eJournals Italienisch 38/75

Italienisch
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Narr Verlag Tübingen
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2016
3875 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Sandra Abderhalden / Michael Dallapiazza / Lorenzo Macharis / Annette Simonis (Hrsg.): Schöne Kunst und reiche Tafel: über die Bilder der Speisen in Literatur und Kunst. Belle arti e buona tavola: sul significato delle pietanze nell’arte e nella letteratura. Beiträge der Tagungen Gießen (11./12. Oktober 2014) und Urbino (14./15. Oktober 2014), Bern: Peter Lang Verlag 2015, 420 Seiten, 12 s/w-Abb., 1 Tab., 1 Graf., € 97,90 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik Reihe A – Band 123); auch als e-book erhältlich.

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2016
Christoph Oliver Mayer
ita38750171
Kurzrezensionen 171 Sandra abderhalden / michael dallapiazza / Lorenzo macharis / annette Simonis (hrsg.): Schöne Kunst und reiche Tafel: über die Bilder der Speisen in Literatur und Kunst. Belle arti e buona tavola: sul significato delle pietanze nell’arte e nella letteratura. Beiträge der Tagungen Gießen (11./ 12. oktober 2014) und urbino (14./ 15. oktober 2014), Bern: Peter Lang Verlag 2015, 420 Seiten, 12 s/ w-abb., 1 Tab., 1 Graf., € 97,90 (= Jahrbuch für internationale Germanistik reihe a - Band 123); auch als e-book erhältlich. Zweifelsohne ist Italien der einschlägige Ort für den kulinarischen Kulturtransfer und Deutschland auch im Bereich Essen und Trinken ein wichtiges Rezeptionsland inklusive aller interkulturellen An- und Verwandlungsprozesse. Dies haben Studien in vielfältiger Form bereits herausgearbeitet und dabei weitere Fragen aufgeworfen, die die sogenannten Food Studies bis dato nicht alle beantworten konnten. In diesem, in der Kultursoziologie (Elias, Lévi-Strauss) und verstärkt in Italien seit den 1970er Jahren (Pellegrino Arrusi, Gian Paolo Biasin, Paolo Camperesi, Massimo Montanari) diskutierten Kontext wäre nun auch der Sammelband anzusiedeln, der auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Studien aus dem deutschen und italienischen akademischen Umfeld vereint, die allesamt den Fokus auf das Thema Essen legen. Folgt man allerdings der Einleitung des hier zu besprechenden Sammelbandes, so wird diese Vorerwartung enttäuscht: Die disparaten Artikel präsentieren die Ergebnisse zweier deutsch-italienischer Tagungen an den Universitäten Gießen und Urbino «zur symbolischen und kulturellen Bedeutung des Essens und Trinkens in Literatur und Kunst» in deutscher, englischer und italienischer Sprache. Wie schon die Einleitung und der komplexe Titel ist der ganze Band sehr heterogen angelegt und bietet Beiträge zu Musik, Literatur, Kulturgeschichte und Philosophie, aber auch zur Fremdsprachendidaktik quer durch die Jahrhunderte hindurch, jedoch, entgegen der durch den Titel erweckten Erwartungshaltung, fast nichts zur Bildenden Kunst. Diesbezüglich fragt sich also der geneigte Leser, ob mit «Bilder der Speisen», das sich auffallend von der italienischen Variante und deren Titel («significato») unterscheidet, ein bestimmtes Konzept verbunden ist. Die Einleitung der Herausgeber weist zunächst die Spur hin zur Soziologie der Mahlzeit im Anschluss an Simmel und Cassirer, benennt aber auch kulturelle Identitätskonstruktionen und motiviert sich im Gefolge der seit den 1980er Jahren vermehrt hervortretenden Food Studies. Die weiteren Beiträge fächern dieses Panorama allerdings ohne erkennbaren Leitfaden aus, gerieren sich 2_IH_Italienisch_75.indd 171 30.06.16 17: 11 Kurzrezensionen 172 teils als zitatenlastige Materialsammlung, teils als interessante Textinterpretationen, verlieren dabei aber zu oft die Fixierung auf eine wissenschaftliche Erschließung von Essen (und das im Titel nicht explizit genannte, aber damit einhergehende Trinken) aus dem Auge. Das große Manko des Sammelbandes besteht allerdings in einer desaströsen Lektorierung, die diesbezüglich genauso wie hinsichtlich der interpretatorischen Überzeugungskraft die Beiträge in zwei unterschiedliche, gut