigen Bürgerlichen, welcher abfällig als Spießbürger bezeichnet und ironisch kontrastierend mit einer weißen Seele versehen wird: «ecco la faccia del borghesuccio 2_IH_Italienisch_75.indd 117 30.06.16 17: 11 Pier Paolo Pasolini: «La ricerca di una casa» Sabrina Spezzano 118 scuro di pelo e tutto bianco d’anima» (9. Str., 1.-2. V.). Hier offenbart sich auch Pasolinis ambivalentes Verhältnis zum Bürgertum. Obgleich er sich seines bourgeoisen Erbes seitens seines Vaters bewusst war, lehnte er dies jedoch stets ab. Seinen ödipalen Konflikt dürfte dieses Wissen jedoch noch verstärkt haben. «Es bestand ein Zwiespalt, ein tiefsitzender Konflikt zwischen Pasolinis narzisstischem bürgerlichen Ich und dem Ich, das sich danach sehnt, aus der Falle der Bürgerlichkeit auszubrechen und sich in eine Welt hineinzustürzen, die er als heilig betrachtete. Auf diesem Widerspruch gründet im Grunde Pasolinis gesamte Poetik.» 17 Vergleicht man dies mit Pasolini, so waren sein nächtliches, risikoreiches Umherstreifen bis in die frühen Morgenstunden, die Anonymität käuflicher Liebe und die enge Verbindung von Wagnis und Erotik wichtige Faktoren, die seinem sonst bürgerlich anmutenden Leben anachronistisch gegenüberstanden. 18 Er war ein Getriebener der Gesellschaft - aber auch seiner selbst, was ihn zwar zu Perfektionismus anregte, aber seine tief verwurzelte Einsamkeit nicht mindern konnte. 19 Das zweite hervorgehobene Substantiv lautet Folle, was sowohl ‘die Menge’, ‘verrückt’ / ‘sinnlos’, aber auch ‘Narr’ bedeuten kann. Eine Bedeutungsvielfalt, die Pasolini sicherlich nicht zufällig wählte, zumal er sich selbst als «Hofnarr der Bourgeoisie» 20 bezeichnete. Voller Wehmut und Groll erkennt das lyrische Ich, wie sich die Bourgeoisie innerhalb aller sozialen Schichten und geographischer Regionen ausbreitet («lui e i suoi padri, […] servi grassocci dei secchi avventurieri padani» [10. Str.]). Hier zeigt sich der spätere Verfasser der Scritti corsari: «[...] e la vecchia borghesia paleoindustriale sta cedendo il posto a una borghesia nuova che si comprende sempre di più e più profondamente anche le classi operaie, tendendo finalmente alla identificazione di borghesia con umanità.» 21 Verbittert stellt das lyrische Ich die Omnipräsenz des Egoismo fest und kritisiert die gleichförmigen, seelenlosen Wohnsiedlungen, welche pejorativ als catapecchie (11. Str., 2. V.) bezeichnet werden, die zweifelsfrei eine konformistische Gesellschaft hervorbringen mussten. Wenige Jahre später wird Pasolini dies so beschreiben: 2_IH_Italienisch_75.indd 118 30.06.16 17: 11 Sabrina Spezzano Pier Paolo Pasolini: «La ricerca di una casa» 119 «Die ‘Zentren’ mit den Mietskasernen sind dagegen enorm gewachsen, wobei keine Rede mehr sein kann von einem auch nur teilweisen Überleben der antiken oder bäuerlichen Welt. [...] Das Anrecht der Armen auf eine bessere Zukunft hat eine Scheinlösung gefunden, die letztlich nichts anderes ist als Erniedrigung.» 22 Diesen subproletarischen Siedlungen stellt das lyrische Ich die kalten fortilizi fascisti und marmornen palazzine «di lusso» (13.