lektorierte und professionell erstellte auf der einen Seite, sprachlich defizitäre, scheinbar gar nicht von deutschen Muttersprachlern lektorierte und auch inhaltlich sehr magere Studien auf der anderen Seite zerfallen lässt. Das Stückwerk, das schon in der Einleitung auf der Makro- (‘roter Faden’) wie der Mikroebene (mal werden Texte im Original, mal in der Übersetzung konsultiert: Sekundärliteratur wird nur eingeschränkt wahrgenommen) zu erkennen ist, zieht sich durch den ganzen Band. Falsches und stilistisch ungehobeltes Deutsch (Montironi, Bravi, beide Beiträge von Abderhalden, Hinsken) mit Interpunktionsschwächen, fehlenden Satzgliedern (Einleitung, S. 14 oben) und idiomatischen Fehlleistungen paart sich in einigen Beiträgen mit naiven Aussagen («Das Thema scheint nicht so verbreitet zu sein, wie vielfach angenommen», S. 20), Verknappungen (Rückführung der Romantik auf den Roman, S. 53), überlangen Zitaten (Muth) und Fehlperzeptionen (Émile wird als französischer Frauenname wahrgenommen, S. 43). Andere argumentieren gewohnt professionell (Klotz, Zaiser, Dallapiazza, Simonis), jedoch erscheint der deutsch-italienische Dialog auf sprachlicher Ebene auf wackligen Beinen zu stehen, was auch die interessante, aber interpretatorisch noch nicht durchdachte phraseologische Studie von Anna Lombardi nicht kompensieren kann. Inhaltlich interessant, da sie einen bis dato wenig begangenen Weg nachgehen, könnten die Beiträge von Francesca Bravi und Michael Schwarte zur Musik sein. Bravi arbeitet in ihrer komparatistischen Studie zu italienischen und deutschen Liedermachern überzeugend heraus, dass kulinarische Stereotypen von den Spaghetti (Bongusto) bis zur Currywurst (Grönemeyer), vom Wein bis zum Kaffee bevorzugt in Verbindung zur Liebesthematik eingesetzt werden, wobei sie schlüssig die Speisen als Surrogate für die Abwesenheit von Liebe interpretiert. Schwarte thematisiert analog hierzu das Essen in der Oper, das im Falle von Don Giovanni in Verbindung zur Erotik, aber auch zur Vergänglichkeit (Totenmahl) steht. Dass er zudem auf ein von Bernstein in einem Liederzyklus vertontes Kochbuch rekurriert, würde eine Entwicklung unterstreichen, die die Literatur ebenso erfasst hat wie die anderen Künste, und zwar die Analogie von Kochkunst und Ästhetik. Dies hätte wiederum eine organische Anbindung der folgenden Studien, die sich vor allem auf die Literatur kaprizieren, leichthin ermöglicht. 2_IH_Italienisch_75.indd 172 30.06.16 17: 11 Kurzrezensionen 173 Diese literarischen Fallstudien reichen von Goethe und Hölderlin (Lorenzo Macharis), die als Paten der romantischen Polysemie des Geschmacks eingeführt werden, über Shakespeare und Brecht (in zwei Beiträgen von Maria Elisa Montironi, die auch zusammengefasst werden könnten), deren stilbildende Metaphorik untersucht wird, bis hin zur mittelalterlichen Narrativierung von Körperlichkeit (Michael Dallapiazza). Dallapiazzas überzeugendes Resümee «Offenbar ist der kreatürliche Vorgang von Essen (und Verdauen) besonders gut dazu geeignet, sich des realen (wenn auch oft ironisch verzerrten) Körpers narrativ zu bedienen» (S. 95) gilt daher ebenso im Umkehrschluss für den Grobianismus (Elisa Pontini) und den hierzu geradezu als Paradeautor zu benennenden Rabelais, dem weiter hinten im Band ein Beitrag (Cheti Traini) gewidmet ist. Während die Studie von Rainer Zaiser («L’etica del mangiare e golosità e astinenza come metafore morali nella letteratura italiana del Medioevo») den Zusammenhang herstellt zwischen der antiken Diätetik, den Tre Corone und medizinalen Diskursen bei Molière, fällt bei den meisten anderen Studien eine fahrlässige Eindimensionalität auf, die darauf beruht, dass fremdsprachige Sekundärliteratur und interkulturelle Momente gänzlich ausgeblendet werden. Über Rabelais zu schreiben, ohne französische Forschung wahrzunehmen, mutet genauso einseitig an wie die Rezeption vieler Werke romanistischer Provenienz in Übersetzungen. Zahlreiche Beiträge widmen sich der Interpretation von Gegenwartsliteratur - Peter Kurzeck (Sandra Abderhalden), Rafik Schami (Shilan Fuad