-14. Str.) gegenüber, und so schließt der erste Teil des Gedichts, wie er begann, mit der sehnsuchtsvollen Suche nach einem in Anlehnung an Pascoli persönlichem «‘sognato nido dei poemi’»(15. Str., 2. V.), einem schützenden, inspirierenden Nest, einem Zuhause. Bereits im ersten Vers des zweiten Teils wird das Wort Questura - im Sinne der polizeilichen, staatlichen Gewalt - hervorgehoben, dicht gefolgt von der Weigerung der Presse ihn (unzensiert) zu drucken. Prägnant ist in diesen Zusammenhang folgender in eine Anapher mündende Zeilensprung: «è quello che si dice un uomo senza fede, / che non si conforma e non abiura», (17. Str., 3. V. - 18. Str., 1. V.) vermittelt dies doch den Eindruck, dass das lyrische Ich sich auch nicht einfach der Gesellschaft anpassen wolle. Auffallend auch hier die Parallele zu Pasolinis Vita. Die frühen sechziger Jahre sind durch eine Vielzahl von Prozessen, Angriffen der Presse sowie dem stetigen Kampf gegen die Filmzensur gekennzeichnet. 23 Während der Prozesstage im März 1963 schreibt er Pietro II, neun Texte eines Tagebuchs in Versen sowie das vorliegende Gedicht. 24 Bisweilen mögen ihm Zweifel gekommen sein, ob diese Prozesse - bizarr zum Teil die Anschuldigungen - tatsächlich noch der Wahrheitsfindung dienen sollten. So überrascht es nicht, dass er der Verità eine besondere Rolle einräumt. Immer mehr verschwimmen die Grenzen zwischen der künstlerischen Adaption und der realen Vita Pasolinis. ‘Pasolinisch’ wird zum Adjektiv, welches in der Presse für alles gebraucht wird, was mit dem römischen Subproletariat, allgemein mit der Unterwelt oder mit Homosexuellen zu tun habe. 25 Offenbart bereits der 1. Vers «Ricerco la casa della mia sepoltura […]», dass es sich nicht nur um eine Wohnungssuche des lyrischen Ichs handeln kann, so wird dies durch folgendes Enjambement der zweiten Hälfte nochmals unterstrichen: «Scriverò nei moduli del mondo: ‘senza / fissa dimora.’» (20. Str., 1.-2. V.). Das lyrische Ich offenbart ein ‘Nicht-Angekommen-Sein’ in der Welt, eine existentielle Heimatlosigkeit, so verwundert es nicht, dass das nächste akzentuierte Wort Esserci lautet. Im Sinne der diarischen Poesie - auch wenn diese immer kritisch zu analysieren ist - kann in 2_IH_Italienisch_75.indd 119 30.06.16 17: 11 Pier Paolo Pasolini: «La ricerca di una casa» Sabrina Spezzano 120 diesem Zusammenhang auf Pasolinis Lebenssituation hingewiesen werden. Wobei hier differenziert werden muss, zwischen seiner gesellschaftlichen Enttäuschung, die sich vorrangig im ersten Teil des Gedichtes zeigt und seiner persönlichen, die er verstärkt im zweiten darlegt. Das Anders-Sein nimmt einen großen Bereich ein. Um dieses für sich ertragbarer zu gestalten, greift er auf Autoren ähnlicher Schicksale zurück. Eine besondere Wichtigkeit kommt seinem Alter Ego, des Anderen per se, Rimbaud zu. 26 Mit ihm teilt er die Homosexualität und die damit verbundenen Repressionen, die Liebe zu Lyrik - aber auch den Wunsch nach poetischer Innovation, der sich besonders in Rimbauds Opus Ce qu’on dit au poète à propos de fleurs offenbart. Hier fällt die Analogie zum Titel des vorliegenden Zyklus auf und der Schluss verstärkt diese Assoziation: «[...] quaggiù, in fondo al mondo, a sentirmi diverso.» (31. Str., 2. V.) Auch die Konnotation des Flanierens - «buona per deambularci» (8. Str., 1. V.) sowie «un atelier a Parigi» (23. Str., 2. V.) - lassen an Rimbaud, vielleicht sogar verstärkt an Baudelaire erinnern. In seinem Gedichtzyklus Fleurs du Mal, auch hier fällt eine symbolische Nähe des Titels auf, leidet Baudelaire unter der Veränderung seiner Stadt Paris und der aufkeimenden Moderne, in der er sich nicht (mehr) zu Hause fühlt. Auch Baudelaire sucht nach einer beschaulicheren Welt außerhalb Europas. Nachdem das lyrische Ich erkennen muss, dass seine Italietta nicht mehr existiert, hält es hoffnungsvoll Ausschau nach der dritten Welt 27 («un tugurio a Mombasa», 23. Str., 1. V.). Seine Suche nach einem Zuhause, welches sogar ein Kellergeschoss («uno scantinato», 22. Str., 3. V.) sein könne, erinnert an Dostojewskis Aufzeichnungen aus dem Kellerloch und unterstreicht das Gefühl in einer - nicht nur für das lyrische Ich desperaten Gesellschaft gefangen zu sein. Neben den bereits erwähnten Pascoli fällt ein enger Bezug zu Cesare Pavese auf; zu offensichtlich ist die Anlehnung an dessen Sprachduktus: «La vita si stanca di chi dura» (18. Str., 3. V.). Unverkennbar lässt sich in der Metaphorik der letzten Strophen - im Sinne einer für diesen Gedichtzyklus charakteristischen bukolisch-paradiesischen Retrospektive 28 - Pasolinis rurale Jugend in Casarsa, seiner «kleinen Heimat» 29 erkennen: «d’ove la fiamma è un dosso / dell’Apennino, o un calore di giovani in Friuli […] ( 27. Str., 1.-3. V.).» Selbst dies vermag ihn aber angesichts seiner Lebensrealität nicht zu trösten: «Cuore degli uomini: che io non so più, da uomo nè amare nè giudicare [ …] (30. Str., 2.-3. V.).» So verbleibt - auch 40 Jahre nach seinem Tod - die Frage offen: wo hätte seine rastlose Seele in dieser Welt noch Frieden finden mögen? 2_IH_Italienisch_75.indd 120 30.06.16 17: 11 Sabrina Spezzano Pier Paolo Pasolini: «La ricerca di una casa» 121 anmerkungen 1 Pier Paolo Pasolini, Poesia in forma di rosa, Milano: Garzanti Libri 1964. 2 Pier Paolo Pasolini, Unter freiem Himmel. Aus dem Italienischen von Toni und Sabina Kienlechner, Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 1982, S. 119-121. 3 Vgl. Johannes Hösle, Die italienische Literatur der Gegenwart - von Cesare Pavese bis Dario Fo, München: C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung 1999, S. 99. 4 Der Gedichtzyklus beinhaltet die Schaffensjahre 1961-64, vgl. Klaus Semsch, Literatur und Ideologie - Marxistisches Weltbild und dichterische Kreativität im lyrischen Werk Pier Paolo Pasolinis, Essen: Die Blaue Eule Verlag 1989, S. 106. 5 Vgl. Nico Naldini, Pier Paolo Pasolini - Eine Biographie, Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 1991, S. 239. 6 Vgl. Marco Antonio Bazzocchi, Pier Paolo Pasolini, Biblioteca degli scrittori, Milano: Bruno Mondadori 1998, S. 155. 7 Ulrich Prill, «Pier Paolo Pasolini - Il Narciso e la rosa», S. 185-195, in: Manfred Lentzen (Hrsg.): Die italienische Lyrik des 20. Jahrhunderts in Einzelinterpretationen, Berlin: Erich Schmidt Verlag 2000, S. 190. 8 Burkhart Kroeber, «Nachwort: Wer war Pasolini? », in: Burkhart Kroeber (Hrsg.), Pier Paolo Pasolini - das Herz der Vernunft - Gedichte, Geschichten, Polemiken, Bilder, Berlin: Klaus Wagenbach Verlag 1986, S. 215. 9 Vgl. Enzo Siciliano, Pasolini - Leben und Werk, München: List Taschenbuch Verlag 2000, S. 46. 10 Vgl. «[…] sei mia madre e il tuo amore è la mia schiavitù […]», aus: «Supplica a mia madre», in: Pier Paolo Pasolini, Poesia in forma di rosa, S. 25. 