Hussain), Tina de Rosa (Silvia Barocci) und Herta Müller (Alexandra Müller) - wobei die Texte mal stark biographisch, mal eher textimmanent gedeutet werden. Die Kulinarik hält in allen genannten Beispielen den Roman zusammen und kann auch im interkulturellen Dialog eine Mittlerfunktion übernehmen, auch wenn grundsätzlich zu fragen wäre, ob nicht angesichts der Globalisierung transkulturelle und individuelle Ernährungsgewohnheiten Unterschiede im Konsumverhalten längst nivelliert haben und die genannten Romane diesbezüglich allesamt als stereotyp ausweisen. Während eine solche Perspektive auch angesichts eines veralteten Forschungsstands ausbleibt, ist die Studie über ‘verbotene Speisen’ im Märchen (Laura Muth) deutlich analytischer angelegt und zeigt auf, wie Speisen in den Kontext der Gehorsamkeit, der Versuchung, der Macht und Moral eingebettet werden. Diese Übersichtlichkeit der These fehlt hingegen etwas den sehr gelehrten Beiträgen von Annette Simonis («Das Gastmahl der Götter. Mythologische Konzepte des Speisens und Trinkens in der Literatur») und Volker Klotz («Schmeckts? Menschenfraß + Dynamik in Bühnenstücken der Weltliteratur»). Gestörte Gastmähler und pervertierte Opferrituale auf der einen Seite sowie mythologische und märchenhafte Anthropophagen auf der anderen Seite konturie- 2_IH_Italienisch_75.indd 173 30.06.16 17: 11 Kurzrezensionen 174 ren eine interessante Materialsammlung, die aber ohne These bleibt, es sei denn die Störanfälligkeit von Gastmählern und Appetit kann als solche gewertet werden. Dass Essen kommunikationsstiftend bzw. gesellschaftsbildend und im letzten Moment auch stilbildend bzw. ästhetisierend ist, zeigen schließlich so unterschiedliche Beispielfälle wie Gogol (Aletta Hinsken), De Filippo (Graziana Coco), Carmine Abate (Francesca Bravi) und Anna Achmatova (Rozaliia Yakobets). Hiermit betreten wir ein Terrain, das der philosophische Beitrag von Lorenz Macharis («Il gusto dell’arte: la metafora alimentare nell’estetica») theoretisiert und das anhand des Beispiels der englischen Italienreisenden im frühen 19. Jahrhundert (Sandra Abderhalden) nochmals illustriert wird, ohne aber einen besonderen Eindruck zu hinterlassen . Die innovativsten Studien scheinen nach der Lektüre des Bandes in der Tatauf den Gebieten der Phraseologie und der Fachdidaktik zu entstehen. Während der Beitrag von Anna Lombardi («Das ist mir Wurst - Non me ne importa un fico secco: il valore del cibo nella fraseologia italiana e tedesca») insbesondere auf zukünftige Studien mit interpretatorischen Antworten hoffen lässt, die etwa den unterschiedlich häufigen Gebrauch von Butter in Redewendungen der deutschen und italienischen Sprache erklären, weisen die beiden didaktischen Studien von Susanna Pigliapochi und Gloria Gabbianelli, letztere mit Referenz auf das Chinesische als erste Fremdsprache, großes Innovationspotential auf. Vielleicht auch weil sich jedem deutschen Leser sofort eingehend erschließt, dass die Präsenz des italienischen Essens in Deutschland eine unerschöpfliche Fülle von Welt- und Sprachwissen garantiert, das bisher im Sprachunterricht nicht hinreichend genutzt wird. Während Pigliapochi allerdings mit Hilfe von Speisen interkulturelles Bewusstsein und Differenz wecken möchte und auch bei Gabbianelli der Zugang über die Küche den Eintritt in eine fremde Kultur erleichtern soll, wäre grundsätzlich noch stärker nach den Gemeinsamkeiten in der transkulturellen Welt zu fragen, was zudem einen Gewinn an Selbsterkenntnis verspricht. In der Tat trifft zu, was der Klappentext des Bandes auch ankündigt: «Der […] Tagungsband spiegelt die Vielfältigkeit des kulinarischen Themas in literarischen und künstlerischen Werken auf umfassende Weise wider». Darüber hinausreichende Erkenntnisse stellen sich allerdings nach der Lektüre nicht ein, vielmehr das Unbehagen darüber, ob die den Lesefluss störende schlechte Qualität des Lektorats auf die Schwierigkeiten des deutschitalienischen Dialogs oder doch auf Umwälzungen im Verlagswesen zurückzuführen ist. Christoph Oliver Mayer 2_IH_Italienisch_75.indd 174 30.06.16 17: 11