11 Mehr zur Rose vgl. Günter Butzer/ Joachim Jacob (Hrsg.), Metzler Lexikon literarischer Symbole, 2. Auflage, Stuttgart: J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung 2012, S. 350 ff. 12 Vgl. Semsch, S. 113. 13 Pasolini, Poesia in forma di rosa, S. 129. 14 Vgl.: Kroeber (Hrsg.), S. 5. 15 Brief an Mario Alicata, Rom, Oktober 1964, in: Nico Naldini (Hrsg.), Pier Paolo Pasolini: Vita attraverso le lettere, Torino: Giulio Einaudi Editore 1994, S. 257 f. 16 Dante Alighieri, Vita Nuova, Milano: Biblioteca Universale Rizzoli 2001, S. 148. 17 Alain Bergala im Gespräch mit Vincenzo Cerami, Januar 2013, in: Jordi Balló (Hrsg.), Pasolini Roma, Berliner Festspiele Martin-Gropius-Bau, München/ London/ New York: Prestel Verlag 2014, S. 47. 18 Vgl. Siciliano, S. 365. 19 Mehr dazu: ebd., S. 304. 20 Kroeber (Hrsg.), S. 130. 21 Pier Paolo Pasolini, Scritti corsari, gli interventi più discussi di un testimone provocatorio, Milano: Garzanti 1975, S. 25 f. 22 Kroeber (Hrsg.), S. 21. 23 Mehr dazu in: Siciliano, S. 310 ff. 24 Naldini, S. 230. 25 Siciliano, S. 314. 26 Z.B. ebd., S. 212. 27 Vgl. Balló (Hrsg.), S. 159. 28 Vgl. Semsch, S. 113. 29 Alain Bergala im Gespräch mit Vincenzo Cerami, Januar 2013, in: Balló (Hrsg.), S. 46. 2_IH_Italienisch_75.indd 121 30.06.16 17: 11 Pier Paolo Pasolini: «La ricerca di una casa» Sabrina Spezzano 122 Bibliographie Primärliteratur Pasolini, Pier Paolo: Poesia in forma di rosa, Milano: Garzanti 1964. Pasolini, Pier Paolo: Scritti corsari, gli interventi più discussi di un testimone provocatorio, Milano: Garzanti 1975. Pier Paolo Pasolini: Unter freiem Himmel. Aus dem Italienischen von Toni und Sabina Kienlechner, Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 1982. Sekundärliteratur Alighieri, Dante: Vita Nuova, Milano: Biblioteca Universale Rizzoli 2001 (Settima Edizione). Balló, Jordi (Hrsg.): Pasolini Roma, Berliner Festspiele Martin-Gropius-Bau, München, London, New York: Prestel Verlag 2014. Bazzocchi, Marco Antonio: Pier Paolo Pasolini, Milano: Bruno Mondadori 1998 (Biblioteca degli scrittori). Cooper, J.C.: Das große Lexikon traditioneller Symbole, 2. Auflage, München: Wilhelm Goldmann Verlag 2004. Hösle, Johannes: Die italienische Literatur der Gegenwart - von Cesare Pavese bis Dario Fo, München: C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung 1999. Kroeber, Burkhart (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini - das Herz der Vernunft - Gedichte, Geschichten, Polemiken, Bilder, Berlin: Klaus Wagenbach Verlag 1986. Lentzen, Manfred (Hrsg.): Die italienische Lyrik des 20. Jahrhunderts in Einzelinterpretationen, Berlin: Erich Schmidt Verlag 2000. Naldini, Nico: Pier Paolo Pasolini - Eine Biographie, Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 1991. Naldini, Nico (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini: Vita attraverso le lettere, Torino: Giulio Einaudi Editore 1994. Oster, Angela: «Poesia in forma di rosa - Pier Paolo Pasolini: ‘Supplica a mia madre’, in: Italienisch Nr. 55, 2006, S. 88-93. Semsch, Klaus: Literatur und Ideologie - Marxistisches Weltbild und dichterische Kreativität im lyrischen Werk Pier Paolo Pasolinis, Essen: Die Blaue Eule Verlag 1989. Siciliano, Enzo: Pasolini - Leben und Werk, München: List Taschenbuch Verlag 2000. 2_IH_Italienisch_75.indd 122 30.06.16 17: 11